Du musst „Gesundheitsdiktatur“ sagen!

Wer ist der beste beim Regredieren?

Herbert Böttcher

Verschwörung als Schlüssel zur Erkenntnis

Unter dem Titel „Haben Sie ‚Gesundheitsdiktatur‘ gesagt?“ hatte Anselm Jappe seine Kritik an repressiven Gesundheitsmaßnahmen bis hin zur Impflicht überschrieben und sich gegen Etikettierungen wie „Verschwörungstheoretiker“ gewehrt. Karl Rauschenbach1 ist das noch nicht genug. Er will über Jappe hinaus… Als Negativfolie dient dabei exit!, das er „im Krieg“ gegen Verschwörungsfantasien wähnt. Die Reihen würden geschlossen durch „drei Dogmen“, die zugleich einen „Moralkodex“ darstellten: „Du sollst Corona und die Pandemie nicht leugnen! Du sollst kein Verschwörungstheoretiker sein! Du sollst kein Querdenker sein!“

Nun ließe sich Rauschenbachs Eifer gegen exit! quer liegen lassen, verriete er nicht doch einiges über die ‚Verschwörungs- und Querdenkerei‘. Bereits die exit! angedichtete Dogmatik ist äußerst bemüht und konstruiert, samt der Statistiken, die sie absichern sollen. Das Verhältnis zur Corona-Pandemie und der politischen Reaktion darauf werden gleichsam zu einer erkenntnistheoretischen Fundamentalkategorie, mit der die gesellschaftlichen Verhältnisse erschlossen und eine Praxis des Widerstands halluziniert werden soll. Es geht nicht darum, Corona im Zusammenhang gesellschaftlicher Totalität zu verstehen, sondern umgekehrt: Gesellschaftliche Totalität samt Folgerungen für die Praxis werden aus dem Pandemiegeschehen abgeleitet – und zwar eindeutig, ohne wenn und aber.

Eine solch hohe Messlatte kann selbst Jappes Rede von der „Gesundheitsdiktatur“ nicht überspringen. Er springt verschwörungstheoretisch darunter her. Darüber lässt sich Rauschenbach ausgiebig aus. Er verweist auf „gesellschaftliche Mechanismen …, die ohne eigentliche (sic!) Verschwörung auskommen“ und nennt als Beispiele „Sensationslust der Medien“, „Konformismus der Politiker“, „Profitsucht einzelner Akteure und Kapitalien, etwa der Pharmaindustrie oder dieser Digitalwirtschaft“. Später wird noch auf die Restrukturierung des Kapitalismus und die mögliche Ablösung des Dollar als Weltgeld hingewiesen. Jedenfalls: Mit der Aufzählung solcher Phänomene lässt sich aber offensichtlich kein gesellschaftlicher Gesamtzusammenhang herstellen; denn „solche Phänomene repräsentieren bei der Tiefe und Dauer des Ausnahmezustands nicht dessen Wesen“. Es gilt also – so weit so gut –, die Phänomene mit dem Wesen zusammen zu denken, das sich in ihnen darstellt. Gefunden ist es in der „Verschwörung“. Dies ist nun keine denunziatorische Zuschreibung, sondern Klartext des Autors: „Ohne Verschwörung im weiteren Sinne kommen gerade die ... strukturell bedingten Umbrüche nicht aus“. Mit der Verschwörung hat sich das „Eigentliche“ aus dem Dickicht der Phänomene gelichtet.

Genau diese Messlatte des „Eigentlichen“ hat Jappe nicht überspringen können. Sein entscheidender Sprungfehler ist der „einer pflichtschuldigen Distanzierung“ von der Verschwörungstheorie, schließlich will er ja nicht als Verschwörungstheoretiker gelten und nicht seine Reputation verlieren. Daher fließt ihm „ein biegsamer Satz“ in den PC: „Natürlich gibt es keine geheimen Treffen der Supermächtigen, die in aller Freiheit die Drähte ziehen.“ Solche Biegsamkeit weiß Rauschenbach zu korrigieren und verweist ‚ganz konkret‘ auf „ein wenig geheimes Treffen einiger Supermächtiger“ von 2019, bei dem sich „die New Yorker Finanzkrake Bloomberg mit dem China Center for International Economic Exchanges (CCIEE)“ zu Absprachen hinsichtlich der Problematik einer älter werdenden Bevölkerung bei „unbezahlbaren Sozialversprechen“ verbündet habe. Darüber hinaus gebe es natürlich „viele solche Knotenpunkte der Macht“.

