Erschienen in Die Brücke, Zeitschrift für antirassistische Politik und Kultur, Heft 160

Gerd Bedszent

Libyen vor dem Ende

Mit dem Eingreifen der Luftwaffe mehrerer NATO-Staaten in den libyschen Bürgerkrieg eskalierte dieser zum Krieg. Und es gab und gibt viele gute Gründe, gegen diesen Libyen-Krieg des Westens zu sein.

Ungeachtet dessen sollte allerdings nicht verkannt werden, dass es überwiegend innere Widersprüche waren, die zum Ausbruch des Bürgerkrieges und damit letztlich zum Sturz des Gaddafi-Regimes führten.

Libyen war - vor Ausbruch des Bürgerkrieges - soziologisch betrachtet immer noch einer der rückständigsten arabischen Staaten. Die Gesellschaft ist stark durch vormoderne Clanstrukturen geprägt; die verschiedenen Stämme wurden durch eine übergestülpte Staatsbürokratie, durch Militär und Geheimdienst und nicht zuletzt durch die Verteilung der Einnahmen aus dem Erdölverkauf mehr notdürftig zusammengehalten. Dies hat seinen Ursprung in der Historie: Die Küstenregionen (die Cyrenaika im Osten, Tripolitanien im Westen) waren jahrhundertelang abgelegene Provinzen des heruntergekommenen Osmanischen Reiches, das Landesinnere bis in die jüngere Vergangenheit hinein von Stammesfehden zerrissen. Die heutigen Landesgrenzen stammen aus der Kolonialzeit; die italienischen Besatzer vereinigten mehrere bis dahin eigenständige Regionen unter ihrer Herrschaft. Die grauenhafte Kolonialpolitik der Faschisten und die nachfolgende Herrschaft des pro-britischen Königs Idris trugen in keiner Weise zur Entwicklung der einzelnen Landesteile und zur Bildung eines modernen Nationalstaates bei.

Ein nicht abstreitbares Verdienst der libyschen Revolution von 1969 und der Herrschaft von Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi ist es, in diesen rückständigen Wüstenregionen einen Prozess radikaler Modernisierung in Gang gesetzt zu haben. Dank einer rabiaten Verstaatlichung ausländischer Ölkonzerne und der in den 1970er Jahren explodierenden Weltmarktpreise für Rohöl wurde Libyen reich. Und dieser Reichtum floss eben nicht, wie in den meisten anderen erdölfördernden Staaten, in die Taschen einer korrupten Oberschicht, sondern wurde primär zum Aufbau einer modernen Infrastruktur und zum Aufbau eines für afrikanische Verhältnisse vorbildlichen Sozialstaates verwendet. Da ein nationales Bürgertum als Träger dieses Prozesses nicht einmal marginal vorhanden war, erfolgte die wirtschaftliche Modernisierung durch eine unter Kontrolle des Revolutionsrates stehende Staatsbürokratie.

Eine Überwindung der Stammesstrukturen und nachhaltige Modernisierung der Gesellschaft gelang allerdings nicht, Libyen blieb als politisches Gebilde instabil; die Revolutionsführung war ständig gezwungen, zwischen den unterschiedlichen Stammes- und Regionalinteressen zu lavieren. Schon in den 1970er Jahren misslang der Versuch, eine identitätsstiftende Staatspartei zu gründen; an deren Stelle traten regionale „Volkskomitees“. Zwischen den verschiedenen, scheinbar basisdemokratisch agierenden Komitees sowie in den Dienststellen des zunehmend ausufernden Staatsapparates tobten ununterbrochen Machtkämpfe, hinter denen einander ausschließende Interessen der einzelnen Familienclans steckten. Die Geschichte der Gaddafi-Herrschaft war zudem geprägt durch eine ganze Reihe von Putschversuchen, Stammesrevolten, islamistischen und monarchistischen Verschwörungen, die von den „Revolutionskomitees“ und einem zunehmend repressiv agierendem Geheimdienst brutal niedergeschlagen wurden.

