Klimakatastrophe und ›Konsumfreiheit‹ – Über das Elend (spät)bürgerlicher ›Freiheitsdiskurse‹

Thomas Meyer

1.

Es ist nicht fünf vor Zwölf, sondern fünf nach Zwölf, wie der Philosoph Slavoj Žižek schreibt (Žižek 2022, 285). Dass der Klimawandel Fakt ist (über Details mag man sich ja durchaus noch streiten) und eine ernsthafte Bedrohung für die Menschheit darstellt, dürfte der letzte Depp mittlerweile mitbekommen haben.1 Klar ist auch, dass der Ausstoß von CO2 und anderen Treibhausgasen radikal und schnell reduziert werden muss, wenn die die Klimakatastrophe nicht noch katastrophalere Ausmaße annehmen soll. Dies impliziert nicht nur einen vollständigen Umbau der Infrastruktur, sondern auch eine vollständige Änderung bzw. Umwälzung der Produktions- und Lebensweise. Es stünde also ein Programm der Abschaffungen und Stilllegungen an. Die ›Lokomotive‹ der Produktivkraftentwicklung verbrennt alles auf ihrem Wege. Die ›Notbremse‹ zu ziehen, wie Walter Benjamin es ausdrückte, ist unumgänglich, sofern man nicht den Tod der ›Fahrgäste‹ riskieren oder in Kauf nehmen möchte (vgl. Böttcher 2023).

Abgesehen davon, wie man die kapitalistische Produktionsweise abschaffen könnte, wie dazu eine entsprechende ›Transformationsbewegung‹ aufgestellt, welche ›Übergangsgesellschaft‹ (?) angegangen werden müsste (und sei es, dass ›der Zug‹ nur angehalten wird), stellt sich allerdings das Problem der affektiven Abwehr dieser Tatsachen durch viele Menschen. Das Wissen, das wirklich gewusst werden könnte und zu einem Umdenken und ›Umhandeln‹ führen sollte, wird affektiv zurückgedrängt. Die (jahrzehntelange) Verharmlosung oder Leugnung des Klimawandels und die Verbreitung von Propaganda und Desinformation durch Think-Tanks, Konzerne und Medien fällt auf fruchtbaren Boden (vgl. Quent, Richter, Salheiser 2022).

Der zu einem Umdenken und Umhandeln notwendigen Kritik der eigenen Identität (Arbeit, Konsum, Eigenheim u. a.) wird aus dem Weg gegangen unter Berufung auf ein vulgärbürgerliches Konzept von Freiheit. Freiheit wird reduziert auf die Freiheit des Konsumenten, die auf keinen Fall eingeschränkt werden darf; ebenso wenig wie die Freiheit, das zu produzieren, was konsumiert werden soll. (Bürgerliche) Freiheit hatte dagegen (vgl. Lepenies 2022) ursprünglich mit ›Verantwortung‹ zu tun, es ging um Beschränkung und Modernisierung von Herrschaft (Checks and Balances, Schutz vor staatlicher oder juristischer Willkür, Religions- und Publikationsfreiheit, Durchsetzung des Privateigentums, Produktion von Sicherheit u. a.2), es ging darum, die Menschen so zu formen und zu disziplinieren, dass sie ›nützlicher‹ Teil einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft werden konnten. Die Freiheit des einen Bürgers endete, wo die Freiheit des anderen Bürgers verletzt wurde. Es ging nicht ums unbegrenzte Konsumieren, sondern um Konsumverzicht, innerweltliche Askese, Affektkontrolle. Dies wurde von manchen als Zivilisationsprozess gedeutet.3 Nicht wenige Philosophen vertraten den Standpunkt, der Mensch könne nicht frei sein, wenn er sich unbeschränkt seinen Leidenschaften hingebe. Wer seinen Leidenschaften ausgeliefert ist, ihnen unmittelbar folgt, ist nicht frei, sondern ein Sklave. Allerdings wurden Leidenschaften nicht nur negativ beurteilt, sie konnten sich, angeleitet durch die ›Vernunft‹, für Staat und Ökonomie auch als ›nützlich‹ erweisen.

Nun war der ›entwickelte Kapitalismus‹ (seit etwa dem fordistischen Boom) nicht mehr auf sparende Subjekte angewiesen, die Konsumverzicht üben (müssen), sondern auf konsumfreudige, die jeden Schwachsinn kaufen wollen, der produziert wird4 (und selbst Sinnvolles erweist sich im Kapitalismus als Schwachsinn: geplante Obsoleszenz u.ä. – damit so bald wie möglich Geld in den Verwertungsprozess G-W-G’ eingespeist wird). Als propagandistisches ›Motivations-Mittel‹ (damit die nun massenhaft produzierten Waren sich auch als Wert realisieren können) dazu dient das Spektakel der Werbung, mit der alle Welt zugemüllt wird (heute vor allem ›individualisiert‹ in Form von ›Apps‹ usw.). Arbeit, Leistung und ›wohlverdienter‹ Konsum wurden zur zentralen Identität der modernen kapitalistischen Gesellschaften (vor allem der ›Mittelschicht‹; das Auto als berühmtes ›Statussymbol‹: vgl. Kurz 2020 & Koch 2021). Die Selbstverleugnung und Disziplinierung im Arbeitsleben wurden damit entlohnt oder ›kompensiert‹, dass man sich durch die eigene Leistung ein ›erfolgreiches Leben‹ privat zurechtzimmern konnte, das darin seine Bestätigung fand, sich dies und das leisten oder kaufen zu können (Urlaub, Auto, Eigenheim + ›Heimchen am Herd‹). Die ökologischen Kosten des fordistischen Massenkonsums interessierten in der Regel schon damals nicht (oder wurden, wie etwa von Ayn Rand, als linke Propaganda abgetan: Rand 2017, 352ff.).