Wie nicht anders zu vermuten läuft die gesamte Konstruktion auf Corona hinaus; denn „jetzt zwei Jahre später, sehen wir, wie unter dem Deckmantel einer falschen Pandemie tatsächlich damit begonnen wurde, sowohl die Pensionsfrage als auch die Frage der unbezahlbaren Sozialversprechen zu klären, zu denen auch das Krankensystem gehört“. Damit ergibt „vieles … mehr Sinn, wenn man die Hypothese einmal stehen lässt, dass die Königsgrippe eine Operation der Vertreter des ideellen und weltweiten Gesamtkapitals ist, und vieles wird klarer, wenn man die Machenschaften solcher und ähnlicher Konspirationisten der Herrschaft analysiert“.

Problematisch sind nicht einfach Hinweise auf Akteure und ihre Treffen, sondern die erkenntnistheoretische Bedeutung, die der Verschwörung beigemessen wird. Natürlich gibt es keinen sich selbst bewegenden Fetisch abstrakter Herrschaft. Dennoch bildet die Fetischstruktur der kapitalistischen Wert-Abspaltungsvergesellschaftung als abstrakter Herrschaft den Zusammenhang, den auch wirtschaftliche und politische Akteure nicht überspringen können. Von diesem Basiszusammenhang wäre auszugehen, wenn es darum geht, die Krisenverhältnisse und das Handeln von Akteuren zu verstehen. Verschwörungstheoretische Annahmen sind allein schon dadurch dementiert, dass ein einheitliches Agieren – nicht einmal im Corona-Zusammenhang – auszumachen war. Nicht einmal eine Impflicht brachten die mächtigen Akteure in ihrem Bündnis mit der Pharmaindustrie zustande. Die Krisenverhältnisse funktionieren eben anders. Sie treiben zu einem wirren und immer schnelleren Wechsel zwischen den bekannten Polaritäten von Ökonomie und Politik, Markt und Staat und darin zwischen Deregulierung und Re-Regulierung, Freiheit und Zwang mit einer erkennbaren Tendenz zum Autoritären. Letztere ist aber nicht nur bei autoritären Politikern auszumachen, sondern auch in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen und nicht zuletzt in der Verschwörungs- und Querdenkerszenerie.

Ein „gäriger Haufen“ und neue Bündnisse

Der Weg der Querdenkerei führt von der imaginierten Konspiration der einen zur ersehnten Konspiration der anderen. Der Konspiration der Mächtigen soll eine Konspiration der Ohnmächtigen entgegen gesetzt werden. Dazu braucht es Bundesgenossen. Zu finden sind sie bei den „zu Coronaleugnern abgestempelten Leuten“. Sie sind „die einzigen, die all das Grauen irgendwie benennen dürfen“. Dazu gehören nicht gerade wenige, die sich von dem Grauen, das andere auf den Meeren, in Kriegen, in der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen identitär abgrenzen und die in erster Linie ihr ‚Grauen‘ unter der ‚Gesundheitsdiktatur‘ umtreibt. Aus dem Trüben diffuser Gefühls-, Betroffenheits- und Wutlagen soll gefischt werden, um zu einer Praxis des Widerstands zu kommen. Einem solch „gärigen Haufen“ wird unvermittelt eine emanzipatorische Gärung zugetraut. Denn trotz ideologischer Fragmentierung und ohne wirkliche Organisation ist daraus „der ebenso Umfang zunehmende wie konfuse Protest gegen die Zumutungen der letzten Jahre erwachsen“. Dazu „muss man ... auch noch sagen, dass die explizite Querdenkerstruktur sich dem Ausnahmezustand noch am ehesten organisiert entgegenstellte und damit eine Gefahr für den autoritären Staat zumindest andeutete“.

Solchen Strategieüberlegungen konterkarieren diejenigen, die aus inhaltlichen Gründen auf einer Abgrenzung gegen Verschwörungsfantasien und Querdenkerei bestehen. Sie stehen der ersehnten Bündnis- und Handlungsfähigkeit, die unbestimmt „etwas ausrichten“ möchte im Weg. „Will man auf der Straße oder auch nur in der sich längst formierenden Gegenöffentlichkeit etwas (sic!) ausrichten, wird man das Schisma mit den Gatekeepern in den eigenen Reihen suchen müssen.“ Da aber ist Anselm Jappe auf halbem Weg stecken geblieben. Er hat sich zwar bemüht und war auch weniger zaghaft als die „Halbschwurbler“ aus dem linken Spektrum. Das ändert aber nichts daran, dass auch er unter der Messlatte her gesprungen ist. Eine Chance die Messlatte zu überspringen und aus halbherziger Kritik heraus zu kommen und „auch die bitter nötige Kapitalismuskritik wieder glaubhafter“ werden zu lassen, gibt es nur, wenn es ein offensives Bekenntnis zur Gesundheitsdiktatur gibt. Sagen Sie also „Gesundheitsdiktatur!“

