Geschichtsverlust -- Robert Kurz Robert Kurz

Geschichtsverlust
Der Golfkrieg und der Verfall des marxistischen Denkens


1.

Seitdem überall nur noch Westen ist, kennt auch die marxistische Linke nur noch eine Richtung: zurück in den bürgerlichen Heimatstall. Der Verlust des altgewohnten politisch-ideologischen Koordinatensystems wird gleichzeitig zum Realitätsverlust. Bedurfte es dafür noch eines Beweises, so haben der Golfkrieg und die diversen linken Reaktionsformen ihn geliefert. Die Kontroversen, die sich an diesem Ereignis entzündet haben, waren an Irrealität nicht mehr zu überbieten. Kein Moment in der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit des kapitalistischen Weltsystems lag ihnen auch nur ansatzweise zugrunde. Der Golfkrieg, allzu rasch auf den Zusammenbruch des Realsozialismus und der DDR gefolgt, überforderte das längst plattgesessene marxistische Denken endgültig und auf die peinlichste Weise.
Dass die ideologische Hauptparole "Go west" lauten würde, war zu erwarten. Der mainstream der Lemminge bewegte sich ja schon lange vor den jüngsten Ereignissen in diese Richtung. Bereits bevor die 68er Bewegung den Marxismus noch einmal als kurzlebiges Projekt für eine linksoppositionelle politische Praktikergeneration entdeckte, hatte in der Theorie der strukturalistische "Angriff auf die Geschichte" die Krise des marxistischen Denkens eingeläutet. Der Verfall des Marxismus konnte im schnellen ideologischen Durchlaufprozess der im Kern eher theoriefeindlichen, praktizistischen Neuen Linken nicht aufgehalten werden. Als das ausgebuddelte theoretische "Werkzeug" sich als rostig erwies, wurde es weggeworfen. Scharenweise mauserten sich die Ex- und Hopp-Revolutionäre in den 80er Jahren zu marktwirtschaftlichen "Realisten" okzidentaler Rationalität.
Der Zusammenbruch des Realsozialismus schien diesen "Realismus" Ende der 80er Jahre zu bestätigen. Ganze Segmente der scheinbar immer noch festgefügten marxistischen Positionen brachen fast über Nacht weg. Der Golfkrieg, mit dem statt des erwarteten neuen Friedens die letzte Dekade des 20. Jahrhunderts begann, scheint nun die übriggebliebenen Bastionen sturmreif geschossen zu haben. Ein historisch unselbständiges Denken, das sich lange Zeit hauptsächlich äusserlich von den spätbürgerlichen Revolutionen des kapitalistisch rückständigen Ostens und Südens genährt hatte, lag offenbar auch bei den verbliebenen Häuflein der Linksradikalen unbewusst oder halbbewusst schon längst auf der Lauer, sich an den enttäuschten Revolutionsmythen, die doch nur das Produkt eigener Projektionen und Defizite gewesen waren, bei passender Gelegenheit gründlich zu rächen. Der Golfkrieg bot in seiner Konstellation den besten aller denkbaren Anlässe. Er brachte in den Reaktionsformen der Linken eine grosse "prowestliche" Koalition hervor, die von den Realo-Häuptlingen bis tief ins linksradikale Spektrum hineinreichte.
Es hätte wenig Sinn, darüber eine nostalgische Jeremiade anzustimmen. Sowohl der Zusammenbruch des Ostens als auch der Golfkrieg zeigen nichts weniger als den "Sieg des Kapitalismus" an; vielmehr handelt es sich um Momente einer heranreifenden Krise des globalen warenproduzierenden Systems. Wenn ausgerechnet an diesen katastrophischen Erscheinungen die lange schon schwelende Krise des marxistischen Denkens akut und manifest geworden ist wie nie zuvor, so wird damit nur der praktische Beweis geliefert, dass dieses Denken selber noch der untergehenden fetischistischen Welt der Ware angehörte. Irgendwie muss der Leichnam des selber warenförmigen, nationalökonomischen Arbeiter-Marxismus unter die Erde, und anscheinend hat auch der Golfkrieg indirekt ein paar Schaufeln dazu beigesteuert.
Die frischgebackenen (ex-) linksradikalen Freunde des Westens haben zwar unter Verweis auf die deutsche Friedensbewegung bestritten, dass es sich bei den Kritikern des westlichen Schlachtfestes am Golf um eine verschwindende Minderheit gehandelt habe. Sie fühlten sich umgekehrt selber als reflektierte, moralisch und politisch überlegene Minderheit gegenüber einer Mehrzahl von Ignoranten, linken Antisemiten und nationalistischen Antiamerikanern. Hier liegt allerdings eine Verwechslung vor. Die meisten Kriegsgegner, was nun jeweils ihre Motive waren und was von diesen zu halten ist, bezogen ihre Positionen nicht mehr aus einer wie auch immer verarbeiteten "linken Geschichte" und aus dem positiven oder negativen, verquälten oder aggressiven Bezug auf einen Fundus marxistischen Denkens. Unter den Ex- und Noch-Marxisten aber war es die absolute Minderheit, die nicht zu den Hurrademokraten übergelaufen ist.
Damit soll nicht jenes bloss unentwegte, "orthodox" altmarxistische Denken verteidigt werden, das sich auf dem ideologischen und theoretischen Niveau des 1. Weltkriegs eingegraben hat und heute nur noch als eine Art Alterstorheit von desorientierten Veteranen gelten kann. Der alte "Antiimperialismus", der auf die gewohnte Weise zu reagieren suchte, wurde durch den Golfkrieg abermals blossgestellt. Die randständigen 3. Welt-Ideologien des Marxismus, deren antikapitalistischer Inhalt schon immer äusserst unsauber und oberflächlich gewesen war, waren gegen "völkische" Töne noch nie ganz gefeit. Es hätte so gesehen kaum überraschen dürfen, dass der Golfkrieg den Autonomen und Antiimps teilweise tatsächlich schon offen antisemitische Töne entlockt hat.
Aber dieses altmarxistische Denken ist ohnehin ein absterbendes. Bedeutsamer und gefährlicher scheint jene prowestliche Flucht nach vorn zu sein, wie sie die Mehrzahl der ehemaligen neuen Linken im Golfkrieg kennzeichnete. Dass die geläuterten Freunde von Marktwirtschaft, freedom and democracy so reagieren würden, war vorauszusehen. Überraschender war schon das Verhalten der meisten kritischen, an der Tradition der Frankfurter Schule orientierten Marxisten. Jene ins Wanken geratenen aufklärerischen Linksradikalen, die sich (von Gremliza bis zu Wolfgang Pohrt und der ISF Freiburg etc.) im Golfkrieg plötzlich an der Seite der exlinken Realos, Westler und nationalen Deutschler als stramme Bellizisten wiederfanden, haben ihre rasante Wendung eher notdürftig mit einem an den Haaren herbeigezogenen historischen Analogieschluss zu begründen versucht (vgl. dazu ausführlich den Artikel Ernst Lohoffs "Von Auschwitz nach Bagdad" in diesem Heft).
Dieser Salto verweist aber auf eine tieferliegende Problematik, die durch den Golfkrieg gewaltsam nach oben gespült wurde. Die ideologischen Lebenslügen der kritischen Marxisten scheinen denjenigen der Alt-Orthodoxen kaum nachzustehen. Sieht man von den aktuellen Anlässen ab, dann bieten die neuen prowestlichen Linksradikalen in ihrer heutigen ideologischen Struktur schon auf den ersten Blick ein äusserst merkwürdiges Bild. Auf der einen Seite gehören sie (zumindest teilweise) selber immer noch zu denjenigen, die sich zu einem abstrakten Antikapitalismus "bekennen" oder sogar dem verblichenen Realsozialismus und der vergangenen Weltkonstellation nachtrauern, fast schon ihren guten alten Breschnew wiederhaben möchten und in den Trümmern der DDR nach Resten altkommunistischer Identität stochern. Diese Gestrigkeit impliziert ein (freilich diffuses) Verharren in denselben veralteten Denkformen des Arbeiterbewegungs-Marxismus wie bei den altmarxistischen Antiimperialisten. Auf der anderen Seite aber haben sie mit ihrem aktuellen Übergang zu den prowestlichen Hurrademokraten einen Schritt vollzogen, der sie über den temporären Anlass hinaus genau dorthin führt, wohin sie angeblich nicht wollen.
Das absurde Unterfangen, die Konstellation des 2. Weltkriegs mit der Konstellation des "kalten Krieges" und die antikapitalistische Identität mit der Feier wehrhafter westlicher Rationalität unter einen ideologischen Hut bringen zu wollen, ist unter den heutigen weltgesellschaftlichen Bedingungen nicht nur logisch unmöglich, sondern beide Konstellationen haben auch mit der aktuellen historischen Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Aber die scheinbare Schizophrenie könnte eine tieferliegende Identität anzeigen: nämlich die prekär gewordene Zugehörigkeit des verblichenen Marxismus, auch des kritischen und elaborierten, zu jener bloss äusserlich bekämpften okzidentalen Rationalität der kapitalistischen Vergesellschaftungsform, eine Identität, die sich als von den Akteuren unbegriffene hinter ihrem Rücken durch die Ereignisse hindurch Bahn bricht.