Verschärft wurde diese konsumistische Selbstzentriertheit noch im Neoliberalismus, in dem die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen und dazu angehalten wurden, sich permanent zu optimieren, um sich ›frei‹ und ›selbstbestimmt‹ als ›mündige Bürger‹, die sich nicht ›bevormunden‹ lassen, den Imperativen des (Arbeits-)Marktes zu unterwerfen. Der ›mündige Bürger‹ findet seine Freiheit darin, sich ganz aufgeklärt und selbstbestimmt dem kapitalistischen Krisendiktat zu unterwerfen, und deutet das noch als Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung. Die Freiheit zu konsumieren wird getragen durch die Freiheit, sich in der Unterwerfung zu verwirklichen und auf alle die zu scheißen, welche nicht (mehr) mithalten können; wer als ›Minderleister‹ oder gar als ›arbeitsscheu‹ gilt und in der Konkurrenz scheitert, hat halt ›Pech gehabt‹. Die Gesellschaft der totalen Konkurrenz (d. i. Konkurrenz auf allen Ebenen), d. h. der ›individuellen Eigenverantwortung‹, des ›unternehmerischen Selbst‹ ist ein Treibhaus für antisoziale Affekte aller Art. Der narzisstische Sozialcharakter erweist sich hier als Voraussetzung und Resultat des ungebremsten Konsumkapitalismus (vgl. Wissen 2017 & Jappe 2022).

Konsum hat im entwickelten Kapitalismus also nicht mehr primär warenförmige Bedürfnisbefriedigung zum Ziel, sondern ist vor allem identitätsstiftend. Dazu schreibt Philipp Lepenies (wobei er sich dabei auf Zygmunt Bauman bezieht): »Das Individuum verfolge keine eigenen Bedürfnisse mehr, sondern befriedige Wünsche, die von der Produzentenseite bei ihm geweckt worden sind und die im Extremfall nur noch dem Lustprinzip gehorchen. Sobald sich die Sehnsüchte nach bestimmten Produkten fortwährend erneuern und anpassen ließen, werde Konsum zu einem endlosen Teufelskreis. Die Individuen erlägen der Illusion, ihre Persönlichkeit und Identität, auch ihren sozialen Status durch Konsum definieren zu können. Konsum werde zu einer Insel der Stabilität, die eigene Identität zu einer Funktion des Konsums. Werde ein bestimmter Wunsch verwehrt, empfänden die Menschen dies als einen Angriff auf die Person, die sie sein möchten« (Lepenies 2022, 234, Hervorh. TM). Nichts erzürnt daher den bürgerlichen Reaktionär mehr, als dass ihm irgendwelche ›Links-Grün-Versifften‹ seine unbeschränkte Konsumfreiheit infrage stellen oder ihm etwas verbieten oder gar ›wegnehmen‹ wollen (wobei man sich Konsumfreiheit auch leisten können muss, Arme können dies nicht: vgl. Mayr 2021). Es wird als Angriff auf die eigene Identität gewertet (was für ein Witz, wenn diese Leute zugleich gegen die ›Identitätspolitik‹ der Linken oder Linksliberalen anschreien). Der bürgerliche Reaktionär habe dies alles selbst verdient, sich alles hart erarbeitet und somit sei es auch sein ›natürliches Menschenrecht‹ zu kaufen und zu konsumieren, was ihm beliebt. Daher geht es gar nicht, wenn der ›Leistungsträger‹ vom Staat oder irgendwelchen angeblichen Kommunisten oder Ökosozialisten ›bevormundet‹ wird (und er nimmt zugleich für sich selbst in Anspruch, mit seiner Freiheit die Freiheit anderer zu bevormunden oder sie zu drangsalieren, etwa Hartz-IV-Empfänger/-innen).

2.

Es ist zweifellos richtig und notwendig, die bürgerliche Freiheit ›früherer Zeiten‹ zu kritisieren, dergestalt, dass sie effektiv die Freiheit der weißen und männlichen Besitzbürger war und ihre Verwirklichung sich im Rahmen des kapitalistischen ›Gehäuses der Hörigkeit‹ (Max Weber) zu vollziehen hatte. Das soll an dieser Stelle nicht en détail ausgeführt werden (vgl. dazu z. B.: Losurdo 2010, Hentges 1999, Kurz 2004 & Landa 2021). Entscheidend hier ist, dass das Berufen auf die eigene sog. Freiheit die Wirkung hat, sich nicht ernsthaft mit Problemen auseinandersetzten zu wollen oder zu können. Die Perspektive der Freiheit des Individuums als Konsum- und Arbeits-Monade, einer unmittelbaren Selbstbezogenheit, verhindert von vornherein, sich auf Probleme einlassen zu können, die eine gesellschaftliche Perspektive erfordern, d. h. eine, bei der das ›Individuum‹ seine bornierte Selbstzentriertheit transzendieren müsste. Widersprüchen und Dissonanzen geht man so aus dem Weg und überdeckt sie mit Geschwurbel und affektiver Empörung. Schlussendlich verweist die aggressive Selbstbezogenheit der ›Konsumfreiheit‹ und damit oft einhergehend die Verteidigung des fossilen Kapitalismus – der nicht zufällig oft Teil androzentrischer Identität ist – Cara Dagget prägte dazu den passenden Begriff Petro-Maskulinität (2018) – auf eine inhärente ›Möglichkeit‹ der bürgerlichen Freiheit selbst, also auf das mögliche Umschlagen von Freiheit in Unfreiheit. So schreibt Andrea Maihofer: »Die gängige neoliberale Rhetorik von der individuellen Eigenverantwortung jedes Einzelnen bedeutet inzwischen, dass Freiheit von vielen überhaupt nur noch als individuelle Freiheit verstanden wird. Aktuell wird dies in den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen deutlich, wenn beispielsweise mit dem Slogan: ›Meine Gesundheit! Meine Entscheidung!‹ das Recht auf die individuelle Freiheit eingeklagt wird, keine Maske zu tragen […] sich allgemein den Auflagen zu entziehen – egal welche Folgen das für einen selbst oder für andere hat. […] Damit wird Freiheit nicht nur ausschließlich als individuelle Freiheit verstanden, sondern auch explizit jegliche Verantwortung bezogen auf die gesellschaftlichen Folgen des eigenen Handelns zurückgewiesen. Das heißt, der Begriff der Freiheit wird vermehrt explizit im anti-emanzipatorischen Sinne genutzt. Dies ist allerdings kein neues Phänomen. Nicht nur war in (rechts-)konservativen bis rechtsextremen Diskursen ein autoritäres Verständnis von Freiheit stets präsent, diese Gefahr, in Unfreiheit umzuschlagen, ist dem bürgerlichen Verständnis von Freiheit vielmehr von Beginn an inhärent« (Hervorh. i. O.). Keine große Überraschung also, dass »im Namen der Freiheit von rechtskonservativen bis rechtsextremen gesellschaftlichen Akteuren nicht nur die wachsenden sozialen Ungleichheiten, gesellschaftlichen Ausschlüsse und Spaltungen legitimiert werden, sondern auch das Recht eingeklagt wird, im Namen der Freiheit andere auszugrenzen und zu diskriminieren« (Maihofer 2022, 327).

