Aus: Robert
Kurz, Ernst Lohoff, Norbert Trenkle (Hg.): Robert Kurz Die Dikatur der abstrakten
Zeit
Die Doppeldeutigkeit der Arbeitskategorie erweist sich schon allein daran, daß sie sowohl oppositionell als auch affirmativ verwendet wird. Der Marxismus hat immer versucht, die Arbeit als positives Ideal für sich zu reklamieren und von der angeblichen "Nichtarbeit" der bürgerlichen Welt und ihrer Repräsentanten abzugrenzen. Die sozialistische Presse des 19. Jahrhunderts stellte in ihren Karikaturen die Kapitalisten mit Vorliebe als fettleibige Schmarotzer oder als Dandys und Flaneure dar, die sich auf Kosten der Arbeiterklasse ein angenehmes und "arbeitsloses" Leben verschaffen. Deshalb wurde es ja auch zum zentralen Anliegen, statt der Arbeitskategorie "die Müßiggänger" beiseite zu schieben. Es sind eigentlich eher die alten Feudalherren und die Rentiers großer Geldvermögen, die in diesem groben Feindbild sichtbar werden, und nicht die modernen Manager. Denn die industriellen Tycoons sind bekanntlich schlank, joggen täglich, haben weniger Freizeit als ein Plantagen-Sklave und müssen sich in Therapie begeben, weil sie "arbeitssüchtig" geworden sind. In Wahrheit ist die Arbeit
schon immer ein bürgerlich-kapitalistisches Ideal gewesen, längst
bevor der Sozialismus diesen Begriff für sich entdeckte. Insofern stellt
der vermeintlich kapitalismuskritische "Standpunkt der Arbeit" schon von haus
aus eine Paradoxie dar. Das Lob der Arbeit wird auch von der christlichen Soziallehre
in den höchsten Tönen gesungen; und der Liberalismus hat die Arbeit
ebenfalls heilig gesprochen und verspricht ganz ähnlich wie der Marxismus
ihre "Befreiung". Auch sämtliche konservativen und gerade auch die rechtsradikalen
Ideologien beten die Arbeit geradezu an. Offensichtlich ist die Religion der
Arbeit das gemeinsame Bezugssystem aller modernen Theorien, politischen Systeme
und sozialen Klassen. Sie konkurrieren miteinander, wer in dieser Religion die
größte Frömmigkeit an den Tag legt und die größte
Leistung aus den Menschen herauskitzelt. Bei solchen Gedanken wird vielleicht der moderne Normalmensch ärgerlich. Was soll das denn? "Man muß doch arbeiten". Haben die Menschen nicht schon immer gearbeitet? Sonst gäbe es ja keine Nahrungsmittel, keine Kleidung, keine Wohnung und keine Kultur. Von nichts kommt nichts. Zweifellos haben die Menschen schon immer Dinge und Ideen produziert, um zu leben, zu genießen, zu forschen und sich zu unterhalten. Aber ist "Arbeit" der richtige, überhistorische, universelle Begriff dafür? "Arbeit" ist eine Abstraktion, ein Wort von vieldeutiger Allgemeinheit. Karl Marx, dessen Verhältnis zum positiven Arbeitsbegriff durchaus zwiespältig ist, meinte einerseits, die Arbeit erscheine "in dieser Abstraktion praktisch wahr (nur) als Kategorie der modernsten Gesellschaft"(Marx 1974/1857, 25). Dennoch verteidigte er zugleich diese unbestimmte Allgemeinheit als eine überhistorische und meinte, es handle sich gewissermaßen um eine "vernünftige" Abstraktion, die "eine uralte und für alle Gesellschaftsformen gültige Beziehung ausdrückt" (ebda). Friedrich Engels behauptete sogar, die Arbeit sei maßgeblich an der "Menschwerdung des Affen" beteiligt gewesen, womit schon unsere "über und über behaarten" Vorfahren mit "Bärten und spitzen Ohren" jener segensreichen vernünftigen Abstraktion teilhaftig geworden seien (Engels 1946/1896, 6 ff.). Aber stimmt das wirklich? Eine vernünftige Abstraktion wäre ein sinnvoller allgemeiner Oberbegriff für qualitativ verschiedene, aber trotzdem auf einer bestimmten Ebene zusammengehörige Dinge. So werden zum Beispiel Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Orangen usw. zu dem Oberbegriff "Obst" zusammengefaßt. Aber in diesem Sinne ist "Arbeit" als Oberbegriff menschlicher Tätigkeiten gerade keine vernünftige Abstraktion. Auch Spazierengehen, Schachspielen oder Romane lesen sind menschliche Tätigkeiten, ohne daß sie normalerweise zur Arbeit gerechnet werden. Wo soll da die Grenze gezogen werden, ohne ein Moment von Willkürlichkeit hineinzubringen? Um hier Klarheit zu schaffen, ist der besondere gesellschaftliche Charakter des abstrakten Arbeitsbegriffs genauer zu bestimmen. Historisch ist die gesellschaftliche Allgemeinheit des Arbeitsbegriffs als angebliche Selbstverständlichkeit mehr als zweifelhaft. Viele Jäger-, Hirten- oder Bauernkulturen kannten überhaupt keinen abstrakten, ganz unterschiedliche Tätigkeiten übergreifenden Begriff der Arbeit. Aber nicht etwa deswegen, weil sie kein Abstraktionsvermögen gehabt hätten. Es wäre ihnen jedoch im höchsten Grade unvernünftig und geradezu verrückt erschienen, Tätigkeiten wie Jagen und Pflanzen, Kochen und Kinder erziehen, Kranke pflegen und kultische Handlungen ausführen unter einem einzigen abstrakten Oberbegriff von "Tätigkeit überhaupt" zusammenzufassen. Oft gab es in diesen archaischen Gesellschaften (soweit sie rekonstruierbar sind oder noch Reste existieren) für die verschiedenen Bereiche des Lebens, für Männer und Frauen, für verschiedene soziale Gruppen oder Fertigkeiten (Bauern, Künstler, Krieger usw.) auch verschiedene Oberbegriffe der Tätigkeit, die in keiner Weise dem modernen Universalbegriff der Arbeit entsprechen. Wann und in welchem Kontext ist also historisch dieser abstrakt-allgemeine Begriff der sozialen und ökonomischen Aktivität entstanden? In mehreren Kultursprachen geht die Wurzel des Wortes "Arbeit" auf eine Bedeutung zurück, die den unmündigen Menschen, den Abhängigen oder Sklaven bezeichnet. "Arbeit" ist also ursprünglich keine neutrale und vernünftige, sondern eine soziale Abstraktion: es ist die Tätigkeit derjenigen, die ihre Freiheit verloren haben. Egal, was diese Menschen auch tun mögen, ob sie nun im Bergwerk oder auf der Plantage schwitzen, ob sie als Domestiken im Haus das Essen auftragen, die Kinder zur Schule begleiten oder der Herrin Luft zufächeln: es ist immer die Tätigkeit eines als Knecht definierten Menschen. Das Dasein als Knecht ist der Inhalt der Abstraktion "Arbeit". In diesem Sinne, als sozial eingegrenzte Abstraktion, konnte der Arbeitsbegriff natürlich keinesfalls den Charakter einer gesellschaftlich allgemeinen Tätigkeitsform haben und schon gar nicht positiv bestimmt sein. So ist es kein Wunder, daß der Begriff der Arbeit in der Antike die metaphorische Nebenbedeutung von Leid und Unglück angenommen hat (etwa im Lateinischen). Es ist das Leid des Menschen, der in dem negativen Sinne tätig ist, daß er "unter einer Last schwankt" (laborare). Diese Last kann auch unsichtbar sein, weil sie in Wahrheit die soziale Last der Unselbständigkeit ist. Das ist auch letzten Endes gemeint, wenn im Alten Testament der Bibel die Arbeit als ein von Gott auferlegter Fluch des Menschen gedeutet wird. Die Gleichbedeutung von Leid und Arbeit meint nicht die bloße Anstrengung. Auch ein freier Mensch kann sich bei bestimmten Gelegenheiten anstrengen und sogar Lust dabei empfinden. Deswegen ist es ganz falsch, die "Nicht-Arbeit" der Freien und Unabhängigen in der Antike als pures "dolce far niente" und als bloße Faulheit mißzuverstehen, wie es oft in der vulgärmarxistischen Literatur erscheint. Bei Homer ist der Held Odysseus sogar stolz darauf, daß er sein Bett selbst gezimmert hat. Nicht die Tätigkeit als solche war ehrlos, auch nicht die Handarbeit, sondern die Subsumtion des Menschen unter andere Menschen oder unter einen "Beruf". Ein freier Mensch konnte gelegentlich ein Bett oder einen Schrank bauen, aber er durfte nicht von Berufs wegen Schreiner sein; er konnte gelegentlich Handel treiben, aber er durfte nicht Händler sein; er konnte gelegentlich Gedichte schreiben, aber er durfte nicht Dichter sein (schon gar nicht als Gelderwerb). Wer formal frei war, aber sich einer lebenslangen Erwerbsarbeit in irgendeinem Zweig der Produktion unterwerfen mußte, war dieser Tätigkeit gegenüber "unmündig" geworden und galt kaum mehr als ein Sklave. Deswegen mußte die Tätigkeit des freien Amateurs allerdings keineswegs ungeschickter oder von schlechterer Qualität sein als die des unfreien "Berufsmenschen". Sich