Im Blick auf Jappe scheint Rauschenbach die Frage umzutreiben, wer der Beste beim Regredieren ist? Statt zu emanzipatorischen Erkenntnissen, die auf einen Bruch mit den kapitalistischen Verhältnissen zielen, kommt es mit dem Voranschreiten der Krisenprozesse zu Regressionen, die Ausdruck der Bindungen an die Verhältnisse sind, die es emanzipatorisch zu überwinden gälte. Aus der Krise retten sollen Klassen, Identitäten, Interessen, Identifizierungen von Guten und Bösen, neu ausgemachte ‚revolutionäre‘ Subjekten, Bündnisstrategien um einen „gärigen Haufen“… . Je weniger im Rahmen der Fetisch- und Krisenverhältnisse geht, desto größer scheint der Druck zu werden, sich auf eine Seite zu schlagen, die eigene Haut zu retten oder auf der richtigen Seite, wenn schon nicht zu siegen, so doch wenigstens Größe an Widerstandskraft zu zeigen.

Die Krisenzeit drängt auf ‚Einfaches‘ und ‚Handhabbares‘: auf einfache Erklärungsmuster bis hin zu Verschwörungshalluzinationen, auf aktionistisch Machbares, auf Bündnisse, die möglichst viele auf die Straße bringen. Dass darin ‚Rechte‘ und ‚Linke‘ quer denken und handeln, stört viele nicht, sondern gilt eher als Vorzug. Störend sind Inhalte – erst recht, wenn sie dem Drang nach Unmittelbarkeit entgegenstehen und mit theoretischer Reflexion verbunden sind. Gefragt sind ‚konkrete‘ und unmittelbar nachvollziehbare Erklärungen, die zudem noch zeigen können, gegen wen sich Zorn und Empörung richten und aktionistisch entladen soll. Die Welt wird überschaubar, lässt sich in ‚gut‘ und ‚böse‘ sortieren, ohne umständliche theoretische Anstrengungen, die sich zudem noch mit dem unerträglichen Gefühl der Ohnmacht verbinden. Aktionismus hingegen suggeriert eine diffuse Handlungsmacht. Sie muss diffus bleiben, solange sie sich weigert, die Verhältnisse angemessen zu begreifen. Gegenüber der Nüchternheit einer Analyse, die das, was Menschen erleiden, im Zusammenhang der Fetischverhältnisse zu begreifen sucht, sind Gefühle unmittelbarer Selbstwirksamkeit schon wohliger, vor allem das bestätigende Gefühl, in einer sich formierenden Gegenöffentlichkeit „etwas ausrichten“ zu können – verbunden mit dem Bewusstsein, auf der richtigen, auf der moralisch guten Seite der ‚Betroffenen‘ zu stehen. Und wer auf der guten Seite steht, gar selbst ‚betroffen‘ ist oder zumindest sich als Anwalt der ‚Betroffenen‘ imaginiert, darf sich auch ermächtigt fühlen, ‚das Gute‘ autoritär um- und durchzusetzen.

Dass es in all dem ‚Gequere‘ auch noch quere Mischformen gibt, belegt Fabio Vighi2. Er analysiert – anknüpfend an Robert Kurz – die Entwicklungen im Finanzkapitalismus als Versuche, die Verwertungskrise des Kapitals zu kompensieren. Dazu mussten gigantische Massen von „Geld ohne Wert“ mobilisiert werden. Über einen Kreislauf der Pseudoakkumulation konnte Geld in Produktion und Konsum fließen. Dieser Kreislauf läuft in sich verschärfenden Finanzkrisen in der Verbindung von deflationärer Schuldenkrise und Stagflation auf die gegenwärtige Situation zu, deren Bewältigung bzw. Stabilisierung „praktisch unmöglich“ ist. So weit ist die Analyse nachvollziehbar und erhellend. Zugleich erfolgt aber auch genau hier die Regression in Verschwörungshalluzinationen. Die Eliten haben die Ausweglosigkeit erkannt, die Krise ökonomisch bewältigen zu können. Covid und der Krieg in der Ukraine werden von den Eliten benutzt und befeuert, um die Krise des Kapitalismus noch einmal zu verlängern und mit autoritären Mitteln zu steuern. Auch bei Vighi begegnen wir einer erkenntnistheoretischen Verschiebung von der Frage nach abstrakter Herrschaft und dem darin eingebetteten Handeln von Akteuren hin zur Unmittelbarkeit der Erkenntnis und des zielgerichteten Handelns von Eliten.