Freiheit wird also nicht als etwas Gesellschaftliches verstanden, als historisches gesellschaftliches Verhältnis, womöglich auch nicht als eine zu realisierende Idee bislang unterdrückter und diskriminierter Minderheiten oder Klassen, sondern als etwas, das ein einzelnes Subjekt besitzt und gegen andere zu behaupten gewillt ist, ohne Rücksicht auf mögliche Folgen (damit hat diese ›Freiheit‹ also einen ›betriebswirtschaftlichen‹ Charakter – Folgen werden ›externalisiert‹ oder ignoriert, vgl. dazu auch: Amlinger & Nachtwey 2022). Es ist eben die Freiheit, autonom zu sein, d. h. ohne Anleitung eines anderen von seiner Freiheit Gebrauch zu machen, sich den systemischen Zwängen zu unterwerfen. Eine grundsätzlich sozial- und ökologisch-ignorante ›Lebensauffassung‹ ist schon beinahe notwendige Folge und Voraussetzung für eine erfolgreiche ›Anpassungsleistung‹. Diese Freiheit, wie sie vor allem im Neoliberalismus als ›Leitkultur‹ propagiert wurde, ist also nichts anderes, als sich autonom heteronomen Verhältnissen einfügen zu können. Die ›Autonomie‹ besteht darin, der ungeheuren Dynamik der Verwertungsbewegung des Kapitals und der zunehmenden existentiellen Unsicherheit flexibel Rechnung zu tragen, um stets rentabel und verwertungsfähig zu bleiben, sodass man sich zu den ›Leistungsträgern‹ zählen kann und natürlich daraus für sich gewisse Ansprüche ableitet. Diese Ansprüche können in einem ›wohlverdienten‹ unbeschränkten Konsum bestehen (beschränkt gewiss nur durch das zur Verfügung stehende Geld oder die Kreditmenge), aber auch darin, dass man sich ermächtigt sieht, sich stets als das eigentliche Opfer zu verstehen. Daher kommt wohl die krasse Affektiertheit (›Verbotspolitik‹, ›Ökodiktatur‹ usw.), wenn davon die Rede ist, einen vegetarischen Tag in der Kantine einzuführen, die Geschwindigkeit auf Autobahnen zu begrenzen oder Inlandsflüge abzuschaffen. Auf keinen Fall sollen die eigenen Gewohnheiten in irgendeiner Weise reflektiert, schon gar nicht in Zusammenhang mit einer bestimmten Produktionsweise, die den Planeten zerstört, gebracht werden. Dazu noch einmal Philipp Lepenies: »Bei den geplanten Maßnahmen, die die Reizwörter ›Verbot‹ und ›Verzicht‹ heute hervorrufen, geht es aber – das gilt es deutlich zu unterstreichen – um Reaktionen auf die entscheidende Fundamentalkrise unserer Zeit und einen immer dringlicher werdenden Handlungsbedarf. Nicht die komplette Verhaltensänderung gemäß einer bestimmten Ideologie ist das Ziel; nicht die Gleichmachung und Unterdrückung anderer Lebensverläufe. Hinter Verbots- und Verzichtsvorschlägen steckt der Versuch, negative Effekte unseres Konsumverhaltens, die auch zur Klimakatastrophe geführt haben und diese weiterhin verschlimmern, abzumildern oder umzukehren. Die Ideen für Verbot und Verzicht entstammen nicht dem perversen und sadistischen Wunsch, grundlos zu verbieten und zum Verzicht aufzurufen. Sie sind konkrete Vorschläge für die Rettung unseres Klimas« (Lepenies 2022, 263f.).

