Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Jörg UlrichKleine magisch-religiöse Wortkunde des KapitalismusErlös - die immanenzreligiös gewandelte Form des christlichen Erlösungsversprechens. Mit dem Erlös wird die einstige Hoffnung auf ewige Seligkeit zur Unendlichkeit der Geldvermehrung, also zu einem rein weltimmanenten Geschehen mit dem einzigen Zweck, sich als eben dieses Geschehen in der Art eines ewigen Kreislaufs in die Leere einer unabsehbaren Zukunft hinein zu reproduzieren. Der Erlös ist die in Permanenz gesetzte Gewinnung von G' aus G über W, ein prinzipiell unabschließbarer Prozess, in welchem Erlösung im herkömmlich religiösen Sinn, nämlich als Überwindung der Zeit, sich in die Verewigung von Vergänglichkeit verkehrt, indem die Aufhebung der Zeit unter das Diktat ihrer maßlosen Beschleunigung gezwungen wird. Die im Verwertungsprozess stattfindende Rückverwandlung der fortlaufend produzierten überflüssigen Zeit in notwendige ist verewigte Parusieverzögerung, Verschiebung der Erlösung vom Verwertungszwang auf alle Zeit, wodurch die paradoxe Situation entsteht, dass Zeit im Kapitalimus die einzige Ressource darstellt, die dadurch, dass man sie einspart, nicht mehr wird, sondern weniger. Dadurch erhellt sich auch die Bedeutung der Formel "Zeit ist Geld", die präziser heißen müsste "Zeit ist Wert", und es wird klar, warum es im Kapitalismus immer zu wenig Wert gibt und damit zu wenig Zeit und zu wenig Geld. Im Streben nach Erlös misslingt die Erlösung komplett und schlägt letztlich in ihr Gegenteil um: Vernichtung. Gläubiger - in der Religion sowohl als auch im Kapitalismus ein Mensch, der im Gegensatz zum Wissenden eben nur glaubt bzw. glauben muss, dass Gott allmächtig ist und ihn dereinst erlösen wird bzw. dass auch die anderen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft ein gottgefälliges Leben zu führen sich bemühen und er so im Falle des Kapitalismus das ihm geschuldete (siehe Schuld/Schulden) Geld auch erhält. Kredit - von lat. credere = glauben, vertrauen auf... Magisches Viereck - die nie erreichbare Harmonie zwischen den Faktoren Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität, Wachstum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht. Messe - liturgisches Opferritual, in dessen Verlauf sich Gott den Gläubigen symbolisch präsentiert und ihnen ihre Sünden vergibt. Im Kapitalismus Veranstaltung, bei der Waren präsentiert werden zum Zweck der Verkaufs, welcher Erlösung bringen soll von der gegenständlichen Existenzweise dieser Waren durch ihre Verflüssigung zu Geld (siehe "Erlös" und "Vertrieb"). Rat der fünf Weisen - Vertreter so genannter Wirtschaftsforschungs-Institute, die mit jährlichen Orakelsprüchen über die wirtschaftliche Entwicklung hervortreten und mit penetranter Regelmäßigkeit verkünden, die Krise des warenproduzierenden Systems könne dadurch überwunden werden, dass mehr gearbeitet wird, um mehr Arbeit zu schaffen, damit wieder mehr gearbeitet werden kann, um das Wachstum zu steigern, welches wiederum zu mehr Arbeit führe, um noch einmal mehr arbeiten zu können, damit mehr Arbeit geschaffen werde, um erneut mehr arbeiten zu können usw. Vorbild scheinen hier die "primitiven" Regenmacher zu sein, die singen und tanzen und Beschwörungsformeln murmeln und Opfer darbringen, damit es regne, die aber mehr singen, tanzen, murmeln und opfern, wenn es nicht regnet und den abermals ausbleibenden Regen zum Anlass nehmen, noch mehr zu murmeln, zu singen, zu tanzen und zu opfern usw. Schuld/Schulden - in sündiger Weise von Gott abgefallene Menschen verstricken sich in Schuld, die, wenn überhaupt, nur durch Reue und ein bußfertiges Leben getilgt werden kann. Im Kapitalismus stehen dafür die Schulden, für welche die Schuldner, sofern sie sie nicht aus eigener Kraft tilgen können, aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen werden. Vertrieb - von vertreiben, verjagen, austreiben. Wie einst böse Geister und Dämonen müssen im Kapitalismus die Waren vertrieben werden. Eine Ware, die auf Lager liegt und sich von dort nicht vertreiben lässt, ist ein Unglück, weil der in ihr vergegenständlichte Wert nicht realisiert, d.h. in Geld umgesetzt werden kann, was allein dazu führt den bösen "Geist" (Wert) vorübergehend zu bannen. Der archaisch-magische Sinn des Vertriebs wird besonders deutlich, wenn man die Eigenart der Ware lebendige Arbeitskraft betrachtet. Hier müssen konkrete Menschen sich selbst bzw. den in ihrer Fähigkeit zu arbeiten sich manifestierenden "Geist" vertreiben, um ihr Leben reproduzieren zu können. Nur außerhalb ihrer selbst, im erfolgreichen Vertrieb ihrer Arbeitskraft, finden sie zu gesellschaftlich anerkannter Wirklichkeit (d.h. sie sind gesellschaftlich wirkend nur in der Form der Verausgabung ihrer Arbeitskraft) und befinden sich damit in exakt derselben Situation wie der archaische "Mensch der frühen Kulturen", der sich im Vollzug des magischen Rituals "nur in dem Maße für wirklich hält, als er aufhört, er selbst zu sein." (Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfurt am Main 1986, 48) Wertschöpfung - analog zur göttlichen creatio ex nihilo die Vermehrung (Verwertung) des Werts als unendlicher Prozess der Entäußerung und Wiedervereinigung von Gott Vater (Wert) und Gott Sohn (Mehrwert) über den Heiligen Geist der abstrakten Arbeit. "Wenn in der einfachen Zirkulation der Wert der Waren ihrem Gebrauchswert gegenüber höchstens die selbständige Form des Geldes erhält, so stellt er sich hier plötzlich dar als eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz, für welche Ware und Geld beide bloß Formen. Aber noch mehr. Statt Warenverhältnisse darzustellen, tritt er jetzt sozusagen in ein Privatverhältnis zu sich selbst. Er unterscheidet sich als ursprünglicher Wert von sich selbst als Mehrwert, als Gott Vater von sich selbst als Gott Sohn, und beide sind vom selben Alter und bilden in der Tat nur eine Person, denn nur durch den Mehrwert von 10 Pfd. St. werden die vorgeschossenen 100 Pfd. St. Kapital, und sobald sie dies geworden, sobald der Sohn und durch den Sohn der Vater erzeugt, verschwindet ihr Unterschied wieder und sind beide Eins, 110 Pfd. St." (Karl Marx, Das Kapital I, MEW 23, 169 f) |