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EXIT! Heft 2
erscheint im März, umfasst 256 Seiten und kostet 13 €
Editorial
Krise allenthalben:
Auch im Jahre 2004
haben die Konsumenten die Umsatzziele des deutschen Einzelhandels in
unverantwortlicher Weise verfehlt. Im dritten Jahr nacheinander ging
die private Nachfrage zurück, und die Experten rätseln
immer noch, woher denn die der deutschen Wirtschaft so
abträgliche,
neuerdings auch in Gestalt des „Rabattwahns“ (Spiegel)
auftretende „Sparwut“ wohl kommen möge. Soviel haben auch
die „Wirtschaftsweisen“ inzwischen immerhin begriffen, dass
nämlich die deutsche Volkswirtschaft von ihren Exporterfolgen
allein nicht leben kann. Lassen wir sie weiter rätseln, sie
hören ja doch nicht auf uns.
In die Dauerkrise
ist offenbar auch das
deutsche Bildungssystem geraten, wie der fast schon alljährlich
wiederkehrende „PISA-Schock“ zeigt. Der Schock besteht darin,
dass Deutschland im internationalen Vergleich nur „Mittelmaß“
ist, was nicht sein dürfe, da die Bildung das „Humankapital“
bereitstelle, das die „Basis allen Wohlstands“ sei, sodass der
Abstieg in der globalen Konkurrenz drohe. Die möglichen
Maßnahmen gegen diese unerträglichen Aussichten stehen
allerdings unter Finanzierungsvorbehalt und halten sich entsprechend
in Grenzen: Während Schleswig-Holsteins
SPD-Ministerpräsidentin
im Wahlkampf plötzlich die „Schule für alle“ entdeckt,
als ginge es darum, die allgemeine Schulpflicht endlich
einzuführen,
setzt die CDU auf das gute alte Gymnasium, „Leistungsanreize“ und
zentrale Kontrollen. Die FDP schließlich führt die
schlechten PISA-Ergebnisse auf die zu geringe Kinderzahl der
„Besserverdienenden“ zurück und möchte mit Anreizen der
etwas anderen Art lieber an dieser Stelle ansetzen.
Tatsächlich
kann wohl als
gesichert gelten, dass in keinem anderen vergleichbaren Land
Bildungschancen so stark von der sozialen Herkunft abhängen wie
in Deutschland; der bei weitem aussagekräftigste statistische
Indikator für Schulerfolg ist hier immer noch das Gehalt des
Vaters. Doch will das ernsthaft jemand ändern? Die
Sparmaßnahmen
im Bildungsbereich jedenfalls zielen schwerpunktmäßig auf
solche Einrichtungen, die noch ein gewisses Mindestmaß an
Chancengleichheit (Gleichheit der Waffen in der kapitalistischen
Konkurrenz) herstellen könnten. Und auch das hat durchaus seine
Logik, dem allgemeinen Gejammer über die zu geringe Zahl von
Akademikern und „hochqualifizierten Fachkräften“ zum Trotz.
Unter der aufziehenden Vision einer Dienstbotengesellschaft mit
vergleichsweise wenigen High-Tech-Experten auf der einen und einem
Heer schlecht bezahlter Dienstbotinnen auf der anderen Seite (vgl.
den Beitrag von Frank Rentschler in diesem Heft) kann die
Durchlässigkeit des Bildungssystem gar nicht gewünscht
sein. Für das Bildungsbürgertum wäre es nämlich
vor allem die Durchlässigkeit nach unten. Also werden die
schlechten PISA-Zensuren für das deutsche Bildungssystem nach
bekanntem Muster gegen seine Opfer gekehrt, die den Anforderungen
nicht genügenden Schülerinnen und Schüler: Die
Standards werden einfach bürokratisch festgesetzt, und
gleichzeitig werden die zu ihrer Erfüllung erforderlichen
Rahmenbedingungen weiter verschlechtert. Das nennt sich dann wohl
„Elitebildung“. Wo alles den Bach runtergeht, sind wenigstens die
wie diffus auch immer bestimmten „Werte“ hochzuhalten; und wenn
die Wirklichkeit, hier in Gestalt der mit den neuen / alten
Bildungsstandards beglückten Kinder und Jugendlichen, sich dem
nicht fügen will: umso schlimmer für sie.
