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Richard Aabromeit

Ein Postkapitalismus, der gar keiner ist

Anmerkungen zu Paul Masons Buch: „Postkapitalismus“

„Wir fahren durch kalte Wälder“

… die, so will es uns Paul Mason in der Einleitung verdeutlichen, „dem von Wladimir Putin regierten System […] in dem die Mafia und die Geheimpolizei das Sagen haben“, hier an der Grenze zwischen Transnistrien und Moldawien, angehören und sinnbildlich zeigen sollen, „wie die wirtschaftliche Ebbe beginnt.“ (S. 9). Wohl nicht zuletzt, weil diese märchenhafte Kälte einst vom Kapitalismus erzeugt worden war, und von Russland bis heute kaum gelindert werden konnte, möchte Mason seiner Leserschaft und der ganzen Welt gerne „eine Alternative vorschlagen“ (S. 11), nämlich ebenfalls märchen- oder sagenhaft: „Zunächst sollten wir die Globalisierung retten […] Anschließend retten wir den Planeten […], indem wir den Kapitalismus überwinden.“ (S. 11). Alles klar? Somit reiht sich also der britische Pädagoge und Fernsehjournalist, Linkssozialdemokrat und Jeremy Corbyn1 Fan, Paul Mason (*1960 in Leigh) ein in die schon viel zu lange und vor sich hin modernde Schlange der Designer/innen und Erspinner/innen von imaginierten Alternativen und insbesondere von sogenannten Alternativmodellen, oder auch in die erlauchte Gemeinde der Choreograph/inn/en von hippen Transformations- bzw. Transitionsszenarien weg vom ach so ungeliebten Kapitalismus: „Und ich wusste, dass ich den Kapitalismus nicht mochte.“ (S. 27). Ja, wo gibt’s denn sowas? In seinem Buch: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie; Suhrkamp Verlag, Berlin 2016; übers. von Stephan Gebauer; 429 S.; 26,95 Euro, möchte uns Mason seine mittlerweile reichlich trivial daherkommende These: „Der Kapitalismus ist ein komplexes, anpassungsfähiges System, das jedoch an die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit gestoßen ist“ (S. 14) erläutern, sowie seine verblüffenden Vorschläge zur Abhilfe ans Herz legen; dabei steht an erster Stelle der Beinahe-Pleonasmus: „Diese Alternative ist der Postkapitalismus.“ (S. 13). Das steht allen Ernstes so da, schwarz auf weiß gedruckt! Es stellt sich rasch heraus, dass sein „Postkapitalismus“ weitgehend leer, also beinahe ohne jeden substanziellen Inhalt ist, und kaum etwas anderes vorstellen kann als das lächerliche und rein rhetorische Synonym für Sozialismus oder Kommunismus, die ja beide nach dem sogenannten Epochenbruch um 1990 als Bezeichnung für eine Gesellschaftsformation der Zukunft aus der Mode gekommen sind. Auch wird sich zeigen, dass er bei seinen Ausführungen zahllosen Missverständnissen aufsitzt und kein bisschen über dem Niveau anderer Alternativenerzähler/innen steht, im Gegenteil; Mason verbreitet ein Weltbild und daraus abgeleitete Zukunftsvisionen, die auf einer kolossalen Selbsttäuschung aufbauen, und die sowohl über die aktuelle Realität als auch über potentielle Änderungen meist nur Phantasmagorien implizieren. Hinzu kommt noch, dass er unerwartet schlampig und unsorgfältig recherchiert (und / oder nachgedacht?) und daher zahllose grobe und gröbste Fehler in seinen Text eingebaut hat, sowie sich von allzu umfangreichen fachlichen und sogar historischen Kenntnissen nicht wirklich übermäßig belastet zeigt, dazu von irritierend naiven Vorstellungen über gesellschaftliche Zusammenhänge beseelt und mit grandiosen Illusionen ausgestattet ist. Zu guter – oder schlechter – Letzt erweckt er in seinem Buch den Eindruck, als gäbe es das Problem der Geschlechterverhältnisse und deren spezifische Konnotationen und Hierarchien überhaupt nicht, zumindest erwähnt er diesen Themenkomplex mit fast keinem einzigen Wort! Nur so am Rande bemerkt: Für seinen Postkapitalismus spielen auch soziale Kleinigkeiten wie Antisemitismus und Rassismus, sozialpsychologische Aspekte oder auch der gesamte Sorgebereich, die Welt des Emotionalen, der Reproduktionsbereich usw. (also das Abgespaltene) und ähnliches entweder überhaupt keine oder bestenfalls eine untergeordnete Rolle; ich befürchte, dass Mason davon ausgeht oder inbrünstig hofft, solche Kinkerlitzchen seien nicht der Rede wert und lösten sich in seinem digitalen Garten Eden des vernetzten Null-Grenzkosten Postkapitalismus ganz von alleine auf.

Mit Marx hantiert Mason zwar häufig, stellt sich aber dann doch lieber als Systemtheoretiker oder vielleicht besser als Systempraktiker vor und beharrt auf der Realität des Kapitalismus als offenes System, nachdem er ganz nebenbei Rosa Luxemburg abkanzelt: „Wenn wir Luxemburgs Fixierung auf den Kolonialismus und die Militärausgaben beiseitelassen und stattdessen einfach sagen, dass der Kapitalismus ein offenes System ist, dann kommen wir dem Verständnis seiner Anpassungsfähigkeit näher als jene Theoretiker, die in Anlehnung an Marx versuchten, ihn als geschlossenes System darzustellen.“ (S. 98). Nein Paul, kommen wir so nicht!

Die schier unüberschaubare Anzahl von sachlichen Fehlern, von politischem Nonsens, von locker-flockigem Leichtsinn, ja von einigen geradezu gefährlichen Einschätzungen und Vorschlägen, und nicht zuletzt von der für Linke vom Schlage Mason durchaus typischen, aber für unsereins immer wieder maßlos enttäuschenden Oberflächlichkeit, gepaart mit einer eklatanten Denkfaulheit, evozieren ein weites Feld für Kritik. Da aber eine wirklich fundierte Kritik an Mason und seinen im Buch dargelegten Positionen nicht nur öde, ermüdend und zäh wäre, sondern auch erheblich mehr Raum beanspruchte, als für diese Besprechung zur Verfügung steht, werde ich mich hier auf fünf Themenkreise konzentrieren, die meiner Meinung nach seine wichtigsten Mängel in den Fokus rücken können: Geschlechterverhältnis, Patriarchat; Technologie, IT; Ökonomie, Finanzen; Transformation, Strategie, Politik; Gesellschaftskritik, Marxverständnis. Zum Schluss werde ich noch auf sein im zehnten Kapitel vorgestelltes „Projekt Null“ (S. 337 – 371) eingehen, wo er uns seine Prinzipien, Maßnahmen und Ziele für die vermeintlich postkapitalistische Gesellschaft präsentiert. Aus alledem ergibt sich noch keine erschöpfende Kritik an Paul Mason und seinen Vorstellungen von einem Postkapitalismus, aber zumindest eine erste kritische Einschätzung seiner Positionen aus der Sicht unseres Theoriezusammenhangs. Was sich aus dieser kurzen Vorrede bereits unzweideutig ablesen lässt, entspricht voll und ganz meiner Stimmung und Einstellung gegenüber Paul Mason und seinem Buch: Er gehört nicht zu den ernst zu nehmenden Gesellschaftskritiker/inne/n unserer Zeit, sondern möchte wohl lediglich literarisch-publizistisch seine Anhängerschaft füttern (und erweitern) und selber ein wenig Geld dabei verdienen – es sei ihm gegönnt!

Geschlechterverhältnis, Patriarchat

Der argumentative, euphemistisch ausgedrückt: der inhaltliche, Tiefpunkt des hier zu besprechenden Buches ist ein Thema, das bei Mason mit beinahe keinem einzigen Wort erwähnt wird, und wenn, dann nur beiläufig: Die Problematik des Patriarchats bzw. der geschlechtlichen Konnotationen in Verbindung mit einer herrschaftlichen Diskriminierung und der immer noch weitgehend festgefahrenen Hierarchie von Mann, Frau sowie von anderen geschlechtlichen Identitäten2. Übrigens für alle, die „Überraschungen“ lieben: Allen Autor/inn/en der kurzen oder auch längeren Besprechungen des Mason-Buches ist das Fehlen des Themas offenbar gar nicht aufgefallen (insgesamt habe ich mir zehn angesehen). Da muss wohl noch einiges geschehen, bis so eine Nebensächlichkeit zur Hauptsache erhoben wird.

