Erschienen in: Narthex – Heft für radikales Denken, S. 20–25

No exit? - Ökonomische Zusammenbruchstheorien im Anschluss an Marx

Ein Interview der Redaktion der Narthex mit Herbert Böttcher

Während mehr denn je von einer drohenden ökologischen oder medizinischen Apokalypse gesprochen wird, ist das Thema einer ökonomischen Apokalypse, also eines drohenden Zusammenbruchs des Wirtschaftssystems, derzeit eher in den Hintergrund geraten. Mit Herbert Böttcher, Ökonom und Theologe und Mitarbeiter bei EXIT!, sprachen wir über einen möglichen Zusammenbruch des Kapitalismus in Anschluss an Marx’ Krisentheorie und welche Folgen er für die Welt haben könnte. Folgt auf ihn auch der Zusammenbruch der Zivilisation? Oder, wie Marx hoffte, ein neuer, besserer Anfang?


Lieber Herr Böttcher, Sie stehen ja der Zeitschrift EXIT! nahe, die von dem inzwischen verstorbenen Theoretiker Robert Kurz begründet wurde und sein Denken weiterzuentwickeln sucht. Kurz’ Ansätze –entwickelt u. a. in dem 1999 erschienen Schwarzbuch Kapitalismus1 – stießen in den Nuller Jahren auf eine große Resonanz auch außerhalb linksradikaler Theorie-Zirkel. Er entwickelte eine eigene Spielart einer marxistischen Zusammenbruchstheorie, die sich um das „Abschmelzen“ der „Wertsubstanz Wert“ im Zug der „mikroindustriellen Revolution“ drehte. Können Sie die Eckpunkte dieser Zusammenbruchstheorie vielleicht kurz umreißen? Was zeichnet sie gegenüber anderen marxistischen Krisen- und Zusammenbruchstheorien aus?

Die von Robert Kurz entwickelte Krisentheorie versteht die mit dem Kapitalismus verbundenen Krisen als Prozess eines dem Kapitalismus inhärenten Widerspruchs, der zu seinem Niedergang führt. Seit den 1970er Jahren zeigt sich, dass mit dem Voranschreiten der mikroelektronischen Revolution mehr Arbeit durch Technologie ersetzt wird als durch Verbilligung und Diversifizierung der Produktion sowie durch Ausweitung der Märkte kompensiert werden kann. Damit stößt der Kapitalismus nun auch historisch auf die logische Schranke, die Marx als „prozessierende(n) Widerspruch“2 bezeichnet hatte. D. h.: Vermittelt über die Konkurrenz steht die kapitalistische Produktion unter dem Zwang, Arbeit durch Technologie zu ersetzen. Dies bringt – was die stoffliche Seite angeht – eine enorme Steigerung der Produktivität einschließlich eines wachsenden Stoff- und Energieverbrauchs mit sich. Damit geht aber – was die Seite des Werts angeht – ein Prozess einher, in dem Arbeit als Substanz des Werts schwindet. Dieser logische Widerspruch wird nun auch historisch mehr und mehr in Krisenprozessen wirksam, die auf unterschiedlichen Ebenen in Erscheinung treten: in Akkumulationskrisen samt der damit verbundenen Staatsverschuldung und Blasenbildung an den Finanzmärkten, in globaler und regionaler Standortkonkurrenz, Politik als perspektivloser Krisenverwaltung, dem Zerfall von Staaten, Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens, Migration und Flucht bis hin zu den Krisen der Subjekte, die als ‚unternehmerisches Selbst‘ unter einem Anpassungsdruck an die Krisenverhältnisse stehen, denen sie sich autonom unterwerfen sollen. In die Subjektform gebannte Individuen sind gezwungen, die Krise in einer Form zu verarbeiten, die mit dem Schwinden der Arbeit mehr und mehr ihre Grundlagen verliert. Das alles befeuert Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, Sexismus bis hin zu gesellschaftlicher Anomie und Barbarisierung in den sozialen Beziehungen...