2.

Bevor es möglich ist, zur grundsätzlichen Kritik des linksradikalen Aufklärertums durchzustossen, muss klar gesagt werden, worin sie in der aktuellen Auseinandersetzung um den Golfkrieg wenigstens teilweise "recht" hatten. Das oberflächliche Motiv war ein, sagen wir: ehrenwertes, nämlich der Abscheu gegen linken Antisemitismus und der Schutz der israelischen Bevölkerung. Tatsächlich kann eine Kritik Israels nicht ignorieren, dass dies nicht bloss ein ziemlich aggressiver Staat, d.h. eine Ausgeburt des bürgerlichen warenproduzierenden Systems ist, sondern aus historischen Gründen gleichzeitig ein Zufluchtsort für Menschen, die mehr als alle anderen Opfer der Moderne zum Objekt von Massakern, Pogromen und schliesslich des Holocaust geworden sind.
Noch während die israelischen Luftschutz-Sirenen heulten, landeten auf dem Flugplatz von Tel Aviv Flugzeuge mit jüdischen Aussiedlern aus dem ehemaligen "Vaterland der Werktätigen", in dem der Antisemitismus (wie überhaupt in Osteuropa, vor allem auch in Polen) als eine Reaktionsform auf die Krise neue Blüten treibt. Übrigens gerade bei jenen Strömungen, in denen sich ideologisch verrottete Altkommunisten, Sowjetpatrioten und Armee- bzw. KGB-Generäle zusammenfinden. Es wäre ein eigenartiger Zynismus, im Namen radikaler Kritik des Staates im allgemeinen und der israelischen Besatzungspolitik im besonderen den jüdischen Opfern der Vergangenheit und den jüdischen Flüchtlingen der Gegenwart zu empfehlen, sie möchten sich einstweilen unsichtbar machen, bis die Weltrevolution alles in Ordnung gebracht hat. Ganz abgesehen davon, dass eine Kritik Israels als bürgerlicher Staat, dessen Staatsbürger gleichwohl einen nachvollziehbaren Grund haben, einstweilen in dieser Form sich zu affirmieren, erst recht eine Kritik der Palästinenser nach sich ziehen müsste, die weder einen vergleichbaren Grund für eine bürgerliche Staatsbildung besitzen noch überhaupt eine lebensfähige Nationalökonomie im Rahmen des heutigen Weltmarkts hervorbringen könnten. Die PLO ist mindestens genauso ein absurd gewordenes Auslaufmodell wie Fidel Castros kubanischer Rauschebart-Befreiungsnationalismus.
Vor diesem Hintergrund mutet es mehr als merkwürdig an, wenn prominente deutsche Friedensfreunde "prinzipienfest" die Lieferung jeglicher Waffen an Israel, auch des rein defensiven Patriot-Systems, grundsätzlich abgelehnt haben. Moralischer Rigorismus wird hier ebenso zur Scheinheiligkeit wie die dem Golfkonflikt übergestülpten alten Klassenkampf-Phrasen. Mit den Patriots konnte der Staat Israel keine Palästinenser malträtieren, sondern wirklich nur seine Zivilbevölkerung schützen. Warum nicht diese Massnahme befürworten und selber fordern, gleichzeitig aber die Form und die Motive der US-Intervention kritisieren und den Zusammenhang des Golfkriegs mit den Konsequenzen der westlichen Vergesellschaftungsform und Lebensweise aufdecken, diesen Krieg als Moment einer sich voranfressenden Krise des Weltsystems analysieren?
Zu einer taktischen wie zu einer theoretischen und analytischen Intervention aber waren offenbar weder die abstrakten Radikalpazifisten und die versumpften Antiimperialisten noch die neuesten linken Freunde des Westens und seiner Weltpolizei mehr in der Lage. Hilflos und selbstzerstörerisch die gegenseitigen Schuldzuweisungen, wer nun welches Blut oder Öl an den Fingern habe. Der Antisemitismus-Vorwurf mochte ein Segment der Kriegsgegner treffen, der überwiegenden Mehrzahl gegenüber (vor allem den Youngsters ohne jede "linke Geschichte", vgl. dazu den Artikel "Rien ne va plus" von Norbert Trenkle) war er haltlos.
Das Versagen des Marxismus nahm bei den linksradikalen Bellizisten, im Unterschied zum lustlosen Abspulen alter Phrasen bei den Antiimperialisten, Züge eines Amoklaufs an. Dass sie mit fliegenden Fahnen zur offenen und teilweise bedingungslosen Befürwortung des westlichen Interventionskriegs übergingen, lässt sich nicht aus der realen Sachlage ableiten. Israel war zu keinem Zeitpunkt militärisch in seiner Existenz bedroht. Es ist unverzeihlich, den gefährlich sich der Unzurechnungsfähigkeit nähernden Weltpolizisten USA als Hüter des "Völkerrechts" hochzujubeln und den realen Zusammenhang völlig zu ignorieren. Und es ist unverzeihlich, die westliche negative Weltmarkt-Vergesellschaftung und ihre verheerenden globalen Konsequenzen aus der Analyse der Ereignisse auszublenden, die dann nur noch willkürlich und blind der eigenen prekären Legitimationsproblematik folgend interpretiert werden können.
Woher diese erstaunliche Blindheit gegenüber einer grundlegend veränderten historischen Situation? Offenbar ist auch der kritische Marxismus erstarrt und nicht mehr in der Lage, auf die reale weltgesellschaftliche Entwicklung adäquat zu reagieren. Keineswegs überflüssig kann es also sein, gerade im Denken der reflektiertesten aufklärerischen Linksradikalen (und dazu gehören nicht wenige der scheinbar plötzlich zum prowestlichen Bellizismus Mutierten) jene theoretischen und ideologischen Strukturen zu untersuchen, in denen sich das Erstarren des marxistischen Denkens zeigt und die den aktuellen Fehlleistungen letztlich zugrunde liegen.
Der Golfkrieg hat dabei ein Defizit enthüllt, das auch vorher schon in anderen Zusammenhängen sich angedeutet hatte. Die Fixierung auf blosse Ideologiekritik, wie sie seit langem z.B. von Gremliza, Pohrt oder der ISF (auf je spezifische Weise) von nicht mehr thematisierten Prämissen aus betrieben wurde, hatte trotz zahlreicher verdienstvoller Arbeiten längst den Boden einer sich unaufhörlich weiterentwickelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit unter den Füssen verloren. Die von Strukturalismus und Systemtheorie betriebene Enthistorisierung des theoretischen Denkens hatte auch auf dem Boden des Marxismus stattgefunden. Und zwar keineswegs bloss bei den "Althusserianern", sondern klammheimlich auch bei den orthodoxen und/oder der Kritischen Theorie verpflichteten Marxisten.
Dieses Denken war schon lange in einen Leerlauf übergegangen, ohne seine fortschreitende Entwirklichung zu bemerken oder wahrhaben zu wollen. Das strukturelle Defizit im Wirklichkeits- und Geschichtsbezug, im Selbst- und Theorieverständnis dieser marxistischen Auslaufmodelle lässt sich auf mehreren Ebenen beschreiben. Ziel der Kritik kann es nur sein, in einer groben Skizze anzudeuten, wie eine revolutionäre "Aufhebung des Marxismus" zu denken wäre.


3.