Die Armseligkeit von Masons Ausführungen wird bei dieser Problematik in besonderer Weise erkennbar. So könnte man bereits als militant feministisch, gemessen an Masons Niveau, einordnen, wenn er solches sagt: „Da Überfluss die Voraussetzung für den Postkapitalismus ist, wird er spontan soziale Gerechtigkeit herstellen […] oder über Herausforderungen wie Zuwanderung, die Befreiung der Frauen und eine alternde Bevölkerung [nachdenken müssen]“ (S. 197). Obwohl Mason Ideen aus „Der rote Planet“ von Alexander A. Bogdanow referiert (zu allem Überfluss teilweise auch noch unrichtig), ist ihm noch nicht einmal aufgefallen, dass selbst in diesem amüsanten Science-Fiction Roman, erschienen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Lage der Geschlechter immerhin als Thema aufgegriffen wird: „Die häusliche Sklaverei der Frau und der fieberhafte Existenzkampf des Mannes entstellen offenbar die Körper auf unterschiedliche Weise.“ (Bogdanow 2017: 98). Es ist in der Tat mehr als peinlich, beobachten zu müssen, dass sogar ein ausgewiesener Bolschewik vor über hundert Jahren in der Lage war, die Situation der Geschlechter zu beklagen, Mason aber 2015 immer noch nicht. Zur notwendigen Veränderung der Lage der Frauen weltweit findet sich jedenfalls im ganzen Buch keine einzige Zeile, geschweige denn irgendein Prinzip oder eine Maßnahme, wie er sie in seinem »Projekt Null« aufführt. Daher will ich diesen Themenbereich hier auch abbrechen, weil es dazu in Sachen Mason weiter nichts Vernünftiges zu sagen gibt – oder vornehmer ausgedrückt: es liegt ein kolossales Desiderat bei ihm vor und das wäre eigentlich bestens dazu geeignet, ihn nicht weiter ernst zu nehmen; ich tue es aber widerwillig dennoch und schließe mich damit der Meinung von Rainer Fischbach an: „Das Verlangen nach einer menschlichen Zukunft […] ist zu berechtigt und zu wichtig, um es nachlässigem, ungenauem Denken zu überlassen“ (Fischbach 2017: 8).

Technologie, IT

Im Grunde genommen entwickelt Mason seine Vorstellungen in Bezug auf die Historie und auf die aktuelle Situation des Kapitalismus, sowie auf die Transition3 hin zum Postkapitalismus auf der Grundlage seiner sehr eigenartigen Auffassung zur Rolle der Technologie allgemein sowie einer speziellen Technologie, nämlich der Digitalisierung bzw. der Informationstechnologie. Mit Hilfe dieser Digitalisierung glaubt Mason ein Instrument gefunden zu haben, mit dem, quasi automatisch oder wenigstens richtig und zielgerichtet gehandhabt, sich eine neue Sorte von Mensch herausbilden würde, das sogenannte „vernetzte Individuum“4 (S. 277), mit dem dann „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ (S. 193) errichtet werden könnte; mit letzterem bezieht sich Mason ausdrücklich auf Jeremy Rifkin (vgl. Rifkin 2014; vgl. dazu auch die Rezension von Aabromeit 2017), von dem er beinahe unreflektiert einige Ideen übernimmt. Des Weiteren will er uns glauben machen, dass akkurat diese Technologie den Markt zersetzen könne. Aber wie oben bereits angedeutet, schreibt er sich damit in zahllose Probleme hinein. So wirft ihm beispielsweise der Informatiker und Softwareexperte Rainer Fischbach völlig zu Recht vor: „Es mangelt ihm im Detail wie in den großen Zügen an der Sorgfalt, die das Thema verlangt, insbesondere bei der Einschätzung der technologischen und ökonomischen Entwicklungen, auf denen er aufzubauen glaubt“ (Fischbach 2017: 8). Wenn sich auch Fischbach und Mason darin einig sind, dass sich in unserer heutigen Welt der Metabolismus: menschliche Gesellschaft – natürliche Umwelt, nicht etwa vermittelt durch das Wert-Abspaltungsverhältnis, vulgo: durch das Kapitalverhältnis, realisiert, sondern nur durch Markt- und Interessenkategorien konstituiert ist, so bietet doch Fischbach eine weitgehend von stumpfsinniger Naivität und erschreckender Ahnungslosigkeit bereinigte kritische Sicht auf so manche Aussagen von empörten Zeitgenoss/inn/en zum Thema Transformation / Transition und deren technologischen Implikationen.

Fischbach hält Mason weiterhin nicht ohne Grund vor, der sogenannten Kalifornischen Ideologie verhaftet zu sein, ohne dass Mason dies allerdings zuzugeben oder selber überhaupt zu bemerken scheint. Der von Richard Barbrook und Andy Cameron etwa 1995 eingeführte Begriff „Kalifornische Ideologie“ „bezeichnet die Mischung aus libertärem Gesellschaftsentwurf, utopischen Erwartungen an die Technik und dem Glauben an die Allmacht des kapitalistischen Marktes“ (Fischbach 2017: 8, Fn3), die seit Ende der 1980er Jahre zu beobachten sei. Mit seiner These: „Die Informationstechnologie führt uns in ein postkapitalistisches Wirtschaftssystem“ (S. 158) übertrifft Mason sogar noch die kühnsten Hoffnungen der High-Tech Freaks Nordkaliforniens. Seine an Wahnsinn grenzende Vorstellungskraft in Bezug auf „Information“ bzw. „Informationstechnologie“ ist mehr als frappierend: „Die Information ist nicht irgendeine beliebige Technologie, die auftaucht und wie die Dampfmaschine irgendwann obsolet wird. Sie zwingt jeder künftigen Innovation die Null-Preis-Dynamik auf, sei es in Biotechnologie, Raumfahrt, Gehirnumbau [!] oder Nanotechnologie – sowie all den Branchen, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Es gäbe nur eine Möglichkeit, diese Wirkung der Information auf die kommenden Technologien zu verhindern: Man könnte […] die Computer verbieten und durch sehr teure menschliche Rechenexperten ersetzen.“ (S. 232). Es fehlt nicht viel und Mason hätte in seinem Buch auch den Transhumanismus gefeiert.

Seine „zentrale These“ lautet denn auch, „dass die langfristige Stagnation nicht einfach das Ergebnis der Finanzkrise und der demografischen Entwicklung ist. Hinzu kommt nämlich, dass die Informationstechnologie die Marktkräfte ihrer Fähigkeit beraubt hat, die wirtschaftliche Dynamik anzuregen. Stattdessen schafft sie die Bedingungen für eine postkapitalistische Wirtschaft.“ (S. 59). Unter anderem soll mittels informationeller Digitalisierung der Rifkinsche Zaubertrick endlich gelingen, dass die Grenzkosten erst einiger weniger – z. B. Internetdienstleistungen –, später dann aller Produkte gen Null tendieren, schließlich also diese Null, zwar asymptotisch, aber eben doch so gut wie erreicht wird. Mittels copy-and-paste möchte Mason alles schier unendlich und kostenfrei vermehren können, mithin tendenziell gratis herstellen können. „Dabei scheint er nicht zu wissen, dass copy and paste nicht einmal auf alle digitalen Daten anwendbar ist“ (Fischbach 2017: 11), hält ihm der Informatiker vor. Wie er dann auch noch im paradiesischen Postkapitalismus möglicherweise dringend gebrauchte Gebrauchsgegenstände, wie beispielsweise Wohnzimmerschränke oder Lokomotiven „pausen und einsetzen“ (also copy and paste) möchte, das überlässt er nonchalant der Phantasie seiner Leser/innen. Dass die Digitalisierung sowohl der Produktion als auch der Reproduktion innerhalb des Kapitalverhältnisses problematisch ist, ist unbestritten. Dass diese Digitalisierung auch nennenswerten Einfluss auf das Marktgeschehen hat, kann ebenfalls schwerlich geleugnet werden. Aber wie soll es ihr, anders als allen bislang hervorgebrachten Technologen, plötzlich gelingen, das Kapitalverhältnis auszuhebeln? Das gehört zu den Geheimnissen Paul Masons, die er uns einfach nicht preisgeben will. Abgesehen von diesem Masonschen Geheimnis, wie denn stoffliche Güter mit reiner digitalisierter Information produziert werden sollen, möchte ich noch darauf hinweisen, dass diese Behauptung von Mason auch impliziert, dass, was Robert Kurz schon vor fast zehn Jahren kritisiert hatte, der „Konsum die eigentliche Ebene der Vergesellschaftung sei.“ Und: „Das Konsumsubjekt“, und Mason ist ein ebensolches, „geilt sich daran auf, dass die digitalen Informationsgüter technisch nicht in derselben Weise wie materielle Güter den kapitalistischen Einhegungsmechanismen unterworfen werden können. Damit ist allerdings der isolierte Konsumenten-Standpunkt nicht überwunden, sondern zementiert. Die Ideologie, diese Güter »preislos« zu machen […] ist eine authentische Konsumenten-Ideologie.“ (Kurz 2008: 173).