Verbote und Einschränkungen können auf das Problem verweisen, dass bestimmte Produktion und Konsumtion ökologisch problematisch sind und abgeschafft gehören. Es verhält sich ähnlich wie mit Umweltschutzmaßnahmen: Sie sind immanente Notbehelfe, die vom Staat durchgesetzt werden (müssen), die aber zu einer radikalen Kritik der Warenform, des Selbstzwecks der Kapitalakkumulation, nicht vordringen. Wenn die ökologischen Krisen sich nicht weiter katastrophisch zuspitzen sollen, macht es durchaus Sinn, darauf zu drängen, dass Verbote und Einschränkungen politisch durchgesetzt werden. Wichtig ist die immanenten Grenzen und Widersprüchlichkeiten dabei erkennbar zu machen. Natürlich können solche Verbots- und Verzichtsmaßnahmen darauf zielen, den Kapitalismus nur ›grün anzumalen‹ und die Verantwortung dem Einzelnen, dem angeblich autonomen Individuum, anzulasten (vgl. Hartmann 2020). Auch können Debatten um ›gesunde und nachhaltige Ernährung‹ o. Ä. ein paternalistisches und puritanisches Moment enthalten (hier haben manche liberale Kritiker/-innen von Nudging usw. teilweise recht5). Allerdings lässt sich Konsumtion von Produktion, die beide einen spezifisch kapitalistischen Charakter haben, nicht wirklich trennen. Hierin wäre Lepenies zu kritisieren, wenn er von »Konsumverhalten« und dessen kritischer Infragestellung schreibt (und dabei verbleibt). Mit Blick auf das »schon in der einfachen Warenform angelegte Auseinanderfallen von Produktion und Konsumtion« mit der Folge der Degradierung der »Konsumtionskompetenz der Menschen« schreibt Robert Kurz in seinem Buch gegen postmoderne Lifestyle-Linke (von denen einige in den 90er Jahren so borniert waren, das Konsumieren als angeblich subversive Tat abgefeiert zu haben – ›der Konsument als Dissident‹, so hieß es allen Ernstes): »Die kapitalistischen Konsumenten sind gerade in dieser ihrer Eigenschaft entqualifiziert, weil sie bereits als Produzenten entqualifiziert wurden. Als Analphabeten der gesellschaftlichen Reproduktion und/oder Fachidioten konsumieren sie in einem entästhetisierten, funktionalistisch zugerichteten gesellschaftlichen Raum. Von der grotesken Unverständlichkeit der oftmals realsatirischen Gebrauchsanweisungen bis zur immerwährenden ›Ungemütlichkeit‹ öffentlicher Räume zeigt sich diese entqualifizierende Enteignung der Konsumtionskompetenz auf allen Ebenen. Die Fachidioten sind immer auch Konsumidioten und umgekehrt. Der Universalismus der Waren kann daher nicht einer Universalität der Individuen entsprechen [...]« (Kurz 1999a, 155ff.).

Das zu Konsumierende liegt in verdinglichter Form vor, es ist die Materialisierung der Wertabstraktion; ›Adressat‹ ist das entmündigte, isolierte und entfremdete Subjekt. Der ›Gebrauchswert‹, oft nur als ein Gebrauchswertversprechen behauptet, ist geformt und realisiert durch die betriebswirtschaftliche Rationalität. Nicht die gemeinsame Produktion von Gebrauchswerten, welche gemeinsam verknuspert werden können, ist das Ziel, sondern dass auf der betriebswirtschaftlichen Ebene ein Einzelkapital sich in der Konkurrenz durch den erfolgreichen Verkauf der Waren durchsetzt und so ›Profit‹ für sich verbucht, um sodann mit der Produktion und Realisation von (Mehr)wert immerdar fortfahren zu können (G-W-G’-W’-G’’…). Das Ziel der Produktion ist auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene vermittelt mit dem irrationalen und abstrakten Zweck der kapitalistischen Gesamtveranstaltung, Kapital/Geld um seiner selbst Willen zu vermehren. Was mit den Waren nach dem Verkauf geschieht, ob das Gebrauchswertversprechen wirklich eingelöst wird – sofern dieses nicht ohnehin nur plumpe Propaganda war –, woher die Einzelteile für die Produktion dieser Ware herkamen und wie diese wiederum produziert wurden usw., interessiert das Einzelkapital nicht, ebenso wenig die Entsorgung derselben und alle ökologischen Folgen (diese erscheinen dem Einzelkapital erst im Nachhinein in Form von staatlichen Interventionen und Regularien – wenn überhaupt!).

Der Konsument hat die Freiheit sich einzufügen und das zu Verkaufende zu kaufen. Was zum Konsum ausgewählt werden kann, ist durch den Verwertungsprozess des Kapitals als Auswahlmöglichkeit bereits längst ›entschieden‹. In den Worten von Robert Kurz: »Zum anderen aber wird durch die allgemeine kapitalistische Warenform nicht nur die Konsumtionskompetenz enteignet, also die Fähigkeit zum universellen Gebrauch der Dinge in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang und ihren sinnlichen Qualitäten, sondern auch die Bestimmung über den Inhalt dessen, was die Individuen zu konsumieren haben. Da sie produzieren, was sie nicht konsumieren, und konsumieren, was sie nicht produziert haben (und sei es nur im Sinne einer institutionellen gemeinschaftlichen Bestimmung über den Inhalt der Produktion), werden sie auch im Konsum zu Objekten der betriebswirtschaftlichen Rationalität, der nichts ferner liegt als menschliche Selbstbestimmung« (ebd.).

Es gibt keine gesellschaftliche Verständigung über den Inhalt der Produktion und der Konsumtion. Die Freiheit des Konsumenten ist daher eine Chimäre. Sie ist ein Trugbild, das man sich leisten können muss. Sie ist die Rückseite der ›Freiheit des Fließbandarbeiters‹. Wählen kann der ›mündige Konsument‹ also nur das, was ihm ohnehin schon vorgesetzt wurde: »Niemals bestimmt die Nachfrage das Angebot, sondern immer umgekehrt. Wäre es anders, dann müßten die Gesellschaftsmitglieder sich vorab über die Befriedigung ihrer Bedürfnisse einig werden und danach die Produktion organisieren; mit anderen Worten: es müßte im gesellschaftlich-institutionellen Sinne (nicht unmittelbar von der Tätigkeit der Individuen her) eine Identität von Produzenten und Konsumenten existieren. Dann freilich wäre die Nachfrage auch keine Nachfrage nach Waren mehr, sondern eben die direkt gesellschaftliche Diskussion, Aushandlung und Verwirklichung der Bedürfnisstrukturen« (ebd.). Hier müsste eine Kritik des Konsumverhaltens aber ansetzen, wenn sie nicht allein Verbote und Verzichte aussprechen und dabei an eine abstrakte gemeinsame Verantwortung bzw. an eine Art sozial-ökologischen Gemeinsinn appellieren möchte.