Ebenso blieb Libyen wirtschaftlich instabil und auf Erdölexporte nach Westeuropa angewiesen. Dank der Ölmilliarden wurden zwar verschiedene industrielle und landwirtschaftliche Großprojekte aus dem Boden gestampft. Diese arbeiteten jedoch meist mit Verlust und waren auf staatliche Subventionen angewiesen. Solange die Öleinkünfte stabil flossen, war dies kein Problem; aber mit dem Verfall der Weltmarktpreise für Rohöl in den 1990er Jahren geriet Libyen zwischenzeitlich in eine tiefe Finanzkrise.

Wahrscheinlich war diese Krise Auslöser für einen etwa auf das Jahr 2001 anzusetzenden politischen Frontwechsel Gaddafis. Die sich als „sozialistisch“ bezeichnende und betont antiimperialistisch agierende Revolutionsführung begann nun auf militärischer und Geheimdienstebene eine Kooperation mit westlichen Staaten. Eine neoliberale Umstrukturierung der Wirtschaft wurde in die Wege geleitet, ein Teil der staatseigenen Betriebe privatisiert, mehrere Hunderttausend Angestellte vorzeitig pensioniert oder in die freie Wirtschaft entlassen. Der Zuzug von Arbeitsmigranten aus den Nachbarstaaten, ohne die die libysche Wirtschaft nicht lebensfähig war, wurde stark reglementiert. Westlicherseits wurden in der Folge Wirtschaftssanktionen und Waffenembargo ausgesetzt. Milliardeninvestitionen flossen in die libysche Wirtschaft; Tripolis wurde mehrere Jahre lang ein Eldorado für anlagehungriges westliches Kapital.

Die strukturellen Probleme Libyens wurden durch diese politische und wirtschaftliche Öffnung jedoch keinesfalls beseitigt, sondern eher verstärkt. Durch die Investitionsschwemme wurden kaum Arbeitsplätze für Libyer geschaffen; die westlichen Konzerne brachten ihre Spezialisten selbst mit und nahmen für die schlechtbezahlten Hilfsarbeiten vorzugsweise Arbeitsmigranten aus Ägypten und den Staaten der Zentralsahara (was dem ohnehin in der libyschen Stammesgesellschaft tief verwurzelten Rassismus gegenüber Schwarzafrikanern neue Nahrung gab). Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit stieg rapide an, betrug zuletzt 40 bis 50 %. Es wuchs eine ganze Generation heran, die dank der noch vorhandenen Reste des Sozialstaates zwar nicht hungerte, aber keinerlei Perspektive vor sich sah. Die Unzufriedenheit der Jugendlichen fand ihre Nahrung auch darin, dass sich seit dem Beginn der wirtschaftliche Umgestaltung Angehörige der privilegierten Oberschicht schamlos am Staatseigentum bereicherten, wobei Angehörige von Gaddafis Familienclan mit „gutem“ Beispiel vorangingen.  

Mit Privatisierung und wirtschaftlicher Öffnung waren auch die Diskrepanzen zwischen den einzelnen Landesteilen keineswegs beseitigt. Der Revolutionsrat hatte sich seit 1969 gegen die überwiegend islamistisch und königstreu gesonnenen Stämme der Cyrenaika hauptsächlich auf die bevölkerungsstarken Stämme Tripolitaniens gestützt (die relativ schwachen Stämme des Landesinneren spielten faktisch kaum eine Rolle). Die wirtschaftspolitische Bevorzugung Tripolitaniens setzte sich auch nach 2001 fort, da westlichen Konzerne sich hauptsächlich in der Umgebung der Hauptstadt mit ihrer vergleichsweise gut ausgebauten Infrastruktur ansiedelten. Die in den Stämmen der Cyrenaika rapide wachsende Unzufriedenheit äußerte sich seit den 1990er Jahren im Erstarken eines islamistischen Untergrundes.

Angesichts der wachsenden Widersprüche erfolgte offensichtlich eine politische Ausdifferenzierung innerhalb der herrschenden Schicht Libyens. Während Teile des Staatsapparates gewillt waren, den einmal eingeschlagenen prowestlichen Kurs ohne Rücksicht auf soziale Folgen fortzusetzen, versuchten offensichtlich andere Funktionäre, dem sich anbahnenden Staatszerfall gegenzusteuern. Die widersprüchliche Politik Libyens der letzten Jahre könnte so ihre Erklärung finden. So betrieb das Regime nach wie vor eine repressive Innenpolitik gegen jede Art von politischer Opposition. Zeitgleich wurde in offiziellen Verlautbarungen die politische Öffnung Libyens propagiert, von der Revolutionsführung in den Jahren 2006 und 2009 Amnestien erlassen und zahlreiche inhaftierte Islamisten wieder auf freien Fuß gesetzt.