Nicht zuletzt ist er von der Automatisierung in der Industrie so fasziniert, dass er nicht nur wie immer vergisst, dass auch diese Automatisierung der Widersprüchlichkeit des Kapitalverhältnisses unterliegt, sich also keineswegs linear und schon gar nicht so gut wie unabhängig von diesen Widersprüchen entwickelt. Leider streift Mason bei dem immer wichtiger werdenden Thema der Automatisierung / Roboterisierung nur die Oberfläche und unterlässt es völlig, die Krise der Arbeitsgesellschaft insgesamt zu thematisieren. Dazu hätte er einige gedankliche Anstrengungen an den Tag legen müssen - aber: Nachdenken gehört nun einmal nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

Noch eines zum Thema Informationsqualität bei des Paul Masons Buch, das sein erschreckendes Defizit ein weiteres Mal aufdeckt. Über die Entstehung des Internets, des weltweiten Netzes, teilt er uns mit: „Dieses war nicht das Resultat eines zentralisierten Plans oder der Arbeit einer Managementgruppe, sondern entstand aus der spontanen Interaktion von Menschen, die Informationspfade und Organisationsformen nutzten, die bis vor 25 Jahren nicht existierten.“ (S. 160). Lieber Kollege Paul: Diese „spontanen Interaktionen“ wurden von führenden US-amerikanischen Militärs Mitte / Ende der 1960er Jahre initiiert, die nach Wegen suchten, die Kommandostrukturen und -wege der US Army auch für den Fall verlässlich aufrechtzuerhalten, falls es der Sowjetunion gelungen wäre, Teile der damals auf wenige Punkte konzentrierten Zentralen außer Gefecht zu setzen. So wurde das ARPANET5 Ende der 1960er Jahre von einer kleinen Gruppe von hochrangigen Militärs und Wissenschaftler/inne/n aus dem MIT6 entwickelt – was später von Tim Berners-Lee (und anderen) im CERN7 bei Meyrin etwa 1980 in Richtung des heutigen world wide web weiterentwickelt wurde. Eine derart schlechte Recherche verschlägt einem den Atem und würde in einer zehnten Klasse sicher mit einer „Sechs“ benotet werden.

Ökonomie, Finanzen

Neben den Argumenten zum Thema Technologie spielen bei Paul Mason diejenigen aus dem Bereich Ökonomie, Finanzen, BWL / VWL u. ä. eine weitere Hauptrolle. Für Mason ist die zentrale Kategorie des Kapitalismus, die diesen von allen anderen, insbesondere von den früheren, „Produktionsweisen“ unterscheide, diejenige des Marktes: „Die Struktur des Kapitalismus beruhte auf etwas ausschließlich Wirtschaftlichem: auf dem Markt.“ (S. 310). Mit dieser Auffassung steht er natürlich nicht alleine da: Solches wissen nicht nur die meisten Mainstream-Linken, sondern auch die meisten Mainstream-Rechten, sowie beinahe die komplette Phalanx der heutigen Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaftsprominenz, fast egal mit welchem Guru (oder auch Scharlatan) als Hintergrund. Immerhin bietet Mason einen längeren und teilweise durchaus informativen Gang durch verschiedene Aspekte marxistischer, marxologischer und anderer Krisen-Theorien und benennt zahlreiche wichtige Protagonist/inne/en mit deren Hauptaussagen, lässt aber erwartungsgemäß immer wieder seinen eigenen hehren Klassenstandpunkt, sowie – noch häufiger – seine allzu positivistische und empiristische Haltung gegenüber sozialen und ökonomischen Problemstellungen, durchscheinen. Ganz besonders hat es ihm die These von den langen Wellen der Konjunkturentwicklung von Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew angetan. Kaum hat er sie kurz vorgestellt, macht er sich auch gleich daran, sie zu verbessern und mit Fragmenten von Marx und von Schumpeter zu verbrämen. Was als Resultat am Ende dabei herauskommt ist, dass die angeblich gerade begonnene fünfte lange Kondratjew-Welle ins Stocken geraten sei. Warum das? Weil der Kapitalismus mit seiner neuen Informations- und Digitalisierungstechnologie den Markt unterdrückt und damit eben sich selber abschafft! So einfach ist das nun `mal, wir müssen nur bei Mason aufmerksam nachlesen.

Um Mason bezüglich seiner Standpunkte zum Thema Finanzen u. ä. einzuschätzen, hilft sogar der schon erwähnte, eigentlich fachfremde Informatiker Rainer Fischbach als Einstieg: „Nicht nur, wenn es um Naturwissenschaften und Technik geht, sondern auch bezüglich der Finanzsphäre leidet Masons Text darunter, dass sein Autor oft nicht weiß, wovon er redet.“ (Fischbach 2017: 68). Als Beispiel möchte ich, ganz ähnlich wie Fischbach, Masons „Hypothese“ (vgl. S. 193ff.) zu den Grenzkosten anführen. Ist der Begriff „Kosten“ ein übergreifender, der alle GuV-8 sowie bilanzrelevanten Belastungen und Verpflichtungen eines Einzelunternehmens beschreiben soll, so steht „Grenzkosten“ nur für diejenigen Kosten, die ein weiteres, also das nächste, zusätzliche Stück einer vorher bereits vielfach produzierten Ware (oder Dienstleistung) hervorruft, wobei bei dieser Art der Kostenrechnung die Abschreibungen nach einer gewissen Zeit (der Zeit, über die z. B. die Wiederbeschaffungskosten einer Maschine abgeschrieben werden) in der Tat auf null sinken. Was bleibt, das sind dann diejenigen Kosten, die für jede Ware, also auch für jede zusätzliche, immer anfallen, also etwa die Energie- und die Material- sowie die Arbeitskosten. Entgegen jeder betriebswirtschaftlichen Erfahrung behauptet nun Mason (und nicht nur er, auch Jeremy Rifkin tut das), dass auch die letzteren mithilfe der digitalisierten Information gegen null tendieren. Einmal mehr sieht man, dass Mason die materielle Ebene menschlichen Lebens nicht zur Kenntnis nimmt und allen Ernstes meint, alles könne auf Information reduziert werden. Er vergisst aber, dass es Information ohne materiellen Träger nicht geben kann. Und der materielle Träger muss auch irgendwie produziert werden.