in verschiedenen Künsten zu üben und Kenntnisse zu erwerben, galt durchaus als ehrenhaft; und aus den Märchen verschiedener Kulturkreise können wir erfahren, daß in den alten Gesellschaften sogar Königssöhne und Prinzen manchmal neben der Kriegskunst und geistigem Wissen auch ein Handwerk erlernen mußten - aber eben nicht um lebenslang Handwerker zu "sein" und damit dem Leid der Arbeit unterworfen zu werden, sondern um in vieler Hinsicht "geschickt" zu sein und qualitativ verschiedene Tätigkeitsformen frei miteinander kombinieren zu können. Es war das Christentum, das zuerst die negative Bedeutung der Abstraktion "Arbeit" positiv umdefiniert hat - und zwar paradoxerweise gerade als Leid und Unglück! Weil nämlich das Leid Christi am Kreuz die Menschheit von ihren irdischen Sünden erlöst hat, verlangt der Glaube daran die "Nachfolge Christi". Und das bedeutet, das Leid freudig und freiwillig auf sich zu nehmen. In einer Art von Masochismus des Glaubens an das positive Leiden adelte also das Christentum auch die Arbeit zum geradezu erstrebenswerten Ziel, etwa in demselben Sinn, wie es gelegentlich üblich war, sich in frommer Extase selber zu geißeln. Die Mönche und Nonnen in den Klöstern unterwarfen sich bewußt und freiwillig der Abstraktion "Arbeit", um als "Knechte Gottes" ein Leben im Sinne des Leids von Christus zu führen. Mentalitätsgeschichtlich waren, und darauf ist oft hingewiesen worden, die klösterliche Zucht und Ordnung, also die strenge Einteilung des Tagesablaufs und die mönchische Askese, Vorläufer der späteren Fabrikdisziplin und der abstrakten "betriebswirtschaftlichen" Zeitrechnung. Aber diese spezifisch christliche Mission der Arbeit bezog sich nur auf die metaphorische Bedeutung des Begriffs als religiöse Akzeptanz des Leids mit Blick auf das Jenseits; es wurde damit noch kein positiver irdischer Zweck verfolgt. Es war erst der Protestantismus, besonders in seiner calvinistischen Form, der seit dem 16. Jahrhundert den christlichen Masochismus des Arbeits-Leidens zum diesseitigen Gegenstand machte: Der gläubige Mensch sollte die Schmerzen der Arbeit als "Knecht Gottes" nun nicht mehr in klösterlicher Abgeschiedenheit auf sich nehmen, sondern damit in der profanen irdischen Welt Erfolg haben, und zwar gerade um seine Auserwähltheit durch Gott zu beweisen und zu demonstrieren! Natürlich durfte er aber die Früchte des Erfolgs auf keinen Fall genießen, um die göttliche Gnade in der Nachfolge Christi nicht zu verspielen; er mußte also das Ergebnis der Arbeit mit säuerlicher Leidensmiene zum Ausgangspunkt immer neuer Arbeit machen und unaufhörlich abstrakte Reichtümer ohne Genuß aufhäufen. In dieser seltsamen Verschränkung eines tristen jenseitigen mit einem ebenso tristen diesseitigen Zweck entstand die erst recht triste moderne Arbeitsmentalität - Arbeit als eine Art Verhaltensstörung. Nun wäre es sicherlich nicht ausreichend, bei der bloß religions- und geistesgeschichtlichen Karriere der abstrakten Arbeitskategorie vom negativen zum positiven Leid stehenzubleiben. Damit die protestantische Verhaltensstörung ihren weltlichen Siegeszug antreten konnte, bedurfte es der Vermittlung mit mächtigen materiellen Interessen. Bekanntlich entwickelte sich seit der Renaissance sprunghaft die Warenproduktion und begann die agrarische Naturalwirtschaft aufzusprengen. Die protestantische Mentalität verband sich mit diesem Aufstieg der Marktwirtschaft, der in den modernen Kapitalismus münden sollte. Und die Positivierung der Arbeitskategorie war natürlich in diesen Zusammenhang eingebunden, der heute als Beginn der "Modernisierung" und ihrer scheinbar endlosen Weiterentwicklung firmiert. Es ist bezeichnend, daß die Modernisierung genau wie die Arbeit von allen Ideologien, theoretischen Reflexionen und politischen Strömungen der aufsteigenden kapitalistischen Gesellschaft hauptsächlich positiv bestimmt wurde. So spinnefeind sie sonst auch sein mochten, im Heraufdämmern ihrer eigenen Welt wollten sie doch im wesentlichen einen gesellschaftlichen "Fortschritt" erkennen. Für die bürgerliche Ideologie ist die Entfesselung von Warenproduktion und Kapitalismus selbstverständlich gleichbedeutend mit ständig erhöhter Reichtumsproduktion. Auch der Marxismus sieht den bürgerlichen Fortschritt, wenngleich nicht ungebrochen, in der "Entwicklung der Produktivkräfte". Jedenfalls werden stets positive Errungenschaften als die ursprüngliche Triebfeder der Modernisierung und damit der Arbeit angenommen. Prominente Gründe für den "take off" der Moderne sollen wahlweise die künstlerischen und wissenschaftlichen Innovationen der Renaissance, die großen geographischen "Entdeckungen" seit Kolumbus, die protestantisch-calvinistische Idee von der Selbstverantwortung des Individuums und die allmähliche Befreiung vom "mittelalterlichen Aberglauben" gewesen sein. Andererseits hat Marx im berühmten Kapitel über die "ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" den beispiellosen terroristischen Charakter der Ur-Modernisierung beschrieben, die gewaltsame Vertreibung der Pächter von ihren Feldern, den regelrechten Krieg gegen die verarmten Massen, die Errichtung von Zuchtanstalten und Arbeitshäusern im großen Maßstab. Wie geht das zusammen mit der vermeintlich friedlichen Erweiterung der Warenproduktion? Lokalen Warentausch hatte es ebenso wie Fernhandel mit speziellen Waren (Salz, Seide, Erze, Waffen usw.) in mehr oder minder großem Umfang schon seit frühesten Zeiten in den "Nischen" der agrarischen Naturalwirtschaft gegeben, ohne daß daraus jemals ein die gesamte Gesellschaft erfassendes "warenproduzierendes System" (alias Kapitalismus) entstanden wäre, in dem dann die Arbeit ihre seltsame Karriere als nunmehr substantielle Realität für alle Menschen fortsetzen und krönen konnte. Was also war in der frühen Neuzeit jenes wirklich "Neue", das in der Folge unausweichlich die Geschichte der Modernisierung hervorgebracht hat? Man kann dem historischen Materialismus durchaus zugestehen, daß keinem bloßen Wandel der Ideen und Mentalitäten, sondern einer Entwicklung auf der Ebene der harten materiellen Tatsachen die größte und wichtigste Bedeutung zukam. Es war jedoch keine Produktivkraft, sondern im Gegenteil eine durchschlagende Destruktivkraft, die der Modernisierung den Weg gebahnt hat: nämlich die Erfindung der Feuerwaffen. Obwohl dieser Zusammenhang seit langem bekannt ist, blieb er doch in den berühmtesten und folgenreichsten Theorien der Modernisierung (den Marxismus eingeschlossen) völlig unterbelichtet. Es war der deutsche Wirtschaftshistoriker Werner Sombart, der pikanterweise kurz vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Studie "Krieg und Kapitalismus" (1913) ausführlicher auf diese Frage einging; freilich nur, um dann wie so viele der damaligen deutschen Intellektuellen selber der Kriegsbegeisterung zu verfallen. Erst in den letzten Jahren sind die rüstungstechnischen und kriegsökonomischen Ursprünge des Kapitalismus wieder zum Thema gemacht worden, so von dem deutschen Ökonomen Karl Georg Zinn in seinem Buch "Kanonen und Pest" (1989) und von dem US-amerikanischen Neuhistoriker Geoffrey Parker in seiner Untersuchung über "Die militärische Revolution" (1990). Aber diese Analysen haben nicht den großen Widerhall gefunden, den sie verdienen. Offensichtlich können die moderne westliche Welt und ihre Ideologen nur schwer die Einsicht akzeptieren, daß der letzte historische Grund ihres Systems in der Erfindung von perfektionierten Mordinstrumenten zu suchen ist. Und dieser Zusammenhang gilt nicht nur für die dunklen Ursprünge, sondern auch noch für die moderne Demokratie; denn die "militärische Revolution" ist bis heute ein heimlicher Beweggrund der Modernisierung geblieben. Die Innovation der Feuerwaffen hat die vorkapitalistischen Formen der Herrschaft zerstört, denn sie machte das feudale Rittertum militärisch lächerlich. Schon vor den Feuerwaffen hatte man die gesellschaftlichen Folgen von wirksamen Distanzwaffen geahnt, denn das Zweite Lateranische Konzil verbot im Jahr 1129 den Einsatz der Armbrust gegen