Wenn von Bedürfnissen und ihrer Verwirklichung die Rede ist, muss dies im Zusammenhang mit der Formbestimmtheit der Bedürfnisse durch das Kapital geschehen. Bei bestimmten Bedürfnissen ist der kompensatorische Charakter des Konsums offensichtlich. Jedoch sind notwendige soziale und materielle Bedürfnisse und ihre Verwirklichung ebenso durch das Kapital bestimmt. Notgedrungen muss man die Verwirklichung notwendiger Bedürfnisse zwar noch in der kapitalistischen Form einfordern und erkämpfen (bezahlbarer Wohnraum etwa), jedoch muss man sie in dieser keineswegs wahrnehmen oder ihre kapitalistische Form naturalisieren. Es stellt sich hierbei die Frage, wofür ›Notwendigkeit‹ eigentlich steht. Adorno merkt dazu in seinen Thesen über Bedürfnis (1942) an: »Der Gedanke etwa, das Kino sei neben Wohnung und Nahrung zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig, ist ›wahr‹ nur in einer Welt, die die Menschen auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurichtet und ihre Bedürfnisse zur Harmonie mit dem Profit- und Herrschaftsinteresse der Unternehmer zwingt« (Adorno 2015, 394) bzw. auf der Ebene des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs mit den Imperativen der Kapitalakkumulation. Notwendigkeit ist also relativ, da sie eine Notwendigkeit für das bürgerliche Subjekt beinhaltet.

Auf der einen Seite sind Bedürfnisse kompensatorisch, da ihre Verwirklichung durch Konsumfreiheit Identität und Selbstverwirklichung verspricht – und insofern notwendig für die Zurichtung und Reproduktion der Menschen als variables Kapital –; auf der anderen Seite wird die Verwirklichung wirklich notwendiger sozialer und materieller Bedürfnisse durch die Formbestimmung des Kapitals konterkariert. Ihre Verwirklichung ist, falls ›stofflich‹ überhaupt ausreichend vorhanden oder durch die Bedürftigen bezahlbar, kapitalistisch zugerichtet, wie man das etwa am kapitalistischen Wohnwesen sehen kann: Einerseits, für die Besserbetuchten, ein umzäuntes spießbürgerliches Eigenheim (d. i. die Idiotie der sozial isolierten bürgerlichen Kleinfamilie), dessen Bau von manchen als ein elementares Menschenrecht verteidigt wird, andererseits Betonkisten, die so konstruiert werden, dass die einzelnen ›Wohneinheiten‹ sozial nichts miteinander zu tun haben können. Beides sind Verwahranstalten für Arbeitskraftbehälter – Wohnwaren.

Wohnen und Essen sind im Unterschied etwa zu Flugreisen und Individualverkehr insofern notwendig, als dass sie auf Gattungseigenschaften der Menschen verweisen. ›Gattungseigenschaft‹ ist hier jedoch nicht naturalisierend zu verstehen. Mit Agnes Heller gesprochen beziehen sich die »›natürlichen Bedürfnisse‹ [… ] auf die einfache Erhaltung des menschlichen Lebens (Selbsterhaltung). Sie sind ›naturnotwendig‹, einfach weil der Mensch, ohne sie zu befriedigen, sich als bloßes Naturwesen nicht erhalten kann. Sie sind nicht identisch mit den tierischen Bedürfnissen, da der Mensch als Naturwesen zur Selbsterhaltung auch solche Bedingungen benötigt (Heizung, Kleidung), für die das Tier kein ›Bedürfnis‹ hat. Somit sind auch die zur Erhaltung des Menschen als Naturwesen notwendigen Bedürfnisse gesellschaftlich […]. Die Art und Weise der Befriedigung vergesellschaftet das Bedürfnis selber« (Heller 2022, 18f.).

Obgleich man Natur und damit ›natürliche Bedürfnisse‹ nicht im ›Diskurs‹ aufgehen lassen oder nur als etwas ›Sozial-Konstruiertes‹ auffassen kann, sind beide immer schon vermittelt durch Gesellschaft und Geschichte. In den Worten Adornos: »Jeder Trieb ist so gesellschaftlich vermittelt, daß sein Natürliches nie unmittelbar, sondern stets nur als durch die Gesellschaft produziertes zum Vorschein kommt. Die Berufung auf Natur gegenüber einem Bedürfnis ist stets bloß die Maske von Versagung und Herrschaft« (ebd., 392). Naturalisierungen hatten in der Regel mit der Legitimation von Herrschaft zu tun. Während etwa im Mittelalter Herrschaft und Hierarchie mit ›Gott‹ gerechtfertigt wurden, so wurde ebendies in der bürgerlichen ›aufgeklärten‹ Gesellschaft mit der ›Natur‹ getan (bzw. mit dem, was man von ihr erfasst zu haben meinte). Auf diese Weise wurden ›wissenschaftlich‹ Rassismus, Sexismus, Eugenik und anderes gerechtfertigt (vgl. etwa Reimann 2017, Gould 2016, Weingart u. a. 1992, Honegger 1991).