Von Jeremy Rifkin übernimmt Mason begeistert die Annahme, „dass die Einbindung jedes Menschen und jedes Gegenstands in ein intelligentes Netzwerk tatsächlich eine exponentielle Wirkung haben könnte. Sie könnte die Grenzkosten von Energie und materiellen Gütern auf dieselbe Art senken, wie es das Internet bei digitalen Produkten tut.“ (S. 194). Unter anderem mit solchen Märchen versucht er, seine sagenhafte (also auf Sagen fußende) Erkenntnis zu stützen, die er glaubt gewonnen zu haben: „Der wesentliche Widerspruch des modernen Kapitalismus ist der zwischen der Möglichkeit kostenloser, im Überfluss vorhandener Allmendeprodukte und einem System von Monopolen, Banken und Regierungen, die versuchen, ihre Kontrolle über die Macht und die Informationen aufrechtzuerhalten. Es tobt ein Krieg zwischen Netzwerk und Hierarchie.“ (S. 196).Ich will jetzt gar nicht seinen Gedanken über das „System von Monopolen, Banken und Regierungen“ weiterspinnen, sonst landete ich am Ende, oder besser: schon jetzt, noch bei der Behauptung, auch Mason liefe Gefahr, unter eine neue alte Art von strukturellem Antisemitismus zu fallen. Nein, seine Auffassung von den tendenziell auf null fallenden Grenzkosten bietet genug Anlässe zu fragen, wie er das bewerkstelligen möchte. Sogar die Kosten für das angeblich völlig „kostenlose“ Wikipedia oder auch die scheinbar gratis mögliche Nutzung von GNU bzw. Linux sind nicht Null, sondern diese vermeintlich so altruistischen Allmendeeinrichtungen (Elinor Ostrom windet sich vermutlich mit schmerzverzerrtem Gesicht in ihrem Grab) werden partiell von Konzernen unterstützt und / oder in ihrer Entwicklung – nicht nur aus Gründen der Werbung – subventioniert. Mason kann hier noch nicht einmal Kosten und Grenzkosten sowie Ausgaben auseinanderhalten, und von einer adäquaten Kostenanalyse ist er Lichtjahre entfernt.

Nicht viel besser als beim Thema Ökonomie allgemein sieht es aus, wenn wir uns mit Masons Ausführungen speziell zum Finanzbereich, also insbesondere Banken und Zentralbanken näher beschäftigen. Ihn treiben zu diesem Thema ganz intensiv zwei Schlagworte um: Fiatgeld und Finanzialisierung. Müßig zu erwähnen, dass er auch hierbei seine unzureichenden Kenntnisse demonstriert. Beim Fiatgeld, dessen Funktion und allein schon dessen Existenz er völlig verständnislos gegenübersteht, greift er auch noch auf die Bibel zurück, wohl in der Hoffnung auf spiritistische Unterstützung: „dixitque Deus fiat lux et facta est lux“ heißt es dort in Genesis 1, 3 – zu Deutsch: Und Gott sprach: es werde Licht! Und es ward Licht. Und bei uns Gottlosen wäre eben zu transferieren: Es werde Geld! Und es ward Geld. Damit ist dann die göttliche Herkunft des Geldes erklärt, und Mason kann konsequenterweise sagen: „Dieses Geld wird aus dem Nichts erschaffen.“ (S. 36), wie halt Gott Alles aus dem Nichts einst erschuf. Allerdings erschöpft sich die ungewollt doch halbwegs korrekte Darstellung Masons damit auch schon wieder. Nur drei Seiten weiter schiebt er diesem Fiatgeld auch gleich die Mitschuld an der aktuellen Krisensituation in die Schuhe: „So trug das Fiatgeld zur Entstehung der Krise bei, indem es uns mit falschen Signalen aus der Zukunft überhäufte“ (S. 39). Nicht nur, dass das Teildeckungsprinzip, also die Idee, als Bank mehr Papiergeld (Noten, Eigentumstitel an eingelagertem Gold u. v. m.) „aus dem Nichts“ zu emittieren als an Gegenwert in Gold oder Silber effektiv in den Banktresoren oder -regalen vorhanden war, schon im Mittelalter aufgekommen war; nein, unser heutiges Fiatgeld hat sich bei Mason sogar noch (möglicherweise durch ein Wurmloch? Jetzt wälzt sich neben Elinor Ostrom auch Albert Einstein gequält im Grab) unerlaubt in die Zukunft begeben und sendet von da „falsche Signale“. Kein Wunder, wenn wir Heutigen dann mit diesem Geld und seinen futuristischen fake news Krisen erzeugen – das Geld hätte vermutlich durchaus „richtige Signale“ senden können, wenn es nur gewollt hätte, und wir es besser behandelt hätten.

Die Finanzialisierung empfindet Mason als „sperriges Wort“ (S. 43) und daher erklärt er es uns auch entsprechend sperrig: „Die Unternehmen kehrten den Banken den Rücken“, die Banken wandten sich „einer Reihe riskanter, komplexer Aktivitäten zu“, die „Konsumenten wurden direkt in die Finanzmärkte eingebunden“ und: „alle einfachen finanziellen Transaktionen bringen heute auf einer höheren Stufe des Systems einen komplexen Finanzmarkt hervor“ (S. 43f.). Außer dem letzten Punkt, der schlicht unrichtig ist, ist das ja nicht wirklich falsch wiedergegeben – nur ist Mason darob so verärgert, dass er in der Folge seines eigenartigen Verständnisses von Finanzialisierung selbige, noch deutlicher als das Fiatgeld, der Schuld an der Krise zeiht: „Die Finanzialisierung brachte allerdings zwangsläufig Probleme mit sich. Diese Probleme verursachten die Krise“ (S. 45). Ich muss sicher schon gar nicht mehr besonders herausheben, dass darauf Masons Krisenverständnis beinahe beschränkt bleibt und, obwohl er später im Buch den Eindruck erwecken will, als hätte er die Marxsche Krisentheorie rezipiert, inklusive Marxens Bemerkungen im sogenannten Maschinenfragment der Grundrisse (vgl. MEW 42: 590 – 609), ist für seine Krisenerklärung kein Grundwiderspruch des automatischen Subjekts im Kapitalverhältnis, sind keine Probleme bei der Verausgabung abstrakter Arbeit und der darauffolgenden Kapitalverwertung, etc. erforderlich, sondern nur das finger pointing auf die Finanzwelt. Dass solches die Nähe zu einem strukturellen Antisemitismus bedeutet, werde ich später noch kurz aufzeigen.

Wes Geistes Kind Mason vermutlich ist, kann unter anderem in seinem Finanzialisierungskapitel nachgelesen werden, wo er alten Zeiten in seiner Heimatstadt Leigh nachtrauert, als, in den 1970er Jahren, mithin vor fast fünfzig Jahren, sich „wohlhabende Arbeiterfamilien zum Schaufensterbummel trafen. Es herrschte Vollbeschäftigung, Löhne und Produktivität waren hoch. […] In dieser Welt wurde gearbeitet und gespart, und die Gemeinschaft hielt zusammen.“ (S. 43). „Doch dann kam die Finanzialisierung.“ (ebd.). Und dann die Lösung: „Die hier beschriebenen Probleme können wir nur lösen, indem wir der Finanzialisierung ein Ende machen.“ (S. 47). Früher nannten wir solch rückwärtsgewandte und larmoyante Typen ganz polemisch, aber total cool: Reaktionäre! Dazu passt auch gut seine Einschätzung von Knappheit und Überfluss: „Bis zum Auftauchen der gemeinsam nutzbaren Güter lautete das grundlegende wirtschaftliche Gesetz, dass alles knapp ist. Angebot und Nachfrage setzen Knappheit voraus. Mittlerweile sind bestimmte Güter nicht mehr knapp, sondern im Überfluss vorhanden, womit Angebot und Nachfrage irrelevant werden.“ (S. 167). Anstatt, dass ich solchen asozialen Humbug genüsslich kommentiere, empfehle ich Mason und seinen Followern, diese Thesen etwa den alleinerziehenden Müttern (und Vätern) in den kapitalistischen Zentren, im U. K. oder anderswo, oder den Wanderarbeiter/inne/n im Westen Chinas, oder den Bewohner/inn/n der Favelas in São Paulo, oder den Menschen in der Sahelzone oder auch vielen anderen zu verklickern – viel Vergnügen dabei!

Transformation, Strategie, Politik

Selbst einem Vertreter einer viel zu kurz greifenden Kapitalismuskritik wie Rainer Fischbach fällt auf, dass Mason „sich als unfähig [erweist], die gängigen Mythen des neoliberalen Mainstreams über Wirtschaft und Technik hinter sich zu lassen, und […] deshalb daran [scheitert], einen nennenswerten Beitrag zu den Steuerungsproblemen einer gesellschaftlichen Transformation zu leisten.“ (Fischbach 2017: 114). Das liegt laut Christian Fuchs nicht zuletzt daran, dass „Mason […] die IT-Wirtschaft überbewertet und völlig ausblendet, dass es sich beim Kapitalismus nicht bloß um einen digitalen, sondern zur gleichen Zeit um einen finanzmarktorientierten, industriell hoch entwickelten […] Kapitalismus handelt. (Fuchs 2016: 99). Ob das nun als Kritik am Kapitalismus ausreicht oder nicht: besser als Masons Argumente ist es allemal.