Der entscheidende Unterschied gegenüber anderen marxistischen Krisentheorien besteht vor allem darin, dass Robert Kurz seine Krisentheorie nicht aus Widersprüchen auf der Zirkulationsebene, sondern aus dem Selbstwiderspruch des Kapitals auf der basalen Ebene der Arbeitssubstanz begründet. Arbeit als Realabstraktion und Krise bedingen sich gegenseitig. Dies wird im Vergleich mit den Krisentheorien von Rosa Luxemburg und Hendrik Großmann deutlich. Nach Luxemburg scheitert der Kapitalismus daran, dass er nicht mehr auf außerkapitalistische Territorien zugreifen kann. Er kann zwar Mehrwert produzieren, scheitert aber an dessen Realisation durch Verkauf auf der Ebene der Zirkulation. Hendrik Großmann geht zwar von der Produktionssphäre und einer Krise der Mehrwertgewinnung aus. Letztendlich verficht er den Gedanken, dass die Revenue der Kapitalisten durch das Sinken der Profitrate immer kleiner wird, da ein Großteil von ihr in die Akkumulation fließen muss. Der in neuerer Zeit als marxistischer Crash-Prophet gehandelte Immanuel Wallerstein geht von einem Weltsystem und transnationalen Prozessen aus, die in 500 Jahren entstanden und vom Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie geprägt sind. Dieses System fällt heute auseinander. Indikatoren dafür sind Austerität, Spekulation, Kapitalkonzentration, (Staats-)Verschuldung, Massenarbeitslosigkeit usw. Diese ‚Krisentheorien‘ gehen nicht von dem inneren Zusammenhang von prozessierendem Widerspruch und dem Obsoletwerden der Arbeit aus. Das gilt auch für Wallerstein, bei dem dies lediglich ein Moment seiner ansonsten systemtheoretischen Sichtweise bleibt.

Charakteristisch für die in EXIT! vertretene Krisentheorie ist zudem, dass sie sich nicht nur einer Marxrezeption verdankt, die Marx nicht bloß als Modernisierungs-, sondern als Fetischismus- und Krisentheoretiker versteht. Sie ist zugleich – trotz aller Kritik vor allem an der Verkürzung auf Tausch und Zirkulation – ‚inspiriert‘ von der Kritischen Theorie, die auf eine gesellschaftliche Totalität ausgreift und mit einem identitätskritischen Denken einhergeht, das Differenzen Raum gibt, die nicht im Begriff aufgehen. Daher kann die Kurzsche Theorie auch nicht auf Wertkritik reduziert werden, sondern steht konstitutiv mit dem in Verbindung, was Roswitha Scholz als Kritik von Wert und Abspaltung entwickelt hat: Männlich konnotierte Produktion und weiblich konnotierte Reproduktion konstituieren gleichursprünglich den gesellschaftlichen Basiszusammenhang kapitalistischer Totalität, ohne dass das eine aus dem anderen abgeleitet werden könnte. So bekommen Fragen nach normativen und symbolischen Inhalten, nach dem gesellschaftlichen und androzentrischen Unbewussten, Raum, wie deutlich wird in der Aufnahme der Frage nach der Rolle der sozialpsychischen Matrix des bürgerlichen Subjekts und dem in der Krise sich ausagierenden narzisstischen Sozialcharakter. Erst recht 30 Jahre nach Erscheinen von Kurz‘ Der Kollaps der Modernisierung muss darauf hingewiesen werden, dass Kurz auch die etatistisch-sozialistische Variante der Modernisierung in seine Krisentheorie einbezogen und den Zusammenbruch dieser Variante der Warenproduktion als ‚Vorläufer‘ für den Zusammenbruch ihres liberalen Pendants verstanden hat.