Christen. Nicht umsonst galt die von außereuropäischen Kulturen um das Jahr 1000 nach Europa importierte Armbrust als die spezielle Waffe der Räuber, Outlaws und Rebellen. Als die noch viel wirksameren Distanzwaffen der "Feuerrohre" aufkamen, besiegelten sie den Untergang der gepanzerten und berittenen Kriegsherren. Aber die Feuerwaffe lag nicht mehr in den Händen einer Opposition "von unten" gegen die feudale Herrschaft, sondern sie führte zu einer "Revolution von oben" durch die Fürsten und Könige. Denn die Produktion und Mobilisierung der neuen Waffensysteme war nicht auf der Ebene von lokalen und dezentralen Strukturen möglich, wie sie bis dahin die gesellschaftliche Reproduktion geprägt hatten, sondern erforderte eine völlig neue soziale Organisation auf mehreren Ebenen. Die Feuerwaffen, vor allem die großen Kanonen, konnten nämlich nicht mehr in kleinen Werkstätten produziert werden wie die vormodernen Hieb- und Stichwaffen. Deshalb bildete sich eine besondere Rüstungsindustrie heraus, die in großen Fabriken Kanonen und Musketen produzierte. Gleichzeitig entstand eine neue militärische Defensiv-Architektur in Gestalt riesiger Bollwerke, die den Kanonen trotzen sollten. Es kam zu einem Innovations-Wettlauf zwischen Offensiv- und Defensivwaffen und zu einem Rüstungswettlauf zwischen den Staaten, der bis heute nicht aufgehört hat. Durch die Feuerwaffen veränderte sich auch die Struktur der Armeen grundsätzlich. Die Krieger konnten sich nicht mehr selbst ausrüsten, sondern mußten sich ihre Waffen von einer gesellschaftlichen Zentralgewalt geben lassen. Deshalb trennte sich die militärische von der bürgerlichen Organisation der Gesellschaft. An die Stelle der von Fall zu Fall für Feldzüge mobilisierten Bürger oder lokalen Herren mit ihren bewaffneten Familien traten "stehende Heere": Es entstand "das Militär" als besondere soziale Gruppe und die Armee wurde zu einem sozialen Fremdkörper in der Gesellschaft. Der Status des Offiziers verwandelte sich aus einer persönlichen Verpflichtung der reichen Bürger in einen modernen "Beruf". Im Zusammenhang mit dieser neuen militärischen Organisation und der neuen Kriegstechnik nahm auch die Größe der Armeen sprunghaft zu: "Die bewaffneten Streitkräfte wuchsen zwischen 1500 und 1700 um das Zehnfache" (Parker 1990, 20). Rüstungsindustrie, Rüstungswettlauf und die Erhaltung permanent organisierter, von der bürgerlichen Gesellschaft getrennter und gleichzeitig stark vergrößerter Armeen führten notwendig zu einer radikalen Umwälzung der Ökonomie und der gesamten gesellschaftlichen Struktur. Der aus der Gesellschaft herausgelöste militärische Großkomplex erforderte eine "permanente Kriegswirtschaft". Diese neue Ökonomie des Todes legte sich wie ein Leichentuch auf die naturalwirtschaftlichen Strukturen der alten Agrargesellschaften. Weil Rüstung und Militär sich nicht mehr auf die lokale agrarische Form der Produktion stützen konnten, sondern großräumig und in anonymen Zusammenhängen mit Ressourcen versorgt werden mußten, waren sie auf die Vermittlung des Geldes angewiesen. Warenproduktion und Geldwirtschaft als Grundelemente des Kapitalismus erhielten damit ihren entscheidenden Anstoß in der frühen Neuzeit durch die Entfesselung der Militär- und Rüstungsökonomie. Diese Entwicklung erzeugte und begünstigte die kapitalistische Subjektivität und ihre Mentalität des abstrakten "Plusmachens". Der permanente finanzielle Bedarf der Kriegswirtschaft führte in der zivilen Gesellschaft zum Aufstieg der Geld- und Handelskapitalisten, der großen Geldsammler und Kriegsfinanziers. Aber auch die neue Organisation der Armeen selber brachte die kapitalistische Mentalität hervor. Die alten agrarischen Krieger verwandelten sich in "Soldaten", das heißt in Empfänger von "Sold". Sie waren die ersten modernen "Lohnarbeiter", die ihr Leben vollständig durch Geldeinkommen und Warenkonsum reproduzieren mußten. Und deshalb kämpften sie nicht mehr für idealisierte Ziele, sondern nur noch für Geld. Ihnen war es gleich, wen sie totschossen, wenn nur der Sold "stimmte"; und so wurden sie zu den ersten Repräsentanten der "abstrakten Arbeit" (Marx) für das moderne warenproduzierende System. Sie waren übrigens auch die ersten, die "arbeitslos" werden konnten. Wenn kein Geld mehr in den Kassen der Kriegsherren war, schmolzen die "Arbeitsplätze" in den Armeen dahin. Viele Musketiere und Kanoniere wurden Opfer von Massenentlassungen; sie standen dann buchstäblich auf der Straße und waren gefürchtet als herumstromernde Bettler, Räuber und Gelegenheitstotschläger. Den Hauptleuten und Führern der "Soldaten" kam es darauf an, durch Plünderungen Beute zu machen und diese in Geld zu verwandeln. Dabei sollte der output der Beute größer sein als der input der Kriegskosten. Das war ein entscheidender Impuls für die Geburt der modernen betriebswirtschaftlichen Rationalität. Die meisten Generäle und Söldnerführer der frühen Neuzeit legten ihr Beute-Geld gewinnbringend an und wurden zu Teilhabern des Geld- und Handelskapitals. Nicht der friedliche Kaufmann, der fleißige Sparer und der ideenreiche Produzent stand also am Anfang des Kapitalismus, ganz im Gegenteil: Wie die "Soldaten" als blutige Handwerker der Feuerwaffen die Prototypen der modernen Lohnarbeiter waren, so die "Geld machenden" Heerführer und Condottieri die Prototypen des modernen Unternehmertums und seiner "Risikobereitschaft". Als freie Unternehmer des Todes waren die Condottieri jedoch angewiesen auf die großen Kriege der staatlichen Zentralgewalten und deren Finanzierungsfähigkeit. Das wechselhafte moderne Verhältnis von Markt und Staat hat hier seinen Ursprung. Um die Rüstungsindustrien und Bollwerke, die riesigen Armeen und die Kriege finanzieren zu können, mußten sich die frühmodernen Staaten in Militärdespotien verwandeln und ihre Bevölkerung bis aufs Blut auspressen. Der Sache entsprechend geschah dies in einer ebenfalls neuen Form: An die Stelle der alten Naturalabgaben trat die monetäre Besteuerung. Die Menschen wurden also gezwungen, "Geld zu verdienen", um ihre Steuern an den Staat bezahlen zu können. Auf diese Weise forcierte die Kriegswirtschaft nicht nur direkt, sondern auch indirekt das marktwirtschaftliche System. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert stieg die (monetarisierte) Besteuerung der Massen in den europäischen Ländern um bis zu 2000 Prozent! Das erzwungene "Geldverdienen" nicht für eigene, sondern für fremde Zwecke, die ungeheure militärdespotische Auspressung, ließ erst die Abstraktion des Geldes und die Abstraktion der Arbeit zusammenfließen. Kein Wunder, daß sich der Protestantismus-Calvinismus hervorragend als Ideologie für die aufkommende frühmoderne Rüstungs-Ökonomie eignete; konnte doch der genußlose Selbstzweck-Charakter der abstrakten Anhäufung von Reichtümern auf diese Weise nicht nur die ihm angemessene "entsinnlichte" Geldform annehmen, sondern auch die weniger "auserwählte" Menschheit mit der dazugehörigen abstrakten Tätigkeitsform kujonieren. Die Abstraktion "Arbeit" wurde nun zum Begriff der Verausgabung von Lebensenergie für den aufgezwungenen äußeren Zweck und ihre alte Bedeutung von Unmündigkeit und Unselbständigkeit gewann in diesem Kontext neues Gewicht, während sie in der religiösen Überhöhung gleichzeitig schon einen gesellschaftlich-allgemeinen Charakter annahm (der Katholizismus mußte in der Folge die protestantische Säkularisierung der Arbeit wohl oder übel nachvollziehen). Natürlich ließen sich die Menschen nicht freiwillig in die Zumutungen der neuen Rüstungs- und Geldwirtschaft hineinziehen. Sie konnten dazu nur durch blutige Unterdrückung gezwungen werden. Die permanente Kriegswirtschaft der Feuerwaffen erzeugte für einige Jahrhunderte den permanenten Volksaufstand und damit den permanenten Krieg nach innen; von den "Bauernkriegen" der frühen Neuzeit bis zu den Aufständen der "Ludditen" (der angeblichen "Maschinenstürmer") im Zeitalter der Industrialisierung. Um die ungeheuren Abgaben auspressen zu können, mußten die staatlichen Zentralgewalten einen ebenso ungeheuren Apparat der Polizei und der Verwaltung aufbauen: sie wurden "absolutistisch". Alle modernen Staatsapparate stammen aus dieser Geschichte ab. An die Stelle lokaler Selbstverwaltung trat die zentralistische und hierarchische Verwaltung durch eine Bürokratie, deren Kern von den Apparaten der Besteuerung und der inneren Unterdrückung gebildet wurde. Auch die spätere tatsächliche Entwicklung der "industriellen Produktivkräfte" trug immer das Brandmal dieser Ursprünge. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war sowohl technologisch als auch organisations- und mentalitätsgeschichtlich ein Abkömmling der Feuerwaffen, der frühmodernen Rüstungsproduktion und ihrer gesellschaftlichen Folgeprozesse. Insofern ist es kaum überraschend, daß die rasante kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte seit der ersten industriellen Revolution niemals anders als in einer destruktiven Form vor sich gehen konnte, selbst noch bei den scheinbar unschuldigsten technischen Erneuerungen. Nicht nur technologisch, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Struktur kann die moderne westliche Demokratie nicht verbergen, daß sie ein Abkömmling der frühmodernen Rüstungs- und Militärdiktatur ist. Unter der dünnen Oberfläche der demokratischen Abstimmungs-Rituale und der politischen Diskurse finden wir das Monstrum eines Apparats, der die scheinbar freien Staatsbürger permanent verwaltet und diszipliniert im Namen der totalen Geldwirtschaft und der damit bis heute verbundenen Kriegsökonomie. Die "Arbeitsverwaltung" ist zentraler Bestandteil dieser Struktur. In keiner Gesellschaft der Geschichte gab es jemals einen derart hohen prozentualen Anteil von Staatsbeamten und Menschenverwaltern, Soldaten und Polizisten; keine hat jemals einen derart großen Teil ihrer Ressourcen für Rüstung und Militär verschleudert. Versucht man die allgemeine soziale und ökonomische Logik dessen zu erfassen, was die absolutistischen Militärdespotien der Frühneuzeit gesellschaftlich auf den Weg gebracht haben, dann läßt sich diese Logik als selbstzweckhafte Verselbständigung des Geldes und damit auch der dazugehörigen abstrakten Tätigkeitsform "Arbeit" bestimmen. Der sprichwörtliche Geldhunger des Absolutismus hatte zwar noch einen spezifischen und materiellen (allerdings auch schon verselbständigten) Zweck, nämlich eben die neue Politische Ökonomie der Feuerwaffen und ihre Erfordernisse. Aber die einmal in die Welt gesetzte Logik des "Geldmachens" begann die beschränkten Zielsetzungen des Absolutismus zu übersteigen, der sich schon bald in der Rolle des Zauberlehrlings sah. Denn das "Plusmachen" in der Geldform beschränkte sich, nachdem es einmal entfesselt war, nicht mehr auf eine äußerlich (etwa in der Form der monetären Besteuerung) an die bisherige Produktionsweise herangetragene Zumutung, sondern es wurde zum inneren Antrieb einer neuen Produktionsweise, die den gesamten Gesellschaftskörper erfaßte. Schon die absolutistischen Regimes selbst waren dazu übergegangen, neben der monetären Besteuerung eigene Produktionsunternehmen außerhalb der traditionellen Gilden und Zünfte zu gründen, deren Zweck nicht mehr Bedürfnisbefriedigung, sondern einzig und allein Geldbeschaffung war. Diese staatlichen Manufakturen und Plantagen produzierten erstmals ausschließlich für großräumige anonyme Märkte, die schließlich zur Voraussetzung der "freien" Konkurrenz werden sollten. Das Geld wurde so aus einem bloß marginalen Medium zur allgemeinen Voraussetzung und gleichzeitig zum allgemeinen Endzweck des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Im Endresultat konnte kein Stück Brot mehr produziert werden, wenn es nicht der kapitalistischen Tätigkeitsform unterworfen wurde, d.h. der abstrakten Arbeit als selbstzweckhafter Verwandlung menschlicher Energie in Geld. Karl Marx war der erste, der diesen absurden ökonomischen Mechanismus und die darin eingeschlossene Verkehrung von Mittel und Zweck präzise analysiert hat. Das Geld war gewissermaßen zum (irrationalen) "Grundnahrungsmittel" geworden. Es war nun nicht mehr ein Medium, um einen Teil der Bedürfnisse zu vermitteln, sondern genau umgekehrt waren die Bedürfnisse nur noch ein Medium (und ihre Befriedigung ein bloßes Abfallprodukt), um die auf sich selbst rückgekoppelte "Verwertung" des Geldes zu vermitteln. Damit hatte sich die Endlosbewegung einer Verwandlung von Arbeit in Geld über alle ursprünglichen Zwecke hinaus zu einem kybernetischen "System" geschlossen. Dieser hermetische Systemcharakter fand nach dem Absolutismus seine neuen Repräsentanten in jenem "freien Unternehmertum", das in aufsteigender Linie aus den frühmodernen Söldnerführern, den blutsaugerischen Steuerpächtern und den Verwaltern der absolutistischen Sträflings-Manufakturen und Sklavenplantagen hervorgegangen war. Man kann sich denken, welchen Begriff von "Freiheit" diese illustren Herrschaften in ihrer Ideologie des (ökonomischen) "Liberalismus" kreierten und gegen die absolutistischen Väter kehrten: nämlich für die einen die "Freiheit", in diesem System "unternehmerisch" tätig zu sein zwecks genußloser Geldanhäufung, und für die anderen die "Freiheit", sich den angeblichen "Naturgesetzen" dieses verselbständigten Systems von gesellschaftlicher Zwangsarbeit, Geldverwertung und anonymen Märkten bedingungslos zu unterwerfen! Die absolutistischen Regimes waren für die Fortentwicklung des Systems dysfunktional geworden, weil ihre dynastische Regierungsform den herausgebildeten versachlichten Strukturen nicht mehr angemessen war. Was blieb, war jene losgelassene Logik, deren Archetypus die Kanone gewesen war: das "Werkzeug", das seinen Schöpfer zu beherrschen beginnt. Damit hat sich überhaupt erst eine vom übrigen Leben getrennte Sphäre der sogenannten Ökonomie oder "Volkswirtschaft" im modernen Sinne herausgebildet. Diesen besonderen Aspekt hat vor allem der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi analysiert. In seinem schon klassischen Werk "The Great Transformation" (Polanyi 1995/1944) beschäftigt er sich im Unterschied zu Marx weniger mit der inneren Selbstzweck-Logik der "Verwertung des Werts" und ihren Gesetzmäßigkeiten als vielmehr mit der Tatsache, daß sich dabei die Ökonomie, die im ursprünglichen antiken Sinne gleichbedeutend mit Hauswirtschaft für den Bedarf gewesen war, in jene unheimlich verselbständigte Sphäre verwandelt hat, die in keine übergreifende soziale Gesellschaftsordnung mehr eingebunden ist. Mit Blick auf dieses unerhört Neue, das von den liberalen Ideologen zur "menschlichen Natur" umgedeutet worden ist, sagt Polanyi: "Sicherlich kann keine Gesellschaft ohne irgendein System auskommen, das die Erzeugung und Verteilung von Gütern sicherstellt. Daraus folgt aber nicht, daß es separate wirtschaftliche Institutionen geben muß; normalerweise ist die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der Gesellschaftsordnung, in der sie eingeschlossen ist...Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der die wirtschaftliche Tätigkeit herausgelöst und einem spezifischen ökonomischen Trieb zugeschrieben wurde, war in der Tat eine bemerkenswerte Abweichung...Eine solche institutionelle Schablone konnte nicht funktionieren, außer, die Gesellschaft wurde ihren Erfordernissen irgendwie untergeordnet. Eine Marktwirtschaft kann nur in einer Marktgesellschaft existieren...Im Zuge dieser Entwicklung war die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken" (Polanyi, a.a.O., 106 ff.). Während in allen anderen "integrierten Gesellschaften", wie Polanyi sie nennt, die wirtschaftliche Tätigkeit einem kulturellen Zusammenhang untergeordnet blieb, wie immer dieser zu beurteilen sein mag, stellt der Kapitalismus das Verhältnis von Gesellschaft und Wirtschaft auf den Kopf: Die Gesellschaftsordnung ist nur noch eine Funktion der Wirtschaftsordnung, die allen sozialen Bereichen und Bedürfnissen gegenüber autonom geworden ist. In dieser Verkehrung ist nicht nur das schiere Gegenteil von Selbständigkeit und Selbstverantwortung begründet, nämlich die vollständige Selbstauslieferung an den Selbstzweck des Geldes, sondern auch die Maßlosigkeit eines unaufhörlichen Vermehrungsdranges, da es ja keinerlei Rückkoppelung auf Bedürfnisse, geistige Reflexion und kulturelle Bestimmungen mehr gibt, sondern einzig die Rückkoppelung des verselbständigten ökonomischen Mediums auf sich selbst. Das begann aber nicht erst mit dem "herausgelösten" Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern schon mit der "herausgelösten" Feuerwaffen-Ökonomie der frühneuzeitlichen Regimes; auch wenn es die kapitalistische Industrialisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts war, die dann den vollen Durchbruch dieser Logik brachte. Arbeit im modernen Sinne ist somit, genauer nach dem herausgebildeten unpersönlichen Systemzusammenhang bestimmt, die spezifische Tätigkeitsform der "herausgelösten Ökonomie". Wie es bei der als soziale Abstraktion "Arbeit" bestimmten Tätigkeit des antiken Sklaven gleichgültig war, was er tat, weil es eben immer die Verausgabung von "Knechtsenergie" war, so ist nun der Inhalt der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion gleich-gültig geworden, weil es sich immer um dieselbe Verwandlung abstrakter menschlicher Energie in Geld handelt. Indem sich nahezu alle Tätigkeit auf die entfremdete, "herausgelöste" Selbstzweck-Sphäre der Ökonomie konzentriert, hat sich die einstmals sozial eingegrenzte Abstraktion "Arbeit" als Knechtstätigkeit zur gesellschaftlich-allgemeinen Tätigkeitsform gemausert. Letzten Endes heißt das, daß es überhaupt nur noch Knechtstätigkeiten gibt, auch wenn der "Herr" kein persönlicher mehr ist, sondern der anonyme Systemzusammenhang. Die Arbeit ist selber an die Stelle Gottes getreten, und insofern sind jetzt alle Menschen "Knechte Gottes", die sich nur noch durch ihre funktionelle Stellung in der Hierarchie einer allgemeinen "Leidenstätigkeit" unterscheiden, die keinen Sinn hat als sich selbst. Auch das Management ist Teil der Arbeit und nimmt dieses irdische Kreuz auf sich, um gerade darin seine masochistische Macht zu finden - nunmehr gänzlich säkularisiert, selbst noch von den protestantischen Motiven abgelöst und seiner Ursprünge nicht mehr bewußt. Der homerische Held Odysseus hätte die heutigen sogenannten Herrschenden als armselige Knechte verachtet, weil sie sich selber unter das Joch der Arbeit beugen und sich damit in die Form der Unmündigkeit begeben, die zur gesellschaftlich-allgemeinen geworden ist. Arbeit als Verhaltensstörung der Moderne hat zu einer Gesellschaft der allgemeinen Unzurechnungsfähigkeit geführt. Es ist merkwürdig, wie der Marxismus ungewollt zum Komplizen dieser Unzurechnungsfähigkeit (und insofern selber zu einem Trendsetter kapitalistischer Entwicklung) wurde, indem er im späteren 19. Jahrhundert als Dissidenz des Liberalismus dessen positiven Arbeitsbegriff übernommen hat. Während Marx als ein für das positivistische Bewußtsein "dunkler" Theoretiker zusammen mit seiner radikalen Kritik der verselbständigten ökonomischen Formen (die er bekanntlich als "Fetischismus" bezeichnete) immerhin an die Kritik der Arbeit wenigstens herankam, ohne sie allerdings konsequent zu vollenden, blieb der Arbeiterbewegungs-Marxismus auf der fälschlich als überhistorisch bestimmten abstrakten Arbeitskategorie sitzen. Daran zeigt sich, daß die uns bekannte Arbeiterbewegung nicht etwa der Beginn einer höheren Reflexionsstufe von Gesellschaftskritik war, sondern eher das Resultat einer historischen Niederlage der alten sozialrebellischen Bewegungen gegen die Arbeit seit dem 16. Jahrhundert. In Verkennung des wirklichen Zusammenhangs machten die "Parteien der Arbeit" den vergeblichen Versuch, den Kapitalismus mit seinem eigenen Tätigkeitsbegriff zu kritisieren. "Betriebswirtschaft" als abstrakte Raumzeit In der "herausgelösten Ökonomie" gewinnt zusammen mit der abstrakten Tätigkeitsform "Arbeit" auch die darin eingeschlossene Zeit eine höchst eigentümliche, geradezu gespenstische Qualität. Die Zeit der Produktion wird von allen Bedürfnissen und selbstgesetzten Zwecken der Produzenten abgetrennt; sie wird selbst zur auszubeutenden Ressource. Zeit ist bekanntlich Geld; und deswegen hat die Zeit für den Kapitalismus immer schon eine entscheidende Rolle gespielt. Aber unter seiner verselbständigten Zwecksetzung wird auch die Zeit abstrakt - mit höchst unangenehmen Folgen für die Menschen, die dieser Zeit für den größten Teil ihres Lebens ausgeliefert sind. Die entscheidende und bis heute gültige philosophische Reflexion des modernen Zeitbegriffs findet sich bei Immanuel Kant (1724-1804). Kant hat entdeckt, daß Raum und Zeit keine inhaltlichen Begriffe des menschlichen Denkens sind, sondern die apriorischen Formen unseres Wahrnehmungs- und Denkvermögens. Wir können die Welt nur in den Formen von Raum und Zeit erkennen, die unserer Vernunft eingeschrieben sind, und zwar vor jeder Erkenntnis. Aber Kant bestimmt diese Formen von Raum und Zeit völlig abstrakt und unhistorisch, als für alle Epochen, Gesellschaftsformen und Kulturen gleichermaßen gültig. Zeit ist für ihn "das Zeitliche überhaupt", ohne jede bestimmte Qualität. Dementsprechend nennt er Raum und Zeit "reine Formen der Anschauung". Zeit ist also für Kant eine abstrakte, inhaltslose und immer gleichförmige Fließzeit, deren Einheiten alle identisch sind: "Verschiedene Zeiten sind nur Teile eben derselben Zeit" (Kant 1979/1781, 104). Die kulturhistorische Forschung hat längst herausgefunden, daß diese unhistorische Bestimmung des Erlebens und der Wahrnehmung von Zeit nicht haltbar ist. So wurde vor allem erkannt, daß die vormodernen agrarischen Kulturen nicht in einer gleichförmigen linearen Zeit dachten, sondern eher in einer zyklischen Zeit; gewissermaßen in wiederkehrenden Zeitrhythmen, geformt nach jahreszeitlichen (agrarischen) und kosmischen Zyklen. Mag also auch die Zeit eine dem menschlichen Erkenntnisvermögen apriorisch eingeschriebene Form der Wahrnehmung sein, so unterliegt diese Form doch einem kulturellen und historischen Wandel. Die jüngsten Forschungen über verschiedene Zeitkulturen haben diese Erkenntnis bestätigt. In allen Kulturen außerhalb der kapitalistischen Moderne "vergeht" die Zeit nicht nur anders, sondern es gibt sogar ganz verschiedene, parallel verlaufende Formen der Zeit; je nachdem, auf welchen Gegenstand oder Lebensbereich die Wahrnehmung der Zeit bezogen ist: "Jedes Ding hat seine eigene Zeit". Indem die verselbständigte Ökonomie des Kapitals die Abstraktionen von Geld und Arbeit in jenen auf sich selbst rückgekoppelten Selbstzweck verwandelte, verkehrte sie überhaupt das Verhältnis von Abstraktum und Konkretum: Die Abstraktion (z.B. Arbeit oder Zeit) ist jetzt nicht mehr Ausdruck einer konkreten und sinnlichen Welt, sondern umgekehrt gelten alle konkreten Zusammenhänge und sinnlichen Gegenstände nur noch als Ausdruck der kapitalistischen Abstraktion, die in der verdinglichten Gestalt des Geldes die Gesellschaft beherrscht. Das Maß der Arbeit und damit des Geldes aber ist die Zeit. Allerdings ist auch diese Zeit nicht mehr die konkrete und daher je nach ihrem Bezug qualitativ verschiedene Zeit, sondern dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation entsprechend genau jene abstrakte, gleichförmige und lineare Fließzeit, wie sie Kant bereits blind voraussetzte. Jetzt hat kein Ding mehr seine eigene Zeit, den jeweiligen Bedürfnissen und kulturellen Zusammenhängen entsprechend, sondern alle Dinge haben dieselbe Zeit, die mit immer derselben Geschwindigkeit in immer dieselbe Richtung fließt. Diese Diktatur der abstrakten Zeit, exekutiert durch den Mechanismus der anonymen Konkurrenz, schuf sich den dazugehörigen abstrakten Raum, nämlich den vom übrigen Leben abgetrennten Funktionsraum des Kapitals, der seiner eigenen betriebswirtschaftlichen Rationalität gehorcht. Es entstand so gewissermaßen eine leblose, kulturell entqualifizierte kapitalistische Raumzeit, die den sozialen Körper aufzufressen begann. Die in diese Raumzeit eingesperrte abstrakte Tätigkeitsform "Arbeit" mußte von allen dysfunktionalen Lebenselementen gereinigt werden, um die lineare Fließzeit nicht zu