Auch eine als
radikal sich bloß
missverstehende Kritik verfällt dem Zeitgeist der konservativen
Krisenverarbeitung einer Neubesinnung auf die alten Werte. Franz
Schandl gehorcht ihm, als verstehe sich das von selbst, in seinem
großenteils aus alten Textbausteinen zusammengeschusterten und
auf neunundvierzig Seiten breitgetretenen Elaborat „Fan und
Führer“
im dünnen Krisis-Heft 28. Was alle Pädagogen im Munde
führen, ist auch ihm geläufig (S. 40): „Fernsehen, Video,
DVD, Internet, Handy, Gameboy“ sind schuld, weil sie die Kinder vom
Lesen und der Auseinandersetzung mit anderen Schwierigkeiten
abhalten, deren Bewältigung uns Ältere schließlich
noch zu dem gemacht hat, was wir sind. Folglich ist die Tochter vom
Fernsehen weg zu zerren und der „Aktivität und Kreativität“
zuzuführen „in der oft üblen Szene des Szenenwechsels
(weg vom Kastl hin zum Musikinstrument)“, also offenbar auch gegen
ihren Willen. Der werte Autor kann nur hoffen, dass seine Eingriffe
nicht irgendwann auf ihn zurückschlagen: Dass in familiären
Zwangsverhältnissen unter Umständen auch die schlichte
Zertrümmerung eines Cellos eine befreiende Tat sein kann, haben
die 68er einmal gewusst.
Peinlich auch
für uns ist nur,
wenn solche bildungsbürgerliche Soße mit angeblich
„wertkritischen“ Ingredienzien angerührt wird. Schandls
selbstverliebte Kritik-Simulation, deren Charakter Günter
Rother in seiner kürzlich veröffentlichten Textanalyse
„Links schreiben - rechts denken: Eine analytische
Auseinandersetzung mit dem Essay „Fan und Führer“ von Franz
Schandl“ (siehe www.exit-online.org)
detailliert herausgearbeitet hat, ist nicht nur ein Defekt der neuen
Krisis, sondern erweist sich bei genauem Hinsehen als ein
verschlepptes Problem bereits der alten. Um die dafür
ursächlichen Fehler im neuen Projekt EXIT nicht zu wiederholen,
müssen sie selbstkritisch aufgearbeitet werden. Ohne damit in
eine Diskussion einzugreifen, die die Binnenstruktur kritischer
Projekte betrifft, lässt sich ein wesentliches inhaltliches
Moment hier festhalten: Die inneren Widersprüche der
Warengesellschaft, an denen sie über kurz oder lang zugrunde
gehen wird, sind stets Ansatzpunkte radikaler Kritik gewesen. Für
die KritikerInnen kann das aber nicht bedeuten, sich auf die eine
oder andere Seite eines solchen Widerspruchs zu schlagen, wie Schandl
und andere es tun. Beide Seiten, im vorliegenden Fall also die
Massenmedien ebenso wie die „klassische”, auf die Entwicklung von
„Humankapital“ zielende Bildung, sind warenförmig. Keine
von ihnen lässt sich daher unmittelbar emanzipatorisch besetzen.
In der gesellschaftlichen Praxis, in der unsereins sich notgedrungen
bewegt, lassen sich Entscheidungen für das kleinere Übel
zwar nicht immer vermeiden. An die Wurzeln gehende Kritik dagegen
kann sich diese Praxis nicht zum Maßstab machen, sondern muss
sich ihrem immanenten Entscheidungszwang verweigern, sie würde
sonst unmöglich.
Der
Möglichkeit radikaler Kritik
begibt sich deswegen auch Ernst Lohoff schon vom Ansatz her in seinem
Text „Negative Sozialromantik“ (Jungle World 40/2004), wenn er
bereits im Untertitel behauptet: „Manchen Linken ist die Kritik an
der Bewegung wichtiger als die Kritik an Hartz IV“, als sei es von
vornherein ausgeschlossen, beides zu kritisieren. Immerhin nennt er
ein wichtiges Kriterium, das allerdings nicht das einzige bleiben
darf (vgl. den Beitrag von Roswitha Scholz in diesem Heft). Er
schreibt: „Im Zeitalter der Krise der Arbeitsgesellschaft genügt
ein Lackmustest zur Scheidung von emanzipativen und
rückwärtsgewandten Sozialprotesten: die Frage der Arbeit.