Gewiss besitzen ideologische, theoretische und politische Inhalte, Konstrukte und Konstellationen auch ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigene Geschichte. Trotzdem können sie (ebenso wie sozialpsychologische Motive) nicht ohne schwere Deformationen vom realhistorischen Prozess abgelöst und für sich betrachtet werden. Ideologien und ideologische bzw. sozialpsychologische Motive decken sich nämlich bekanntlich keineswegs mit der gesellschaftlichen Realität, sie sind auch nie ein unmittelbarer ideeller Ausdruck der realen Verhältnisse, sondern immer ein vermittelter, oftmals ungleichzeitiger. Das ist deswegen so, weil in fetischistisch verfassten Gesellschaften, die sich ihrer selbst nicht bewusst sind und die ihre Verhältnisse nicht bewusst selber regeln, sondern blinden "Gesetzmässigkeiten" unterworfen bleiben (in der Moderne der Selbstverwertung des Geldes), auch notwendig eine Differenz von Realität und Bewusstsein entsteht.
Genauer gesagt: von den Bewusstseinsinhalten kann nicht direkt auf die gesellschaftliche Realität geschlossen werden, sondern genau umgekehrt: aus der mühsam und im nachhinein zu untersuchenden objektivierten Realität des Gesellschaftsprozesses müssen diese Bewusstseinsinhalte (bewusste Interpretationen des Geschehens) erst erklärt und in ihrem jeweiligen Stellenwert bestimmt werden. So jedenfalls hat der alte Theorielöwe Marx die Aufgabe richtig gestellt. Wenn es sich aber so verhält, dann kann die notwendige Ideologiekritik niemals ohne eine adäquate "Realanalyse" auskommen. Dazu gehört natürlich die Analyse der ökonomischen Basis- und Oberflächenprozesse, aber bei weitem nicht nur diese. Vielmehr ist auch eine entsprechende Analyse der Subjekt- und Bewusstseinsformen, der Institutionen, der sozialen und geschlechtlichen Verhältnisse, der kulturellen Strukturen usw. und ihrer Entwicklung nötig. Erst in diesem Zusammenhang kann der Stellenwert ideologischer Aussagen oder Strömungen geklärt werden. Unterbleibt aber diese Analyse weitgehend und wird dieser Zusammenhang nicht hergestellt, dann wird die Ideologiekritik zunehmend willkürlich und zufällig, und zwar umso mehr, je weiter sich die Entwicklung der gesellschaftlichen Realität von jener historischen Konstellation entfernt, aus der die Bezugsgrössen der Ideologiekritik ursprünglich stammen.
Genau darin besteht die crux unserer heutigen linksradikalen Aufklärer und Ideologiekritiker. So waren und sind z.B. die Polemiken von Wolfgang Pohrt gegen (Volks-) Gemeinschaftsideologien, lebensphilosophische Brocken, Naturmystik, Blut- und Bodengespenster, Biologismus usw. in der Friedens- und Frauenbewegung durchaus zutreffend. Aber da jener realanalytische Zusammenhang nicht (mehr) hergestellt werden kann, hängt diese Polemik in der Luft. Die Auseinandersetzung um eine Realanalyse, soweit überhaupt vorhanden, wurde spätestens Ende der 70er Jahre eingestellt, vielleicht auch mangels Publikum und Interesse. So wird aber die "Richtigkeit" der Polemik eine fatale. Denn gemeinschaftsideologische, biologistische und auch antisemitische Ideologeme (oder auch nur Spurenelemente davon) müssen 1991 keineswegs dasselbe bedeuten bzw. in demselben gesellschaftlichen Zusammenhang stehen wie z.B. 1933.
Als Ideologien und somit sekundäre "Bewusstseinsrealität" besitzen diese Strömungen, Motivationen und Reaktionsmuster eine lange Geschichte, die bis in die Anfänge der Modernisierung zurückreicht. Sie haben die moderne bürgerliche Gesellschaft von Beginn an begleitet, waren also "immer da", ohne jedoch zu allen Zeiten denselben Stellenwert und dieselbe Ausformung zu besitzen. Denn es sind jeweils verschiedene, selber einem objektivierten Entwicklungsprozess unterworfene Subjekt- und Bewusstseinsformen, in denen diese ideologischen Inhalte erscheinen. Als Form ist der "Wert", der verdinglichte Gesellschaftszusammenhang, immer auch gleichzeitig Bewusstseinsform. Im realhistorischen, objektivierten Entwicklungsprozess dieser gesellschaftlichen Form verändern sich aber auch die Subjekte.
So sind es heute nicht mehr die sich zersetzenden berufsständischen, einem traditionellen Wertesystem verpflichteten Strukturen, auf die hin das antisemitische Syndrom zu untersuchen wäre, sondern ein weit darüber hinausgewachsenes Verhältnis abstrakter, monadisierter Individualität. Ein Aspekt dieser Veränderung besteht z.B. darin, dass das Ethos "produktiver Arbeit" längst nicht mehr dieselbe Bedeutung besitzt. Demzufolge kann auch in einer Gesellschaft, in der ein spekulatives Verhältnis zur Geldware und der Überziehungskredit zum Massenalltag gehören, eine militante Kritik des "raffenden" Kapitals bei gleichzeitiger Verherrlichung des "schaffenden" längst nicht mehr dieselbe Durchschlagskraft besitzen.
Ist nun unter diesen veränderten historischen Bedingungen die Friedensbewegung mit ihrem lebensphilosophischen ideologischen Geschwätz wirklich der mehr oder weniger unfreiwillige ideologische Schrittmacher eines neuen Faschismus? Wiederholt sich die Geschichte? Kann der unzweifelhaft wieder aufflackernde Antisemitismus noch einmal zur mörderischen Staatsdoktrin werden? In Deutschland? In einem degradierten Russland? Und ist er es wirklich schon heute im Irak, und zwar in derselben Konstellation und Funktion wie nach dem 1. Weltkrieg in Mitteleuropa? Verläuft hier die Hauptfrontlinie des gesellschaftlichen Krisenprozesses? Keine einzige dieser Fragen kann ideologiekritisch beantwortet werden, wenn auch diffuse Unterstellungen oder Scheinplausibilitäten sich einem realhistorisch ahnungslosen Aufklärertum aufzudrängen scheinen. Gerade das aber ist gefährlich.
Die völlig enthistorisierte Ideologiekritik wird blind, beliebig und rechthaberisch; und so taugt sie zuletzt nur noch legitimatorisch für ihre Träger, erklärt aber nichts mehr und bewegt nichts mehr. Ihre abstrakte Richtigkeit wird gegenstandslos. In Wolfgang Pohrts Untersuchung zur deutschen Bewusstseinslage etwa (inzwischen im Konkret-Literaturverlag als Buch erschienen) mischt sich die historisch fast willkürlich rückbezügliche Interpretation von Aussagen seiner Probanden mit der scharfsinnigsten sozialpsychologischen Beobachtung, die er aber heute genausogut in New York oder Paris hätte machen können. Äusserungen einer längst globalisierten abstrakten Individualität und ihres ideologischen oder sozialpsychologischen Elends werden kurzgeschlossen mit historischen Restbeständen (oder vielleicht sogar literarischen Dokumenten) einer "spezifisch deutschen" präfordistischen Bewusstseinslage der Zwischenkriegszeit. Jeglicher Beurteilungs- und Vergleichsmassstab scheint verlorengegangen, da dieser nur einer historischen Realanalyse (oder wenigstens einer darauf gerichteten These) entstammen könnte.


4.