Der Crash der New Economy, die Massenarbeitslosigkeit und dann erst recht die globale Finanzkrise verliehen den Thesen von Kurz eine hohe Evidenz. Danach kam es allerdings zu einer deutlichen Erholung der Weltkonjunktur und die derzeitige Wirtschaftskrise scheint zumindest primär – auch dazu gibt es ja abweichende Einschätzungen3 – auf das Corona-Virus und die gegen es ergriffenen Maßnahmen und nicht auf immanente Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zurückzuführen zu sein. Allenfalls ließe sich das Überspringen des Erregers auf den Menschen und seine schnelle Verbreitung als Folge von forciertem Raubbau an der Natur und Globalisierung charakterisieren sowie beengten Lebensverhältnissen. Und auch generell scheint der Kapitalismus, wenn überhaupt, zusammenzubrechen, weil er die ökologische Frage nicht zu lösen vermag und nicht, wie Kurz mahnte, aus strukturellen Gründen. – Wie beurteilen sie das? Müssten Kurz’ Theorien angesichts der jüngsten Entwicklungen revidiert werden? Oder ist die ökologische Krise nur ein Oberflächenphänomen?

Von einer Erholung ‚der‘ Weltkonjunktur kann keine Rede sein, allenfalls von Verschiebungen zwischen Krisengewinnern und deindustrialisierten Regionen wie wir es in Europa zwischen Deutschland und vor allem südeuropäischen Ländern und den sie begleitenden Auseinandersetzungen erleben. Dass dafür im Binnenraum der Gewinner mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und Sozialabbau die Voraussetzungen geschaffen wurden, geht in der Wahrnehmung unter. Auf welch dünnem Eis sich auch die – am BIP gemessenen – partiell erfolgreichen Länder bewegen, zeigt vor allem die Verschuldungsdynamik. Die ‚Erholung‘ nach dem Crash von 2007 ff. bestand in einer riesigen Liquiditätsblase, mit der die Weltkonjunktur befeuert wurde und die jederzeit platzen kann. Diese Blasenökonomie, die sich aus dem Wachstum von Krediten und Spekulationsblasen speist, verliert seit 2008 an konjunktureller Dynamik. Die von Corona noch einmal in die Höhe getriebenen astronomischen Summen an Verschuldung können von künftiger Wertschöpfung nicht ausgeglichen werden.

Es mag auf den ersten Blick evident erscheinen, dass der Kapitalismus an ökologischen Schranken des ihm inhärenten Wachstums scheitert. Diese sind aber nicht unabhängig von der logischen und historischen Grenze der Akkumulation des Kapitals. Der Zwang, Arbeit als Quelle von Wert und Mehr-Wert aus dem Produktionsprozess zu verdrängen, geht weiter mit Versuchen einher, Akkumulationskrisen durch Ausweitung der Produktion und Verbilligung der Produkte zu kompensieren. Dies erfordert einen immer höheren stofflichen und energetischen Aufwand, der auch dann bestehen bleibt, wenn der gesellschaftlichen Grundtendenz entsprechend Arbeitskraft durch Technologie substituiert wird. Ökologische Regulative konterkarieren die Notwendigkeit, den kriselnden Akkumulationsprozess zu befeuern. Ein ‚Green New Deal‘ dürfte höchstens kurzfristige Erfolge zeitigen, die aber im Sinne des Systemerhalts ökonomisch nicht nachhaltig sind.