Opposition beginnt mit der Missachtung dieses geheiligten
Basisprinzips der Warengesellschaft. Sozialkritik, die das Primat der
Arbeit anerkennt, ist keine.“ Doch anschließend vergisst er,
diese Messlatte an die realen Anti-Hartz-Proteste auch anzulegen.
Sein positiver Bezug auf sie rührt dann einzig und allein daher,
dass sie „sich gegen das mit Abstand größte
Verarmungsprogramm der bundesdeutschen Geschichte wehren“, was mit
dem von ihm aufgestellten Lackmustest gar nichts zu tun hat. Frank
Rentschler weist dagegen in seinem Text „Der Staat muß seine
Bürger zur Arbeit verpflichten“ nach (Incipito 14/2004, siehe
auch www.exit-online.org),
dass „der gemeinsame Nenner von Hartz IV und Anti-Hartz-Protest“
(so der Untertitel) in genau dieser Anerkennung des Primats der
Arbeit besteht, einschließlich der damit verbundenen
aggressiven Ausgrenzung von nicht Arbeitsfähigen oder -willigen:
„Übernimmt der Staat die Verantwortung dafür, daß
jeder Bürger sein Recht auf Arbeit einlösen kann, indem er
für Vollbeschäftigung sorgt, muß dem Staat
zugestanden werden, diejenigen Bürger zur Arbeit zu
verpflichten, die zwar von der Gesellschaft leben, ihr aber ihre
Leistung verweigern wollen.“ Dieses Zitat stammt nicht von
Wirtschaftsminister Clement, sondern von dem auf einer
Anti-Hartz-Kundgebung heftig beklatschten Oskar Lafontaine. Wie die
Totgeburt der Partei für „Arbeit & soziale Gerechtigkeit“
zeigt, lassen sich auf dieser Basis nicht einmal die immanenten
Interessenkämpfe mehr führen.
„Lebenswert ist,
was nützlich
ist.“ Das Bentham'sche Programm der Selbstverwurstung treibt seine
Metastasen selbst noch bei denen hervor, die eine Chance auf
„Nützlichkeit“ nie wieder haben werden. So verschärft
sich denn auch der Diskurs um die Alten. Baroness Warnock, laut
Sunday Times vom 12.12.04 die „führende britische
Medizinethikerin“ (!), schlug im selben Blatt vor, die
Gebrechlichen und Alten sollten Selbstmord in Betracht ziehen, um
ihren Familien und der Gesellschaft nicht zu einer finanziellen Last
zu werden („the frail and elderly should consider suicide to stop
them becoming a financial burden on their families and society“).
Die Dame ist 80 Jahre alt und wird ihren Worten wohl bald Taten
folgen lassen. Es ist zu befürchten, dass sie damit nicht allein
bleiben wird.
***
Die „Exit-Irren“
(Ernst Lohoff)
legen hiermit ihr zweites Heft vor. Die große Resonanz, die das
erste erfuhr, beschränkt sich nicht nur auf die RezipientInnen,
sondern betrifft auch „neue“ Autorinnen und Autoren, die sich bei
uns zu Wort melden. Es zeigt sich, dass es möglich ist, den
Kreis der aktiv Beteiligten zu erweitern, ohne theoretisch zu
verflachen und dem verbreiteten Bewegungspopulismus anheim zu fallen.
Mit dem Text „Gott
in Gesellschaft
der Gesellschaft“ führt Jörg Ulrich eine von Walter
Benjamin bereits im Jahre 1921 aufgeworfene und lange Zeit in
Vergessenheit geratene Fragestellung in die wertkritische Diskussion
ein. Der Artikel beschäftigt sich mit den geschichtlichen
Wandlungen des Gottesbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart.
