Zuerst, leicht modifiziert erschienen in konkret 4/2024

Antisemitismus von links

Reaktionen auf den Anschlag vom 7. Oktober

In ersten Reaktionen auf den Terroranschlag der Hamas standen zurückhaltende Bekundungen von Empathie mit den Opfern, Verurteilungen des Terrors und Solidarität mit der Hamas nebeneinander. Auf Pro-Palästina-Demonstrationen war jedoch bald von Erschrecken über den Terror kaum noch etwas zu spüren. Da ging es um die ‚Befreiung‘ Palästinas und die Hamas als Teil des gegen Israel gerichteten Kampfes um ‚Befreiung‘. „Hoffnung für Palästina … Linke Widerstandsgruppen unterstützen Offensive gegen Israel“, jubelte die ‚junge Welt‘1. Bei solchen Offensiven entlädt sich der Hass gegen Israel in Sprüchen wie „Zionisten sind Faschisten, morden Kinder und Zivilisten“2. Rund um Stände bei der Rosa Luxemburg-Konferenz waren Töne zu hören, mit denen sich das offizielle Programm nicht identifizieren mochte und die doch einen Blick in das ermöglichen, was linke Herzen und Hirne bewegt: Die Hamas werde gebraucht, um das „sozialistische Klassenbewusstsein“ zu stärken, ihr Anschlag sei „eine zu erwartende Antwort auf jahrzehntelange Unterdrückung“. Das solle keine Rechtfertigung des Anschlags sein, wohl aber helfen, ihn ‚zu verstehen‘3.

Linkes ‚Verstehen‘

‚Verstanden‘ wird, dass Israel der Täter ist und die Opfer sich gegen diesen Täter wehren. Diese Verschiebung von Opfern und Tätern ist eines der antisemitischen Stereotype, die in der Linken präsent sind. Diese Sichtweise nimmt mit Beginn der Bodenoffensive an Fahrt auf. Mit hohen Opferbilanzen und Bildern vom Leid der Palästinenser lässt sich medienwirksam und emotionalisiert Empörung gegen Israel mobilisieren und Israel als Staat delegitimieren. Obwohl Israels Reaktion angesichts eines solchen Terroranschlags vorhersehbar, vielleicht auch von der Hamas einkalkuliert war, lässt sich mit der Denunziation Israels in einer Öffentlichkeit punkten, in der Antisemitismus in Gestalt von Feindschaft gegenüber Israel resonanzfähig ist. Hinter der Empörung über die ‚humanitäre Katastrophe‘ im Gaza-Streifen verschwindet der barbarische Terror der Hamas samt dem in ihrer Charta fundierten Antisemitismus, der auch strategisch das Ziel verfolgt, Israel und alle Juden zu vernichten.

Hinderlich für den Kampf um die ‚Befreiung‘ Palästinas wie für das Ausleben des Hasses auf Israel ist die Erinnerung an die Vernichtung der Juden zur Zeit des Nationalsozialismus. Sie blockiert die ungehemmte Kritik an Israel und die Solidarität mit den Palästinensern. So heißt die Parole: „Free Palestine from German guilt“. Akademisch scheint sie abgesichert durch die Attacke des Genozid-Forschers A. Dirk Moses auf deutsche Erinnerungskultur. Sie sei zu einer überwachten kultisch zelebrierten Inszenierung geworden und verbinde sich mit der Abwertung vor allem kolonialer Verbrechen sowie einer reflexartigen Solidarität mit Israel4.