Das Corona-Virus hat – was sein ‚Entspringen‘ und noch mehr was seine Verbreitung angeht – mit den kapitalistischen Produktions- und Distributionsverhältnissen zu tun. Es hat aber keine neue Krise produziert, sondern sich verschärfend über die bestehende Krise gelegt. Die staatlichen Interventionen von über Kredite finanzierten wirtschaftlichen Hilfen bis hin zu gesundheitlichen Schutzmaßnahmen lassen die einen von der Rückkehr des Primats der Politik träumen, während andere einen neuen Ausnahmezustand beschwören. Beides geht an der Krisenrealität vorbei. Das wirre Treiben zwischen Lockdown und ‚Lockerungen‘ spiegelt die Grenzen staatlichen Handelns, den proklamierten Schutz der Gesundheit und die Systemnotwendigkeiten der kapitalistischen Normalität in Einklang zu bringen. Ein Hinweis darauf, dass mit dem Fortschreiten der Krise die Politik immer weniger dazu in der Lage ist, einen ‚Ausnahmezustand‘ durchzusetzen, kann darin gesehen werden, dass ausgerechnet populistisch-autoritäre Regierungen die Pandemie ignorieren. Neben allem, was an mafiösen Verbindungen in zerfallenden Staaten und Populismen eine Rolle gespielt haben mag: Sie können es sich kaum leisten, die Möglichkeiten der Sicherung des Überlebens, nicht zuletzt im Rahmen informeller Beschäftigung, zu unterbrechen – mit dem Ergebnis, dass die ‚überflüssige‘ Bevölkerung ohne Schutzmaßnahmen genauso dem Virus ausgeliefert ist, wie sie es auch mit Schutzmaßnahmen gewesen wäre. Ähnlich wie in der Flüchtlingskrise zeigt sich im Umgang mit Corona an den ‚Nicht-Verwertbaren‘ in Zusammenbruchsregionen, was den ‚Überlüssigen‘ in den Zentren droht, wenn die Krise auch hier weiter ‚ihren Gang geht‘. Dabei wird auch die momentan noch verdrängte Frage, wer den exorbitanten Vorgriff auf künftige krisenvermittelte Wertschöpfung bezahlen soll auf die Tagesordnung kommen und sichtbar werden, was das für die ‚Stabilität‘ des Kapitalismus bedeutet.


Die Vorstellung einer „Zusammenbruchstheorie“ ist ja ein heißes Eisen in der Marx-Forschung. Unstrittig ist wohl, dass Marx und Engels an einigen Stellen von einem notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus ausgehen, der zu einem zwangsläufigen Übergang zu einer postkapitalistischen Ökonomie ohne Privateigentum an Produktionsmitteln und Land führe. Doch handelt es sich dabei nicht gerade um einen problematischen Aspekt ihrer Theorien? Ein Erbe der Hegelschen Geschichtsphilosophie und ein Stück säkularisierter Theologie? War Marx ein als Wissenschaftler getarnter apokalyptischer Prophet?

In der Tat ist es problematisch, von „einem zwangsläufigen Übergang zu einer postkapitalistischen Ökonomie ohne Privateigentum an Produktionsmitteln und Land“ auszugehen. Eine solche Annahme steht im Bann eines an Hegel orientierten Verständnisses von Geschichte, die auf die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit hin finalisiert ist. Hinsichtlich der Eigentumsfrage wird übersehen, dass die Rechtsform Teil des vom Staat zu garantierenden kapitalistischen Formzusammenhangs ist. Mit rechtlichen Veränderungen bei der Verfügung über Produktionsmittel kommt es weder zu einem Bruch mit der Warenproduktion noch zu einem Bruch mit den von ihr abgespaltenen und inferiorisierten Bereichen der Reproduktion und damit auch nicht zu einem Bruch mit dem mit dem Kapitalismus verbundenen Geschlechterverhältnis.