Theoretisch wird dabei im Anschluss an Benjamins Fragment
„Kapitalismus als Religion“ die moderne Vereinigung von Immanenz
und Transzendenz im „automatischen Subjekt“ der
Kapitalbewegung aufgezeigt und begründet, warum mit dem sich
verwertenden Wert ein Gott seine Herrschaft antritt, der sich real
durch die Welt bewegt und als Negation und Selbstbehauptung seiner
selbst im Vollzug ein und derselben Bewegung die „ontologische
Differenz“ der vormodernen Metaphysik auf die Spitze treibt, indem
er als „Sein“ (Wert) das Seiende (die reale Welt) fortschreitend
seinem Begriff gleich macht und es damit in den Abgrund der Leere
seiner abstrakten Bestimmungslosigkeit zerrt. Die Kritik der
politischen Ökonomie müsse daher, so Ulrichs These, heute
dringender denn je immer auch als Metaphysik- bzw. Religionskritik
formuliert werden, um zu zeigen, dass die moderne Gesellschaft in der
Form ihrer ureigenen Bewegungslogik einen Gott im wahrsten Sinne des
Wortes produziert, der in seinem Gang durch die Welt eine gewaltige
Destruktivkraft entfaltet und im Gegensatz zu einigen seiner
historischen Vorgänger keine Gnade mehr kennt, sondern die einst
versprochene Erlösung in einem beispiellosen Vernichtungsfeldzug
in ihr Gegenteil verkehrt.
Petra Haarmann
eröffnet den
Themenschwerpunkt dieses Heftes: Krisenverarbeitung und
Krisenideologien mit dem Text „Das Bürgerrecht auf Folter“.
Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloß provokative
Überspitzung der mittlerweile Alltag gewordenen Meldungen
über
Folterungen auch in solchen Militärgefängnissen und Lagern,
die durch westlich-demokratische Regierungen betrieben und
kontrolliert werden. Vielmehr geht es in dem Artikel um einen
juristischen Meinungsstreit, der bereits seit 1992 mit allem
professoralen Ernst an deutschen Universitäten bis in die
Staatsexamina hinein geführt wird. Zentrale Begriffe sind dabei
die „Würde des Menschen“, das Gefahrenabwehrgebot des
Polizei- und Ordnungsrechts sowie die Kantsche Vernunft in der
Ausprägung des „jus necessitatis“ (Zwang ohne Recht).
Haarmann zeichnet zunächst die Anwendung von Marter und Folter
seit dem frühen Mittelalter in Westeuropa historisch nach und
kontextualisiert diese mit dem jeweils geltenden Verständnis von
Vernunft und menschlicher Erkenntnismöglichkeit, welche bis zur
Bruchlinie der Moderne ohne prinzipielle Erkennbarkeit des
„Göttlichen“ nicht vorstellbar waren. Erst die
nominalistische Vernunft, die sich in der Krise des
Spätmittelalters
von der bis dato allein gültigen Wahrheit der Erkennbarkeit des
Transzendenten verabschiedete, solches Unterfangen sogar als
teuflische Magie brandmarkte und doch selbst zutiefst magisch blieb
und bleibt, insofern sie den Verzicht auf „Magie“ als magisches
Mittel zur Erreichung von Erlösung und Transzendenz ausruft,
konnte jene leere Form hervorbringen, die heute, sei es als
abstrakt-allgemeines Individuum, sei es als abstrakte Allgemeinheit,
das im Göttlichen nicht länger eingeschlossene Chaos (vulgo
„Böse“) allerorten bekämpft. Die heute auch im
westlichen Basislager der Vernunft (wieder?) alltägliche Folter
erweist sich damit also keineswegs als ein Rückfall in
frühmoderne strafrechtliche Erkenntnisverfahren, sondern steht
in der Kontinuität einer Rationalität, die von magischer
Angst getrieben das ihr einzig gesicherte Herrschaftsmittel schwingt:
das Schwert.