Eben die spezifisch kapitalistische Vergesellschaftung der Bedürfnisse und ihre Verwirklichung müssen in den Fokus der Kritik rücken, wenn bestimmte Konsumtionen und Produktionen eingeschränkt oder verboten werden sollen. Diese allein mögen so wirkungslos verpuffen wie staatliche Umweltschutzgesetze; es ändert aber nichts an der Tatsache, dass die entsprechenden Diskurse, warum solche Abschaffungen und Stilllegungen angegangen werden müssten, im Zusammenhang mit der Klimakatastrophe und der dringenden Handlungsnotwendigkeit stehen – und eben diese Einsicht wird von vornherein affektiv abgewehrt. Eine Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, des Selbstzwecks der Kapitalakkumulationen (und damit auch allen sinnlosen oder irrsinnigen Konsums), lässt sich aber nicht ins Auge fassen oder überhaupt denkbar machen, wenn die Menschen sich von ihrer ›Konsumentenidentität‹ (und von ihrer Identität als ›Leistungsträger‹) nicht lösen können, ihre Affekte nicht überdenken und ihre Borniertheit auch noch mit einem völlig verblödeten Begriff von ›Freiheit‹ rechtfertigen; einem Begriff von Freiheit, der stets ihre Freiheit meint und ihren Status-Quo erhalten und durchsetzen soll (zur Not mit Abschottung und Gewalt: Koester 2019).

3.

Die Verwirklichung von Bedürfnissen, die nicht vom Markt angeboten werden und/oder sich nicht rentieren, die Planung und Diskussion von Produktionsinhalten, die nicht durch die Verwertungsbewegung des Kapitals bestimmt werden, sind kein Bestandteil bürgerlicher Freiheit: »der Anspruch auf bewußte soziale Gesellschaftlichkeit gilt als Sünde wider den heiligen Geist einer asozialen, blinden Gesellschaftsmaschine, die wieder und wieder zur Naturgesetzlichkeit erklärt worden ist« (Kurz 1999b, 645). Jeder Versuch, gar jeder Anspruch oder Gedanke, die Produktion planen zu wollen und sie nicht der sog. Spontanität des Marktes zu überlassen (was nichts anderes als grundsätzlich kurzfristiges Denken impliziert), stand stets unter Totalitarismusverdacht. Ein Begriff von Freiheit, der eine Freiheit von sozialer Not einbegreift, galt bürgerlichen Ideologen wie F. A. Hayek als ein Weg in die Knechtschaft (ebd., 644ff.). Stattdessen gilt Hayek die Unterwerfung unter die Imperative des Marktes als Inbegriff von Freiheit. Alles andere führe in den Gulag (so schlicht lassen sich Hayeks redundante Werke zusammenfassen). Der Rahmen, in dem sich bürgerliche Freiheiten verwirklichen, ist die Verwertungsbewegung des Kapitals: »Es darf nichts gedacht, geschrieben, getan oder gemacht werden, was über diese Gesellschaft hinausginge […]« (Adorno 2015, 395). Anerkennung bekommt man (und selbst diese muss erkämpft werden und ist keineswegs selbstverständlich – noch schlimmer, als Subjekt sein zu müssen, ist es, kein Subjekt sein zu dürfen, obgleich es bislang keine Alternative zum Subjekt-Sein-Müssen gibt), sofern man sich erfolgreich als Handlungsträger der abstrakten Arbeit erweist. Die bürgerlichen Freiheiten und damit auch die Menschenrechte gelten damit nur unter Vorbehalt (sofern sie überhaupt gelten – Kapitalismus läuft bekanntlich auch ohne diese). Ihre Geltung und Durchsetzung ist auf eine erfolgreiche Kapitalakkumulation angewiesen und damit auf einen sich finanzierenden Staat, von der die Menschen zuvor als variables Kapital einverleibt und von dem sie als Staatsbürgersubjekte verwaltet werden. In der Krise wird dieser Vorbehalt besonders deutlich, wenn die Existenz der Menschen sich rentieren soll. Die bürgerliche Anerkennung hat also eine grundsätzliche Nichtanerkennung der Menschen als leibliche Wesen zur Voraussetzung. Dies zeigen (neben der Situation von Flüchtlingen und der »Bestrafung der Armen«: Böttcher 2016 & Wacquant 2004) sehr deutlich Euthanasie-Debatten. Beispielsweise ist seit 2016 aktive Sterbehilfe in Kanada legal. Anfangs war dies gedacht für Menschen, die unheilbar krank sind und deren baldiger Tod absehbar ist. Sich für Sterbehilfe zu entscheiden, betrifft allerdings keineswegs ›nur‹ unheilbar Kranke, sondern längst auch Menschen, die einsam oder arm sind, ihrer Sippschaft nicht zur Last fallen wollen oder einfach keinen Sinn mehr sehen.6 Ökonomen frohlocken, dass dabei die Kosten des Gesundheitssystems zurückgehen!7 Auch vor Long-Covid-Patienten (!) macht die Euthanasie, die alles andere als ›selbstbestimmt‹ ist, nicht halt: »Die Kanadierin Tracey Thompsen (50) leidet an Long-COVID und ist arbeitsunfähig. Seit zwei Jahren muss die ehemalige Köchin mit chronischer Erschöpfung und anderen schwerwiegenden Symptomen kämpfen. Ihren Alltag kann sie kaum bewältigen. Deshalb hat sie nun aktive Sterbehilfe beantragt. Als Gründe gibt sie an, dass ihre Ersparnisse nur noch für fünf Monate ausreichen würden. Sterben wolle sie eigentlich nicht, doch die Aussichtslosigkeit ihrer Situation und mangelnde finanzielle Unterstützung hätten sie dazu gebracht.«8 Patienten, die viel kosten, werden dazu überredet oder unter Druck gesetzt, sich für die kostengünstigere (!) Sterbehilfe zu entscheiden: »Tatsächlich können sich in Kanada Menschen mit schweren Behinderungen dafür entscheiden, getötet zu werden, auch wenn kein weiteres medizinisches Problem vorliegt. Menschenrechtsgruppen beklagen, dass das Land keine Schutzmaßnahmen vorsieht. Auch dürfen die Angehörigen nicht informiert werden. Dafür werde das Gesundheitspersonal angehalten, die assistierte Tötung auch denen vorzuschlagen, die das Verfahren von allein gar nicht in Betracht gezogen haben. Wenig verwunderlich, dass hier Menschen in[s] Visier genommen werden, die eine kostspielige Behandlung benötigen, aber keine angemessene staatliche Unterstützung erhalten.«9 Sogenannte Bioethiker und Kinderärzte (!) forderten auch noch die Ausweitung der Euthanasie: »Einige kanadische Kinderärzte und Bioethiker argumentieren in einem im Journal of Medical Ethics (!) veröffentlichten10 Essay beispielsweise, dass die Tötung auf Verlangen als eine palliative Behandlung am Lebensende zu klassifizieren und somit Bestandteil der Gesundheitsfürsorge sein solle. Folglich müsse der ›Behandlung‹ auch keine besondere Aufklärung oder eindringliche Feststellung der Fähigkeit zur Willensbildung vorausgehen. Betrachte man Sterbehilfe nun als Teil der Gesundheitsfürsorge, stelle sich in Folge die Frage, warum man sie nicht jedem, also auch Minderjährigen, anbieten sollte – so die Autoren des Essays. Ärzte sollten aufgefordert werden, Patienten auf alle Möglichkeiten, die ihnen im Rahmen der Gesundheitsfürsorge zur Verfügung stehen – somit auch auf die aktive Sterbehilfe –, hinzuweisen. Die Autoren argumentieren darüber hinaus, dass einwilligungsfähige Minderjährige gegebenenfalls auch ohne elterliche Zustimmung entscheiden dürfen sollten.«11 Das ›selbstbestimmte‹ Liquidieren von Menschen als »Teil der Gesundheitsfürsorge«! Noch perfider kann Orwellsches Neusprech wirklich nicht sein!!