Um nun mit der Transition zum Postkapitalismus beginnen zu können, ist für Mason ein ganz spezielles Spielzeug unerlässlich: „Als Erstes brauchen wir eine offene, präzise und umfassende Computersimulation der gegenwärtigen wirtschaftlichen Realität.“ (S. 346). Anschließend ginge es dann mit derselben, sehr komplexen Playstation weiter: „Eine radikale – und unerlässliche – Maßnahme bestünde also darin, ein globales Institut oder Netzwerk einzurichten, das den langfristigen Übergang zum Postkapitalismus simulieren könnte.“ (S. 347). Wir müssten dann nur noch ein wenig diesen Supercomputer werkeln lassen: „Und sobald wir verlässliche Prognosen haben, können wir handeln.“ (S. 348). Ach ja: da wäre noch der Staat! „Die schwierigste Aufgabe ist die Gestaltung des Staats. Wir müssen umdenken und begreifen, dass er einen positiven Beitrag zur Errichtung des Postkapitalismus leisten kann.“ (S. 349). Ein bisschen Étatismus muss es dann doch sein, und ganz wichtig ist, dass, wenn schon Mason selber ein echter Schlamper ist, wir alle besser aufpassen sollten: „Beim Übergang zur postkapitalistischen Gesellschaft können wir durch ein sorgfältiges Design Fehler in der Umsetzung vermeiden“ (S. 20) mahnt er uns, vielleicht um den Transformationsdesigner/inne/n vom NEC der EUF9 zu schmeicheln? Das alles mag für so manche Fraktion in der linkspubertären Klientel kaum anschlussfähig sein, aber doch bei vielen aus der trauten Familie der Traditionsmarxist/inn/en und eben der schon erwähnten Technikabteilung des liberalen Fortschrittsglaubens auf diffuse Zustimmung stoßen.

Für seine verqueren Vorstellungen vom Übergang zum Postkapitalismus zieht Mason auch noch den österreichisch-amerikanischen Ökonomen und Managementguru des zwanzigsten Jahrhunderts, Peter Ferdinand Drucker (*1909 †2005), als Zeugen heran. Dieser postulierte gegen Ende seines kreativen Lebens, also in den 1990er Jahren, als Archetypen für einen postkapitalistischen Menschen eine universelle und gebildete Person, was Mason, aus Druckers Ausführungen fromm und freihändig folgernd, so ausdrückt: „Dieser neue Mensch würde aus der Verschmelzung von Managern und Intellektuellen hervorgehen und die Fähigkeit des Managers zur Anwendung von Wissen mit der Fähigkeit des Intellektuellen zur Auseinandersetzung mit reinen Konzepten verbinden. Ein solcher Mensch würde das Gegenteil des Universalgelehrten sein […] Er würde die Chaostheorie auf die Volkswirtschaft, die Genetik auf die Archäologie oder das Data Mining auf die Sozialgeschichte anwenden.“ (S. 169). Na, besten Dank! Sollten wir vielleicht doch lieber, statt des Masons „neuen“ Menschen, die Proletarier/innen wieder als revolutionäres Subjekt und neue Menschen einer leuchtenden Zukunft ausgraben? Oder den „Übermenschen“ eines Friedrich Nietzsche? Oder noch besser: Wir holen Platon aus der Versenkung hervor, der in seiner Πολῑτείᾱ (dt.: Der Staat) für politische Führungspersonen den Anspruch erhob, sie müssten gut sein, also: „weise, tapfer, besonnen und gerecht“ (Platon 2008: 205ff.)! Ich finde das allemal angenehmer als Masons singulargelehrten Chaos-Nationalökonomen.

Gesellschaftskritik, Marxverständnis

Die Vielfalt und der Umfang der zur Kritik herausfordernden Passagen in Masons Buch zwingt zu einer strengen Auswahl der Punkte, die hier aufgenommen werden sollten, will ich vermeiden, vom reinen Volumen her übers Ziel hinauszuschießen. Bei seinen Ausführungen zu Marx beschränke ich mich ergo auf die Themen Mehrwert und Krisentheorie.

Mehrwert

Als ausgewiesener Marxist versteht sich Mason schon selber nicht – es würde ihm auch von den meisten Marx-Kenner/inne/n ohnehin nicht abgenommen werden. Aber wie so viele selbsternannte „Antikapitalist/inn/en“ möchte er nicht nur irgendwie zeigen, dass er vom guten alten Karl irgendwie nicht lassen will, aber wirklich verstehen kann er den Verfasser des „Kapital“ und des „Kommunistischen Manifest“, sowie der „Grundrisse“ nicht; und immer Recht geben will er ihm sowieso nicht. Hier auch nur ein Beispiel: Dass die Quelle des Profits die Arbeit ist, hat auch Mason erkannt, auch wenn es genauer heißen müsste: Die Quelle des Profits ist der von der abstrakt menschlichen Arbeit erzeugte Mehrwert – diese Ungenauigkeit ist geschenkt! Aber dann unterstellt er Marx, dieser hätte behauptet, „dass der zusätzliche Wert […] dank der ungleichen Machtverteilung am Arbeitsplatz aus den Arbeitern herausgepresst werden kann.“ (S. 86; Hervorh. von R.A.). Dass die Ausbeutung des Mehrwertes mit den (in der Tat asymmetrischen) Machtverhältnissen gar nichts, aber sehr viel mit der völlig einwandfreien Nutzung des Gebrauchswertes der legal vom Einzelkapital erworbenen Arbeitskraft – nämlich Mehrwert herstellen zu können –, das will oder kann Mason nicht sehen und glauben.

Krisentheorie

Die Krisentheorie ist ja eigentlich bei Marx nicht als zusammenhängender Text zu finden. Dennoch hat er zahlreiche Hinweise aufgeschrieben, die zusammen genommen durchaus so etwas wie eine „Theorie“ der Krise vorstellen; allerdings gilt es, wie meistens bei Marx, unbedingt zu berücksichtigen – und das geht in das Gehirn von Paul Mason nur allzu zäh oder meistens gar nicht ein –, dass Marx nicht einfach eine Krisentheorie oder Krisenanalyse, und schon gar nicht ein Krisenmodell geschrieben hat, sondern eine Kritik der politischen Ökonomie inklusive einer Kritik der Krisenhaftigkeit des Kapitalverhältnisses. Dies bedeutet letztlich auch, dass nach Marx die ganze Veranstaltung eine negativ bestimmte ist, mithin nicht platterdings positiv, also mittels Entgegenhaltens eines Alternativmodells oder einer ethisch-moralischen Gegenstruktur, aufgehoben werden kann, sondern eben nur mittels Negation als eine historische Tat der Menschheit. Puh, aber so ist das! Leider hat Mason nicht nur nicht mehr als ein paar Zeilen der „Grundrisse“ zur Kenntnis genommen, sondern diese auch noch gründlich missverstanden. Diese „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [Rohentwurf]“10 sind Teil der Marxschen ökonomischen Manuskripte aus den Jahren 1857/58; sie wurden aber erst – in zwei Bänden – 1939 und 1941 in der damaligen Sowjetunion publiziert, nachdem sie jahrzehntelang bei der SPD in deren Archiven geschlummert hatten. Ein wichtiger Teil, das hat immerhin auch Mason gemerkt, ist das sogenannte Maschinenfragment (MEW 42: 590 – 609). Dort führt Marx, kurz zusammengefasst, aus, dass mittels Maschinerie und der auf diese mehr und mehr angewandten (Natur-) Wissenschaften der Arbeiter immer weiter, mehr steuernd als eigenhändig Waren erzeugend, neben den unmittelbaren Produktionsprozess tritt. Gleichzeitig strebt das Kapital stets danach, immer mehr Mehrwert erzeugende Arbeitskraft anzuwenden, aber dennoch, durch die Marktkonkurrenz gezwungen, eben diese Arbeitskraft wieder freizusetzen, um Kosten zu sparen. Diese Widersprüchlichkeit, ja diese Aporie des Kapitalverhältnisses ist langfristig nicht innerhalb des Kapitalverhältnisses lösbar, sodass Marx folgert: „Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.“ (MEW 42: 602). Mit anderen Worten: Durch die fortschreitende Technologie und Verwissenschaftlichung der Produktion gerät das Kapitalverhältnis in sich verschärfende Widersprüche – was wir weltweit spätestens seit dem Ersten Weltkrieg mit nur wenigen Unterbrechungen auch empirisch erleben dürfen. Aber was macht unser Postkapitalist Mason draus? Einen kleinen Absatz lang (sieben Zeilen) bleibt er korrekt bei der Wiedergabe der Inhalte des Maschinenfragmentes und weist darauf hin, „dass die Entwicklung der Industrie die Beziehungen zwischen Arbeiter und Maschine verändert.“ (S. 184). Danach geht es allerdings recht wenig lustig weiter und Mason purzelt von einem Missverständnis ins andere – was deshalb besonders unangenehm sein dürfte, weil die meisten seiner Anhänger/innen und Leser/innen die Grundrisse vermutlich nicht gelesen haben und daher auf solche Multiplikatoren wie Mason angewiesen sind, und dann z. B. auf diese Weise in die Irre geleitet werden:

