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Thomas Meyer

Kategorialer Bruch oder agitatorischer Eklektizismus?

Zum neuesten Buch von Manfred Sohn

Es ist grundsätzlich erfreulich, wenn radikale Kapitalismuskritik, wie sie von der Theoriezeitschrift EXIT! vertreten wird, Rezeption erfährt und weitere Verbreitung findet. Was aber die Freude doch wieder schmälert, ist, wenn diese Rezeption einen eklektizistischen Charakter ausweist und darauf aufbauend ein unkritischer und problematischer Praxisanspruch formuliert wird. In dem neuen Buch von Manfred Sohn „Falsche Feinde – Was tun gegen die AfD? Ein alternativer Ratgeber“ (Konkret Verlag, Hamburg 2017, 128 S.) ist das meines Erachtens der Fall.

Wie auch schon in anderen Büchern oder Texten über die AfD geschehen, fasst auch Sohn in seinem einiges über die Entstehungsgeschichte und die programmatischen Inhalte dieser Partei zusammen. Ausführlich wird das „Grundsatzprogramm“ referiert, wie es in Stuttgart 2016 verabschiedet wurde. Wer das Thema AfD einigermaßen mitverfolgt hat, wird dort aber nicht viel Neues lesen. Erwähnenswert ist allerdings, dass die AfD sich positiv auf die Ordoliberalen bezieht und damit, wie Sohn anmerkt, eine Gemeinsamkeit mit Sahra Wagenknecht aufweist. Daraufhin schaut sich Sohn andere rechtspopulistische Parteien an, wie die Schwedendemokraten oder die PiS, bis hin zu Donald Trump. Insbesondere ist bei letzterem und dessen Anhängerschaft eine gewisse Nostalgie nach der angeblich guten Vergangenheit auffällig. Diese rechtspopulistischen Bewegungen sind Sohn zufolge „Rebellion[en] ohne Perspektive“; sie sind „pervertierte Rebellion[en]“. Sohn betont die teilweise sozialen Ursachen selbiger und warnt davor, sie nicht „nur als stumpfe Reaktion von weißen Dumpfbacken“ zu begreifen. (S. 59) Dem ist in gewisser Weise zuzustimmen; allerdings ist es falsch, wenn Sohn in Hinblick auf die AfD schreibt: „Die pervertierte Rebellion dieser Partei und ihrer Anhänger ist aber in ihrem Kern eine Rebellion gegen das unabweisbar näher rückende Ende der menschlichen Zivilisation und ihren Übergang in die Barbarei, wenn sie den Ausgang aus diesem kapitalistischen System nicht findet.“ (S. 107) Im Kern ist die AfD eben keine Rebellion gegen den kriselnden Kapitalismus. Sicherlich haben die Abstiegsängste der Mittelschicht mit ihrer realen Entwertung zu tun, jedoch nicht in einer solchen Unmittelbarkeit. Denn diese Ängste tragen paranoide Züge und äußern sich in einem nostalgischen Festhalten an einer nicht mehr existierenden bürgerlichen Normalität, wie es beispielsweise deutlich wird in einer Insistenz auf die traditionelle bürgerliche Familie.1

Sohn fordert zwar, dass die Linken den Kapitalismus radikal in Frage stellen sollten, und vor allem wie dieser sichtbar wird in der Verwertungsbewegung des Kapitals „G–G’ “ (eigentlich müsste es G–W–G’ heißen, sofern sich nicht explizit auf das „Finanzkapital“ und den Ausführungen Marxens im Kapital Bd. 3 bezogen wird), und kritisiert insbesondere die parlamentarischen Linken dahingehend, dass sie den Ernst der Lage überhaupt nicht erkannt hätten, also den Ernst, der sich in der Krise der Arbeitsgesellschaft und der Flüchtlingsproblematik deutlich zeigt.2 „Die Flüchtlinge“, so Sohn, „sind ein Spiegel, der uns ein Bild zeigt, das wir nicht sehen wollen. Sie zeigen uns unsere eigene Zukunft in der sich desintegrierenden kapitalistischen Welt: verzweifelt Fliehende vor Kräften, die Menschen zwar geschaffen, aber immer noch nicht begriffen haben “

Es scheint aber den parlamentarischen Linken gegen die AfD offenbar nichts anderes einzufallen, als alles weiterhin so zu tun wie bisher „nur noch energischer“, (S. 92) bis hin zu einer Nostalgie, für „eine Demokratie, die wieder begeistern kann.“ (Hervorheb. TM, S. 91).