In seinem Aufsatz
„Das Geschlecht des
aktivierenden Staates“ vertieft Frank Rentschler aus
wertabspaltungskritischer Sicht seine im letzten EXIT!-Heft
angestellten Überlegungen. Ausgehend von dem dort analysierten
Tatbestand, dass durch die Hartz-Reformen rechtlose Untertanen
entstehen, die vom aktivierenden Staat den noch rechtsfähigen
Bürgern als billige Dienstboten zugeführt werden, spricht
er von einer Dienstbotengesellschaft. Einerseits an Holger Schatz
anknüpfend, der „eine Refeudalisierung im
Vergesellschaftungsmodus der Arbeit“ sieht, betont er andererseits
im Gegensatz zu diesem, dass sie der Modus ist, in dem sich
gegenwärtig das „Geschlecht des Kapitalismus“ (Roswitha
Scholz) konstituiert. Die Arbeit wird zum Dienst, der in der
permanenten Verfügbarkeit für den Markt (bzw. Kunden)
besteht, sich jedoch in eine „männliche“ und eine
„weibliche“ Seite aufspaltet. Im Mittelpunkt der Analyse stehen
die geschlechtlichen Subjektivierungsweisen und damit einhergehenden
Krisenverarbeitungsformen, die mit unterschiedlichen staatlichen
Aktivierungsstrategien korrespondieren. Aus einer Diskursanalyse von
Leitbildern zur Dienstleistungsgesellschaft lässt sich die
dahinter steckende Vision einer Gesellschaft erschließen, die
aus „Yetties“ (Young, entrepeneural, tech-based) und flinken
Servicekräften besteht. Diese Diskurse bezieht Rentschler auf
eine neue symbolische Form des Geschlechts, die er mit Roswitha
Scholz als Ein-Geschlechtermodell begreift, welches die alte polare
Ordnung (Geschlechterdifferenz) ablöst und das männliche
Konkurrenzsubjekt als autonomes Individuum totalisiert. In der neuen
symbolischen Form bezieht sich der Begriff der Differenz nicht mehr
auf ein anderes Geschlecht, sondern auf ein weniger erfolgreiches
Konkurrenzsubjekt. Die damit einhergehende Unterlegenheit ist in
dieser Logik nicht zu kritisieren, da in ihr allein der Erfolg auf
dem Markt die Stellung der Individuen legitimiert. Rentschler zeigt,
dass das alte Geschlechtermodell, das den Wohlfahrtsstaat prägte,
in dieser Hinsicht weniger rigide war. Mit der Umarbeitung der alten
Sozialstaatsphilosophie zur Philosophie der neuen Mitte und der damit
verbundenen Herausbildung des Ein-Geschlechtermodells kommt es zu
einem Backlash, der eine Vertiefung der Geschlechterhierarchien zur
Folge hat. Neben der Veränderung der symbolischen Form
analysiert Rentschler weitere Faktoren und zeigt, dass die
Veränderung Frauen in unterschiedlichem Ausmaß trifft, die
Frauenbewegung damit aber nicht adäquat umgehen kann. Vielmehr
ist sie selbst an der Durchsetzung des Ein-Geschlechtermodells
beteiligt, mit dem ihr eigener Zerfall einhergeht, nachdem
emanzipatorische Vorstellungen zur Aufhebung der alten
Geschlechterordnung sich nicht durchsetzen konnten.
In dem Maße,
in dem die Krise die
Reproduktionsfähigkeit einer sich bisher in Sicherheit
wähnenden
„Mittelschicht“ auflöst, wird auch die Linke von den mit ihr
anscheinend zwangsläufig verbundenen ideologischen
Verarbeitungsmustern befallen. Roswitha Scholz weist in ihrem Text
„Der Mai ist gekommen“ nach, dass eine in die Jahre
gekommene „Wertkritik“ davon nicht ausgenommen ist. Mussten
wertkritische Grundbegriffe Anfang der neunziger Jahre in der Linken
erst mühsam implementiert werden, so stellt sich heute das
Problem ihrer Banalisierung nicht nur durch eine verflachende
Rezeption in diversen linken „Szenen“, sondern auch durch
regressive Tendenzen bei einem Teil des ehemaligen wertkritischen
Zusammenhangs selbst. In diesen Kontexten, wie sie nicht allein von
Rest-„Krisis“ repräsentiert werden, sucht man nun im Rekurs
auf die „Betroffenheit“ und den „Alltag“ weitgehend
unkritisch und linkspopulistisch Anschluss an das breite
Bewegungspublikum. Dabei besteht auch die Gefahr einer Vereinnahmung
durch rechte und konservative Positionen, wenn gerade in der
Situation der sich zuspitzenden Krise die Konstituiertheit
bürgerlich-patriarchaler Konkurrenzsubjektivität
vernachlässigt wird. Als Grundlage dieser Ideologiekritik an
einer banalisierten Lesart wertkritischer Theorie selbst benennt
Scholz den allgemeinen sozialen Hintergrund aller einschlägigen
Tendenzen: nämlich die „Hausfrauisierung“ (Claudia v.
Werlhof) von Männern, auch in linken Theoriegruppen, im
Medienbereich usw., und der „Absturz der Mittelklasse“ (Barbara
Ehrenreich). Eine reduktionistische „Arbeitskritik“ und ein
androzentrisch verkürzter Begriff von „sozialer Wirklichkeit“
sollen etwa in dem Sammelband „Dead Men Working“ den
wertkritischen Fokus abgeben; Rassismus, Antisemitismus und Sexismus
werden wieder zu Nebenwidersprüchen in neuem Gewand degradiert,
statt ökonomische Disparitäten, Geschlechterverhältnis
und die Konstruktion von „Rasse“ in ihrer Verwobenheit zu
begreifen, wie es die Kritik der Wert-Abspaltung für sich in
Anspruch nimmt.