stören: Arbeit und Wohnung, Arbeit und persönliches Leben, Arbeit und Kultur usw. fielen systematisch auseinander. Erst auf diese Weise entstanden auch die moderne Trennung und der Dualismus von Arbeitszeit und Freizeit. Es fällt uns normalerweise gar nicht mehr auf - aber implizit ist damit gesagt, daß die Arbeitszeit eine unfreie Zeit ist, eine (ursprünglich sogar gewaltsam) erzwungene Zeit für einen den Individuen äußerlichen Selbstzweck, bestimmt von der Diktatur der abstrakten, gleichförmigen Zeiteinheiten kapitalistischer Produktion. Die abstrakte betriebswirtschaftliche Raumzeit ist zwangsläufig von jener Maßlosigkeit bestimmt, wie sie den rastlosen kapitalistischen Drang zur Geldanhäufung kennzeichnet. Damit gewinnt ein meistens verkanntes Motiv der bürgerlichen Aufklärung eine ebenso merkwürdige wie destruktive Bedeutung. Bekanntlich schwelgt die Geschichte der Modernisierung in Metaphern des Lichts. Die strahlende Sonne der Vernunft soll die Finsternis des Aberglaubens durchdringen und die Unordnung der Welt sichtbar machen, um die Gesellschaft endlich nach rationalen Kriterien zu gestalten. Aber diese vermeintliche Vernunft ist in Wahrheit der gesellschaftliche Irrationalismus der "herausgelösten Ökonomie". In diesem Kontext ist das "Licht der Aufklärung" aber keineswegs bloß ein Symbol im Reich des Gedankens, sondern es hat eine harte sozialökonomische Bedeutung. Gerade in dieser Hinsicht ist es fatal, daß der Marxismus und die historische Arbeiterbewegung sich als die wahren Erben der Aufklärung und ihrer gesellschaftlichen Metaphorik des Lichts verstanden haben. In der "Internationale", der Hymne des Marxismus, heißt es über die wunderbare sozialistische Zukunft: "Dann scheint die Sonn' ohn' Unterlaß". Ein deutscher Karikaturist hat diese Zeile wörtlich genommen und zeigt im "Reich der Freiheit" schwitzende Menschen, die zur glühenden Sonne hinaufstarren und stöhnen: "Drei Jahre scheint sie jetzt schon und geht nicht mehr unter". Das ist nicht bloß ein Witz. In gewisser Weise hat die Modernisierung tatsächlich "die Nacht zum Tag gemacht". In England, das bekanntlich Schrittmacher der Industrialisierung war, wurde die Gasbeleuchtung schon im frühen 19. Jahrhundert eingeführt und verbreitete sich bald über ganz Europa. Ende des 19. Jahrhunderts löste das elektrische Licht die Gaslampen ab. Natürlich könnte man sagen, daß darin eine Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten liegt, wenn die künstliche Beleuchtung für selbstbestimmte Zwecke verwendet und also je nach Bedürfnis und freier Übereinkunft benutzt oder nicht benutzt würde. Aber genau darum geht es der kapitalistischen Totalisierung des Lichts nicht. Die "Ausschaltung" der Nacht ist eine flächendeckende und permanente geworden, obwohl längst medizinisch nachgewiesen wurde, daß dadurch physische und psychische Schäden entstehen. Warum diese gewaltige planetarische Beleuchtung, die heute den letzten Winkel erfaßt hat? Der maßlose Drang der kapitalistischen Produktionsweise kann im Prinzip keine Zeit dulden, die "dunkel" bleibt. Denn die Zeit des Dunkels ist auch die Zeit der Ruhe, der Passivität, der Kontemplation. Der Kapitalismus verlangt dagegen die Ausdehnung seiner Aktivität bis an die äußersten physikalischen und biologischen Grenzen. Zeitlich sind diese Grenzen bestimmt durch die Drehung der Erde um sich selbst, also durch die vollen 24 Stunden des astronomischen Tages, der eine helle (der Sonne zugewandte) und eine dunkle (von der Sonne abgewandte) Seite hat. Die Tendenz des Kapitalismus ist es, die aktive Sonnenseite total zu machen und den gesamten astronomischen Tag zu besetzen. Die Nachtseite stört diesen Drang. Die Produktion, Zirkulation und Distribution der Waren soll also "rund um die Uhr" laufen. Dieser Vorgang ist analog zur Veränderung der Raummaße. Das metrische System wurde vom Regime der französischen Revolution 1795 eingeführt und verbreitete sich ähnlich schnell wie die Gasbeleuchtung. In Deutschland fand der Übergang zu diesem System allerdings erst 1872 statt. Die am menschlichen Körper orientierten Raummaße (Fuß, Elle usw.) wurden vom abstrakten Maß des Meters abgelöst, der dem vierzigmillionsten Teil des Erdumfangs entsprechen soll. Diese abstrakte Vereinheitlichung des Raummaßes entsprach dem mechanistischen Weltbild der Newtonschen Physik, das wiederum Vorbild wurde für die mechanistische Ökonomie der modernen Marktwirtschaft, wie sie Adam Smith (1723-1790), der Begründer der theoretischen Nationalökonomie, analysiert und propagiert hatte. Das Bild des Weltalls und der Natur als einer einzigen großen Maschine befand sich in Übereinstimmung mit der ökonomischen Weltmaschine des Kapitals, und eine gemeinsame Form der physikalischen und der ökonomischen Weltmaschine wurden die abstrakten Maße von Raum und Zeit - für das Weltall wie für die "herausgelöste" Warenproduktion. Erst die astronomische Fließzeit machte es möglich, den Tag der abstrakten Arbeit in die Nacht hineinzuschieben und die Zeit der Ruhe aufzufressen. Nur so konnte die abstrakte Zeit von den konkreten Dingen und Verhältnissen abgelöst werden. Der Marxismus hat sich in seiner Fixiertheit auf die Aufklärungsvernunft wenig um diese Dinge gekümmert, und so blieb es konservativen Ideologen - wie z.B. Ernst Jünger in seinem "Sanduhrbuch" - vorbehalten, die abstrakte Zeit der Moderne auf ihre Weise in einem Kontext aufzugreifen, der stets alles andere als emanzipatorisch war (vgl. Jünger 1954). Es ist aber gerade im Interesse der sozialen Emanzipation wichtig, das Problem der abstrakten, aus den wirklichen Lebenszusammenhängen "herausgelösten" Zeit zu thematisieren und mit anderen, uns gar nicht mehr bewußten Zeitformen zu vergleichen, um überhaupt einen Begriff der kapitalistischen Zeit-Zumutung zu gewinnen. Die meisten alten Zeitmesser, z.B. Sand- oder Wasseruhren, zeigten nicht an, "wieviel Uhr es ist", sondern sie waren auf konkrete Vorgänge geeicht, um deren "angemessene Zeit" zu zeigen. Man könnte sie vielleicht mit einer Eieruhr vergleichen, die durch einen summenden Ton angibt, wann ein Ei hart- oder weichgekocht ist. Die Quantität der Zeit ist hier nicht abstrakt, sondern auf eine bestimmte Qualität orientiert. Die astronomische Zeit der abstrakten Arbeit dagegen ist losgelöst von jeder Qualität. Sie erlaubt es zum Beispiel, unabhängig von der Jahreszeit und den körperlichen Rhythmen einen Arbeitsbeginn "um 6 Uhr" festzusetzen. Deswegen ist die Epoche des Kapitalismus auch die Zeit der "Wecker", der Uhren also, die mit einem schrillen Signalton die Menschen aus dem Schlaf reißen, um sie an die künstlich erleuchteten "Arbeitsplätze" zu treiben. Und war erst einmal der Arbeitsbeginn in die Nacht vorverlegt, dann konnte umgekehrt auch das Arbeitsende nach hinten in die Nacht hineingeschoben werden. Diese Veränderung hat auch eine ästhetische Seite. Wie die Umwelt durch die abstrakte betriebswirtschaftliche Rationalität gewissermaßen "entstofflicht" wird, indem die Materie und ihre Zusammenhänge sich den Kriterien der Rentabilität unterwerfen müssen, so wird sie durch dieselbe Rationalität auch entdimensioniert und entproportionalisiert. Wenn uns alte Gebäude manchmal irgendwie schöner und behaglicher vorkommen als moderne, und wenn wir dann feststellen, daß sie gleichzeitig im Vergleich zu den heutigen "funktionalistischen" Gebäuden irgendwie unregelmäßig zu sein scheinen, dann ist das darauf zurückzuführen, daß ihre Maße Körpermaße und ihre Formen oft landschaftlich angepaßt sind. Die moderne Architektur dagegen verwendet astronomische Raummaße und "dekontextualisierte" Formen, "losgelöst" von der Umgebung. Das gilt aber ebenso für die Zeit. Auch die moderne Architektur der Zeit ist entproportionalisiert und dekontextualisiert. Nicht nur der Raum ist häßlich geworden, sondern auch die Zeit. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Einführung der abstrakten astronomischen Fließzeit in die Lebenstätigkeit noch als Folter empfunden. Lange Zeit wehrten sich die Menschen verzweifelt gegen die mit der Industrialisierung verbundene Nachtarbeit. Vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang zu arbeiten, galt geradezu als unmoralisch. Wenn im Mittelalter Handwerker aus Termingründen einmal nachts arbeiten sollten, mußten sie üppig verpflegt und fürstlich entlohnt werden. Nachtarbeit war ein seltener Ausnahmefall. Und es gehört zu den "großen" Leistungen des Kapitalismus, daß es ihm gelungen ist, die Zeitfolter zum Normalmaß der menschlichen Tätigkeit zu machen. Daran hat sich seit dem Frühkapitalismus nichts geändert. Im Gegenteil, die sogenannte Schichtarbeit hat sich im 20. Jahrhundert immer mehr ausgedehnt. Durch einen Zwei- oder sogar Dreischichtbetrieb sollen die Maschinen möglichst durchgehend laufen, unterbrochen nur durch kurze Pausen für Einstellung, Wartung und Reinigung. Auch die Öffnungszeiten der Läden und Kaufhäuser sollen möglichst dicht an die 24-Stunden-Grenze herangeschoben werden, wie die Auseinandersetzung um die Ladenschlußzeit in der BRD zeigt. In vielen Ländern gibt es wie in den USA überhaupt keine gesetzlich festgelegte Ladenschlußzeit und an zahlreichen Geschäften prangt tatsächlich das Schild: "24 Stunden durchgehend geöffnet". Seit die mikroelektronische Kommunikationstechnologie den Fluß des Geldes globalisiert hat, geht auch der Finanztag der einen Erdhälfte nahtlos in den der anderen über. "Die Finanzmärkte schlafen nie", so die Werbung einer japanischen Bank. Das Licht der Aufklärungs-Vernunft ist die Beleuchtung der Nachtschicht. In demselben Maße, wie die Konkurrenz auf anonymen Märkten total wird, verwandelt sich der äußere, gesellschaftliche Imperativ auch in einen inneren Zwang des Individuums. Der Schlaf wird ebenso zum Feind wie die Nacht, denn solange man schläft, verpaßt man Chancen und ist den Angriffen der anderen hilflos preisgegeben. Der Schlaf des marktwirtschaftlichen Menschen wird daher kurz und flach wie der eines wilden Tieres, und zwar umso mehr, je "erfolgreicher" dieser Mensch sein will. Die fremdbestimmte Arbeitsqual der mechanischen Nachtschicht erscheint auf der Ebene des Managements als "freiwilliger" Verzicht auf Schlaf. Es gibt sogar schon Management-Seminare, auf denen Techniken der Schlaf-Minimierung geübt werden können. Allen Ernstes behaupten heute Schulen des Self-Managements: "Der ideale Business-Mann schläft nie", genau wie die Finanzmärkte! Die Unterwerfung der Menschen unter die abstrakte Arbeit und ihr astronomisches Zeitmaß ist aber nicht möglich ohne eine ebenso totale Kontrolle. Allseitige Kontrolle wiederum erfordert ebenso allseitige Beobachtung, und Beobachtung ist nur im Licht möglich: ungefähr so, wie die Polizei beim Verhör eine blendende Lampe auf das Gesicht des Delinquenten richtet. Nicht umsonst hat das Wort "Aufklärung" im Deutschen eine militärische Nebenbedeutung, nämlich "Auskundschaften des Feindes". Und eine Gesellschaft, in der jeder dem anderen und sich selbst zum Feind wird, weil alle dem gleichen säkularisierten Gott der Arbeit dienen müssen, wird mit logischer Notwendigkeit zu einem System der totalen Beobachtung und Selbstbeobachtung. Hier wird nicht frei diskutiert über Sinn und Zweck des eigenen Tuns, sondern gnadenlos "ausgeleuchtet", um den Selbstzweck der "herausgelösten Ökonomie" zu exekutieren. Mit der Enteignung der Menschen von den Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion ist also auch die systematische Enteignung der Zeit verbunden. Das gilt nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer Hinsicht, wie sich ja schon am Hinausschieben der Arbeitszeit in den astronomischen Tag ablesen läßt. Obwohl sie den größten Teil der aktiven täglichen Zeit verschlingt, ist die Arbeitszeit für die überwältigende Mehrheit der Produzenten keine eigene Lebenszeit, sondern tote und leere Zeit, die wie in einem Alptraum aus dem Leben herausgesaugt wird. Umgekehrt ist vom Standpunkt der kapitalistischen Raumzeit aus gesehen die Freizeit der Produzenten leere und eigentlich unnütze Zeit. Somit existiert im Kapitalismus eine starke objektive Tendenz, die Freizeit zu minimieren oder wenigstens streng zu rationieren. Nicht nur der "Betrieb" soll möglichst rund um die Uhr laufen, sondern auch die Auspressung der einzelnen Arbeits-Individuen möglichst nahe an diese absolute Grenze herangeschoben werden. Wie Marx in den "Grundrissen" feststellte, resultiert daraus eine Paradoxie, die den bürgerlichen "Fortschritt" vollständig blamiert: "Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter daher jetzt länger zu arbeiten als der Wilde tut oder als er selbst mit den einfachsten, rohsten Werkzeugen tat" (Marx 1974/1857, 596). Dieses krasse Mißverhältnis rührt daher, daß die Produzenten ja nicht selbst entscheiden können, wofür sie die Steigerung der Produktivität einsetzen wollen. Wie alle anderen Entscheidungen ist ihnen auch diese von der kapitalistischen Funktionslogik abgenommen worden. In den alten Agrargesellschaften erzeugte das niedrige Niveau der Produktivkräfte zwar viele Bornierungen (zum Beispiel enge Traditionen und blutsverwandtschaftliche Gebundenheit) und manchmal Probleme in der Versorgung (zum Beispiel bei Mißernten). Aber das Ziel der Produktion, auch mit geringen Mitteln, war kein abstrakter Selbstzweck wie unter dem Zwangsverhältnis des modernen warenproduzierenden Systems, sondern Genuß und Muße. Dieser antike und mittelalterliche Begriff der Muße darf nicht mit dem modernen Begriff der Freizeit verwechselt werden. Denn die Muße war kein vom Prozeß der Tätigkeit für den Erwerb abgetrennter Rest, sondern ein ganz eigenständiges Moment des Lebens. Deshalb wurde eine Steigerung der Produktivität in der Regel eher für eine größere Muße verwendet als für mehr Produktion. Die betriebswirtschaftliche Rationalität der Kostensenkung dagegen verwandelt jeden technischen Fortschritt ausschließlich und zwanghaft in überproportionale zusätzliche Produktion und damit in zusätzliche Arbeit, niemals in zusätzliche Muße für die Produzenten. Schon die rein äußerliche Quantität der Produktionszeit war daher trotz des niedrigeren technischen Niveaus in der Antike und im Mittelalter weitaus kleiner bemessen als im Kapitalismus. Aus den Klosterregeln des frühesten Mittelalters, die ja als Vorläufer der modernen Arbeitsdisziplinierung bereits Elemente der abstrakten Zeit enthielten, geht überraschenderweise hervor, daß für die Leidenspassion der Arbeit fast nie mehr als 6 oder 7 Stunden täglich vorgesehen waren - damals also hielten die Menschen offenbar bereits für eine fromme Kasteiung und Selbstüberwindung, was heute die Gewerkschaften nur in wenigen Branchen und Gewinnerländern des Weltmarkts als größte Errungenschaft der "Arbeitszeitverkürzung" feiern! Die explosive Ausdehnung der "Arbeitszeit" kam eben erst mit der Arbeit selbst. Erstaunt müssen moderne "Freizeitforscher" feststellen: "Unter den primitiven Agrarvölkern und in der Antike machten die Ruhetage oft die Hälfte des Jahres aus...