Robert Kurz
Die Krise der Gewerkschaftsbewegung und des Klassenkampfs
Es scheint wie verhext: Verarmung und Verelendung auf der ganzen Welt, Abermillionen von Arbeitslosen, brutaler Sozialabbau selbst in den reichen Metropolen, Aufkündigung der sogenannten sozialen Marktwirtschaft durch Regierung und Unternehmer in der BRD - und kein Klassenkampf, nirgends. Selbst der Pariser Dezember war eher ein letztes gewerkschaftliches Aufbäumen. Hierzulande wird wohl sogar das Nachhutgefecht des Klassenkampfes ausbleiben oder zur Farce geraten. Nicht einmal den Reformismus gibt es mehr. Von den altgedienten Kanalarbeitern der SPD bis zu den grünen Realos sind sämtliche Ex-Reformisten sich einig, dass "tiefe Einschnitte" in den Sozialstaat "unvermeidlich" seien. Es geht nur noch um das Wie. Der Begriff der Reform ist inzwischen vom marktliberalen Neoliberalismus besetzt; unter "Reform" wird dabei eine "Deregulierung" verstanden, die auf frühkapitalistische Verhältnisse hinausläuft. Und mit zynischem Grinsen erklärt man den Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und sozialen Initiativen, sie seien "reformunfähig" und müssten sich beeilen, mit dem Lauf der Welt Schritt zu halten. Die winzigen Reste des alten Linksradikalismus halten die alte rote Fahne hoch und erklären sich mit diesem Gang der Dinge nicht einverstanden; aber sie können ihn nicht mehr erklären. Es ist ziemlich schwach und unglaubwürdig, wenn eine globale strukturelle Entwicklung lediglich mit der "Willkür" und dem Übermut der sogenannten Herrschenden begründet wird. Und wieso gibt es fast keine Gegenwehr? Warum hat sich der Reformismus urplötzlich in Luft aufgelöst? Offenbar ist eine gesellschaftliche Grenze erreicht. Dass dabei das theoretische Instrumentarium der traditionellen Linken versagt, hat sich schon beim Untergang des Realsozialismus gezeigt. Das ist ein wesentlicher Grund für die Schwäche der Systemkritik. Denn die alten linken Zielsetzungen für eine gesellschaftliche Umwälzung wurden historisch lächerlich gemacht, ohne dass darauf eine Antwort auch nur gesucht würde. Der Sache auf den Grund zu gehen, müsste vielleicht die durchschnittliche linke Identität in Frage stellen. Es könnte nämlich sein, dass der gute alte Klassenkampf selber noch Bestandteil
der bürgerlichen Welt war, und dass jetzt das gemeinsame historische Bezugssystem
von "Kapital" und "Arbeit" an Grenzen stösst. Wenn die "Arbeiterklasse" selber
ein bürgerliches Sozialsubjekt oder die "Charaktermaske" (Marx) des variablen
Kapitals ist, dann wird verständlich, warum der Klassenkampf gerade an de Systemgrenzen
verstummt. Denn er konnte nie mehr sein als ein Verteilungskampf und ein Kampf
um die Plätze innerhalb des warenproduzierenden Systems, das alle Beziehungen
in Geldbeziehungen verwandelt hat. Auch der Realsozialismus war ja nichts anderes
als die Gesellschaft einer staatsbürokratischen Moderation von flächendeckenden
Ware-Geldbeziehungen bei den Diese Krise neuen Typs verweist auf das Ende der modernen Warengesellschaft
und einer allgemeinen Reproduktion in der Form des Geldes. Durch die mikroelektronische
Revolution der Produktivkräfte wird erstmals in der modernen Geschichte mehr
Arbeitskraft überflüssig gemacht, als duch Ausdehnung der kapitalistischen
Produktionsweise und Märkte vom Kapital reabsorbiert werden kann. Die früher
bloss zyklische Arbeitslosigkeit wird zum massenhaften Dauerzustand im Weltmassstab.