In der Krise des
Kasinokapitalismus
wittert auch der erneut als Ideologieproduzent für die sozialen
Bewegungen reüssierende akademische Traditionsmarxismus wieder
Morgenluft. Am Beispiel des Haug-Schülers Alexander Gallas zeigt
Carsten Weber in seiner Polemik „Ein Problem positivistischer
Eigenart“, wie ein an bestimmten Universitäten fest
verankerter altlinker Honoratiorenklüngel seine Günstlinge
mit akademischen Graden versorgt, selbst wenn die dazu vorgelegten
Schriften - hier eine Magisterarbeit unter dem Titel „Marx als
Monist? Versuch einer Kritik der Wertkritik“ - nicht einmal
grundlegenden wissenschaftlichen Standards genügen. Unter dem
Nimbus universitärer Weihen nehmen die solcherart geadelten
Mediokren erheblichen Einfluss auf die in den verblichenen Kategorien
des Klassenkampfdenkens erstarrten Bewegungen, wo diese sich der
Weiterentwicklung gesellschaftskritischer Theorie notorisch
verweigern und gleichzeitig den selbst verursachten Mangel unter
lautem Jammern beklagen. An dieser Bruchstelle wächst zusammen,
was zusammen gehört, denn der akademische Traditionsmarxismus
war schon immer nur allzu gern bereit, noch der theorie- und
intellektfeindlichsten Proletkultsekte sich als Dienstmagd
anzubieten, um so mehr, als er selbst in seinen stets
subjektivistischen Analysen nie die Ebene der
Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft
durchstoßen konnte. Weber weist in seiner Analyse nach, dass
dieses theoretische Unvermögen in unauflösbare Aporien
mündet, die Gallas in seiner Abwehr der Wertkritik unter
Zuhilfenahme eines ganzen Arsenals von rabulistischen und projektiven
Verdrehungen zu verschleiern sucht.
Im zweiten Teil der
in EXIT! Nr.1
begonnenen grundsätzlichen Studie „Die Substanz des
Kapitals“ beschäftigt sich Robert Kurz mit dem Problem der
Quantität der abstrakten Arbeit als Grundlage der Krisentheorie.
Ursprünglich sollte diese Untersuchung in Weiterentwicklung der
über das Marxsche Werk verstreuten Ansätze bereits die
Systematik einer positiven Krisentheorie anhand der Begriffe des
absoluten und relativen Mehrwerts, der organischen Zusammensetzung
des Kapitals und des Verhältnisses von Profitrate und
Mehrwertmasse entwickeln. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die
theoriegeschichtlichen und die ideologiekritischen
Aspekte des Quantitäts- und Krisenproblems allein schon einen
derartigen Raum einnehmen, dass die Darstellung der immanenten
Krisenlogik selbst erst in EXIT! Nr. 3 folgen kann (der dadurch
notwendig gewordene vierte Teil soll dann den Kontext
Kreditsystem/fiktives Kapital/postmoderner Virtualismus etc.
erörtern). Hier wird nun die historische marxistische Debatte um
die Krisentheorie ausführlich aufgearbeitet, vor allem die
Auseinandersetzung um die Zusammenbruchstheorien von Rosa Luxemburg
und Henryk Grossmann. Es zeigt sich, dass der traditionelle Marxismus
aufgrund seiner Arbeitsontologie insgesamt nicht in der Lage war, die
entscheidenden Elemente der Marxschen Krisentheorie aufzunehmen. Wie
die transhistorische Bestimmung der Arbeitsabstraktion deren
spezifische Qualität als Substanz des Kapitals verfehlte, so
musste sie zwangsläufig auch den Kern der Krisenproblematik als
„Entsubstantialisierung“ oder Entwertung des Werts verfehlen. Die
Folge war eine bis heute nachwirkende platte Subjektivierung der
politökonomischen Kategorien vor allem durch den „westlichen
Marxismus“. Überhaupt bildet das theoretische Scheitern an der
Subjekt-Objekt-Struktur des modernen Fetischverhältnisses die
Geheimgeschichte der marxistischen Krisen- und Zusammenbruchsdebatte,
die sich auf diese Weise in die Illusion einer politischen Steuerung
der unüberwundenen Fetischkategorien auflösen musste.