Seinem Wunsch nach wäre es begrüßenswert, wenn Linke jenseits des parlamentarischen Nonsense-Theaters praktisch aktiv würden. Dass der Parlamentarismus und die „staatlich subventionierten Linken“ (S. 72), wie Sohn feststellt, untauglich sind, den Kapitalismus zu überwinden, ist zutreffend, aber auch trivial.

Nun soll es in diesem Kommentar weniger um die AfD und den Neofaschismus gehen, als vielmehr um den theoretischen Eklektizismus Sohns. Leider sind die theoretischen Ausführungen zur Krise sehr kurz gehalten. Zwar bezieht sich Sohn auf diverse Buchpublikationen von Robert Kurz, ebenso auf das neue Buch von Tomasz Konicz („Kapitalkollaps“) und auch auf ein Buch von Roswitha Scholz („Das Geschlecht des Kapitalismus“) wird verwiesen, aber einige seiner Ausführungen legen nahe, dass seine Rezeption derselben oberflächlich oder in Widersprüchen verbleibend ausfällt. Das betrifft beispielsweise den Status der Oktoberrevolution bzw. des Realsozialismus und die Subjektseite des Kapitalverhältnisses.

So ist einerseits davon die Rede, dass die Oktoberevolution ein Versuch war, ein „nach eigenen Gesetzen funktionierende[s] sozialistische[s] Weltsystem[]“ zu entwickeln (S. 73). Auf der anderen Seite wird mit Robert Kurz festgestellt, dass die Pariser Commune und der reale Sozialismus den Kapitalismus gar nicht überwinden konnten, da sie „den inneren Mechanismus dieser Selbstzweckmaschine nicht in Frage stellten“ (S. 115)

Wenn dem so ist, ist es aber unsinnig, sich auf beide Ereignisse positiv zu beziehen, gerade in Hinblick auf eine Überwindung des Kapitalismus. So schreibt Sohn: „Der Ausweg aus dieser systemischen Krise kann nur in einer Organisation der gesellschaftlichen Produktion jenseits von Markt und Staat und Kapitalismus liegen, also in einem (nach Pariser Commune und Russischer Revolution) dritten Anlauf zum Sozialismus, in dessen Zentrum – wie im ersten – die Kommune stehen wird.“ (S. 77)

Zwar gesteht Sohn die Möglichkeit zu, dass es ein Fehler sein könnte, sich an früheren Ereignissen zu orientieren, weil „die gewohnten Grundannahmen nicht mehr zutreffen“ (ebd.); aber seine Ausführungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sohn als Semi-Traditionsmarxist doch – mit Badiou gesprochen – eine „Treue zum Ereignis“ an den Tag legt und obgleich er den Linken vorwirft, nicht mit dem Kapitalismus brechen zu können, kann er es mit diversen marxistischen Selbstverständnissen ebenso wenig.3

Schaut man sich die Oktoberrevolution und das historische Resultat selbiger an, mutet es einem absurd an, sich darauf im Sinne einer fortlaufenden Tradition beziehen zu wollen. Was wurde von den Bolschewisten nun tatsächlich angegangen? Im Grunde genommen ein staatlich organisierter Kapitalismus, die Oktoberrevolution, eine bürgerliche Revolution russischer Jakobiner4, ein Regime nachholender Modernisierung. Eigentlich alles kalter Kaffee: wurden diese Punkte im Prinzip schon vor langer Zeit von den Klügeren der Anarchisten und Marxisten (derer es nicht so schrecklich viele gab)5 festgestellt, so etwa von Rudolf Rocker und Anton Pannekoek6. Konsequenterweise und zugespitzt bezeichnete die Theoretikerin (und Fabrikarbeiterin, in ihren letzten Lebensjahren religiöse Mystikerin) Simone Weil den Marxismus, aufgrund seiner modernisierenden Wirkung, gar als „höchste[n] geistige[n] Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft“!7 Obgleich Sohn Robert Kurz’ Buch „Der Kollaps der Modernisierung“ anführt und das „Schwarzbuch Kapitalismus“, in denen u. a. mit dem Realsozialismus abgerechnet wird und dessen kapitalistischer Charakter explizit betont wird, verortet Sohn sich selbst und die anstehende Aufgabe einer Überwindung des Kapitalismus im angeblich bereits „dritten Anlauf“ eben dieser Überwindung.