Der Euthanasiediskurs in Kanada hatte also einen ähnlichen Verlauf wie der in den Niederlanden (van Loenen 2009). Allerdings wurde dieser in Kanada »rücksichtsloser und schneller verfolgt« (Yuill 2022) als anderorts. In den Niederlanden führte die Legalisierung der sog. Sterbehilfe nicht zu einem Ende der Debatte, sondern die Debatte ging dann erst richtig los: Wenn man unheilbar Kranken Sterbehilfe gewährt, warum nicht auch Behinderten oder psychisch Kranken? Wenn sie alten Menschen gewährt wird, warum nicht auch Jugendlichen? Wenn man sie unheilbar Kranken gewährt, warum nicht auch Depressiven oder einfach Leuten, die keinen Sinn in ihrem Leben mehr sehen, weil sie einsam sind? Oder weil sie arm sind. Oder von Obdachlosigkeit bedroht (!!)!12 Nicht chronischer Schmerz, Behinderung oder Krankheit treiben manche Menschen zur ›Sterbehilfe‹, sondern Armut und Perspektivlosigkeit. Nicht weil sie sterben wollen, sondern weil sie keinen Ausweg mehr sehen.13

Den für den Kapitalismus Überflüssigen und Nicht-(Mehr-)Verwertungsfähigen wird alles Existenzrecht abgesprochen; vor allem – und dies ist besonders ekelhaft – legitimiert durch Bioethik oder Ähnliches. Wie abscheulich, dass Euthanasie-Schergen es auch noch wagen, eine Propaganda-Broschüre für Kinder herauszugeben!14 Damit Kinder lernen, es als ›normal‹ anzusehen, dass Opa oder der behinderte Bruder aus Kostengründen ermordet werden? Schlussendlich sollen die ›Überflüssigen‹ und ›menschliche Kostenfaktoren‹ genauso ›entsorgt‹ werden wie nicht verkaufte Tomaten. Freiheit im Kapitalismus ist in letzter Instanz nichts anderes als die Freiheit zum Tode!

Man wage es also noch, von Freiheit und Selbstbestimmung zu reden, ohne dabei die Logik des kapitalistischen Gesellschaftssystems überhaupt zu realisieren und radikal zu kritisieren, die beides stets objektiv in Frage stellt und aller Freiheit und Selbstbestimmung die Unterwerfung und Verinnerlichung der Verwertungsimperative des Kapitals zur Voraussetzung macht! Dies umso mehr, wenn die Rede von Freiheit und Selbstbestimmung im Sinne von Konsumfreiheit ist. Kein Gedanke wird daran verschwendet, wie die kapitalistische Produktionsweise (und damit die Konsumtionsweise) Mensch und Natur für den »monströse[n] Selbstzweck« (Kurz 1999b, 648) der Kapitalakkumulation zurichtet und zerstört. Für den bürgerlichen Spießer soll alles so bleiben wie gewohnt (obwohl mehr und mehr offensichtlich ist, dass nichts so bleiben wird, wie es ist). Auf keinen Fall dürfen die eigene Konsumfreiheit, Urlaubsfreiheit oder Ähnliches in Frage gestellt werden. Um den Klimakollaps aufzuhalten oder wenigstens (!) abzumildern, ist aber allerhand in Frage zu stellen...