Ein „Kult der Unmittelbarkeit“

Getragen ist dies alles von der Fixierung auf eine Unmittelbarkeit, die nicht willens oder dazu in der Lage ist, einzelne Phänomene in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu begreifen, bzw. getrieben von der Sucht nach vermeintlich ‚Konkretem‘ den gesellschaftlichen Zusammenhang als Verschwörung imaginiert. Hier rächt sich der seit Jahrzehnten ‚kultivierte‘ Pragmatismus, mit dem die Reflexion gesellschaftlicher Widersprüche und Krisenzusammenhänge aus dem Denken verbannt war. Er findet u.a. seinen Ausdruck in – strukturell antisemitischer – Theoriefeindlichkeit und im Hass auf Intellektuelle, die es nicht schaffen, komplizierte Zusammenhänge einfach, d.h. in der Regel personalisiert und handhabbar zu formulieren.

Ein „Kult der Unmittelbarkeit“ (Günter Frankenberg) macht sich regressiv breit gegen die Frage nach Vermittlung der Krisenphänomene mit der gesellschaftlichen Totalität der Fetischverhältnisse, deren Kern darin besteht, dass die Gesellschaft als ganze dem irrationalen und inhaltslosen Selbstzweck der Vermehrung von Kapital unterworfen ist und dabei zugleich die Bereiche der Reproduktion als inferior abgespalten werden. Erst die Erkenntnis der Vermittlung dessen, was Menschen global und in globalen Zusammenhängen erleiden, mit diesen Verhältnissen kann Horizonte für eine emanzipatorische Praxis eröffnen, in der die kategoriale Konstitution der kapitalistischen Verhältnisse in Wert und Abspaltung, Produktion und Reproduktion, in Arbeit und Geld, Ökonomie und Politik, ebenso wie in dem sich seiner selbst und seiner autonomen Handlungsfähigkeit gewissen Subjekt, das sich selbst genug ist und dem in seinem Narzissmus der Bezug auf Objekte und damit auf Inhalte abhanden kommt. All das, was in falscher Unmittelbarkeit herbei halluziniert wird, ist nicht ‚konkret‘, sondern huldigt einem Pseudokonkretismus. Konkret wird erst etwas, wenn es in seinen es konstituierenden Zusammenhängen begriffen wird. Eine emanzipatorische Praxis kann nur da greifen, wo sie begreifend auf die Negation der irrationalen und abstrakten Herrschaftsverhältnisse ausgreift, die in ihrer zerstörenden Dynamik in den Krisenphänomenen sichtbar werden.

Wenn das die ‚Dogmatik‘ von exit! wäre, bedeutete sie die Bindung an die inhaltliche Bestimmung der Kritik kapitalistischer Fetischverhältnisse, die als ganze zur Disposition stehen, verbunden mit der Frage nach einer emanzipatorischen Praxis. Diese Verhältnisse sind nicht statisch, sondern prozesshaft zu verstehen. Deshalb kann es auch keine Kritik geben, die einmal steht und aus der in identitätslogischer Manier munter abgeleitet werden könnte. Sie muss Prozesse, vor allem die sich beschleunigenden und in globale Zerstörung treibenden Krisenprozesse, auf ihre Vermittlung mit der gesellschaftlichen Totalität reflektieren, dabei unterschiedliche Ebenen der Vermittlung, von der ökonomischen bis hin zu sozialpsychologischen Ebenen, berücksichtigen und dabei zugleich gegen sich selbst denken. Eine solche ‚Dogmatik‘ impliziert von der Inhaltlichkeit, um die es ihr geht, die Abgrenzung gegenüber den diversen Formen der Quer- und Verschwörungsdenkerei und ihrem ‘Gemache‘. Exit! wird also nicht „Gesundheitsdiktatur!“ sagen und sich dem Wettkampf, wer nun der Beste ist beim Regredieren, entziehen.


  1. Vgl. Karl Rauschenbach: Einige Anmerkungen für halbschwurbelnde Linke, die künftige Gesellschaftskritik betreffend, 23.8.2022, https://magma-magazin.su/2022/08/karl-rauschenbach/einige-anmerkungen-fuer-halbschwurbelnde-linke-die-kuenftige-gesellschaftskritik-betreffend/. Alle Zitate sind, sofern nicht anders gekennzeichnet, diesem Text entnommen.^

  2. Vgl. Fabio Vighi: Pause for Thought: Money without Value in a rapidly disintegrating World, 30.5.2022, https://thephilosophicalsalon.com/pause-for-thought-money-without-value-in-a-rapidly-disintegrating-world/.^