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EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 3/2006 (Archiv)


DIE UNFREIE ZIRKULATION DER IDEEN

Offener Brief an die UserInnen der EXIT-Homepage und die LeserInnen von EXIT!

Es ist nun keineswegs so, dass die LeserInnen der Zeitschrift und die NutzerInnen der Homepage weitgehend identisch wären. Vielmehr spaltet sich das Publikum nach Printmedium und elektronischem Medium auf. Zwar gibt es natürlich Überschneidungen. Dennoch sind von den inzwischen rund 450 für den EXIT-Newsletter eingetragenen Leuten nur wenige Abonnenten der Zeitschrift, während sich umgekehrt von diesen Abonnenten auch nicht viel mehr für den Newsletter eingetragen haben.

Die UserInnen der EXIT-Homepage, die für die Verhältnisse einer Theoriezeitschrift sehr hoch frequentiert ist, können sich hier eine inzwischen ziemlich große Masse von theoretischen bzw. kommentierenden Texten herunterladen und für sich nutzen. Ich weiß natürlich nicht, welchen Stellenwert für die Einzelnen diese Nutzung hat. Aber wenn sie überhaupt einen Stellenwert hat, wovon man bei regelmäßiger Frequentierung ausgehen kann, sollte es erlaubt sein, einmal über die materiellen und sozialen Bedingungen und die Beziehung zum Printmedium zu reden.

Inhaltlich geht es bei der Produktion und Zirkulation radikal kritischer Theorie gerade nicht um den Selbstzweck der Wertverwertung; insofern fällt sie aus dem abstrakten Reichtum heraus. Da es sich aber logischerweise bei der Kritik um eine Bewegung der Transzendenz aus der Immanenz heraus handeln muss, bleibt der kritische Inhalt in bestimmter Hinsicht an die kapitalistische Form gebunden. Was manche affirmativen oder resignativen DenkerInnen dazu veranlasst, die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens zu behaupten, weil die Form stets den Inhalt aufsaugen und in sein Gegenteil verwandeln würde. Ich halte eine solche Auffassung für falsch, weil sie nicht damit rechnet, dass sich diese Form letztlich am Inhalt bricht; und zwar am Inhalt überhaupt, an der qualitativen Verfasstheit der materiellen Welt ebenso wie an der unausweichlichen qualitativen Verfasstheit der kapitalistischen Hervorbringungen selbst (Produktivkraft-Destruktivkraftentwicklung) – und damit auch am Inhalt der auf diesen Widerspruch bezogenen theoretischen Kritik bzw. der möglicherweise damit vermittelten praktischen Kritik. Dennoch bleibt die Spannung von Immanenz und Transzendenz. Und zur Immanenz gehört die Tatsache, dass die kritische Theorie eben unter kapitalistischen Formbedingungen nur entstehen und sich verbreiten kann.

Damit komme ich auf das Internet zurück. Es stellt ein technisches Medium für die Verbreitung von Inhalten aller Art dar und hat insofern zirkulativen Charakter. Der große Unterschied zur Marktzirkulation der Waren besteht darin, dass die im Internet zirkulierenden Inhalte weitgehend für die User gratis sind, d.h. ohne Bezahlung für den eigenen Gebrauch heruntergeladen werden können. In gewisser Weise scheint sich das Medium des Internet sogar gegen die kommerzielle Zirkulation zu sperren, was ein Hinweis auf die inneren Grenzen des abstrakten Reichtums ist. Allerdings eben nur einer unter vielen Hinweisen, nicht der Hinweis schlechthin und schon gar nicht der Königsweg zur sozialen Emanzipation. Eine solche Auffassung würde eine Hypostasierung der spezifisch qua Internet zum Ausdruck kommenden immanenten Widersprüche des abstrakten Reichtums darstellen.