Vollends verdunkelt und ideologisch „entsorgt“ wird das
Quantitätsproblem der abstrakten Arbeit in jüngsten
Theorien, die an I. I. Rubin anschließen, indem sie den
Marxschen Substanzbegriff selbst als „physiologisch-naturalistisch“
disqualifizieren wollen. Die polemische Auseinandersetzung dazu mit
den Theorien von Moishe Postone und vor allem von Michael Heinrich
schließt diesen zweiten Teil der Studie ab.
Mit seinem Beitrag „Die
Theologie
des automatischen Subjekts“ reagiert Jörg Ulrich auf den
Text „Die Realität des automatischen Subjekts“ von Christian
Höner in EXIT! 1. Bei grundsätzlicher Zustimmung zu den
Thesen Höners kritisiert er vor allem dessen starre
Unterscheidung zwischen „reiner Metaphysik“ und Realmetaphysik.
Die zweite, so die Gegenthese, sei nichts anderes als eine
Metamorphose der ersten. Die Anerkennung dieses Umstandes führe
keineswegs zu einer Verkennung des Warenfetischismus, sondern
im Gegenteil zum Erkennen des Kapitalismus als einer
Immanenzreligion. Darüber hinaus geht es außerdem um die
Frage des falschen Bewusstseins und die Behauptung, dieses
reflektiere die realmetaphysische Objektivität von Gesellschaft
nicht verkehrt, sondern gar nicht. Hier argumentiert Ulrich gegen die
ihm fatalistisch anmutende Position Höners, indem er die
grundsätzliche Erkennbarkeit des fetischistischen
Verkehrungsmechanismus begründet.
Den Abschluss des
Heftes bilden drei
Kommentare von Udo Winkel. In seiner Glosse „Weiterwursteln“
beleuchtet er anlässlich des 32. Soziologentages in München
(Oktober 2004) die desolate aktuelle Situation der Soziologie als
Moment und Ausdruck der Krise der bürgerlichen Gesellschaft.
Weiterwursteln wie bisher (Systemtheorie), Mikrosoziologie, Zerfall
und soziologischer Feuilletonismus bestimmen das Bild; neue
Perspektiven sind nicht zu erkennen. Der Text „Zur Neuherausgabe
der Marxschen Frühschriften“ bezieht sich auf die
inzwischen dritte Ausgabe derselben im Kröner Verlag (1932 –
1953 – 2004). Sie bietet die Möglichkeit einer neuen
Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des aktuellen Marxschen
Spätwerkes. Die bisherige Rezeption der Hegelkritik und der
Entwicklung der Dimensionen der Kritik an der bürgerlichen
Gesellschaft zeigt die Schranken des traditionellen Marxismus. Der
letzte Text schließlich, „Zur Neuherausgabe von Max Webers
>Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus<“,
befasst sich mit einem Klassiker, der (nicht nur) durch die in diesem
Heft eingeführte Sicht des Kapitalismus als Religion neue
Aktualität gewonnen hat.
***
Wie üblich,
soll abschließend
auf zwei weitere Publikationen aus unserem Zusammenhang hingewiesen
werden: Von Jörg Ulrich ist im Oktober 2004 im Verlag Ulmer
Manuskripte das Buch „Masken und Metamorphosen des Heiligen“
erschienen, das weitere Facetten des von ihm in diesem Heft
behandelten Themas „Kapitalismus als Religion“ behandelt. Von
Roswitha Scholz erscheint im Mai 2005 im Horlemann-Verlag das Buch
„Differenzen der Krise – Krise der Differenzen. Die neue
Gesellschaftskritik im globalen Zeitalter und der Zusammenhang von
„Rasse“, Klasse, Geschlecht und postmoderner Individualisierung“.
Im Mittelpunkt des Buches steht das spannungsreiche Verhältnis
zwischen „ethnischen“, sozialen, geschlechtlichen oder
individuellen Differenzen einerseits und einer Gesellschaftskritik,
die in veränderter Weise wieder das weltgesellschaftliche Ganze
in den Blick nimmt, andererseits.
Claus Peter Ortlieb für die
EXIT!-Redaktion
im Februar 2005
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