Der realanalytischen Schwäche entspricht eine theoretische, die genauso schwer wiegt. Wie die abgelöste, enthistorisierte Ideologiekritik den realanalytischen Boden unter den Füssen verloren hat, so orientiert sie sich auch an einem Theoriehimmel, der bloss noch eigene Projektion ist und nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Zusammen mit der Auseinandersetzung um die Realanalyse ist auch die theoretische Debatte im engeren Sinne irgendwann in den 70er Jahren erloschen. Es ist ein Ärgernis, dass die linksradikalen Enkel der Kritischen Theorie nur noch mit marxistischen Hintergrundannahmen operieren, also mit einem explizit nicht mehr kritisch thematisierten Fundus theoretischer Grundaussagen, die als "gesichert" vorausgesetzt werden und die als unhinterfragte Basis jener ideologiekritischen Aktivitäten dienen.
Dieses Theorieverständnis ist ein statisches, letztlich ein dogmatisches, auch wenn seine Träger dies als Unterstellung empört von sich weisen werden. Der theoretische Dogmatismus ist aber nicht an habituelle Äusserungen gebunden, sondern stellt sich wesentlich als vermeintliche Abgeschlossenheit der Theorie unabhängig vom realhistorischen Prozess dar. Ein solches Theorieverständnis ist aber nicht nur den plumpen ML-Dogmatikern eigen, sondern auch den "kritischen" und "westlichen" Marxismen. Es wird implizit unterstellt, dass das "artistische Ganze" der Marxschen Theorie und ihres kategorialen Apparats etwas ein für allemal Abgeschlossenes und zu Ende Geführtes ist, eine nicht mehr überschreitbare "endgültige Wahrheit" von Grundaussagen über das Kapital, die sich erst durch die Revolution selbst zusammen mit ihrem Gegenstand erledigt.
Der verblichenen Marxistischen Gruppe oder auch den SOST und anderen "Orthodoxen" übrigens nicht unähnlich (bloss weniger explizit), werden die Marxschen Kategorien des Kapitals im Allgemeinen, wie sie in den drei Bänden des "Kapital" entwickelt sind, als nicht mehr kritisch thematisierbares und nicht mehr veränderbares theoretisches Raster zur absoluten Prämisse gemacht, als fixierter Theoriehimmel vom weiteren historischen Prozess des Kapitals abgelöst und diesem gegenübergestellt, um auf ihn bloss noch "angewendet" zu werden, sei es realanalytisch oder eben ideologiekritisch. Schon die Versuche einer Realanalyse in den 70er Jahren litten darunter (und sind letztendlich daran gescheitert), dass den dogmatisch und unkritisch fixierten Kategorien des "Kapitals im Allgemeinen" die "konkrete Analyse" äusserlich blieb und das Auseinanderfallen von "Theorie" und "Empirie" nicht überwunden werden konnte. Seitdem nun auch die Realanalyse aufgegeben worden ist, jedenfalls bei den linksradikalen Enkeln der Kritischen Theorie, muss die verbliebene Ideologiekritik gleich doppelt ihren Gegenständen äusserlich bleiben, nämlich sowohl theoretisch als auch realanalytisch.
Es wäre demgegenüber die Aufgabe zu stellen, einen anderen Zugang zu finden und die Theorie des "Kapitals im Allgemeinen" selber aus ihrer dogmatischen, enthistorisierten Erstarrung herauszunehmen. Dieser Versuch könnte an der (zugegebenermassen noch wenig ausgeführten) Formel vom "doppelten Marx" ansetzen (vgl. dazu auch die Vorbemerkung zu dem Artikel "Die verlorene Ehre der Arbeit" in Krisis Nr.10). Auch die Marxsche Theorie ist danach nichts Abgeschlossenes, auch die Kategorien des "Kapitals im Allgemeinen" als solche sind dem historischen Prozess des Kapitals entsprechend kritisch zu thematisieren, weiterzuentwickeln und umzuformen. Auch diese Ebene ist dann nicht bloss metahistorisch im Sinne von Existenz oder Nichtexistenz des Kapitals, sondern durchaus binnenhistorisch im Sinne der kapitalistischen Entwicklung selbst zu verstehen.
Das "artistische Ganze" der Marxschen Theorie zerfällt also in Wirklichkeit in ein beschränktes, binnenhistorisches, noch innerhalb der kapitalistischen Geschichte selber vergehendes Moment einerseits: das ist der Marx des "Arbeiterstandpunkts", der "Arbeiterbewegung", des "Klassenkampfs", der bloss subjektiven Aufhebung des Kapitals innerhalb einer Ontologie der "Arbeit" usw. (vgl. dazu den erwähnten Artikel in Krisis Nr.10 sowie den Artikel "Der Klassenkampffetisch" in Nr.7). Dieses Moment ist aber der hier angesprochenen These nach bloss der immanenten Bewegungsform des Kapitals in seinem historischen Aufstiegsprozess geschuldet und wird obsolet in dem Masse, wie das Kapital als reales, gewordenes Weltverhältnis seinem Begriff nicht bloss entspricht als einem vorher schon dagewesenen, sondern diesen Begriff erst als adäquaten in neuer Form möglich macht.
Und andererseits enthält die Marxsche Theorie als fundamentale Kritik des "Werts", der basalen Fetischform der Moderne, auch den Zugang zu jener erst heute konkret möglichen Kritik dieser Basis des Kapitals, die aber auch erst zu leisten ist. Der "Umkehrbeweis" wäre, dass der gesamte Arbeiterbewegungs-Marxismus nicht aus theoretischer Dummheit, sondern aus historischer Bedingtheit mit der basalen "Wert"-Kritik gar nichts anfangen konnte.
Diese Überlegungen, die als heute noch unausgegorene durch eine theoretische Selbstverständigung gewälzt werden müssen, sind aber dem dogmatischen Theorieverständnis der Nur-Ideologiekritiker offenbar völlig fremd, jedenfalls stossen sie bisher auf wenig Gegenliebe im Sinne auch nur eines Sicheinlassens. Die längst versteinerten theoretischen Hintergrundannahmen scheinen zu einer ausgebildeten Identität zu gehören, die sich im Bewusstsein eines fertigen "Wissens" nicht aufgescheucht und problematisiert erleben möchte.


5.