Aber genau diese Überzogenheit findet sich bei einem Teil der linken „Internet-Freaks“. Mit weitreichenden und inakzeptablen ideologischen Konsequenzen, wie sich immer wieder zeigt. Zunächst fällt auf, dass implizit so getan wird, als gelte die Kostenlosigkeit der medialen Zirkulation von theoretischen Texten auch für deren Produktion bzw. Bereitstellung. Das ist natürlich falsch. Damit man sich einen Text von einer Homepage gratis herunterladen kann, muß diese Homepage erst einmal existieren und müssen Texte darauf gestellt werden. Sowohl die Einrichtung als auch der laufende Betrieb einer Homepage aber kosten Geld. Die Kosten müssen die Betreiber tragen. Da es sich in unserem Fall weder um ein gewöhnliches Warenangebot noch um ein altruistisches Geschenk handelt, sondern um einen theoretischen Anspruch der Kritik, den – so setze ich hier voraus – die UserInnen teilen (auch wenn sie natürlich nicht in allen Punkten mit unseren Texten übereinstimmen müssen), ist es unredlich, wenn letztere dabei einen in gewisser, wenn auch vermittelter Weise gemeinsamen kritisch-emanzipatorischen Zusammenhang so deuten, dass hier ein quasi-kommunistischer „Vorschein von (monetärer) Kostenlosigkeit“ oder die berühmte „Keimform“ zum Ausdruck käme, obwohl in Wirklichkeit die Kostenlosigkeit ganz einseitig nur für die UserInnen existiert, während das Zur-Verfügung-Stellen ganz und gar nicht kostenlos ist.

In einer Zeit zunehmender Prekarisierung ist es sicherlich berechtigt, wenn Leute mit wenig Geldeinkommen nach einem kostenlosen Zugang zu kritischer Theorie und Information via Internet suchen; und in diesem Sinne ist das Angebot der EXIT-Homepage auch gedacht. Etwas anderes ist es jedoch, wenn damit die Ideologie eines schlechten Utopismus verbunden wird, der in klassisch bürgerlich-kleinbürgerlicher Manier die Zirkulation verabsolutiert und daraus unmittelbar das „ganz Andere“ herbeizaubern will, während die tatsächlichen (re)produktiven Bedingungen auch der kritischen Theoriebildung ignoriert werden. Mit dieser heute weltweit zunehmenden Zirkulationsideologie, die in der linken Internet-Szene einen spezifischen Ausdruck angenommen hat, werden wir uns weiter auseinandersetzen müssen.

Hier möchte ich nur auf zwei fragwürdige Aspekte dieses zirkulativen Utopismus hinweisen. Zum einen ist er wie die bürgerliche Zirkulation überhaupt rein formal, ganz unvermittelt mit Inhalten und Kontexten. Es sollen nur „Texte überhaupt“, gleich welchen Inhalts, „frei zirkulieren“, gleich in welchem Zusammenhang. Damit geht die Form bzw. der Formalismus der Wertabstraktion trotz äußerer Kostenlosigkeit bereits in den angeblichen „Vorschein“ oder die angebliche „Keimform“ bewusstlos mit ein. Die Zirkulation bleibt eben auch ohne monetäre Zahlung ihrem Wesen nach an das Wert- und Abspaltungsverhältnis gebunden; sie kann nicht frei sein, wenn es die dazugehörige Reproduktion nicht ist. Würde die Reproduktion (und sei es in Teilbereichen einer Aneignung des reproduktiven Zusammenhangs) von einem „Verein freier Individuen“ betrieben, handelte es sich auch nicht mehr um Zirkulation, sondern um freie Distribution; und diese wäre gerade nicht formal, aber eben an den reproduktiven Zusammenhang als Ganzen gebunden. Hinzu kommt, dass sich der schlechte Utopismus einer „freien Zirkulation von Ideen“ (faktisch: Texten) keineswegs damit begnügt, bewusst im Internet kostenlos zur Verfügung gestellte Texte für den eigenen Gebrauch zu nutzen, was ja unproblematisch wäre. Vielmehr geht der formalistische Anspruch darauf aus, diese Texte ohne Einwilligung der Urheber beliebig in andere Zusammenhänge zu stellen, sie zu verändern, zu verfälschen, ohne Quellenangabe abzuschreiben („copy and paste“) usw. Es handelt sich hier meines Erachtens nicht um Emanzipation und gegenseitige Hilfe, sondern um einen formalen bürgerlichen Machtanspruch in der Hülle der Zirkulationsideologie. Das würde z.B. bedeuten, dass Querfront-Neonazis beliebig linke Texte „aneignen“ und in ihren Kontext stellen können, wenn sie sich nur an den Formalismus halten.

