Zur Diskussion um CoronaSeit unserem ersten Text zu Corona in der Krise des Kapitalismus haben sich manche der geäußerten Befürchtungen bereits bestätigt. Die Diskussion ist weitergegangen. Darin treten neue Facetten in den Vordergrund. Zu einigen davon drängen sich die folgenden Anmerkungen auf: Bundestagspräsident Schäuble warnt in der Debatte um Corona davor, dem „Schutz von Leben“ absoluten Vorrang vor anderen Gütern einzuräumen1. Aus einem ‚Prinzipienhimmel‘, in dem vermeintlich zeitlos gültige Wahrheiten hin und her gewendet werden, kann dem auch nicht widersprochen werden. Und so haben sich berufs- und berufungsmäßig mit überzeitlichen Wahrheiten Betraute und Vertraute wie Philosophen und Theologen auch beeilt, Schäuble beizupflichten. In ihrem Insistieren auf allgemeinen Wahrheiten sind sie alle mehr oder weniger Erben von Kants Ethik. Seine Ethik beruht auf einem rein formalen Prinzip: dem Handeln aus freiem Willen. Er ist frei, weil er keinem anderen Prinzip als dem der Vernunft verpflichtet ist und darin jene Allgemeingültigkeit gewinnt, die im kategorischen Imperativ ihren Ausdruck findet. Die sich aus der reinen Form des kategorischen Imperativs ergebenden Pflichten, sind aber leider Pflichten, die in der irdischen Welt zu erfüllen sind. Sie können keine ‚reine Form‘ bleiben, sondern müssen sich mit materialen Gehalten, mit Inhalten aus der sinnlich-empirischen Welt verbinden. Es bedarf also – kantianisch gesprochen – einer Urteilskraft, die das Besondere der empirisch-sinnlichen Welt dem Allgemeinen, also den allgemeinen Wahrheiten aus dem zeitlosen Prinzipienhimmel ein- und unterordnet. Genau an dieser Stelle zeigt sich, dass der Prinzipienhimmel keineswegs so zeitlos unschuldig ist wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Im Schein allgemein gültiger Wahrheiten tritt höchst irdisch das in Erscheinung, was in der historischen Realität das allgemein verpflichtende Gesetz der Vernunft darstellt: das Wertgesetz und die mit ihm verbundene geschlechtliche Abspaltung. Die historische Form der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung ist immer schon unreflektiert vorausgesetzt, wenn es um das ethische Abwägen von Gütern gehen soll, die in Konkurrenz zueinander stehen. Diese Erkenntnis bringt Licht in das Dunkel aufgeklärter Ethik und ihres Räsonierens darüber, welche der kontingenten Güter den Vorzug verdienen. Dann erweist sich Schäubles sensationell erscheinende Feststellung, dass es im Bereich des Kontingenten kein Absolutes geben kann – auch nicht das Gut das Lebens – als ebenso selbstverständlich wie banal. Problematisch wird sie jedoch, weil sie auf die mit Corona noch einmal verschärfte Krise des Kapitalismus zielt. Die Politik scheint, mit einer riesigen Staatsverschuldung das Leben der eigenen Bürger_innen vor Corona schützen zu wollen. Gerade darin zeigt sich, dass das Leben der kapitalistischen Allgemeinheit davon abhängig ist, dass Waren produziert und die mit der Reproduktion des Lebens verbundenen Aufgaben erfüllt werden. Der Motor der Verwertung ebenso wie der für die Reproduktion muss also schnellstmöglich wieder angeworfen werden, soll der Kapitalismus nicht vollends gegen die Wand fahren. Genau diesem höchst irdischen Zweck sollen die banalen Selbstverständlichkeiten aus dem Prinzipienhimmel den Weg bereiten. Für diesen Zweck ist nicht einmal der platte Hinweis zu peinlich, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde ja nicht ausschließe, „dass wir sterben müssen“. Im Kern appelliert der Hinweis auf die Relativität des Lebens auf etwas, das dem