Nicht an Marx als Theoretiker der bürgerlichen Fortschrittsgeschichte, sondern an den Marx der Fetischismuskritik wäre anzuknüpfen. Von daher ist die Erkenntnis zu gewinnen, dass der Kapitalismus sich als abstrakte Herrschaft des irrationalen Selbstzwecks der Vermehrung des Kapitals um seiner selbst willen konstituiert hat. Mit dem Schwinden der Arbeit als Quelle von Wert und Mehr-Mehrwert läuft dieser fetischistische Selbstzweck ins Leere und mit ihm Wert, Geld, Staat/Politik… Dennoch entgeht diese „metaphysische Leere“ (Kurz) nicht dem Darstellungszwang, sondern muss sich in materielle Dinge ‚entäußern‘. Das läuft darauf hinaus, dass menschliches Leben und Natur dem Fetisch auch dann bzw. erst recht dann ‚geopfert‘ werden, wenn er ins ‚Leere‘ läuft. Am drastischsten kommt dieser Vernichtungszwang da zum Ausdruck, wo er zur Selbstvernichtung wird. Solcher Wahnsinn steht im Zusammenhang mit dem Wahnsinn kapitalistischer Normalität, in der die Individuen sich als ‚unternehmerisches Selbst‘ in der Konkurrenz um die Verwertung von Arbeitskraft für den irrationalen Selbstzweck permanent und unabschließbar optimieren sollen. Unterwerfung wird zur Selbstunterwerfung unter einen ins Leere laufenden Selbstzweck und so zur Selbstaufgabe. Geschichte als Fortschrittsgeschichte mit einer ontologischen Finalisierung auf Freiheit und Vernunft oder auch auf eine klassenlose Gesellschaft zu sehen, mag eine Variante „säkularisierter Theologie“ sein, insofern sich darin die theologischen (Pseudo-)Gewissheiten eines ontologisch bzw. durch Gott gesicherten Universalsinns und eines guten Endes der Geschichte spiegeln. Ein anderes theologisches Verhältnis zu Marx kommt jedoch zur Geltung, wo Theologie wie bei J.B. Metz als ‚nachidealistische Theologie‘ formuliert wird, die an Benjamins Kritik des Verständnisses der Geschichte als Fortschritts- und Siegergeschichte ebenso anknüpft wie an Adornos identitätskritische ‚negative Dialektik‘. Im Fokus solcher theologischen Reflexion steht das, was Menschen und die Schöpfung unter jeweiligen Herrschaftsverhältnissen zu erleiden hatten und haben, und was weder durch universale Sinngewissheiten noch durch ein garantiertes universales Endziel der Geschichte zu kompensieren ist. Anknüpfend an biblische Traditionen, die herrschaftskritisch zwischen emanzipatorischer Rede von Gott und Herrschaft legitimierenden Götzen unterscheiden, artikuliert sich solche Theologie fetischismuskritisch. Dies geht nicht ohne kritische Gesellschaftstheorie und Bruch mit den kapitalistischen Fetischverhältnissen.


Es gibt ja den bekannten Ausspruch des US-amerikanischen Marxisten Fredric Jameson: „Es ist einfacher sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.“ – Marx und Engels hatten vielleicht noch Gründe davon auszugehen, dass auf ein Ende des Kapitalismus etwas Besseres folgen könnte. Haben wir diese Gründe heute noch? Oder droht nur eine noch schlimmere Barbarei? Müsste man nicht fast den Zusammenbruch des Kapitalismus zu verhindern suchen als Kommunist in der heutigen Weltlage?

In dem zitierten Diktum wird vor allem deutlich, wie sehr Menschen in ihrer Wahrnehmung, ihrem Fühlen und Denken mit dem Kapitalismus verschmolzen und genau diese notwendigen analytischen Erkenntnisse, vor allem die der Krise, blockiert sind. Diese Blockade wird gerade am Begriff des Subjekts deutlich. Im Zusammenhang der Aufklärung wird es verstanden als mündiges, seiner selbst bewusstes autonomes, d.h. freies und handlungsfähiges Subjekt. Außerhalb dieses Selbstverständnisses bleibt, dass das Subjekt als autonomes nur agieren kann im Rahmen der unreflektiert vorausgesetzten kapitalistischen Verhältnisse. Ähnlich wie die Handlungsfähigkeit des Staates von der Vermehrung des Kapitals durch Arbeit abhängig ist, bleibt das Handeln des Subjekts an die Arbeit gebunden. Robert Kurz hat es als „Handlungsträger der abstrakten Arbeit und ihrer abgeleiteten Funktionen“ beschrieben. Das prägt seine „Wahrnehmungsform, Denkform, Beziehungsform, Tätigkeitsform“4. Das Subjekt ist also genauso wenig ‚autonom‘ wie der Staat und die Politik als Handlungsform, sondern Verhältnissen unterworfen, die sich – vermittelt über menschliches Handeln – als „abstrakte Herrschaft“ konstituiert haben, ohne dass die Individuen einfach nur Marionetten des Systems wären.