Zum andern droht die Verengung auf die angeblich „freie Zirkulation“ im Internet auch auf eine zunehmend verkürzte theoretische Diskussion hinauszulaufen. Es liegt im Wesen dieses Mediums, dass es sich nicht nur gegen die monetäre Vermittlung sperrt, sondern auch gewissermaßen materiell gegen größere Textmassen wie etwa Bücher, die in der gebundenen Print-Form wesentlich besser zugänglich sind. Das bedeutet, dass eine auf das Internet verengte Rezeption oft nicht über Texte von wenigen Seiten hinausgeht, die bequem „heruntergeladen“ und ausgedruckt werden können. Wer die Debatten in Mailing-Listen beobachtet, kann leicht feststellen, dass viele Bezugnahmen (keineswegs alle) nur über solche buchstäblich verkürzte Rezeptionen laufen und ganze theoretische Komplexe oft genug hauptsächlich über diesen Schmalspur-Zugang wahrgenommen werden. Das trägt zu einer Verflachung der Reflexion bei, wie sie ohnehin im bürgerlichen Medienbetrieb angelegt ist.

In diesem Zusammenhang wird auch gern übersehen, und damit bin ich wieder bei der Kostenfrage angelangt, dass die materielle Voraussetzung für kostenlose theoretische Texte und Kommentare etwa auf der EXIT-Homepage in der Existenzfähigkeit des dazugehörigen Printmediums besteht. Wenn sich die gedruckte Theoriezeitschrift nicht halten kann, muß auch die Homepage eingestellt werden; so einfach ist das. Zwar hat sich EXIT! innerhalb von weniger als zwei Jahren durchaus konsolidiert; aber die Vermittlung von elektronischem Medium und Printmedium läßt eben zu wünschen übrig. Wenn die Theoriebildung nicht materiell eingeengt und die Rezeption nicht verkürzt werden soll, bedarf es verstärkt einer Konvergenz von UserInnen und AbonnentInnen der Theoriezeitschrift.

EXIT! hat inzwischen einen größeren AutorInnenstamm und ein größeres Themenspektrum als die alte „Krisis“ und erscheint in einem erheblich erweiterten Umfang. Für ernsthaft an der weiteren kritischen Theoriebildung Interessierte sollte es auch unter erschwerten sozialen Bedingungen in der Regel immer noch möglich sein, pro Jahr 20 bis 26 Euro (je nach Umfang) für den Bezug der Theoriezeitschrift aufzubringen. Ein Abo signalisiert schließlich auch kein „Bekenntnis“ und keine enge Bindung, sondern nur die Bereitschaft zu einer Wahrnehmung der theoretischen Produktion über die elektronisch zur Verfügung gestellten Texte hinaus. Deshalb die Bitte an die UserInnen, sich zu einem Abonnement von EXIT! zu entschließen. Damit werden auch die Bedingungen für die Homepage verbessert.

Unabhängig davon benötigen wir natürlich weiterhin dringend finanzielle Unterstützung in Form von Spenden, damit die Tätigkeit von EXIT! nicht nur auf den beiden medialen Ebenen, sondern auch in Form von Seminaren und Arbeitstreffen für 2006 gesichert werden kann. Wir bitten daher auch dieses Jahr alle InteressentInnen um einen finanziellen Beitrag, selbst wenn für viele nur eine kleine Summe möglich ist. Für einige größere und kleinere Einzelspenden, die uns im Jahresverlauf bereits zugegangen sind, bedanken wir uns an dieser Stelle.




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