(Auch) die Lohnarbeit leistenden Sklaven und Banausen waren nicht so intensiv in das Arbeitsleben eingespannt, wie man dies aus neuzeitlicher Sicht annehmen könnte...In der Mitte des vierten Jahrhunderts zählte man in der römischen Republik nicht weniger als 175 Ruhetage..." (Opaschowski 1997, 25 f.). Erst in der glorreichen Moderne wurden die Festzeiten immer weiter minimiert, um die Raumzeit der Arbeit auszudehnen. Aber noch aus einem anderen Grund lag die Jahresleistung der Produzenten, selbst wo sie herrschaftlich abgedrungen war, erheblich niedriger als im Kapitalismus. Denn in den agrarischen Gesellschaften des alten Europa gab es auch große saisonale Unterschiede im Umfang der Tätigkeit. In der warmen Jahreszeit (etwa bei der Ernte) fielen mehr Aufgaben an als im Winter, der für die bäuerliche Bevölkerung relativ geruhsam war und häufig für das Feiern privater Feste genutzt wurde, wie manchmal noch aus dem überlieferten Liedgut hervorgeht. Diese Begrenzung des jährlichen Leistungsquantums durch den Wechsel der Jahreszeiten fiel natürlich ebenfalls ersatzlos weg, als der Leistungszwang mit der astronomischen Fließzeit des betriebswirtschaftlichen Funktionsraumes systematisch entgrenzt wurde. Nicht zuletzt war in den vorkapitalistischen Gesellschaften das, was für uns formal wie ein "Arbeitstag" aussieht, keineswegs durchgängig von angespannter Tätigkeit unter der Kontrolle einer objektivierten ökonomischen Macht gekennzeichnet. Es gab zum Beispiel (aus moderner Sicht) extrem lange Pausen, wie sie das betriebswirtschaftliche Regime niemals zulassen könnte; vor allem stundenlange Mittagspausen mit geselligem Essen - eine Sitte, die sich in den mediterranen und überhaupt südlichen Ländern noch längere Zeit als im Norden erhalten hat, bis sie durch die kapitalistische Industrialisierung auch dort dem Takt der abstrakten Fließzeit weichen mußte. Die vorkapitalistische produktive Tätigkeit war aber auch als solche wenig verdichtet - also von heute aus gesehen sehr langsam und wenig intensiv. Bei einer selbstbestimmten Tätigkeit ohne den Druck der Konkurrenz ist dieser gemäßigte Zeittakt des Produzierens offenbar die "natürliche" Art, wie Menschen sich in ihrer aktiven Tätigkeit verhalten. Wir kennen diese Erfahrung gar nicht mehr. Denn unter dem stummen Zwang der Konkurrenz auf anonymen Märkten wurde die "herausgelöste" Zeit der Arbeit immer mehr verdichtet: Die Raffinesse in der Absaugung von Lebensenergie steigerte sich mit Hilfe der sogenannten "Rationalisierung der Zeit", die bis heute anhält. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich diese neurotische Logik des "Zeitsparens" zur offenen Paranoia gesteigert. Um dem an sich schon verrückten kapitalistischen Selbstzweck trotz absoluter Begrenzung des astronomischen Tages permanent mehr Leistung zuführen zu können, soll immer mehr Raum in die identischen Einheiten der abstrakten astronomischen Fließzeit "hineingepackt" werden. Dieser absurde Drang möchte gewaltsam auch noch den astronomischen Tag sprengen - der kapitalistischen Logik der Arbeit ist nichts unmöglich, was die Produzenten des Kapitals noch mehr durch die Zeit hetzen könnte. So bastelt man in Japan anscheinend allen Ernstes am 28-Stunden-Tag, wie die Presse berichtet: "Mehr Zeit hat sich schon so mancher gewünscht...noch immer hat der Tag nur 24 Stunden, und für alles, was es zu tun gibt, reichen diese nicht aus. Doch wieso eigentlich 24 Stunden? Weil die Erdrotation 24 Stunden dauert, lautet die gängige Antwort. Danach bestimmt sich der Rhythmus von Tag und Nacht. Aber wie relevant ist das denn wirklich für unser heutiges Leben?...Wäre eine dem menschlichen Lebensrhythmus gut angepaßte Uhr nicht eine solche, die unserem Herzschlag folgt? Pro Stunde ergibt sich ein Überschuß von 600 Sekunden, an einem 24-Stunden-Tag 14.400 Sekunden. Das sind genau vier Stunden. Ist also, kurz gesagt, der 28-Stunden-Tag nicht das unserer Gattung angemessene Maß der Zeit?...Noch bis ins 19. Jahrhundert hatten viele Uhren nur einen Stundenzeiger...In Japan gab es noch in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kein Wort für Sekunde. Heute aber ist man daran gewöhnt, den Sekundenzeiger vorrücken zu sehen, wenn es Zeit für die Fernsehnachrichten ist...So räsoniert jedenfalls Sports Train, eine japanische Firma, die kürzlich >Montu<...auf den Markt brachte, die erste 28-Stunden-Tag-Uhr...Die Arbeitgeber würden...auch noch einen guten Schnitt machen, würden sie mit 28-Stunden-Tagen doch einen ganzen Tag pro Woche einsparen. In der Tat sieht >Montu< die Sechstagewoche vor..." (Coulmas 1999). Es ist verständlich, daß sich in den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zusammen mit der alten Arbeiterbewegung auch die sozialistische Utopie der Arbeit allmählich verflüchtigt hat. Auch wenn kaum jemand einen kritischen Begriff davon hat, so wissen doch heute alle instinktiv, daß dem Kapitalismus mit einer Verklärung seiner eigenen Tätigkeitsform nicht beizukommen ist. Daraus wird ebenso instinktiv der Schluß gezogen, daß keine Kapitalismuskritik mehr möglich sei. Während der allgemeine Arbeitszwang weiterbesteht, sind die sozialen Bewegungen insgesamt erschlafft. Die kapitalistischen Menschen versuchen sich zunehmend in eine individualisierte Utopie der Freizeit zu flüchten. Aber auch dort wartet schon grinsend derselbe Kapitalismus, der die zur Arbeitszeit bloß komplementäre Freizeit längst kolonisiert hat. Denn weil die Arbeit apriori ein Verhältnis der Entmündigung ist, mußte es auch die Freizeit werden. Die Freizeit ist keine befreite Zeit, sondern ein sekundärer Funktionsraum des Kapitals. Es handelt sich nicht um freie Muße, sondern um eine selber für den permanenten (und höchst angestrengten) Konsum von Waren funktionalisierte Zeit. Auf diese Weise bilden einerseits die Kultur- und Freizeitindustrie neue Sphären der Arbeit aus, andererseits wird auch die Freizeit als solche der Arbeitszeit angeglichen. Nicht nur dann, wenn er Geld "verdient", sondern auch wenn er Geld ausgibt, ist der kapitalistische Mensch heute ein Arbeiter. Dieser Sachverhalt spiegelt nur die allgemeine Tendenz, daß die "herausgelöste Ökonomie" im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung die abgespaltenen und zersplitterten Lebensbereiche allmählich mit ihrer eigenen Logik durchdringt und sie gewissermaßen "einkassiert": Das Leben wird wieder ein Ganzes, aber eben ein zur Gänze kapitalistisch integriertes. Die Widersprüchlichkeit dieser absurden Produktions- und Lebensweise, die sich in der Vergangenheit auch als subjektiver Widerspruch, als Einspruch gegen die Zumutungen geltend machte, hat sich ebenfalls fast ganz verobjektiviert und erscheint nur noch als die Realität der Arbeitslosigkeit. Diese allerdings steigt im globalen Maßstab dramatisch an. Nur im negativen Sinne wird so der untragbare Widerspruch noch sichtbar. Arbeitslosigkeit im Kapitalismus ist aber nicht einmal mehr Freizeit, sondern nur noch Armutszeit. Die Arbeitslosen werden nicht in frei disponible Zeit entlassen, sondern in die Überflüssigkeit ihrer Person. Nicht das Prinzip der Arbeit wird ungültig, sondern die Existenz der Arbeitslosen. Die Fortsetzung der Arbeit bekommt eine andere Qualität: Die Arbeit der Arbeitslosen besteht darin, jammervoll nach neuer Arbeit suchen zu müssen, gehetzt und gedemütigt von der bürokratischen Arbeits- und Armutsverwaltung. Nachdem die Utopie der Freizeit ebenso blamabel gescheitert ist wie die Utopie der Arbeit, könnte der erlösende Einspruch jetzt nur noch darin bestehen, das gesamte Bezugssystem zu verwerfen und sich aus dem Gefängnis der kapitalistischen Kategorien zu befreien. Ein Zurück in die vormoderne Agrargesellschaft ist weder möglich noch wünschenswert. Die historische Analyse kann nur den Sinn haben, das groteske Mißverhältnis aufzudecken, daß die ganze ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte in der Moderne nur dazu gedient hat, die freie Muße nahezu vollständig zu vernichten. Dem Kapitalismus kann nur noch der Prozeß gemacht werden, wenn der Arbeit selber der Prozeß gemacht wird. Um die Befangenheit der untergegangenen Arbeiterbewegung im positiven kapitalistischen Arbeitsbegriff zu überwinden, ist durchaus noch einmal bei Marx nachzuschlagen - allerdings bei jenem "dunklen" Marx, den die Arbeitsmarxisten immer verlegen überblättert haben: "Die >Arbeit< ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der >Arbeit< gefaßt wird" (Marx 1845).
Literatur Coulmas, Florian (1999), Montu bis Satsun, in: Wirtschaftswoche 10/1999, Düsseldorf. Engels Friedrich (1946, zuerst 1896), Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, Berlin. Jünger, Ernst (1954), Das Sanduhrbuch, Frankfurt/Main. Kant, Immanuel (1979, zuerst 1781), Kritik der reinen Vernunft, Leipzig. Marx, Karl (1974, geschrieben 1857), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin. Opaschowski, Horst W. (1997), Einführung in die Freizeitwissenschaft, Opladen. Parker, Geoffrey (1990), Die militärische Revolution, Frankfurt/Main, New York. Polanyi, Karl (1995, zuerst 1944), The Great Transformation, Frankfurt/Main. Sombart, Werner (1913), Krieg und Kapitalismus, Berlin. Zinn, Karl Georg (1989), Kanonen und Pest, Opladen. |