Seit seiner Abkehr vom panarabischen Nationalismus in den 1990er Jahren hatte Revolutionsführer Gaddafi auf panafrikanische Zusammenarbeit mit den südlichen Nachbarstaaten gesetzt. Die pro-afrikanische Rhetorik Gaddafis hinderte die libyschen Sicherheitsorgane jedoch nicht daran, eine zunehmend repressive Migrantenabwehr in Richtung Süden zu praktizieren. Allein im Jahre 2006 waren auf libyschen Territorium 60.000 illegale Einwanderer in Lagern interniert; NGOs berichteten von menschenunwürdigen Zuständen und Fällen von Folter. Im Gegenzug für eine Zusage des damaligen Staatschefs Berlusconi, nach 60 Jahren endlich eine finanzielle Kompensation für die faschistischen Kolonialverbrechen zu leisten, kooperierte Libyen in der Migrationsabwehr mit Italien. Als Folge wurden in den Jahren 2004 und 2005 Tausende auf der italienischen Insel Lampedusa angelandete Bootsflüchtlinge nach Libyen abgeschoben. Ab dem Jahre 2009 ging die italienische Marine auch dazu über, Flüchtlingsboote schon auf See aufzubringen und zwangsweise nach Libyen rückzuführen. Ein im Jahre 2010 bereits vorbereitetes Rahmenabkommen mit der Europäischen Union zwecks Abschottung der Grenzen zwischen Libyen und seinen südlichen Nachbarstaaten kam wegen fehlender Einigung über die von der EU zu tragenden Kosten allerdings nicht zustande.

Ähnlich widersprüchlich verlief Libyens Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren des Gaddafi-Regimes. Gaddafi selbst kooperierte eng mit Frankreich. Im Jahre 2007 unterzeichnete er beispielsweise gemeinsam mit Premier Nicolas Sarkozy einen Vertrag zum gemeinsamen Bau eines Atomreaktors - das Vorhaben kam allerdings nicht mehr zur Ausführung. Im Jahre 2009 brüskierte Libyen seine westlichen Partner allerdings durch Verstaatlichung von Eigentum einer kanadischen Ölfirma. Im Frühjahr 2010 wiederum sicherte Gaddafi öffentlich zu, die gesamte libysche Wirtschaft der Kontrolle privater Investoren zu übergeben, die bereits begonnene neoliberale Zerschlagung des libyschen Sozialstaates also zu vollenden.

Der Zusammenbruch des Regimes erfolgte fraktionsweise. Als die Welle von Jugendprotesten aus den Nachbarstaaten Tunesien und Ägypten auch auf Libyen überschwappte, reagierten Polizei und Geheimdienst in gewohnter Manier. Die mit der Herrschaft Gaddafis unzufriedenen Stämme der Cyrenaika nutzten die günstige Gelegenheit zu einer bewaffneten Revolte gegen die Zentralgewalt. In der eilig installierten provisorischen Übergangsregierung hatten dann allerdings übergelaufene Funktionäre des Gaddafi-Regimes das Sagen. Letztere wollten offensichtlich die günstige Gelegenheit nutzen, ihre Widersacher im Staatsapparat loszuwerden und anschließend die vom Regime zwar zugesagte, aber nie umgesetzte vollständige Privatisierung der Wirtschaft zu erzwingen. Der Aufstand gegen Gaddafi war also tatsächlich ein Konglomerat aus Sozialprotest, regionaler Stammesrevolte und dem Putsch einer neoliberal gesonnenen Funktionärsschicht. Es war keinesfalls, wie vom Westen behauptetet, ein „demokratischer Aufbruch“, schon weil die Mehrzahl seiner Akteure alles andere als Demokraten waren.