Damit zeichnet sich aber nicht bloss der soziale Bankrott der Marktwirtschaft
ab, sondern auch die ökonomische Grenze der Einer sozialen Bewegung, die sowieso eine ganz andere Form der Vergellschaftung anstrebt, könnte das relativ egal sein. Die organisierten Geldsubjekte aber schrecken logischerweise vor der Destruktion ihrer eigenen gesellschaftlichen Identität zurück. In der Krise des Geldes müssen sie dann entweder Zugeständnisse machen, oder sie versuchen diese Krise auf andere abzuwälzen (Asylantenhetze, Stigmatisierung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern usw.). Das System von "Arbeit" und Geld soll unter allen Umständen gerettet werden. Daher die weitverbreitete Zustimmung zu Deregulierung, Sozialabbau und Ausgrenzungspolitik, frei nach dem Motto: "Verschon mein Haus, zünd andere an". Eine neue Gesellschaftskritik und soziale Bewegung werden sich dagegen erst mühsam von den alten Vorstellungen befreien und einen grundsätzlich anderen Diskurs führen müssen. Dabei wird auch die alte Dichotomie von "Reform" und "Revolution" gegenstandslos. Der linke Revolutionsbegriff kam ja nie über das abstrakte jakobinische Schema der bürgerlichen Revolution hinaus (Parteigründung, politischer Klassenkampf, Machteroberung, Planung der Waren- und Geldökonomie von oben qua "Arbeiterstaat"). Dieses Schema wird nie mehr einen Hund vom Ofen locken. Eine Doppelstrategie von systemimmanentem Abwehrkampf und Entwicklung einer neuen Zielperspektive über die Warengesellschaft hinaus muss von vornherein lebensweltlich verankert sein und eigene soziale Gratifikationen abwerfen. Kein Mensch wird sich mehr mit politischen Abstraktionen und Vertröstungen auf eine imaginäre Zukunft abspeisen lassen. Wenn die Doppelstrategie wirksam werden soll, ist ein vermeintliches "Aussteigertum" alten Stils ausgeschlossen. Vielmehr bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Vermittlung, die für eine Transformationsperiode ein Bein auf dem Boden von Lohnarbeit und Sozialstaat behält. Das Modell von Arbeitszeitverkürzung auch ohne Lohnausgleich (aber bei anteiliger sozialer Absicherung) ist dabei doppelt zu verteidigen: zum einen gegen einen Häuslebauer-Altlinksradikalismus, der dieses Modell als Verzichtslösung denunziert, obwohl es ganz klar mehr "disponible Zeit" als Gratifikation bietet; zum anderen gegen die kapitalisitschen Hardliner (auch in den Gewerkschaften), die auf die Zumutung eines Teilzeitlohnes für Vollzeitarbeit oder gar auf kommunale Zwangsarbeit hinauswollen (was die Arbeitsgesellschaft auch nicht retten kann). Freilich macht dieses gleitende, nur für einen krisenhaften Transformationsprozess
denkbare Modell keinen Sinn, wenn die gewonnene "disponible Zeit" nicht mit
neuen autonomen Reproduktionsformen jenseits von Markt und Staat verbunden wird.
Eine genossenschaftliche und alternative Produktions- und Lebensweise ist im
Gegensatz zur Vergangenheit nicht mehr als "alternative Marktteilnahme" von
warenproduzierenden Betrieben denkbar, die lediglich in ihren Binnenstrukturen
"herrschaftsfrei" agieren wollen. Solche Versuche sind allesamt von der Logik
des Geldes überrollt worden, sie endeten in aller Regel als stinknormale bürgerliche
Klitschen oder in der Totalabhängigkeit von Staatsknete, der nun die Luft abgedreht
wird. Stattdessen ginge es heute darum, genau umgekehrt Teilmomente der Natürlich geht das alles nicht im luftleeren Raum. Ein Kampf um Ressourcen
(z.B. mangels Rentabilität brachliegende Ländereien, Wohnungen, Werkstätten,
Produktionsmiitel) könnte sich abzeichnen, der zu einer neuen Konfrontation
mit dem absurd werdenden Privateigentum führt. Vielleicht waren die jüngeren
Hausbesetzer- und Landbesetzer-Bewegungen ein Vorschein davon. Auch ein daraus
entstehender Kampf mit der Macht wird nicht mehr der alte sein, d.h. nicht mehr
die Perspektive eines blossen Machtwechsels, sondern die Entmachtung der Macht
beinhalten. Während der alte Arbeiterstreik obsolet wird, bietet Alles Utopie? Möglichkeiten gibt es. Aber die Schwelle ist das Problem, dass
in den letzten 100 Jahren die Potenzen der produktiven Kooperation vollständig
an das hybride System von Markt und Staat abgegeben worden ist. Die durch das
Geld entmündigten Massen haben sich angewöhnt, nur noch auf dem Wege der indirekten,
und das heisst der politische Organisation ihre bürgerliche Geld- und Rechtsinteressen
repräsentieren zu lassen. Damit allerdings ist es bald für immer vorbei, weil
die Politik jeglicher Couleur nur noch den Notstand verwalten und auf dem Altar
der Systemlogik die sozialen Interessen abschlachten kann. aus: Die Wage (7+8/96) |