Als Ex-Linkspartei-Marxist sollte Sohn auch die entsprechenden Ausführungen der originären Bolschewisten kennen (Sohn zitiert im Buch Lenins Ausführungen zu den „Arbeiterwanderungen“, um Parallelen und Unterschiede zur heutigen Migration deutlich zu machen S. 62 f.). So kann man beispielsweise bei Lenin in aller Deutlichkeit lesen, worauf der angebliche Versuch, den Kapitalismus zu überwinden, hinführen soll:

Zur Durchsetzung des Kapitalismus gehört natürlich auch die Durchsetzung der Lohnarbeit, hier allerdings bereits auf der Stufenleiter industrieller Massenproduktion der Zweiten Industriellen Revolution. So schreibt Lenin an anderer Stelle:

Die Befreiung des Proletariats bestand nach den Bolschewisten also in einem vermehrtem Zwang und Disziplin, die dem Proletariat auferlegt wurden, um eben jenen „breiartigen Zustand“ zu überwinden. So schreibt einige Jahre später Bucharin folgendes:

Wie schon oben zitiert, soll im „dritten Anlauf zum Sozialismus“ die Kommune im Zentrum stehen. Sohn sieht in Projekten wie den „Commons“ eine „Keimform“ einer Rebellion gegen den Kapitalismus (S. 109). Nötig sei eine linke Agitation auf „kommunale[r] und betriebliche[r] Ebene mit dem Ziel, dort das Bedürfnis nach kollektiver Selbstermächtigung, nach selbstbestimmten Handeln der Stadtteile, Dörfer und – in Kollektiveigentum überführten – Betriebe zu wecken […]. Darauf aufbauend geht es um die Koordination von Aktionen der Selbstermächtigung, durch Bildung von Aktionsräten auf kommunaler, lokaler und betrieblicher Ebene, die, wo immer sich dazu Gelegenheit bietet, die Organisation des Alltags diesseits von Markt und Staat selbst in die Hände zu nehmen. […] Perspektivisch folgt eine schrittweise Ausweitung dieser Räume kollektiver Selbstermächtigung, ihre Vernetzung untereinander […].“

Wie schön, dass die „ökonomischen Voraussetzungen einer solchen Perspektive […] mit den neuen Technologien inzwischen herangereift [sind].“ Sohn schreibt weiter:

Diese Ausführungen sind in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen der unkritische Bezug auf eine Aneignung der Produktionsmittel und zum Lokalen; zum anderen muss unterschieden werden zwischen Widerstand gegen die Zumutungen des Kapitalismus und einer sozialen Bewegung, die eventuell über diesen hinausweist. So scheint Sohn diese Ausführung dergestalt gemeint zu haben, dass er obige praktische Vorschläge als eine soziale Bewegung gegen die Zumutungen eines kriselnden Kapitalismus ansieht, - hier und jetzt sozusagen - daher spricht er auch von „diesseits von Markt und Staat“.

Das Problem ist aber nicht eine Zentralisierung, wie Sohns Bezug auf das Kommunale suggeriert, sondern die Verwertungsbewegung des Kapitals, der entsprechend Mensch und Natur zugerichtet werden. Ob etwas in Zukunft besser lokal produziert werden sollte oder doch mehr zentral, kann nur eine konkrete Analyse der stofflichen Ebene ergeben und kann nicht apriori entschieden werden. Es ist auch zweifelhaft, ob diese Maßnahmen allein, die Sohn hier vorschlägt, tatsächlich den neofaschistischen Bewegungen, der AfD usw. „den Boden entziehen“ würden. (S. 124) Zumal lokale Ökobauernhöfe, eine „Selbstermächtigung“ gegen den Staat auch von rechtsradikaler Seite angegangen werden (Neonazi-Ökobauern, Reichsbürger).