Das realanalytische sowohl als das theoretische Defizit, die sich gegenseitig bedingen, haben aber ein fatales Verhältnis der linksradikalen Ideologiekritiker zu ihren Adressaten als Konsequenz. Da der Widerspruch zwischen Ideologie und objektivierter gesellschaftlicher Realität scheinbar eingeebnet ist, wird das Problem in äusserstem Reduktionismus nur noch als die Aufgabe wahrgenommen, das (längst schon feststehende) "Richtige" zu "wollen". Statt zu erkennen, dass das Problem selber auf neuer Entwicklungsstufe auch neu zu stellen und zu formulieren ist, aus den erreichten gesellschaftlichen Realverhältnissen heraus (und im bewusst wahrgenommenen Unterschied zu den vorherigen Entwicklungsstufen), wird es mit jenem vermeintlich immer schon ausreichenden esoterischen "Wissen" kurzgeschlossen. Eigentlich hätte "schon immer", jedenfalls seitdem Marx vermeintlich das letzte Wort zum Kapitalverhältnis gesprochen hat, "das Richtige gewollt werden können". Die Menschheit hat aber eben (aus Dummheit? aus Bösartigkeit?) bisher dieses ominöse "Richtige" einfach nicht gewollt. Und so weiss der reduzierte Ideologiekritiker eigentlich auch schon, dass auch jetzt seine Mühe vergeblich sein wird. Die Ideologiekritik in dieser abgelösten, enthistorisierten Form wird daher fast zwangsläufig zur Publikumsbeschimpfung.
Als Publikumsbeschimpfung aber ist die Ideologiekritik jeder weiteren Selbstprüfung grundsätzlich enthoben. Sie selbst unterliegt jener scheinbar nicht mehr aufsprengbaren kybernetischen Rückkopplung, die sie dem Kapital fälschlich unterstellt. Die Adressaten verhalten sich genau so, wie es die Ideologiekritik erwartet, die sich somit immer schon apriori der Selbstbestätigung versichert hat. Dass auch an den eigenen Voraussetzungen etwas nicht stimmen könnte, kann gar nicht mehr in Betracht kommen.
Eine weitere Konsequenz dieser Vorgehensweise ist es dann, sich gar nicht mehr auf das allgemeine ideologische Bewusstsein der Gesellschaft als Ganzes zu richten (was ja eine analytische Arbeit erfordern würde), sondern hauptsächlich auf die Ideologiekritik der vorgefundenen gesellschaftlichen Oppositionsbewegungen, deren Bewusstseinsinhalte und Programme mit denjenigen der Gesamtgesellschaft unmittelbar kurzgeschlossen werden. Die logischerweise unvollkommene, zunächst immer mit affirmativen (oder sogar reaktionären) Momenten verbundene Aktivität gegen negative gesellschaftliche Erscheinungen wird unmittelbar gleichgesetzt mit dem affirmativen bzw. reaktionären Bewusstsein überhaupt, dessen Schwerkraft das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein bestimmt, und somit den oppositionellen Aktivisten zusammen mit der "Richtigkeit" ihres Bewusstseins jeglicher kritische Anspruch ebenso unmittelbar abgesprochen.
Die Differenz zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Realität muss auch in dieser Hinsicht eingeebnet werden. Das Resultat ist dann entweder eine Art auswegloser Hassliebe zu den oppositionellen Praktikern, deren ewig falsches Bewusstsein zur eigenen Existenzberechtigung wird, oder der "Erfolg" der Ideologiekritik besteht (wenn die Publikumsbeschimpfung nachhaltig genug ist) weder in einer verbesserten und bewussteren Praxis noch in einem Übergang von Praktikern zur notwendigen theoretischen Arbeit, sondern (da ja "alles" im Prinzip schon gesagt ist) bloss im Zurückfallen der "Aufgeklärten" in die quietistische Indifferenz. Die Abschussprämien der über sich selbst unaufgeklärten linksradikalen Aufklärer sind identisch mit dem blossen Verstummen der getroffenen Aktivisten.
Damit aber wird die abgelöste Ideologiekritik auch blind gegen die Destruktions- und Krisenpotentiale der realen gesellschaftlichen Praxis, gegen die sich jene mit "falschem Bewusstsein" ausgestatteten Oppositionsbewegungen richten. Ohnehin gehört die Krisentheorie kaum zum Repertoire der linksradikalen Aufklärer. Jedenfalls nicht eine Krisentheorie, die den Unterschied von bloss subjektivem Wollen und objektivierter, verdinglichter Realität in fetischistisch verfassten Strukturen ernst nimmt. Da sie die Differenz von Ideologie und Realität eingeebnet haben und also sowieso nur noch der (sich nie einstellende) "richtige Wille" als Problemstellung übriggeblieben ist, scheint sich jede Befassung mit den Krisenphänomenen als solchen zu erübrigen. Wenn sie vorkommen, dann nur als Bestandteil oder als Appendix der kritisierten Ideologien. Auch dies hat fatale Konsequenzen. So kann die "richtige" Kritik der ökologischen Ideologien, etwa der Naturmystik oder des Biologismus, der Verherrlichung des "deutschen" Waldes usw. plötzlich umschlagen in eine selber ideologische Negation der realen ökologischen Zerstörungsprozesse, die nur noch als Hirngespinste der kritisierten Ideologien erscheinen (so des öfteren bei Wolfgang Pohrt).
Am fatalsten schliesslich ist die Art und Weise, wie die programmatischen und praktischen Konsequenzen der als Hintergrundannahme weitergeschleppten Marxschen Theorie bei den linksradikalen Aufklärern erscheinen. Die Unkonkretheit bzw. Partikularität und Verstreutheit der Marxschen Aussagen über eine postkapitalistische, nicht mehr auf dem "Wert" beruhende Gesellschaft ist aber nicht einfach der Sache selbst geschuldet, sondern dem zu seiner Zeit noch relativ unentfalteten Entwicklungsstand des Kapitalverhältnisses. Dass eine "planwirtschaftliche" Basis bei den Marxisten selber in warenförmigen Kategorien gedacht werden konnte, obwohl dies der Marxschen Theorie grob widerspricht, gehört zu den Problemen dieser heute vergangenen "Unterentwicklung" des Kapitals auf seinen eigenen Grundlagen. Die linksradikalen Aufklärer haben sich diesem Problem nie gestellt, und dies ist ein wesentlicher Grund für ihre theoretische und realanalytische Schwäche sowohl wie für ihren fatalen Bezug zu einem oppositionellen und an Gesellschaftskritik interessierten Publikum.
Die (eher interne und vorausgesetzte als öffentlich thematisierte) Rechtfertigung für dieses Unterlassen ist eine ziemlich alte. Mit Marx wird ins Feld geführt, es könne nicht um "Rezepte für die Garküchen der Zukunft" gehen, erst einmal müsse das Kapital durch "richtigen Willen" beseitigt werden, und dann könne die Menschheit "praktisch" weitersehen. Eigentlich sei wohl alles weitere höchst "einfach", es müsse halt "nur" eine "Gebrauchswertproduktion" organisiert werden usw. Dieses selbstlegitimatorische Konstrukt muss als dürftig und blamabel bezeichnet werden.
Weder merken die famosen Aufklärer, dass sie dabei Kategorien negativer, bürgerlicher Vergesellschaftung blind weiterschleppen und bürgerliche Subjektformen letztlich auch für den "Sozialismus" voraussetzen, noch ist ihnen bewusst, dass zwischen (utopistischen) "Rezepten" und einer theoretischen bzw. programmatischen Konkretisierung ein gewaltiger Unterschied besteht. Die Aufhebung der bürgerlichen Vergesellschaftungsform kann nur aus den konkreten und realen Entwicklungen ihres praktischen Obsoletwerdens heraus gefasst werden, und dies impliziert ein nicht bloss abstrakt negatorisches Bewusstsein. Es muss eine Vorstellung davon entwickelt werden, keine utopistische, sondern eine aus der Reflexion krisenhafter und hochentwickelter kapitalistischer Praxis selbst gewonnene, wie Kontingenz und Komplexität der gesellschaftlichen Reproduktion vom Fetisch der Kapitalformen entkoppelt werden können. Es ist eine kindliche Vorstellung, dies sei "einfach" und würde sich quasi "wie von selbst" oder "rein praktisch" ergeben, sobald man es erst einmal "will". Fehlender Wille in der Gesellschaft und unkonkrete Zielvorstellungen eines bloss abstrakten, bekennerhaften, aufklärerischen Antikapitalismus bedingen sich vielmehr gegenseitig.
Die Naivität der linksradikalen Aufklärer in dieser Hinsicht, ein Produkt ihres enthistorisierten Theorieverständnisses, zeigt sich gerade in der Verschämtheit, mit der sie die eigentlichen Konsequenzen ihrem ideologiekritisch malträtierten Publikum gegenüber doch ziemlich bedeckt halten. Nicht einmal in ihrer abstrakt-allgemeinen Form können so die praktischen Konsequenzen programmatisch expliziert werden. Man muss schon wirklich ein alteingelesener Insider sein, um aus den ideologiekritischen Pamphleten "heraushören" zu können, dass vielleicht so etwas ähnliches wie eine radikale Kritik und Abschaffung der Ware-Geld-Beziehungen "gemeint" sein könnte. In letzter Konsequenz entpuppt sich so das vermeintlich immer schon gewusste "Richtige" als leere Schachtel mit einer bloss verheissungsvoll raunenden Aufschrift. Auch hier zeigt sich die Verwandtschaft mit "orthodoxen" Agitationssekten wie der Marxistischen Gruppe. Wohl wissend, dass der kritisierte Alltags- und Praktikerverstand gerade an diesem Punkt endgültig ausrastet, wird ihm plötzlich trotz aller Scheinradikalität ein entscheidendes Zugeständnis gemacht.
An diesem Punkt angelangt, zeigt sich, dass das Verhältnis von ideologiekritisch reduzierter Publikumsbeschimpfung und Publikum wie jede Hassliebe ein Moment von Identität besitzt. Gerade dieses aber darf auf keinen Fall zum Vorschein kommen. So bietet sich, hat der Tropfen resignativer (schein)radikaler Kritik den Stein des eigenen Bewusstseins lange genug gehöhlt, bei passender Gelegenheit die Umpolung des ganzen prekären Verhältnisses an. Die Leute mit falschem Bewusstsein haben lange genug ihre Ohren vor dem "Richtigen" verschlossen, jetzt geschieht es ihnen recht, wenn die Kritiker selber zur herrschenden Macht übergehen und diese auffordern, die unausstehlichen Pazifisten und Betroffenheitsmoralisten endlich hinter Schloss und Riegel zu setzen. Der Golfkrieg war die ideale Ausgangslage, diesen ideologischen Salto zu vollziehen.


6.