Mit der Unterstützung des Westens für die in Bengasi residierende Übergangsregierung war der Machtwechsel letztlich vorprogrammiert. Infolge Sperrung seiner Auslandskonten war Gaddafi faktisch zahlungsunfähig, konnte auf Dauer also weder seine Truppen besolden noch aus dem Ausland militärischen Nachschub beziehen. Dass die bewaffneten Auseinandersetzungen noch Monate dauerten und es des massiven Einsatzes ausländischer Truppen bedurfte, die letzten Hochburgen des Regimes niederzukämpfen, beweist, dass die Übergangsregierung außerhalb der Cyrenaika über keinerlei nennenswerte Verankerung verfügte. Tatsächlich ließen die meisten Stämme Westlibyens Gaddafi erst in dem Moment fallen, als die Truppen der Übergangsregierung und ihrer westlichen Verbündeten schon in den Vororten der Hauptstadt Tripolis standen.

Der Bürgerkrieg kostete mehreren zehntausend Menschen das Leben; die genaue Zahl wird sich wahrscheinlich nie feststellen lassen. Den Siegern wurden massive Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen: Morde, Plünderungen, Folter. Ein Teil der unter Gaddafi geschaffenen Infrastruktur ist zerstört, Förderung und Export von Erdöl erst einmal massiv eingebrochen.

Gaddafi jetzt nach seinem Tode zu einer antiimperialistischen Ikone zu verklären, wie es von verschiedenen Linken jüngst erfolgte, geht allerdings an seiner tatsächlichen Rolle vorbei. Es ist zwar abzusehen, dass das jetzt etablierte Regime wohl eine noch finsterere Politik verfolgt. Und es trifft durchaus zu, dass eine rassistische Migrationspolitik auch von den arabischen Nachbarstaaten betrieben wurde und wird. Die in Gaddafis Namen begangenen Verbrechen macht dies jedoch nicht ungeschehen. Er hat trotz seiner häufig fragwürdigen Politik unbestreitbare Verdienste, war einer der letzten Repräsentanten des antiimperialistischen Aufbruchs der 1960er Jahre. Das von ihm installierte Regime hatte sich jedoch irgendwann einmal selbst überlebt, war an den realen Kräfteverhältnissen und dem Diktat des Weltmarktes gescheitert.   

Mit der Tötung Gaddafis ist der Krieg nun keinesfalls beendet. Es war auch durchaus abzusehen, dass die Interessen regionalistisch gesonnener Stammeskrieger und islamistischer Untergrundkämpfer mit denen neoliberal gesonnener Technokraten kaum in Einklang zu bringen seien. Die Auseinandersetzungen zwischen den heterogen zusammengewürfelten Haufen der Aufständischen hatten bereits begonnen, als um die letzten Städte noch gekämpft wurde. Außerdem nutzten traditionell miteinander verfeindete Stämme den Bürgerkrieg, um uralte Rechnungen zu begleichen, Kriminelle mordeten und plünderten auf eigene Faust. Hinzu kamen eine rassistisch motivierte Säuberung der Küstenregionen von Migranten und Angehörigen nicht-arabischer Minderheiten sowie eine weitgehende Vertreibung der unter Gaddafi privilegierten Tuareg-Stämme.

Als Menetekel könnten sich die Ereignisse des 22. Januar in der ostlibyschen Stadt Bengasi erweisen: Aus einer Demonstration für die Einführung des islamischen Rechtssystems Scharia heraus stürmten mehrere Hundert Bewaffnete den Sitz der Übergangsregierung, um gegen das gerade beschlossene Wahlsystem zu protestieren. Die Stämme der Cyrenaika erklärten dann Anfang März ihre Autonomie und setzen einen Verwandten des 1969 gestürzten Königs als Verwaltungschef ein. In Zentrallibyen folgten heftige Kämpfe zwischen arabischen Stämmen und der im Süden ansässigen Volksgruppe der Tubu. Die Autorität der Übergangsregierung dürfte mittlerweile gegen Null tendieren.

Sehr wahrscheinlich wird sich in dem zerrissenen Land ein lang anhaltender Bürgerkrieg entwickeln, Staatszerfall und nachfolgende Besetzung durch westliche Truppen. Der libysche Modernisierungsversuch ist jedenfalls am Ende.