Antisemitismus und Kapitalismus

In der Gewaltgeschichte des Nahen Ostens kontextualisiert Judith Butler den Anschlag der Hamas. Sie verweist auf die in ihrer Sicht systematische Landnahme und deren Absicherung durch willkürliche Maßnahmen wie Kontrollen und Verhaftungen5. Es sei falsch, dem „Apartheidregime allein die Schuld“ am Terror der Hamas zuzuschieben. Dass Israel ein „Apartheidregime“ ist, scheint unstrittig. Kategorial sind Kolonialismus und Rassismus die Referenzgrößen für Butlers Kontextualisierung des Terrors. In solch postmodern kulturalistisch geprägtem Postkolonialismus bleibt der Bezug auf den Kapitalismus vage und seine Krise unbeachtet. So kann der Antisemitismus als projektive Verarbeitung kapitalistischer Krisen nicht in den Blick kommen. Statt Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus in ihren Bezügen aufeinander und in ihren Differenzen sowie im Kontext der Krise des globalen Kapitalismus zu reflektieren, prangert Butler Gewalt ‚auf beiden Seiten‘ an, plädiert „für wahre Gleichheit und Gerechtigkeit“ und wünscht sich „eine Welt, die sich der Normalisierung der Kolonialherrschaft widersetzt und die Selbstbestimmung und Freiheit der Palästinenser unterstützt“. Die Herrschaft des Kapitalismus wird zur Kolonialherrschaft. Halluziniert wird „ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte“6, das von der Warenproduktion abstrahiert und in einem abstrakten Universalismus landet. Kontextuell aber sind die universal daherkommende Kritik der Gewalt wie Aufrufe, sie zu beenden, auf Israel als Militär- und Besatzungsmacht bezogen, das den Gaza-Streifen willkürlich als ‚Freiluftgefängnis‘ in Schach halte und nun auch bombardiert. Nicht zufällig attackiert auch Butler die deutsche Erinnerungskultur. Mit anderen als den Juden lasse sie Mitgefühl nicht mehr zu. Das Besondere der Konfliktkonstellationen kann aber weder vom Allgemeinen der kapitalistischen Formen getrennt noch identitätslogisch daraus abgeleitet werden. Entsprechend müssen unterschiedliche Ebenen wie kulturelle Differenzen, psychische Krisenverarbeitung berücksichtigt werden. Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus samt Antiziganismus können also nicht ‚jenseits‘ der kapitalistischen Formen verstanden, aber auch nicht in der Logik eines mechanistischen Schemas von Ursache und Wirkung daraus abgeleitet werden.

Aktionistischen Bewegungslinken wiederum mag die Reflexion zu unterscheidender und doch miteinander verbundener Ebenen als zu kompliziert und ersehnte Selbstwirksamkeit konterkarierend erscheinen. Ohne solche Reflexion aber verkommt Praxis zu einem dumpfen Aktionismus, der sich aus moralischer Empörung speist. Sie richtet sich gegen Israel als vermeintlich imperialem und kolonialem Akteur und wird im auf Israel bezogenen Antisemistismus erlebnisintensiv und mit dem guten Bauchgefühl, im globalen Kampf um Befreiung auf der richtigen Seite zu stehen, ausgelebt. Die Parteinahme sortiert in böse Imperialisten und gute Kolonisierte. Solche Gewissheiten ignorieren, dass der Kampf im Rahmen der einbrechenden kapitalistischen Formen von Markt und Staat, Kapital und Arbeit, Subjekt als Handlungsträger in der Konkurrenz etc. ausgefochten wird und ohne emanzipatorische Perspektive ist, weil Befreiung als nationale Befreiung in der einbrechenden Staatsform gesucht wird. Ignoriert wird also, dass der Kapitalismus mit der mikroelektronischen Revolution auf eine Grenze stößt, die er aufgrund des Schwindens der Arbeit als Substanz für die Akkumulation von Kapital nicht mehr überwinden kann und diese Grenze sich in den diversen Zerfallsprozessen, nicht zuletzt in dem Zerfall von Staaten, ausagiert. Genau diese Krisenprozesse befeuern den vom Kapitalismus und seinen Krisen nicht zu trennenden Antisemitismus als projektive Krisenreaktion.

Der Doppelcharakter des Staates Israel

Gegen die einlinige Einordnung Israels als kapitalistischem Staat hat Robert Kurz auf den Doppelcharakter des Staates Israel hingewiesen. Er ist nicht einfach ein koloniales Produkt, sondern wesentlich ein Rettungsprojekt für von Verfolgung und Vernichtung bedrohte Juden und darin ein Projekt gegen Antisemitismus. Als kapitalistischer Staat ist er all den Prozessen sozialen und staatlichen Zerfalls ausgesetzt wie andere kapitalistische Staaten. Wie sie muss er diese Krisen verarbeiten, jedoch umgeben von einer seine Existenz bedrohenden Umwelt, vor allem aber ohne auf antisemitische Reserven der Krisenverarbeitung zurückgreifen zu können. In diesem Kontext kommen national-religiöse und rassistische Verarbeitungsstrategien zum Zug. Profan und sozialistisch orientierter Zionismus nähert sich national und religiös-orthodox verwurzelten Bewegungen und Parteien an. Identitäre und autoritäre Tendenzen nehmen in Israel die Gestalt theokratischer, national-religiöser Bewegungen an, die sich mit antiarabischen Projektionen verbinden. Diese Tendenzen gewannen mehr und mehr Einfluss auf die Regierungspolitik und sind in der Regierung Netanjahu institutionell verankert. Rationale sicherheitspolitische Strategien zur Verteidigung der Existenz Israel vermischen sich mit Irrationalismen ultra-orthodoxer Heilsversprechen. Autoritäre, identitäre, rechte Mobilisierungen sind aber nicht einfach ‚typisch Israel‘. Sie zeigen sich in allen kapitalistischen Staaten als Versuch, die globalen Zerfallsprozesse zu bewältigen. Im Blick auf Israel fällt auf, dass der Rechtsruck auf entschiedene Kritik wie auf einen entschiedenen Kampf stößt, der sich vor allem gegen die Justizreform richtet, mit der die Kontrolle der Regierung durch den Obersten Gerichtshof eingeschränkt werden soll.