Der ganze Komplex hat aber auch seine sozusagen "metatheoretische" Seite, die keineswegs unerheblich ist. Es sind nicht nur die enthistorisierten marxistischen essentials, die als unbefragte Hintergrundannahmen stillgestellt wirken, sondern auch eine noch tieferliegende Schicht des Denkens. Die linksradikalen Aufklärer betrachten diese Bezeichnung nämlich selber nicht als pejorative, sondern eher noch als Ehrennamen. Aufklärung (womöglich noch eine als "radikal" attributierte) ist ihnen der helle Aufgang des Denkens und der Emanzipation, beschmutzt zwar durch die bürgerliche Realgeschichte, aber als ein zu rettendes (wenn auch vielleicht rettungslos verlorenes) Versprechen aufrechtzuerhalten, und sei es bloss in einem Nachtrauern, das Gift und Galle spritzt gegen das "Schlechte", das "Unrecht" und gegen eine Menschheit, die sich dem besagten "Richtigen" zu verweigern scheint.
Nun wäre es aber naiv, theoretisch den Begriff "Aufklärung" im Sinne eines Alltags-Sprachgebrauchs zu verwenden, wie etwa die "Aufklärung" darüber, dass es doch nicht der Storch ist, der die kleinen Kinder bringt. So gesehen wäre Aufklärung ganz platt immer schon positiv bestimmt, als einfache Lust an der Erkenntnis von vorher nicht Gewusstem, das selbst entdeckt oder von den Wissenden an die Unwissenden weitervermittelt wird. Schlicht also, wie Hermann Gremliza es ausgedrückt hat, als unbeirrte Nachfrage, "wie die Kuhscheisse aufs Dach gekommen ist". Aber "Aufklärung" ist ein wesentlich historisches Phänomen, nicht der Aufgang des Denkens schlechthin, sondern des modernen bürgerlichen Denkens, und nicht der Aufgang des humanen Selbstbewusstseins, sondern gerade umgekehrt der höchsten Form des Selbst-Unbewusstseins. Wie es sich bei der Gesellschaftsformation totalisierter Ware-Geld-Beziehungen, die zusammen mit der "Aufklärung" entstand, keineswegs um eine Aufhebung der Geschichte aus der Unvollkommenheit in die Vollkommenheit handelt, sondern um ein destruktives und prekäres historisches Durchgangsstadium, so ist auch das dazugehörige aufklärerische Denken ein historisch beschränktes, das heute zusammen mit der zugrundeliegenden Gesellschaftsbeziehung an seine Grenzen stösst.
Nun könnten einige der linksradikalen Aufklärer protestieren und behaupten, dies sei ihnen alles nichts Neues (ausgenommen vielleicht die Aussage über das heute erreichte Endstadium, mit der sie meistens nicht einverstanden sind, weil sie dem Kapital aus sich heraus eine ewige Reproduktionsfähigkeit zutrauen). Diese Behauptung dokumentiert aber nur wieder, wie wenig die Aufklärer über sich selbst aufgeklärt sind. Ihre falsche Selbsteinschätzung speist sich aus zwei Quellen. Zum einen sollen es wohl jene marxistischen essentials sein, die angeblich schon den Kern einer Kritik der "bürgerlichen" Aufklärung enthalten. Da aber die marxistischen Hintergrundannahmen nicht kritisch im Sinne der obigen Formel vom "doppelten Marx" aufgelöst sind, kommen sie in Wirklichkeit auch nicht über das Aufklärungsdenken hinaus, das nicht bloss attributiv, sondern wesenhaft an ihm selbst bürgerlich ist.
Der Arbeiterbewegungsmarxismus, das immanente und heute vergehende Moment der Marxschen Theorie, hat das Aufklärungsdenken nicht überwunden, sondern bloss verdoppelt in einem "zweiten Durchgang". Nicht Freiheit und Gleichheit als solche, als warenförmige, fetischistische Abstraktionen der bürgerlichen Vergesellschaftung wurden kritisiert, sondern ihre vermeintlich immer noch ausstehende Vollendung eingeklagt (vgl. dazu ausführlich den Artikel von Peter Klein in diesem Heft). Nicht die bürgerliche Rationalität als solche wurde überwunden, sondern nur ihre "proletarische" Umpolung versucht. Wie die Ware als Basisform der Gesellschaft unangetastet blieb, so die okzidentale ratio als Basisform des Denkens (und übrigens das zwangsheterosexuelle Patriarchat als Basisform der Geschlechtsbeziehung). Die bürgerlichen Formen verdoppelten sich nur als Scheinalternative im "proletarischen" Gegenattribut, das nichts als die ideologische Verhimmelung einer immanenten historischen Durchsetzungsbewegung des Kapitals war. Wenn diese auch dem Marxismus noch zugehörigen bürgerlichen Basisformen heute an sich selber zerbrechen, so ist damit freilich nicht ihre Aufhebung verbunden, sondern das Zerbrechen der Zivilisation überhaupt. Eine bewusste Aufhebung kann jedoch nicht mehr in den immanenten Formen einer "alternativen, wahren, eigentlichen" usw. Aufklärung gedacht werden, sondern nur noch als deren radikale Kritik an ihr selber.
Die zweite Quelle der falschen Selbsteinschätzung linksradikalen Aufklärertums aber ist natürlich ihr ehrerbietiger und von vielen Verbeugungen begleiteter Bezug auf die Kritische Theorie. Aber weder hat die "Dialektik der Aufklärung" Horkheimers und Adornos das Problem gelöst, noch wird sie andererseits von ihren linksradikalen Nachlassverwaltern überhaupt ernst genommen. Bekanntlich zerfällt die Kritische Theorie in zwei hauptsächliche Entwicklungsphasen: in eine frühere, die sich noch relativ eng an die essentials des Arbeiterbewegungsmarxismus hielt (auch damals schon eher als nicht mehr problematisierte Hintergrundannahmen), und in eine spätere, die mit der "Dialektik der Aufklärung" und der "Negativen Dialektik", dem letzten grossen Werk Adornos, eine resignative Abwendung von den früheren Hoffnungen vollzog und die bürgerliche Welt in die Barbarei übergehen sah.
Die linksradikalen Nachlassverwalter seit 1968 haben die hinterlassene Problemstellung aber nicht selbständig weitergedacht und kritisch aufgelöst, sondern bloss die beiden Entwicklungsphasen der Kritischen Theorie selbstlegitimatorisch gegeneinander ausgespielt. Gegen das naive, mit "falschem Bewusstsein" durchtränkte "Machen" der praktischen Bewegungen wurde die "Dialektik der Aufklärung" ins Feld geführt, aber bloss äusserlich, als vornehm brabbelnder und herablassender Hinweis, dass das Verhängnis eh nicht aufzuhalten und alles Tun eitel sei, ja sogar in seiner vorliegenden Form das Verhängnis noch befördere. Gegen den völligen Rückzug ins Privatleben und in die kulturkritische Geschäftigkeit und gegen eine Abwendung von der Marxschen Theorie wurden hingegen umgekehrt die früheren, noch "marxistischeren" Positionen der Kritischen Theorie in Stellung gebracht. Aus dieser Hase- und Igel-Konstellation heraus konnten sich die linksradikalen Aufklärer vermeintlich in jener unangreifbaren Position publikumsbeschimpfender Ideologiekritik gemütlich einrichten. Immer mit dem schmerzlichen Abwinken des unverstandenen "Wissenden" natürlich.
Es kommt aber darauf an, diese Konstellation endlich in die Luft zu sprengen. Ein Zurück hinter die "Dialektik der Aufklärung" zu den marxistischen essentials, die mit dem Gestus eines "trotz alledem und alledem" müde weitergeschleppt werden, muss mit aller Konsequenz denunziert werden. Freilich hat die "Dialektik der Aufklärung" das Aufklärungsdenken immer noch nicht bis zu Ende kritisch aufgelöst, und gerade daran wäre weiterzudenken. Horkheimer und Adorno überwinden die Basis der bürgerlichen ratio noch nicht. Für sie besteht die "Dialektik der Aufklärung" hauptsächlich darin, dass das (als solches nicht denunzierte und kritisch aufgelöste) ideologische Versprechen der Aufklärung durch den historischen Prozess der bürgerlichen Moderne selbst unmöglich gemacht wird. Gerade die "alternative" Einlösung durch das "proletarische" Attribut wird nicht so sehr als an sich bürgerliche Illusion und Bestandteil der bürgerlichen Modernisierung selber begriffen, sondern als verpasste und unwiederbringlich verlorene Möglichkeit beklagt. Was im linksradikalen Durchschnittsbewusstsein von dieser Argumentation hängengeblieben ist, scheint die Formel von der "Integration der Arbeiterklasse" zu sein, die durchbrochen werden müsse usw.
Weil das Aufklärungsdenken noch nicht im Kern kritisiert, sondern vielmehr immer noch affirmiert wird, entsteht aber die Möglichkeit einer reformistischen und schliesslich militant bürgerlichen Verlaufsform. Zwar ist das Verhängnis letztlich nicht aufzuhalten, aber irgendwie muss man ja weitermachen. Wenn das vermeintlich Beste nicht zu haben ist, jene "alternative" Verwirklichung der bürgerlichen Ideale durch das leider abgeschiffte Proletariat, dann muss man sich eben um das Zweitbeste kümmern, also um einen möglichst moderaten, sozialverträglichen, "zivilitären" usw. Kapitalismus.
Diese Konsequenz, die schon bei Horkheimer und Adorno selber angelegt und teilweise verwirklicht war (bei ersterem mehr und deutlicher als bei letzterem), wurde von den Verfallsprodukten der Neuen Linken spätestens im Verlauf der 80er Jahre grösstenteils vollzogen. Je mehr aber das bürgerliche Weltsystem, dem sie sich nun auf Gedeih und Verderb an den Hals geworfen haben, auf eine von ihnen nicht mehr entzifferbare neue Art und Weise erschüttert wird, desto militanter und hysterischer klammern sie sich an den einst äusserlich bekämpften und immer noch unbegriffenen bürgerlichen Verkehrsformen fest und fordern die vermeintlichen Ordnungsmächte der Zivilisation zum Hauen und Stechen gegen die barbarischen Reaktionen der Verlierermassen auf. Die hereinbrechende Barbarei wird mit selber barbarischen Mitteln bekämpft und dadurch befördert, weil jede fundamentale Kritik an jener okzidentalen Zivilisation, die diese Barbarei selber hervorbringt, unmöglich geworden scheint und aufgegeben worden ist.
Die linksradikalen Aufklärer und Ideologiekritiker mit ihrer falschen Selbsteinschätzung haben diese Entwicklung lange Zeit mit ebenso falscher Verachtung gestraft und viel Platzpatronen-Munition auf Habermas und die politischen "Verräter" abgefeuert. Aber sie haben das Aufklärungsdenken eben im Kern selber nicht überwunden und die Widersprüche der Kritischen Theorie bloss bis zur Unkenntlichkeit verbacken. Statt die Einsichten der "Dialektik der Aufklärung" weiterzuentwickeln und über das scheinbar ausweglose Dilemma hinauszukommen, sind sie bloss dahinter zurückgefallen. Während sie sich im Besitz einer wesentlichen "Wahrheit" wähnten und die anderen ein ums andere Mal abstraften, merkten sie gar nicht, wie ihre eigene Substanz immer brüchiger wurde. Mit ihrem furiosen Übergang ins Lager der Vielgeschmähten durften sie sich selber überraschen.
Die verborgenen Identitäten waren eigentlich auch auf der politischen Grundsatzebene längst sichtbar. Wenn die linksradikalen Aufklärer eine von den vielen bloss äusserlichen und attributiven Scheinalternativen der bürgerlichen Formbestimmung stets ganz unbefangen im Munde geführt haben, dann war es der Begriff der Demokratie. Statt diese als solche zu kritisieren, was schon die beiden darin enthaltenen unkoscheren Bedeutungsinhalte nahelegen könnten ("Volk" und "Herrschaft"), gingen sie stets gut sekundär-aufklärerisch mit der Chimäre einer emanzipatorischen, alternativen, "eigentlichen" und "wahren" oder vielleicht gar revolutionären Bedeutung hausieren. Das Ideal gegen die Wirklichkeit auszuspielen, dieser Uralt-Kalauer des Aufklärungsdenkens geht aber nur in Schönwetterzeiten der Demokratie, die als solche und an ihr selber sofort die Fratze zeigt, wenn die ihr zugrundeliegende fetischistische Vergesellschaftungsform an Funktionsfähigkeit verliert. Die Hurrademokraten der Golfintervention haben nur die ganz gewöhnliche Blindheit der Demokratie gegen sich selbst zelebriert. Die politische Schiene war also längst gelegt, auf der die linksradikalen Aufklärer hinübergleiten konnten zur bürgerlichen Allgemeinheit der Notstandsdemokraten. Dass der Kreuzzug mit der verblichenen Weihe des Jahres 1941 versehen wurde, ändert nichts an seinem wesentlichen Charakter.