  • „Marx stellt sich eine Volkswirtschaft vor“ (ebd.): Nicht nur war dieser Begriff der „Volkswirtschaft“ damals, also Mitte des 19. Jahrhunderts, noch gar nicht richtig gebräuchlich, man sprach von „politischer Ökonomie“; vor allem aber hat Marx stets das Gesellschaftliche am Kapitalverhältnis herausgestellt und kritisiert und nicht etwa nur einen Bereich der Gesellschaft, nämlich beispielsweise die sogenannte Volkswirtschaft;
  • „Ihm [Marx; RA] ist klar, dass die wichtigste Produktivkraft in einer solchen Wirtschaft das Wissen ist.“ (S. 184f.): Das ist nun Marx überhaupt nicht klar, und so etwas kann auch nur gewaltsam in Marx hineininterpretiert werden, wenn man, wie Mason, des dialektischen Denkens vollkommen unfähig ist. Für Marx ist das Neue am Kapitalismus Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts, dass sich das verwissenschaftlichte und zunehmend vergesellschaftete Wissen in der Maschinerie als die adäquate Erscheinungsform des „Capital fixe“ in einer Weise vergegenständlicht, die die Arbeit als unmittelbare Mehrwertproduzentin der Tendenz nach mehr und mehr überflüssig machen wird. Eine Kausalkette aus einer solchen Dialektik ganz einfach abzuleiten, das wäre Marx nie in den Sinn gekommen – aber halt Mason11;
  • Um diesen Teil nicht ausufern zu lassen (was angesichts der unglaublichen Dämlichkeit Masons durchaus amüsant wäre), nur noch ein weiteres Beispiel aus dieser Serie der Peinlichkeiten: „Die vom Wissen angetriebene Produktion schafft unabhängig vom Arbeitseinsatz unbegrenzt Wohlstand.“ (S. 187). Da Mason diese Behauptung Marx unterstellt, ist meine Kritik sehr einfach: es findet sich keine Stelle in Marxens Opus, wo er das oder Ähnliches behauptet.

Für Mason steht im Maschinenfragment ergo nicht mehr und nicht weniger als genau das, was er gerne hätte, nämlich dass Marx des Masons konstruierten Widerspruch zwischen Technologie und Markt schon antizipiert hätte. Hätte Mason bei Marx in den Grundrissen nicht nur die vier Seiten: 601 – 603 und 607 sich angesehen, sondern ein wenig weitergelesen und darüber nachgedacht, so wäre er vielleicht dem Verständnis der Marxschen Wert- und Krisentheorie ein kleines bisschen nähergekommen. Einer der wichtigsten Sätze Marxens in diesem Zusammenhang weist allerdings auch eine für positivistische Kausalisten von der Sorte Mason schwer zu verstehende Dialektik auf (und wird daher von uns zugegebenermaßen immer wieder gerne herangezogen): „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung – question de vie et de mort – für die notwendige. Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten.“ (MEW 42: 601f.).

Das Projekt Null

Den argumentativen Höhepunkt sowie zugleich einen weiteren inhaltlichen Tiefpunkt (gleich nach der Geschlechterproblematik, vgl. weiter oben) in Paul Masons neuestem Buch stellt zweifelsfrei dessen zehntes und letztes Kapitel dar: „Das »Projekt Null«“ (S. 337 – 371) – nomen est omen! Dort überhäuft er uns mit antiquierten, falschen, illusorischen, inkonsistenten, irritierenden, leeren, märchenhaften, pubertären, überholten, unrealistischen, wirkungslosen, zwecklosen, etc. Forderungen und Grundsätzen, dass man sich am Ende des Eindrucks nicht erwehren kann, Mason sei ein akuter (oder bereits ein chronischer?) psychiatrischer Notfall – oder eben ein mehr schlecht als recht camouflierter Vertreter der kalifornischen High-Tech Schwärmer und der pseudo- oder neoliberalen Techno-Avantgarde, garniert mit stalinistischen Anwandlungen. Ich denke, dass die Verrücktheit unserer gesellschaftlichen Verfassung bei Masons Projektvorstellungen sich adäquat niederschlägt.

Für sein Nullprojekt der Transition listet Mason als erstes drei Null-Ziele auf: „Energieversorgung mit Null-Emissionen, die Erzeugung von Maschinen, Produkten und Dienstleistungen mit Null-Grenzkosten und die weitgehende Beseitigung von Arbeit.“ (S. 340). Dann skizziert er fünf Prinzipien für seine Transition, hier zwei Beispiele:

  • ökologische Nachhaltigkeit“ (ebd.); solches halte ich für ein mittlerweile plattes und konsensuelles Gemeingut aller gesellschaftlich Interessierten – ausgenommen die Klimaignoranten der AfD;
  • Wir müssen „die Wirkung der Information maximieren“ (S. 343); ob man es glaubt oder nicht: er meint in diesem Zusammenhang allen Ernstes, dass sämtliche der von den Einzelnen gesammelten Daten („unsere Fahrgeschwindigkeit, unsere Ernährungsgewohnheiten, unser Body-Mass-Index und unsere Herzfrequenz“ [ebd.]) zusammengenommen „eine sehr wirksame »soziale Technologie« sein“ (ebd.) könnten; wer will`s kommentieren?

Ja, es muss sein, ich muss jetzt noch ein längeres Zitat vorbringen, weil es Masons Varieté der Hoffnungen ganz gut verdeutlicht: „Ausgehend von den zuvor erläuterten Prinzipien möchte ich etwas vorschlagen, das kein politisches Programm, sondern eher ein verteiltes Projekt ist: eine Reihe untereinander verknüpfter, modularer, nichtlinearer Maßnahmen, die zu einem wahrscheinlichen Ergebnis führen. Die Entscheidungen werden dezentral gefällt. Die für die Umsetzung erforderlichen Strukturen entstehen im Verlauf der Umsetzung. Die Ziele werden in Reaktion auf Echtzeitinformationen formuliert. Und wir sollten so umsichtig sein, die neuartigen Simulationsinstrumente zu verwenden, um jeden Vorschlag virtuell durchzuspielen, bevor wir ihn in die Tat umsetzen.“ (S. 344). Das ist nicht nur, aus einer Sicht der radikalen Gesellschaftskritik, völlig leer, das ist auch etwas, das in allen größeren Konzernen dieser Welt längst Routineübung für Großprojekte ist; nur: diese Konzerne gestalten keinerlei Postkapitalismus, sondern ihren eigenen Marktauftritt und dessen Mittel oder Waffen. Oha, Mason hat`s geschnallt: „Haben wir sie [die Informationsmaschine; R.A.] einmal unter unsere Kontrolle gebracht, so können wir einen Großteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit der kollaborativen Kontrolle unterstellen.“ (S. 343). Warum hat er uns das nicht gleich gesagt, alles ist nur eine Frage der Macht, also her damit!