Antisemitismus statt radikale Kapitalismuskritik

Statt angesichts der globalen Krisenprozesse zu radikaler Kapitalismuskritik vorzustoßen, bleiben linke Bewegungen beim Vertrauten. Sie verstehen sich weiter als nationale Befreiungsbewegungen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass angesichts des an der immanenten Schranke des Kapitalismus gescheiteren nachholenden Entwicklung ein autonomer Staat keine Perspektive sein kann und alle Träume einer ‚Zwei-Staaten-Lösung‘ daran scheitern, dass mit den nicht mehr zu überwindenden Grenzen der Akkumulation von Kapital die Grundlage moderner Staatlichkeit wegbricht. In dieser paradoxen Situation verbindet sich Staatsbildung mit Entstaatlichung in Gestalt von Warlodisierung und mafiöser Strukturen. Die globalen Krisenprozesse sind längst über die Möglichkeiten nationalrevolutionärer Befreiung hinweggewalzt. Damit scheitern alle Strategien, die auf einen Pol kapitalistischer Immanenz setzen – sei es auf den Klassenkampf oder auf den Staat als regulierender Instanz oder gar als Hort der Befreiung.

Eine emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus kann so nicht in den Blick kommen und der Kern der Krise als innere Schranke der Kapitalakkumulation muss unbegriffen bleiben. Solange die Linke blind bleibt für die Kritik der kapitalistischen Konstitution in ihren fetischistischen Formen, bleibt sie offen für eine Krisenideologie, in der die Krise ideologisch durch Projektion auf ‚die Juden‘ und den ‚Judenstaat‘ verarbeitet wird. Im sich aus kollektivem Unbewussten speisenden Antisemitismus wird Israel als ‚der Jude‘ unter den Staaten an den Pranger gestellt und zum Gegenstand projektiver Krisenverarbeitung. Dabei kann an Stereotype angeknüpft werden wie die Unterscheidung von raffendem und an die Arbeit gebundenem schaffendem Kapital. Darin verschafft sich die Trennung von Abstraktem (Geld) und Konkretem (Arbeit) Ausdruck, wobei das Abstrakte auf ‚die Juden‘ projiziert werden kann. Sie werden zu Herren des Geldes und des Geistes. Ihnen wird eine Übermacht zugeschrieben, mittels derer sie in der Lage sind, sich zu verschwören und die Welt zu beherrschen.