Wenn dagegen von Freiheit die Rede sein sollte, dann aber in einem völlig anderem Sinne. In den Worten von Robert Kurz: »Freiheit würde einzig und allein darin bestehen, daß die Menschen, die sich zur Reproduktion ihres Lebens zusammenfinden, dies nicht nur freiwillig tun, sondern auch gemeinsam über den Inhalt ebenso wie über die Vorgehensweise beraten und beschließen. […] Eine derartige Freiheit, die das genaue Gegenteil der liberalen universellen Knechtschaft unter dem Diktat von Arbeitsmärkten wäre, ist prinzipiell auf allen Ebenen und Aggregierungen der gesellschaftlichen Reproduktion praktisch möglich – vom Haushalt bis zur transkontinentalen Vernetzung der Produktion« (ebd.). Man müsste sich gesellschaftlich darüber verständigen, was, wie und wozu produziert wird, ohne dass dabei der Planet ruiniert wird – und zwar nicht, um Kapital zu akkumulieren, und sei es ›grünes‹. Klimaschutz und Wirtschaftswachstum sind eben nicht vereinbar, was inzwischen sogar einige Grüne mitbekommen haben (So etwa die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, die in ihrem neuen Buch für eine Kriegswirtschaft eintritt, wie es sie während des 2. Weltkrieges in GB gab als angebliches Mittel, den Kapitalismus und seine destruktive Verwertungsdynamik überwinden zu können; zur Kritik: vgl. Konicz 2022a). Dass die Menschen sich und die Natur nicht mehr für den monströsen Selbstzweck des Kapitals aufopfern müssen, wäre sozusagen Grundlage für wirkliche Freiheit und Selbstbestimmung, die aber mit der bürgerlichen Freiheit und Selbstbestimmung nichts zu tun hätte (erst recht nicht mit der sog. Konsumfreiheit), da letztere nichts anderes sind als die Freiheit zur Knechtschaft und zur Selbstverwertung; auch zur Selbstverblödung und schlussendlich – wie die Euthanasie-Debatten mit Deutlichkeit zeigen – die Freiheit zum Tode.

Der radikalen Kritik des Bestehenden und der mit ihm einhergehenden Krisen und Katastrophen durch Affektion und Freiheitsgeschwurbel auszuweichen, um an einem historischen Auslaufmodell festzuhalten, hat in der Tat mittel- bis langfristig etwas Selbstmörderisches; ›Freiheit zum Tode‹ kann also wohl kaum eine Übertreibung sein. Um mit Tomasz Konicz’ Worten abzuschließen: »Das Festhalten der spätkapitalistischen Ideologie am Bestehenden, das offensichtlich im Zerfall begriffen ist, kommt somit einem Suizid nahe, einem Selbstmord aus Angst vor dem Tod des Kapitals. Letztendlich wird der Tod als ein Ausweg aus den zunehmenden sozialen Widersprüchen, die ja jedes Individuum durchziehen, unbewusst angestrebt. Das Nichts des Todes wird so zur letzten Ruhe angesichts der eskalierenden Widersprüche der spätkapitalistischen Dauerkrise und des damit einhergehenden Abgrunds zwischen zunehmendem Triebverzicht und kaum noch erfüllbaren sozialen Vorgaben. [...] Der dem Kapital latent innewohnende, in seiner letalen Krise manifest zutage tretende Todestrieb will die Welt ins Nichts überführen, in die gähnende Leere, die die konkrete Substanz der Realabstraktion Wert bildet. Es ist ein subjektloser Nihilismus, der sich krisenbedingt entfaltet: Die Welt soll dem schwarzen Auge der Wertform gleichgemacht werden, das sich im Zentrum des die Welt seit rund 300 Jahren verheerenden Wirbelsturms uferloser Akkumulation toter Lohnarbeit befindet. Alles, was nicht in die Warenform gepresst und durch Verkauf auf dem Markt verwertet werden kann, wird folglich in Krisenzeiten eher der Vernichtung anheimgegeben, als dass der Zugriff der Weltverwertungsmaschine auf Mensch und Natur gelockert würde. Die Vernichtung unverkäuflicher Waren in Krisenzeiten, die inzwischen immer öfter auch durch entsprechende rechtliche Regelungen dem Zugriff verarmter Menschen entzogen werden (etwa durch Gesetze gegen das ›Containern‹), bildet nur den offensichtlichen Ausfluss dieses Selbstvernichtungsdranges« (Konicz 2022b, 79f.).

Literatur

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  1. https://www.deutsches-klima-konsortium.de/fileadmin/user_upload/pdfs/Publikationen_DKK/basisfakten-klimawandel.pdf ^

  2. Für einen historischen Überblick (mit Schwerpunkt Deutschland), vgl. Richter, Siebold, Weeber 2016.^

  3. Vgl. andererseits zur Disziplinargeschichte der Moderne z. B.: Dreßen 1982, Pfeisinger 2006, van Ussel 1970 & Rutschky 1977.^

  4. Vgl. dazu beispielsweise den chinesischen Fast-Fashion-Konzern Shein. https://de.wikipedia.org/wiki/Shein_(Unternehmen) ^

  5. Vgl.: Verbraucherthemen im Visier – Eine Sonderausgabe von Novo Argumente für den Fortschritt, 2016, https://www.novo-argumente.com/images/uploads/pdf/novo_plus_1_inhaltsverzeichnis.pdf ^

  6. https://www.imabe.org/bioethikaktuell/einzelansicht/kanada-sinnloses-leben-und-einsamkeit-sind-gruende-fuer-aktive-sterbehilfe ^

  7. https://www.imabe.org/bioethikaktuell/einzelansicht/sterbehilfe-spart-kosten-kanadas-oekonomen-favorisieren-sterbehilfe-ausweitung ^

  8. https://www.imabe.org/bioethikaktuell/einzelansicht/kanada-euthanasie-auch-fuer-long-covid-patienten ^

  9. https://www.stern.de/gesundheit/-haben-sie-schon-mal-ueber-sterbehilfe-nachgedacht--teure-patienten-offenbar-zum-assistierten-suizid-ueberredet-32628792.html ^

  10. https://jme.bmj.com/content/45/1/60?papetoc= ^

  11. https://www.ief.at/kanada-ueberlegt-sterbehilfe-fuer-minderjaehrige/ ^

  12. https://ottawa.citynews.ca/local-news/ontario-man-applying-for-medically-assisted-death-as-alternative-to-being-homeless-5953116 ^

  13. How poverty, not pain, is driving some disabled Canadians towards medically assisted death: https://www.youtube.com/watch?v=ZD0O_w3HzJg vgl. auch Yuill 2022.^

  14. https://www.virtualhospice.ca/maid/media/3bdlkrve/maid-activity-book.pdf ^