Und nun die übergeordneten Ziele „eines postkapitalistischen Projekts“ (S. 344):

  1. „Wir müssen die CO2-Emissionen rasch verringern“ (ebd.). Sieh` einer an, wer hätte das gedacht! Das müssen wir aber auch ohne Postkapitalismus, oder?
  2. „Wir müssen das Finanzsystem bis 2050 vergesellschaften und stabilisieren“ (S. 345). Diese oder ganz ähnliche Forderungen sind beinahe so alt wie die Linke; fünf Jahre nach der sogenannten Finanzkrise rief Rudolf Hickel angriffslustig aus: „Macht euch die Banken untertan!“ (Hickel 2012: 9); und schon der Eiserne frohlockte: „Auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Verwaltung des Landes war das charakteristischste die Tatsache, daß der Hauptnerv des Wirtschaftslebens der Bourgeoisie, nämlich die Banken, den Händen der Bourgeoisie entrissen wurde. Die Banken wurden den Händen der Bourgeoisie entrissen, womit diese sozusagen ihrer Seele beraubt wurde.“ (Stalin Werke 4: 338). Ein paar Jahre später konstatierte Otto Bauer: „Gewisse Zweige der Produktion, Großbanken, die konzentrierte Industrie, Großgrundbesitz und gewisse Verkehrsmittel müssen in die Hände des Staates übergehen, der von der Arbeiterklasse beherrscht wird." (Bauer 1926; zit. nach HT 1978: 22). Alle hatten dummerweise eine kleine, dennoch vielsagende Bemerkung von Karl Marx übersehen: „Aber keine Art Bankgesetzgebung kann die Krise beseitigen.“ (MEW 25: 507). Aber ein klein wenig Stalinismus muss auch bei Mason sein.
  3. „Wir müssen der Mehrheit der Menschen materiellen Wohlstand sichern“ (S. 345). Wieso nur der „Mehrheit“, sollen die anderen dahindarben?
  4. „Wir müssen die Technologie auf die Verringerung des Arbeitsaufwands ausrichten“ (ebd.). Na gut.

Auf den letzten 25 Seiten folgen noch einige Ideen Masons für den Übergang zum Postkapitalismus; hier eine kleine Auswahl:

  1. Wir brauchen eine anständige Computersimulation mit Daten von IWF12, OECD13, IEA14 und vielen anderen, um in einem Supercomputer ein Modell für den Postkapitalismus zu erstellen, bevor es richtig losgehen kann (vgl. S. 346ff.);
  2. Bei der Energieversorgung müssen „die Marktkräfte vollkommen unterdrückt werden“ (S. 357);
  3. Der Finanzbereich muss vergesellschaftet werden, u. a. werden die „Zentralbanken […] verstaatlicht“, gemeinnützige, lokale und regionale Banken, Genossenschaftsbanken sowie Peer-to-Peer-Kreditgeber“ (S. 359) mit dem Staat als Kreditgeber letzter Instanz etabliert, und „ein gut regulierter Freiraum für komplexe finanzielle Aktivitäten geschaffen“ (ebd.);
  4. Gewinnorientierte „Finanzunternehmen, die riskanten Aktivitäten nachgehen“ (ebd.), sollte die Regierung „begrenzte letztinstanzliche Kreditfazilitäten anbieten“ (ebd.)15; sollten jedoch derartige Finanzunternehmen sich nicht transparent gerieren, sollten sie wie „finanzielle Gegenstücke zu al-Qaida behandelt“ (ebd.) werden, also wie Terroristen – in den USA steht auf Terrorismus in vielen Bundesstaaten die Todesstrafe! Congratulations, Mister Mason!
  5. „Jeder Mensch im erwerbsfähigen Alter erhält vom Staat ein Grundeinkommen, das nicht an Bedingungen geknüpft ist“ (S. 362); Milton Friedman nannte das schon 1962 „negative Einkommensteuer“.

Wie schon in der Einleitung angedeutet, müsste eine fundamentale Kritik an Mason recht umfangreich sein, schon wegen seiner kaum zu zählenden, oft rein assoziativ und gedankenlos anmutenden Argumentationslinien – wobei „Linie“ ein wenig euphemistisch gewählt ist. Was aber deutlich wird, das ist Masons konsequente Weigerung, seine Analyse und Kritik so zu formulieren, dass sie die Wurzeln, also die grundsätzlichen Begriffe und Kategorien unserer Gesellschaftsformation klar benennen könnten. Wie so viele linksradikale, linksliberale, bürgerlich-konservative, ja zuweilen sogar rechtsradikale Stimmen unserer Zeit, konstatiert auch Mason trivial einen krisenhaften Zustand des Kapitalismus. Anstatt nun die Totalität, also das Kapital- bzw. das Wert-Abspaltungsverhältnis als solches, ergo als Ganzes, in Frage zu stellen und zu kritisieren, zieht er sich darauf zurück, das eine und das andere von als solches erkannten Einzelproblemen anzugehen. Mit dem Halbsatz: „[…] wir brauchen auch eine bessere Lösung als das Finanzsystem, um das Kapital zuzuteilen“ (S. 295) gibt er ja ganz offen zu, dass sein „Post“kapitalismus weiterhin Kapital zuteilen muss, also weiterhin eine, vielleicht neue, Art von Kapitalismus sein soll. Nur nicht zu radikal werden und den Kapitalismus gleich komplett als zu negierendes Negativum begreifen und schildern, denn die Konsequenzen daraus könnten ja entsetzlich sein. Seine tiefsitzende Angst vor radikalen Änderungen verbietet ihm, solche Schritte ins total Ungewisse zu tun bzw. seiner Leser/innen/schaft zuzumuten. Daher ist dann auch gut zu verstehen – n. b. zu verstehen, nicht zu akzeptieren –, dass seine Vorschläge in Richtung Postkapitalismus ein Spektrum umgreifen, das von banal und trivial über unsinnig und hilflos bis hin zu irrsinnig und gefährlich reicht. Thomas Meyer drückt das so aus, ohne Mason direkt zu nennen: „So gibt es zweifellos viele Untersuchungen, die den Wahnsinn kapitalistischer Produktionsweise deutlich beschreiben […], aber diese Empirie nur unzureichend erklären können, aufgrund fehlender ökonomie- und gesellschaftstheoretischer Grundierung; dementsprechend hilflos und verkürzt fallen dann oft die praktischen Schlussfolgerungen aus.“ (Meyer Manuskript).

Fazit

Wer, wie Mason, ausgehend davon, dass mit der sich herausbildenden Technologie der digitalisierten Informationen und der daraus bald folgenden Nullgrenzkostengesellschaft, der Markt zersetzt wird, und damit bereits der Kapitalismus in Frage gestellt sei, der phantasiert glatt doppelt an der Realität der Wert-Abspaltungsgesellschaft vorbei: einerseits wird so die widersprüchliche Entwicklung der Technologie (und nicht nur der) übersehen; andererseits werden zentrale Kategorien des Wert-Abspaltungsverhältnisses, vulgo: des Kapitalverhältnisses, wie z. B. Kapitalverwertung, Abgespaltenes, Fetischbestimmung des Geldes und des Kapitals, automatisches Subjekt und seine Charaktermasken, etc. schlicht geleugnet oder zumindest übersehen. Mit seiner Ignoranz gegenüber dem Geschlechterverhältnis drückt Mason nicht nur seine zutiefst gestörte Wahrnehmungsfähigkeit der Realität aus, sondern er begibt sich auch der Chance, die grundsätzliche und wesentliche Widersprüchlichkeit unserer gesellschaftlichen Totalität aufzudecken und zu erkennen. Somit unterliegt Mason demselben Irrtum, dem so gut wie alle Linken aufsitzen. Hinzu kommt, dass mit einer derart nonchalanten und lässig-arroganten Herangehensweise selbst an schwierigste gesellschaftliche Probleme, wie es Mason vollbringt, schon die übergroße Anzahl der so entstehenden Fahrlässigkeiten ausschließt, dass er zu einem vernünftigen Vorschlag vordringt. Was ich oben fast ganz unerwähnt gelassen habe, ist auch nur noch ein Tüpfelchen auf dem „i“ der Masonschen Plattitüden, nämlich sein oberflächlicher, beinahe schon als Aufschneiderei zu charakterisierender Eklektizismus. Er referiert ungelenk zahlreiche Autoritäten – allein über siebzig gut, z. B. auch mir, bekannte Persönlichkeiten aus Literatur, Naturwissenschaften, Wirtschaft, Politik, bürgerlicher und marxistischer Gesellschaftswissenschaften u. v. a., sowie darüber hinaus mindestens noch einmal so viele weniger bekannte –, vermittelt aber unbeabsichtigt fast jedes Mal den Eindruck, dass das alles nur aufgesetzt ist, und dass er das jeweilige Thema eigentlich nicht wirklich zu durchdringen in der Lage ist. Und noch etwas: „Je länger die weltweite ökonomische Krise dauert, desto beliebter sind einfache Erklärungen – auch unter Gewerkschaftsmitgliedern. Die Empörung darüber, dass an Bildung, Gesundheit, Umwelt und Sozialem gespart wird, während gleichzeitig Billionen Euro in den Finanzmärkten zirkulieren, mischt sich oft mit der Vorstellung, »die Gierigen, die den Hals nicht voll genug kriegen« seien an der Krise schuld. Die Nationalsozialisten setzten »die Gierigen« mit »den Juden« gleich. Doch auch wer das nicht tut, kann sich in einer gefährlichen Nähe zum Antisemitismus befinden, ohne sich darüber im Klaren zu sein.“ So lautete der Einführungstext zu einer Veranstaltung „Gefährliche Welterklärung – Personalisierender Antikapitalismus im gewerkschaftlichen Kontext und seine Nähe zum Antisemitismus“ vom 6. November 2017, im Kasseler Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben16. Solche einfachen Erklärungen bietet Mason ja zuhauf und verbindet dies auch gleich noch mit kriminellen Verschwörungsaktivitäten: „Immer mehr Beweise für Kriminalität und Korruption tauchen auf. Was dabei regelmäßig auffällt, ist die verschwörerische Formlosigkeit, die die Bankleute an den Tag legen, während sie die Regeln brechen.“ (S. 31) Und noch eins obendrauf: „[Wir haben] uns obendrein in Sklaven der Zinszahlungen verwandelt“ (S. 47f.). Ob Mason sich dessen bewusst ist, wie nahe er hiermit dem Antisemitismus bereits gekommen ist?