7.

Erst recht zeigt sich die linksradikale Befangenheit im Aufklärungsdenken am letztlich unkritischen Gebrauch des okzidentalen Begriffs der Vernunft. Wie das Aufklärungsdenken alle seine wesentlichen Momente aus der Geschichte heraushebt und als enthistorisierte Wesenheiten von Humanität schlechthin begreift, so auch das zentrale Moment jenes Vernunftbegriffs. Die der fetischistischen Vergesellschaftungsform entsprechenden Denkformen scheinen menschliche schlechthin zu sein, und Geschichte scheint sich überhaupt nur in diesen Formen zu bewegen, von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit (oder, in der pessimistischen Variante, von der Hoffnung zur ontologischen Enttäuschung). Wie die Re-Historisierungsbemühung des Marxismus an allen zentralen Wesenheiten der Aufklärung gescheitert ist, so erst recht am Vernunftbegriff, der in sein unaufgehobenes bürgerliches Erbe überging.
Zwar ist es historisch-empirisch längst kein Geheimnis mehr, dass dieser okzidentale Vernunftbegriff zusammen mit der gesellschaftlichen Abstraktion des zur Münze fortentwickelten Geldes in der westlichen Antike entstanden ist und seither wie ein Kettenhund jeden historischen Durchsetzungsschub der warenförmigen Fetisch-Konstitution verbellt hat: von den "vernünftigen" Abstraktionen des Römischen Rechts über das Christentum mit seinem "Kultus des abstrakten Menschen" (Marx) und über die Renaissance (eben die Wieder-Geburt der antiken "Wert"-Abstraktion auf höherer Entwicklungsstufe) bis hin zu jener ominösen "Aufklärung", die den Prozess der kapitalistischen Moderne eingeläutet hat. Aber aus der empirischen Geschichtlichkeit der "Vernunft" werden keine Konsequenzen gezogen. Schon Kants Vernunftkritik operiert mit enthistorisierten menschlichen Verstandes- und Verhaltenskategorien schlechthin. Die historisch-gesellschaftliche Dimension des Erkennens bleibt ausgeblendet (ebenso wie der geschlechtsspezifische "männliche" Charakter der "Vernunft"). Wollte man die vom Marxismus entschärfte Marxsche Fetischismuskritik ernst nehmen, müsste eine Kritik der fetischistischen Vernunft geschrieben werden, die den Zusammenhang von bürgerlicher, warenförmiger Fetisch-Konstitution und jener scheinbar strahlenden apollinischen Vernunft enthüllt.
Wie auch in anderer Hinsicht, so war der Marxismus dazu deswegen nicht in der Lage, weil er ja noch zur Durchsetzungsgeschichte der bürgerlichen Form selber gehört. Jede radikale Kritik der basalen Vergesellschaftungs- und Denkformen hätte immer nur zu jenen älteren und roheren Formen zurückführen können, deren Überwindung als tatsächliche Emanzipationsgeschichte des bürgerlichen Zeitalters (zu dem auch die Arbeiterbewegung noch gehört) begriffen werden kann. Es war richtig und notwendig, nicht hinter das Aufklärungsdenken zurückzufallen; aber gerade deswegen konnte es lange Zeit auch noch gar nicht "nach vorne" überwunden werden. Die Aporien der Kritischen Theorie stellen vielleicht einen Übergangszustand dar. Heute aber ist jener point of no return erreicht, an dem die global gewordene Warenform zerbricht und damit unwiderruflich zusammen mit dem Aufklärungsdenken überhaupt auch jener okzidentale Vernunftbegriff zur Disposition steht.
Niemand anders als unsere linksradikalen Aufklärer aber sind es, die nicht nur mit leeren Händen, sondern sogar ohne jedes Problembewusstsein dastehen. Wie sämtliche vermeintlichen Alternativ-Attribute der Aufklärung in sich zusammenfallen, wie die wahre oder proletarische Demokratie sich als ideologische Illusion entpuppt, so auch ein wahrer oder kritischer Begriff der okzidentalen Vernunft. Die kritische Vernunft blamiert sich an ihr selber und enthüllt ihre Verwandtschaft mit jenem "kritischen Rationalismus" des bürgerlichen positiven Denkens, dessen Kritik sie immer nur ideologisch in derselben historisch-gesellschaftlichen Hülle zu leisten imstande war. Jetzt zerreisst diese Hülle, und eine ganz neue und andere Aufgabe wird sichtbar, die sich lange vorbereitet hat.
Von Anfang an hat der "Irrationalismus" als abgespaltenes und darum in seiner Einseitigkeit fürchterliches Moment die bürgerliche Vernunft begleitet: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", dieses Bild Goyas kann doppelt interpretiert werden. Einmal platt aufklärerisch, dass die Vernunft nicht schlafen und als wachende die drohenden Ungeheuer der Irrationalität vertreiben soll (durch das Verbrennen der Hexen? durch die Guillotine der Französischen Revolution? durch hurrademokratische Kreuzzüge gegen den islamischen Fundamentalismus?). Und einmal radikal anti-aufklärerisch, dass die Vernunft an ihr selber schläft, eine an sich schlafende, selber fetisch-konstituierte Unbewusstheit ist, die aus sich selbst heraus die Ungeheuer gebiert und an sich selbst das wahre Ungeheuer ist.
Dass der "Irrationalismus" zur Aufklärung gehört, dass er die andere Seite der Vernunft und diese also selber irrational ist, dies kann der aufklärerische Verstand der linksradikalen Ideologiekritiker wie das bürgerliche Bewusstsein überhaupt keinesfalls zugeben. Vernunft, jedenfalls die als kritisch attributierte, kann und soll immer nur der äussere Gegenpol des zu kritisierenden "Irrationalismus" sein. Wenn eine Komplementarität von ratio und Irrationalismus zugegeben wird, dann immer nur im Hinblick auf die sogenannte technische Rationalität, auf eine angeblich instrumentalistisch und funktionalistisch verkümmerte Vernunft. Auch hier also die Verdoppelung in Ideal und schlechte Wirklichkeit: der destruktive, funktionalistische Reduktionismus wird nicht als das Wesen der westlichen Vernunft selber, sondern als zu korrigierender "Fehler" bestimmt.
Die Welt des Kapitals wäre folglich schlecht, nicht weil sie okzidental vernünftig, sondern weil sie gerade "noch" unvernünftig ist. Die wahre, eigentliche Vernunft wäre in Gestalt vernünftiger Zustände erst herzustellen usw., also die alte Leier. Die linksradikalen Aufklärer und Nachlassverwalter müssen aber die Augen davor verschliessen, dass einige noch unklar tastende Gedanken der "Dialektik der Aufklärung" und der "Negativen Dialektik" in gefährliche Berührungsnähe zum stets verdammten "Irrationalismus" zu führen scheinen. Oder wenn sie dies bemerken, dann dürfen sie doch keine Konsequenzen daraus ziehen, um ihre mühsam bewahrte Identität nicht zu verlieren.