Kapitalismus vertraut ist, die Bereitschaft – und bist du nicht willig, dann brauch ich Gewalt – das Leben zu opfern. So wurde – trotz aller Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen – die Diskussion um weltweite deutsche Militäreinsätze von Appellen begleitet, dass Soldaten bereit sein müssen, ihr Leben einzusetzen. Auch Solidarität verlangt Opfer. Was das bedeutet hat, machte Peter Jungen von der Peter Jungen Holding GmbH, Business Angel Investor in Europa, USA und China deutlich: „Solidarität heißt, Regeln einzuhalten“2. Gemeint ist Italien, das seine Schulden zurückzahlen soll. Krise und Fragen nach Zusammenhängen hin oder her – Schulden müssen bezahlt werden. Das gilt umso mehr, als Italien sich trotz Verschuldung geweigert hat, Strukturreformen durchzuführen. Dass bei noch größeren Einsparungen im Gesundheitssystem noch mehr Menschen gestorben wären, ist das Opfer, das dem Wertgesetz nun einmal zu bringen ist. Dass in Erfüllung der damit einhergehenden ökonomischen und politischen Pflichten getötet wird, dass Menschen überflüssig gemacht, in die Flucht getrieben und die natürlichen Grundlagen des Lebens global zerstört werden, all das ist Ausdruck der kapitalistischen Verpflichtung zum Opfer – am besten aus Einsicht und freiem Willen, wenn nötig auch erzwungen – in einem System, in dem immer schon gleichsam a priori entschieden ist, dass der Wert des Lebens für die Nichtverwertbaren ‚absolut‘ nichts gilt. Das gilt unter dem Druck der Krise auch immer deutlicher für die Nichtverwertbaren in den kapitalistischen Zentren, in Zeiten von Corona nicht zuletzt für Kranke und Alte, die eine Belastung für den Verwertungsprozess darstellen. Genau das hat Schäuble banal und zynisch zugleich noch einmal ausgeplaudert und in Erinnerung gerufen. Nicht ‚der Mensch an sich‘ ist Zweck im Kapitalismus, sondern die Vermehrung des Kapitals um seiner selbst willen. Und das gilt trotz der Kontingenz seiner historischen Form als ‚absolut‘ und damit als Fetisch, der auf Erfüllung der entsprechenden ‚sittlichen‘ Pflichten besteht. Im Zusammenhang einer möglichst schnellen Rückkehr zur kapitalistischen Normalität bewegen sich die umgesetzten Lockerungen, die von immer neuen Lockerungsforderungen begleitet werden. Wohin sie führen können, zeigt die Infektion von 300 – einem Drittel – der bei Müller Fleisch in Pforzheim eingesetzten Billigarbeitskräfte aus Rumänien. Dabei wird zugleich deutlich, wie ungleich Risiken und Lasten in dieser Normalität verteilt sind – eine Ungleichheit, die sich mit Corona noch einmal lebensgefährlich verschärft.3 In den Debatten um Lockerungen werden Bedenken von Virologen mit Hinweisen vom Tisch gewischt, falsche politische Entscheidungen ließen sich ja revidieren. Genau das wäre angesichts der Ausbreitung des Virus nicht so einfach. Eine trügerische Sicherheit scheint das Sinken des Reproduktionsrate zu suggerieren, so dass Warnungen vor einer zweiten Infektionswelle verharmlost oder in den Wind geschlagen werden. Dabei haben schon die Ostertage einen leichten Anstieg der Reproduktionsrate gezeigt4. Vor allem hätte bei einer zweiten Infektionswelle das Virus – weil nicht nur in einzelnen Hotspots, sondern überall im Land verbreitet – wesentlich bessere Startbedingungen und könnte mit schwerwiegenderen Folgen verbunden sein als die erste Welle. Politische Entscheidungsträger stehen nicht nur unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise, sondern auch unter dem Druck derer, die darauf drängen endlich wieder zur ‚Normalität‘ des kapitalistischen Alltags zurückkehren zu können. Es