Sicherlich mag eine Aneignung sinnvoll sein, also z.B. dass ein Krankenhaus in Eigenregie weitergeführt wird, statt dass dieses geschlossen wird und die Menschen ohne medizinische Versorgung dastehen (so wie es in Griechenland versucht wird), während die medizinischen Güter vor sich hin gammeln. Aber mit einer Aneignung ist es nicht getan, vor allem dann nicht, wenn man den Anspruch ernst nimmt, schlussendlich jenseits von Markt und Staat anzukommen, statt in Eigenregie und Selbstermächtigung die kapitalistische Scheiße bloß weiter zu betreiben. Was ich auch schon in meiner Kritik an Paul Mattick Jr. geschrieben habe, kann auch problemlos in einer Kritik an Sohn angeführt werden:

Wie es schon deutlich wurde, ist Sohns Kritik der Linken inkonsequent bzw. widersprüchlich. Daher ist es nicht weiter verwunderlich einem mehr oder weniger deutlich positiven Bezug zum marxistischen Klassenkampf zu begegnen. So heißt es auf Seite 109: „Die Überwindung der kapitalistischen Kategorien fällt mit der politischen Subjektwerdung der Menschen zusammen. Sie werden dabei auf das gesamte Erfahrungsspektrum der historischen Klassenkämpfe zurückgreifen müssen.“

Worin diese Subjektwerdung genau bestehen soll, verrät Sohn leider nicht. Auch der Rückgriff auf die Erfahrungen alter Klassenkämpfe ist problematisch. Nun will ich gern zugestehen, dass bestimmte Debatten, die schon einmal geführt wurden, unter veränderten Bedingungen und Zielsetzungen wieder erscheinen oder notwendig werden könnten, so etwa der Themenkomplex um Gewalt/Gewaltlosigkeit und Terror.12 Da die Klassenkämpfe früherer Tage im Allgemeinen etwas deutlich Anderes im Sinn hatten, als die Überwindung von Markt, Staat, Arbeit, geschlechtlicher Abspaltung usw., wirkt so eine emphatische Bezugnahme ein wenig anachronistisch. Denn es gilt ja gerade mit diversen herkömmlichen Modi sozialen Widerstandes zu brechen, also mit jenen, die sich in den Realkategorien des Kapitalismus bewegten und sich zum Ziel setzten, die Rechtssubjektivität der Arbeiterklasse zu realisieren: also eine Anerkennung der Arbeiterklasse als personifiziertes variables Kapital; eine Anerkennungspolitik, die auf einen gerechten Lohn für eine gerechte Arbeit usw. aus war.

Sohns Rezeption der Wert-Abspaltungskritik (oder eher Wertkritik) und seine Kritik an der traditionellen und parlamentarischen Linken ist widerspruchsvoll und inkonsequent, wie es in diesem Text kommentiert wurde. Zu sehr möchte Sohn sich, trotz aller Kritik, doch in die Tradition des Arbeiterbewegungsmarxismus einreihen. Seine theoretische Reflexion ist daher eine oberflächliche und auf unmittelbare Praxis zielende. Eine Rezeption einer Theorie, und eine daraus sich (hoffentlich) ergebende theoretische Revolution13 ist eben nichts, was sich in einem Durchgang erledigen ließe; zu sehr lasten auf einem die Gespenster „einer schon abgestorbenen Vergangenheit, die dennoch nicht vergehen kann und die Zukunft nicht kommen lässt.“14

Entscheidend ist, dass man nach einem ersten Durchgang nicht stehen bleibt, wie es offenbar Manfred Sohn getan hat, sondern die theoretische Revolution weiter treibt und nicht mit ihr aufhört, sobald sich eine erste Praxismöglichkeit ergibt.15 Es ist eben nicht unbedingt trivial einen Bruch mit der eigenen arbeiterbewegungsmarxistischen Identität konsequent zu betreiben und zu vollenden.

 





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