Wenn aber die okzidentale Vernunft nicht das ist, was sie zu sein vorgibt, auch in ihren "kritischen" Varianten nicht, dann hat der "Irrationalismus" eine tiefe Wahrheit für sich, die genau die halbe Wahrheit und damit die ganze Unwahrheit der modernen bürgerlichen, okzidentalen Fetisch-Konstitution anzeigt: nämlich die verzerrte Wahrheit des Abgespaltenen, des in der fetischistischen "Wert"-Abstraktion nicht aufhebbaren Sinnlichen, die im Spiegel der Fetisch-Vernunft nicht entzerrt werden kann. Der als historischer Schatten ewig bekämpfte, weil immer noch unbegriffene Faschismus bezog seine Kraft gerade aus diesen komplementären und diffundierenden Momenten des fetischistischen Bewusstseins in der spezifischen Konstellation eines historischen Durchgangsstadiums.
Dass der Arbeiterbewegungsmarxismus selber dieser Fetisch-Konstitution angehört, bewies er auch in den Formen seiner Faschismusanalyse und -Kritik. In dieser wiederholen sich die Grundmotive des mit sich selbst zerfallenen bürgerlichen Bewusstseins, ohne zur Aufhebung zu gelangen: Entweder wurde der Faschismus im Namen von westlicher Zivilisation, Aufklärung und Vernunft verdammt, weil andere Massstäbe nicht zu existieren schienen, oder es wurde umgekehrt sozusagen aus taktischen Gründen der Massenagitation ein vermeintlich "emanzipatorischer Irrationalismus von links" gefordert (so ansatzweise bei Ernst Bloch). Dass der Erfolg des Faschismus gerade in der bewusstlosen Virtuosität bestehen könnte, mit der er die komplementär-gegensätzlichen Momente der bürgerlichen Vernunft gegeneinander ausspielte, musste diesem Marxismus verschlossen bleiben, weil er die Basis der Warenform nicht kritisch zu überwinden vermochte. Von einem "vernünftig" warenfetischistischen Standpunkt aus aber behält der Antifaschismus immer etwas Unbefriedigendes, nicht zu Ende Geführtes, ein letztes Moment von Unglaubwürdigkeit. Die Warenseele, und sei es die kritisch-marxistische, erblickt im Faschismus immer nur ihr eigenes, grauenhaft verzerrtes Spiegelbild.
Wenn die Ungeheuer von der Vernunft selbst geboren sind, dann letztlich auch der Holocaust. Diese schmerzliche Wahrheit taucht im Bewusstsein der linksradikalen Aufklärer zwar durchaus wie eine Leuchtspur kurz auf, jedenfalls bei den eng an die Kritische Theorie anknüpfenden, aber nur, um sofort wieder verdrängt zu werden. Das Hin- und Herspringen zwischen den Aporien der Kritischen Theorie führt aus der Gefangenschaft im okzidentalen Vernunftbegriff nicht hinaus. Die Fetisch-Konstitution der bürgerlichen Welt wird nicht bis zum Grund ausgeleuchtet und kritisiert.
So bleibt nichts übrig, als in einer logischen Zeitschleife immer wieder im Namen derselben Vernunft gegen dieselbe Unvernunft zu Felde zu ziehen. Die ewige Wiederkehr des Faschismus signalisiert den totalen Geschichtsverlust. Der Irrationalismus wird vernünftig "richtig" und fachgerecht kritisiert, das heisst falsch, nicht bis zur radikalen Kritik der Vernunft selber vordringend. Die irgendwie kritisch verstandene okzidentale Rationalität wird zum blind vorausgesetzten Ausgangspunkt einer Kritik ihres dunklen Anderen (d.h. eigentlich ihrer selbst), ohne zu begreifen oder konsequent durchzuhalten, dass die Kritik der Rationalität selber, nicht bloss der "technischen", die Voraussetzung für eine Kritik des "Irrationalismus" wäre. So bleiben all die Polemiken gegen die Grünen und Alternativen, gegen die Friedensbewegung und den Feminismus bloss abstrakt "richtig", aber wirkungslos, weil diese "Richtigkeit" an ihr selbst unwahr bleibt. Das Entscheidende der Kritik wird gar nicht gesagt, und so ist sie bestenfalls scheinradikal.
Solange sich diese Kritik bloss in einem ideologiekritischen Bezugsrahmen bewegte, konnte sie noch leicht als linksradikale Abstrafung der bürgerlichen Bewegungs-Sünden erscheinen. Aber der Umschlagspunkt war absehbar. Die Debatte der schon früher zur Hurrademokratie Konvertierten über das Übel des "Fundamentalismus in der modernen Welt" hat den Weg vorgezeichnet. Es war auch kein Zufall, dass in diesen Debatten schon gelegentlich das Radikale an der Marxschen Ökonomiekritik (deren eigentliche Konsequenzen immer schon dunkel geahnt waren) auf eine Stufe gestellt wurde mit dem islamischen Fundamentalismus oder dem katholischen Rigorismus des Opus Dei.
Die okzidentale Rationalität von Markt und Demokratie wird also zum letzten Wort nicht nur einer Cora Stephan oder eines Elmar Altvater, sondern auch unserer (inzwischen schon ein wenig ex-) linksradikalen Aufklärer. In demselben Masse, wie die appollinische Sonne real erlischt, wird ihre Leuchtkraft gerade von ihren einst scheinbar verlorenen Kindern endlich vorbehaltlos gerühmt. Das Zerbrechen der bürgerlichen Globalvergesellschaftung macht folgerichtig die aufklärerische Linke zu zähnefletschenden Vorneverteidigern des Westens, der sich alle seine Ungeheuer inclusive Saddam Hussein selbst geheckt hat. Auch der islamische Fundamentalismus ist kein finsteres Relikt eines nichteuropäischen Mittelalters, sondern das ureigenste Produkt der Verwestlichung, der Modernisierung, des Eindringens okzidentaler Vernunft in Räume, die sie seit langem barbarisch beherrscht, aber heute endgültig nicht mehr real integrieren kann.
Statt endlich durchzustossen zur fundamentalen Kritik der bürgerlichen, okzidentalen Fetisch-Konstitution, um über die zerbrechende Moderne wirklich hinauszukommen, führt die Vernunft ihren letzten Kreuzzug gegen sich selbst. Die Rechtfertigung dafür ist wie immer das Gerede vom "kleineren Übel", obwohl alle denkbaren Übel inzwischen eine Dimension angenommen haben, die eine solche Unterscheidung lächerlich werden lässt. Es ist nur noch geschmacklos, ein "demokratisches Amerika" gegen die deutschen Irrationalismen der Friedensbewegung ins Feld zu führen, wie es perfide ist, die Kritik des Antisemitismus für einen Kreuzzug gegen die Verlierer-Regionen des Weltmarkts und ihre um sich schlagenden Populationen zu instrumentalisieren.
Aber dieser Krieg kann auf Dauer nicht gewonnen werden, schon gar nicht durch die zuströmenden traurigen Hilfstruppen der demokratisch-aufklärerischen Linksradikalen. Diese "schönen Seelen" der westlichen Vernunft werden durch ihre letzten Piepser in einer Welt des Schreckens niemanden mehr erschrecken. Dass die Aufklärung in allen ihren Ausgeburten wie an ihrem Eingang auch an ihrem Ausgang das "Ende der Geschichte" verkündet, wird ihr eigenes Ende nicht hinausschieben. Die beschwörende Verewigung von Ware, Geld, Markt, Demokratie und Vernunft ist eine blosse Illusion. Es wird die letzte Illusion des westlichen Denkens über sich selbst und seine eigene Grundlage sein.