spricht einiges dafür, dass sich unter diesem Druck die politische Debatte – unter Betonung der Eigenständigkeit politischen Handelns – von der Debatte um wissenschaftliche Einschätzungen der Gefährlichkeit des Virus trennt. An die Stelle politischer Bewertungen unterschiedlicher virologischer Expertisen tritt die Diskreditierung von Wissenschaftlern. In vertrauter Theorie- und Reflexionsfeindlichkeit drohen rationale Überlegungen hinter Gemengelagen aus ‚Bauchgefühl‘, ‚gesundem Menschenverstand‘ und ‚Volksgefühl‘ zu verschwinden, begleitet von verschwörungsideologischen Überlegungen. Damit ist nicht geleugnet, dass Lockerungen da sinnvoll und notwendig sind, wo es um die Begegnung von Menschen in den isolierten Altenheimen oder im Blick auf die Begleitung Kranker und vor allem Sterbender geht. Dafür fehlt es aber oft an entsprechenden Schutzmaßnahmen bis hin zu genügenden Tests und Schutzkleidung für Besucher_innen, Pflegepersonal und Mediziner_innen, was nicht zuletzt eine Folge des mit den neoliberalen Reformen verbundenen betriebswirtschaftlichen Kalküls ist. In einer Situation, in der ‚Sich-Zusammentun‘ und Kooperation wichtig wären, zeichnen sich Tendenzen zu politischer Isolation ab. Dass die USA die Zahlungen an die WHO einstellen, ist ebenso ein falsches Zeichen wie das Fernbleiben von USA und Russland bei der Konferenz zur Entwicklung eines Impfstoffs. Vor allem ist es eine Illusion, sich dadurch vor dem Virus retten zu können, dass kollabierende Länder sich selbst überlassen werden. Mit Abschottung und nationalistischer Isolation wird der Kampf gegen das Virus nicht zu gewinnen sein. Wer sich zu recht um Überwachung, autoritären Staat und Ausnahmezustand sorgt, sollte seine Sorge auf die Zeit der Rückkehr zur kapitalistischen Krisennormalität konzentrieren. Es besteht die Gefahr, dass in der Corona-Krise erprobte autoritäre Maßnahmen dann durchgesetzt werden, um die kapitalistische Krisenrealität mit ihren sozialen Verwerfungen in den Griff zu bekommen. Zu befürchten ist auch, dass diese Maßnahmen gerade dann auf Zustimmung stoßen, wenn durch sie die kapitalistische Krisennormalität abgesichert werden soll, als wenn es ‚nur‘ darum geht, das Corona-Virus einzudämmen. An der Normalität des Ausnahmezustandes für Geflüchtete hat sich auch bisher noch keine liberale Partei gestört. Es tun sich Parallelen zum 11.9.2001 auf: Auch die Maßnahmen, die damals Hals über Kopf beschlossen wurden, werden bis heute auch in Bereichen angewandt, die mit Terrorismus nichts zu tun haben, und sie wurden beibehalten, obwohl sie sich als Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus als wirkungslos erwiesen haben. Somit dürfte es naheliegend sein, dass die technischen und repressiven Möglichkeiten, die etwa mit der ‚Corona-App‘ oder einem lebenslang (!) bestehenden digitalen biometrischen ‚Impfnachweis‘5 einhergehen, keineswegs auf ‚corona-spezifische Anlässe‘ beschränkt bleiben werden. Aufhorchen lassen sollte es, wenn von einigen gefordert sind, dass entsprechende Tracking-Programme verpflichtend sein sollten6 oder dass auch Daten von Nicht-Infizierten gesammelt werden sollen.7 Wie sehr auch vermeintlich kritisches Denken in die mit der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung verbundenen Denkformen eingebunden ist, wird in einem Interview mit Marlehn Thieme, der Präsidentin der Welthungerhilfe, deutlich8. Sie verweist auf „das verhängnisvolle Zusammenspiel aus Corona-Pandemie, bewaffneten Konflikten und Klimawandel“, das „zu einer Hungerkatastrophe größten Ausmaßes führt“. Und doch hängt alles am Verwertungsprozess: „Schon bei einem Prozent weniger Wirtschaftswachstum könnte die Zahl der Armen und Hungernden um 2 Prozent steigen.