Die Imagination einer Weltverschwörung war Kernelement der antisemitischen Propaganda der Nazis. Sie findet sich wieder in der Charta der Hamas von 1988 und wird wirksam in Kämpfen, die auf die Vernichtung Israels und aller Juden ausgerichtet sind. Die militärisch verteidigte Existenz Israels ist im antisemitischen Weltbild schlimmer als jede global erfahrene Unterdrückung und Gewalt. Da liegt die Wahnvorstellung nahe, die Welt sei befreit, wenn sie ‚judenfrei‘ sei. Die abstrakte Herrschaft des Kapitalismus lässt sich in ‚den Juden‘ wie in dem ‚Judenstaat‘ als Tätern und in ihren verschwörerischen Taten konkretisieren, die als Drahtzieher hinter Unterdrückung und Herrschaft ausgemacht werden können. An die Stelle der Befreiung aus der im Fetischzusammenhang von Wert und Abspaltung, Kapital und Arbeit, Ökonomie und Politik konstituierten kapitalistischen Vergesellschaftung tritt die Befreiung von ‚den Juden‘. Der inhaltlich leere und unheimliche irrationale kapitalistische Selbstzwecks, aus Geld mehr Geld zu machen, kann vermeintlich identifiziert und dingfest gemacht werden. Aus Ohnmacht wird imaginierte Handlungsmacht. Der Kapitalismus erscheint transformierbar, ohne dass seine Fetischstruktur angetastet werden müsste. Geld und Arbeit, ein den Markt regulierender Staat etc. können beibehalten werden und die Abspaltung der weiblich konnotierten Reproduktion bleibt in der Küche des Nebenwiderspruchs. Transformation kann zur Rückkehr zu einem ‚ursprünglichen‘ Kapitalismus der guten Arbeit und einer guten politischen Regulation, die auch die Krisen unter Kontrolle bringt, werden. Die Normalität scheint gerettet. „Unterm Bann der zähen Irrationalität des Ganzen ist normal auch die Irrationalität der Menschen.“ Sie ist stets auf dem Sprung, die „Zweckrationalität, im politischen Verhalten, zu überfluten“7. In Zeiten sich zuspitzender Krisen liegt die Versuchung nahe, sich an der Normalität des irrationalen gesellschaftlichen Ganzen festzuklammern und sie in der Abwehr und Vernichtung von dem, was sie vermeintlich bedroht, zu verteidigen – seien es Fliehende, Fremde, angeblich ‚Arbeitsscheue‘ oder eben und vor allem Juden.

Im Antisemitismus von Linken spiegeln sich Defizite linker Kritik des Kapitalismus. Entscheidend ist, dass sie auch trotz des Scheiterns der Warenproduktion und ihrer Versprechen auf immanente Emanzipation zurückschreckt vor der Kritik des Fetischzusammenhangs der kapitalistischen Konstitution, der den Individuen als abstrakte Herrschaft gegenübertritt. Statt sie in ihrem Zusammenhang aus Wert und Abspaltung, Produktion und Zirkulation, Kapital und Arbeit, Markt und Staat zum Gegenstand emanzipatorischer Kritik zu machen, wird versucht, Herrschaft an Akteuren dingfest zu machen. Damit ist ein Weg zu Personalisierung, Emotionalisierung und Empörung samt Verschwörungsphantasien gebahnt – ein Konglomerat, das sich jederzeit in projektivem Antisemitismus ‚entlasten‘ und aggressiv entladen kann.

In einer Situation, in der die gesellschaftlichen Widersprüche formimmanent nicht mehr zu bewältigen sind, haben auch Linke in einer Mixtur aus Klassenkampfdenken, Praxisfetischismus und Theoriefeindlichkeit dazu beigetragen, dass kategoriale Kritik abgerüstet und das vermeintlich ‚Konkrete‘ gegen das vermeintlich ‚Abstrakte‘ in Stellung gebracht werden kann. Im Unterschied zu den Nazis, deren Antisemitismus sich mit fordistischer Akkumulation verbinden konnte, läuft die kapitalistische Akkumulation in den aktuellen Krisen ins Leere und lässt auch die Subjekte in ihrer Perspektivlosigkeit ‚nackt‘ da stehen. Ihrer Konkurrenzfähigkeit ist der Boden entzogen. In solcher Haltlosigkeit drohen die Grenzen zwischen Mord und Selbstmord zu verschwimmen. Der Wahn projektiver Krisenbearbeitung könnte sich mit Tendenzen vermischen, die auf Selbst- und Weltvernichtung in der kapitalistischen Form in einer immanent ausweglosen Situation zulaufen. In ‚Nah-Ost‘ spitzt sich der Zerfall des Weltkapitals im perspektivlosen und zugleich gefährlichen Handeln der staatlichen Akteure zu, die inmitten der Zerfallsprozesse nicht zuletzt militärisch nach ‚Halt‘ und zugleich nach strategischen Vorteilen in den zerfallenden staatlichen Konstellationen suchen.


  1. junge Welt vom 9.10.23^

  2. Jüdische Allgemeine vom 9.2. 24^

  3. Tagesspiegel vom 13.1.24^

  4. Der Katechismus der Deutschen^

  5. Freitag 42/2023^

  6. Marx, Das Kapital, Berlin 1984, 189.^

  7. Adorno, Meinung, Wahn, Gesellschaft, GS 10.2, Frankfurt am Main 52015, 587.^