Ich kann`s mir nicht verkneifen, am Ende noch diese Bemerkung zu machen: Irgendjemand sollte mit Ben de Pear, das ist der Redakteur, dem Mason dafür dankt, dass er ihm „einen Monat unbezahlten Urlaub gab“ (S. 401), einmal ein ernstes Gespräch führen; dabei sollte man de Pear nahelegen, sich die Gewährung von so langem unbezahlten Urlaub für Märchenschreiber künftig etwas genauer zu überlegen. Ich frage mich auch, ob etwa Mason sein Buch in diesem einen einzigen Monat angefertigt hat – das würde immerhin einiges erklären.

Im Rahmen seiner Vorstellung des Projektplanes zu seinem „Projekt Null“ provoziert Mason mit dem Satz: „Ich würde mich freuen, wenn er von einer wütenden Menge in der Luft zerrissen und vollkommen neu überarbeitet würde.“ (S. 346). Jetzt habe ich mich aufrichtig bemüht, ihn zu zerreißen, komme aber blöderweise nicht mehr dazu, ihn „vollkommen neu zu überarbeiten“; hätte jemand Lust dazu, und ginge das überhaupt? Jedenfalls sind die Aussichten auf diese perfekte Überarbeitung genau dann eher ungünstig, wenn man hohe Ansprüche stellt. Denn die meisten Kritiken an Masons Elaborat, die ich bislang gelesen habe, sind nicht nur unfähig, die unerklärlichen Löcher in seinen Ausführungen zu sehen, nämlich die Geschlechterthematik, seine latent antisemitische Argumentationsweise usw. (s. o.), sondern sie lassen sich auch blindlings auf die oberflächliche, gänzlich unradikale, also rein empirische Ebene von Mason ein und vergessen ganz und gar, dass dessen Illusionen und Phantasmagorien auch und gerade ein Ergebnis der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse sind, neben seiner individuellen Schlampigkeit. Wenn man dieses alles berücksichtigt, dann braucht Mason sich keiner Hoffnung hinzugeben, dass irgendjemand sein Buch – perfekt verbessert – neu schreibt. Ich denke, auch er selbst wird das nicht tun, weder in naher noch in ferner Zukunft.

Literatur und Quellen

Aabromeit, Richard; Jeremy Rifkin: Die Null Grenzkosten Gesellschaft. Eine Rezension seines neuesten Buches; in exit! 14; Angermünde 2017.

Bogdanow, Alexander Alexandrowitsch; Der rote Planet; Villingen-Schwenningen 2017 [1907].

Fischbach, Rainer; Die schöne Utopie. Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss; Köln 2017.

Fuchs, Christian; Henryk Grossmann 2.0. Eine Kritik an Paul Masons Buch „Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie“; in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 107; Frankfurt/Main 2016.

Hickel, Rudolf; Zerschlagt die Banken. Zivilisiert die Finanzmärkte – Eine Streitschrift; Berlin 2012.

Kurz, Robert; Der Unwert des Unwissens. Verkürzte „Wertkritik“ als Legitimationsideologie eines digitalen Neo-Kleinbürgertums; in: exit! 5; Bad Honnef 2008.

Mason, Paul; Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie; übers. von Stephan Gebauer; Berlin 2016 [2015].

Ders.; Postcapitalism: A Guide to Our Future; London 2015.

MEW 25; 42.

Meyer, Thomas; Big Data und die smarte neue Welt als höchstes Stadium des Positivismus; bislang unveröffentlichtes Manuskript, erscheint demnächst in exit! 15 (etwa Frühjahr 2018).

Platon; Der Staat (Politeia); übers. und hrsg. von Karl Vretska; Stuttgart 2008 [1958].

Postone, Moishe; Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx; übers. von Christoph Seidler, Wolfgang Kukulies, Petra Haarmann, Norbert Trenkle und Manfred Dahlmann; Freiburg 2003 [1993].

Rifkin, Jeremy; Die Null Grenzkosten Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus; Frankfurt am Main 2014.

Scholz, Roswitha; Die Verwilderung des Patriarchats in der Postmoderne; in Krisis 21/22; Bad Honnef 1998; digital verfügbar auf: exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=30&posnr=38&backtext1=text1.php.

Stalin, Josef Wissarionowitsch; Drei Jahre proletarische Diktatur. Referat in der Festsitzung des Bakuer Sowjets am 6. November 1920; in: Stalin Werke 4; Berlin 1951.


1 Vorsitzender der Labour Party des Vereinigten Königreichs.

2 Die in den kapitalistischen Zentren seit einiger Zeit festzustellenden, langsamen Auflösungserscheinungen der geschlechtlichen Zuweisungen und Rollenfixierungen werden unter anderem trefflich geschildert von Roswitha Scholz in ihrem Beitrag „Die Verwilderung des Patriarchats in der Postmoderne (Scholz 1998).

3 Im englischen Original steht „transition“, was in der deutschen Übersetzung von Stephan Gebauer mit „Transition“ nur halbrichtig wiedergegeben wird; im deutschen Diskurs wird fast durchgängig „Transformation“ präferiert.

4 Im englischen Original spricht er von „networked humanity“ (Mason 2015: 212).

5 Advanced Research Projects Agency Network, Vorläufer des Internet.

6 Massachusetts Institute of Technology in Cambridge MA.

7 Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire.

8 Gewinn- und Verlustrechnung.

9 Norbert Elias Center der Europa-Universität Flensburg; dort wird wirklich „Transformation Design & Research“ gelehrt.

10 Zu finden z. B. in MEW 42.

11 Mason wärmt hier nur obsolete Thesen auf, die so ähnlich auch Jürgen Habermas 1981 in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufstellte; Moishe Postone hat das überzeugend kritisiert (vgl. Postone 2003: 345 – 393).

12 Internationaler Währungsfonds.

13 Organisation for Economic Co-operation and Development.

14 International Energy Agency.

15 „Fazilitäten“ waren ursprünglich vom IWF bereitgestellte Bereitschaftskredite, die dazu dienten, einem Mitgliedsland trotz dessen Überschreitung seiner Ziehungsrechte Zugriff auf Kredite zu ermöglichen. Heute wird „Fazilität“ beinahe synonym zu einer „leicht“ (von lat.: facilis sc. leicht) gewährten Kreditlinie einer Geschäftsbank benutzt.

16 Hier der link: http://sara-nussbaum-zentrum.de/.




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