“ Im Umkehrschluss heißt das: Wir brauchen ‚Wachstum‘ – egal welche Zerstörungen das mit sich bringt.9 In der Diskussion um den Krisenkapitalismus in Corona-Zeiten scheint sich das perspektivlose Hin und Her-Springen zwischen Polaritäten immer schneller und wirrer zu vollziehen. Mal Schutz des Lebens durch den Staat, dann wieder Lockerungen im Interesse des Funktionierens der Ökonomie – und auch das dient ja dem Schutz des Lebens, weil von der Verwertung des Kapitals ja alle anderen Werte, der gesamte Wertekanon der Verfassung, abhängen. Auf der einen Seite wird beklagt, dass die Digitalisierung in den Schulen nicht weit genug fort geschritten ist. Gleichzeitig rennen Klagen über psychische und sozialpsychologische Belastungen durch fehlende Face-to-Face- Kommunikation offene Türen ein, weil sie den Druck verstärken, Lockerungen durchzusetzen. Zwischen Lockerungen und Ausnahmezustand sind die politischen Kräfte hin- und hergerissen. Schnell übersehen wird dabei, dass auch eine autoritäre Politik auf ihre Grenzen stößt. Sie muss sich angesichts knapper werdender Ressourcen und mittels verwildernder Apparate durchsetzen und stößt zudem – wie sich bei der Öffnung von Schulen zeigt – auf eine zusammenbrechende Funktionsintelligenz. Das wirre Hin und Her und dann wieder das Sich-Drehen im Kreis ist Ausdruck der wirren und verwirrenden Verhältnisse, die zwar von Corona befeuert werden, aber nicht mit Corona entstanden sind. Manche Linke bewegen sich in der Nähe derer, die in der Krise eine Chance sehen. Angeblich ist ja mit jeder Krise ein Kairos, ein günstiger Zeitpunkt für eine Wende verbunden. Solchen Kairos wittert Oliver Nachtwey10. Mit dem Einbrechen von Corona – gleichsam als pervertiertem badiou‘schem Ereignis – machen wir die existenzielle Erfahrung, dass sich unser Alltag „von einem Tag auf den anderen“ ändern kann. Dann kann sich auch noch anderes ändern: die unter dem Warenfetisch unsichtbaren Tätigkeiten wie die der Krankenpflege werden sichtbar und erscheinen im Licht der Systemrelevanz. Die Einsparungen im Gesundheitssystem zeigen sich als Irrtum. Die Politik rettet Unternehmen, warum sollte man sie nicht auch demokratisieren können? Es ließen sich doch Maßnahmen, die Corona nahelegt, auf Dauer stellen: Also „entzieht“ man „das Gesundheitssystem dem Markt, verpflichtet die Großunternehmen dazu, ihre wirtschaftliche Tätigkeit am Allgemeinwohl auszurichten, dann wäre das ein Schritt in die Richtung eines Infrastruktursozialismus“. Wenn das so einfach wäre: Corona bläst die Krise samt der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung, ihrer Denke und sozialpsychologischen Konditionierungen weg. und alles wird gut. Nicht Corona hat uns um den Verstand gebracht. Der war mit dem Einbrechen theoretischer Reflexion und dem damit verbundenen Pragmatismus schon vor Corona verloren gegangen. Dieser Verlust gehört zu den Vorerkrankungen, auf die das Virus gestoßen ist. Das Bemühen um Theoriefähigkeit wäre eine unverzichtbare Voraussetzung für einen Genesungs- und Veränderungsprozess, der nicht träumt und vor sich hin wünscht, sondern erkennt, und negiert, was den Kapitalismus konstituiert und so Voraussetzungen schafft für eine Transformation auf der Grundlage der Negation der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung. Erst dann wäre Corona zum Kairos geworden.
Herbert Böttcher, Anfang Mai 2020.
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