„Auf ein Ende des Kapitalismus“ könnte durchaus „etwas besseres folgen“. Das setzt aber einen kategorialen Bruch mit den kapitalistischen Verhältnissen voraus, also mit ‚ontologischen‘ Setzungen wie Arbeit, Geld, Staat, Subjekt, Aufklärung, mit jenen Kategorien also, mit denen Menschen so verschmolzen sind, dass sie sich eher das Ende der Welt als das des Kapitalismus und seiner real-abstrakten Kategorien vorstellen können. Wenn es dazu nicht kommt, droht in der Tat „eine noch schlimmere Barbarei“ – auch dann, wenn „Kommunisten“ alles daran setzen, „den Zusammenbruch des Kapitalismus zu verhindern“. Auch sie können mit immer noch willigeren Anpassungsleistungen die logische und historische Schranke nicht überspringen.


Auch in reaktionären Kreisen wird in den letzten Jahren vermehrt vor einem wirtschaftlichen Kollaps des Kapitalismus gewarnt. Hier scheint die Apokalyptik viel weiter verbreitet zu sein als bei den linken Kräften, die ja mehrheitlich doch davon ausgehen, dass sich der Kapitalismus durch eine ‚grüne Wende‘ wird retten lassen, man denke nur an die Bewegung der rechtsradikalen „Prepper“ (von engl. prepared, vorbereitet), die aus Angst vor einer kommenden Katastrophe Waffen und Lebensmittel horten und in ihren Vorgärten Atomschutzbunker errichten. Und bei Ken Jebsen & Co. wird eifrig darüber diskutiert, dass das Finanzsystem eine einzige riesige Blase sei, die früher oder später zerplatzen werde. In den linken Kreisen gilt man wiederum oft schon als Antisemit, wenn man auch nur ansatzweise kritisch über den Finanzmarkt diskutieren möchte. – Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Müsste sich die Linke wieder stärker auf die Marxsche Krisentheorie besinnen?

In Krisenzeiten wird Apokalyptik zu einer frei flottierenden Metapher, in der Untergangsängste zum Ausdruck kommen. In diesen Zusammenhang gehört auch die sich heute großer Beliebtheit erfreuende Rede von Dystopie. In rechts-ideologischen Kreisen lässt die Metapher Apokalyptik dadurch an den Verhältnissen festhalten, dass sie sich mit gewaltträchtiger Abwehr von Juden, Nicht-Arbeitenden, Fremden Formen der Krisenverarbeitung anbietet, in denen vor allem das männliche Subjekt Halt zu finden scheint. Kritik an den Finanzmärkten verbindet sich da mit strukturellem Antisemitismus, wo der Zusammenhang der Blasenökonomie mit der Krise der Realökonomie nicht gesehen und schaffendes gegen raffendes Kapital ausgespielt und mit der als ‚jüdisch‘ konnotierten Macht des Geldes in Verbindung gebracht wird. Manche versprechen sich eine gewisse Macht in der Ohnmacht, wenn sie meinen, Kenntnis von apokalyptischen Endzeitszenarien zu haben und glauben, sich sogar individuell oder in Gruppen mit Wahnvorstellungen bis hin zu Vorbereitungen für einen Bürgerkrieg wappnen zu können. ‚Apokalyptiker‘ in Querdenkerkreisen (u.a. Markus Krall, Christian Kreiß, Matthias Weik, Marc Friedrich, Dirk Müller), die nicht selten Verschwörungstheorien nahestehen, wollen keine Überwindung des Kapitalismus, sondern den in ihrem Sinne ‚richtigen‘. Hier wird eine Lücke gefüllt, die eine Linke hinterlassen hat, die sich um eine Marxsche Krisentheorie, in deren Zentrum der Zusammenhanghang von prozessierendem Widerspruch und Arbeit und damit der Niedergang des Kapitalismus steht, nicht schert.

In all dem spielt ausgerechnet das, was den Kern von Apokalyptik ausmacht, keine Rolle, jedenfalls dann, wenn sie von ihren biblischen Zusammenhängen her verstanden wird. Darin geht es nicht um eine voraus greifende Reportage schrecklicher Abläufe am Ende der Zeit, sondern um die Auseinandersetzung mit griechischer Herrschaft im 2. Jh.v.u.Z. sowie mit der römischen Herrschaft im 1. Jh. u.Z. Die apokalyptischen Traditionen geben denen eine Stimme, die unter dieser Herrschaft leiden und ihr zum Opfer fallen. Ihnen geht es im Wortsinn von Apokalyptik um das Aufdecken von etwas Verborgenem. Aufgedeckt werden die Opfer von Herrschaft und deren tödlicher Charakter. So verstandene Apokalyptik steht gegen mythische Verschleierungen im ‚immer Gleichen‘ ebenso wie gegen metaphysisch-ontologische Beschwichtigungen durch Sinngebung, in denen die Leiden der Opfer unsichtbar gemacht werden. Dabei greift sie durchaus auf mythische Bilder zurück. In Bildern von Raubtieren z.B. bringt sie den bestialischen Charakter jeweiliger Herrschaft zum Ausdruck. Sie wird nicht in den Kreislauf des ‚Immergleichen‘ eingeordnet, sondern mit ihrer Zeitlichkeit in der Geschichte und damit mit ihrem Ende konfrontiert. Dieses Denken von Geschichte und Zeit ist verwurzelt im jüdischen Verständnis Gottes, der im Bruch mit Herrschaft Wege der Befreiung bahnt. Ihm traut die biblische Apokalyptik das ‚letzte Wort‘ zu, das ‚Herrschaften und Gewalten‘ richtet. Daraus erwächst den Apokalyptikern Kraft zum Widerstand gegen geforderte Unterwerfung.

In diesem Sinne entmythologisiert Apokalyptik als endgültig und umfassend (‚totalitär‘) erscheinende und sich kultisch inszenierende Herrschaft in ihrem Fetischcharakter. Rettung kann es nur mit einem Bruch, also mit dem ‚radikalen‘ Ende der Herrschaft geben. Immanente Wendungen, z.B. ein besserer Herrscher, ein ‚bisschen‘ mehr Gerechtigkeit und Friede sind ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund wäre Marx kein „als Wissenschaftler getarnter apokalyptischer Prophet“, sondern könnte gerade als Wissenschaftler insofern „Apokalyptiker“ genannt werden als er in Fortsetzung seiner Religionskritik Herrschaftskritik als Analyse und Kritik kapitalistischer Fetischverhältnisse betrieb.

In ihrer Kritik bestimmter geschichtlicher Herrschaft widerspricht die Apokalyptik zugleich der Herrschaft der Zeit in Gestalt ihrer Verewigung. Gegen den postmodernen Abschied von der Geschichte und ihre Flucht in scheinbar tröstende und Herrschaft unsichtbar machende Mythen meldet apokalyptisches Denken Einspruch gegen identitär geschlossene Immanenz an, aktuell gegen die Endgültigkeit des Kapitalismus, aber auch gegen die Endgültigkeit des Todes der Opfer in der Geschichte – durchaus in Nähe zu Benjamins Sprengen des Kontinuums der Geschichte als Fortgang einer homogenen und leeren Zeit5 wie zu Adornos ‚Negativer Dialektik‘6.


Um es zum Schluss nochmal ganz konkret zu machen: Was kommt Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahrzehnten auf uns zu? Und wie sollten wir uns diesen Prozessen gegenüber verhalten?

Aus kritischer Gesellschaftstheorie lassen sich hinsichtlich des Krisenverlaufs keine Voraussagen ableiten, wohl aber Tendenzen ausmachen. Da keine Kräfte in Sicht sind, die auf einen Bruch mit den Verhältnissen drängen, und auch da, wo von Transformation des Kapitalismus gesprochen wird, es immer noch mit Arbeit, Staat, Geld oder dessen Derivaten weitergehen soll oder Alternativen in den abgespaltenen Sphären der Reproduktion gesucht werden, spricht einiges dafür, dass sich – erst recht angesichts von Corona – der Krisenprozess verschärfen wird. Das gilt auch im Blick auf ökologische Krisen, zu deren Lösung u. a. ein rationaler Umgang mit Ressourcen nötig wäre, was eine Umgestaltung des Produktionsapparates einschließen würde. Damit sind Formen der Barbarisierung ‚vorprogrammiert‘, die durch das Leugnen der Krisen befeuert werden.

Soziale Bewegungen sind eher darauf aus, einen Platz am Katzentisch der Krisenverwaltung einzunehmen, als sich ihre vermeintliche Beachtung durch radikale Kritik zu verscherzen. Stattdessen käme es darauf an, die Verhältnisse als ‚konkrete Totalität‘ zum Gegenstand der Kritik zu machen, um die Notwendigkeit eines kategorialen Bruchs als Voraussetzung für Alternativen zum Kapitalismus deutlich zu machen.

Damit ist die Frage nach Praxis nicht vom Tisch. Nur wenn sich analytische Einsicht mit praktischen Interventionen verbindet, kann es zu Prozessen der Veränderung kommen. Eine Perspektive auf diesem Weg wären Proteste gegen immer neue gesellschaftliche Zumutungen sowie Interventionen gegen Formen der Barbarisierung in Sexismus, Rassismus..., sowie Forderungen, die auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen und darauf zielen, die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und Verhältnisse nicht von der Unterwerfung unter Fetischverhältnisse abhängig zu machen, sondern bewusst unter Kontrolle zu bringen und im Rahmen eines „Vereins freier Menschen“ (Marx) zu gestalten. Proteste gegen Zumutungen und Forderungen dürfen sich nicht von Fragen nach Realisierbarkeit abhängig machen, sondern müssen auf einer ‚Umverteilung der Beweislast‘ bestehen. Wenn angesichts stofflichen Reichtums nicht einmal die Befriedigung von Grundbedürfnissen möglich sein soll, spricht dies gegen ein System, in dem stofflicher Reichtum nur in der Form abstrakten Reichtums zählt, zu dessen Konstitution also der Widerspruch zwischen Stoff und Form gehört7.


Haben Sie vielen Dank dafür, dass Sie sich für dieses Gespräch Zeit genommen haben.

  1. Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Frankfurt a. M. 1999.^

  2. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW Bd. 42. Berlin 1983, S. 601.^

  3. Vgl. etwa Jakob Schäfer, Ist die Corona-Pandemie Grund für die beginnende Wirtschaftskrise? https://intersoz.org/ist-die-corona-pandemie-grund-fuer-die-beginnende-wirtschaftskrise/ (abgerufen am 24.04.2021).^

  4. Robert Kurz, „Die Substanz des Kapitals. Teil II“. In: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 2 (2005), S. 210.^

  5. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte. In: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Bd. I.2. Frankfurt a. M. 2015, S. 69–704, v. a. 701–703.^

  6. Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften Bd. 6. Frankfurt a. M. 1970, S. 356–400, v. a. S. 394–397.^

  7. Vgl. Claus Peter Ortlieb, „Ein Widerspruch von Stoff und Form“. In: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 6 (2009).^