Die Metamorphosen des teutonischen Yuppie
Vorwort zur Neuveröffentlichung
Der Text „Die Metamorphosen des teutonischen Yuppie“ von 1995 soll hier noch einmal unter „Aktuelles“ veröffentlicht werden, da es auch in Diskussionen im Exit!-Kontext heute manchmal so erscheint, als sei der Rechtsruck der letzten Jahre plötzlich über uns gekommen. Nicht zuletzt dieser Text zeigt, dass manche Entwicklungen schon vorher absehbar waren, die heute – befeuert durch den Crash 2007/8 und die weltgesellschaftliche Krisendynamik, die notwendig gewaltige Flüchtlingsbewegungen mit sich bringen –, kulminieren und eine neue Stufe post-postmoderner Barbarei und des Zerfalls bedeuten. In der damaligen Krisis-Redaktion und dem entsprechenden Umfeld rief seine Erstveröffentlichung Mitte der 1990er Jahre viel Unmut hervor, mittlerweile gehört der „strukturelle Antisemitismus“ im Kontext von Globalisierungsprozessen schon jahrelang zum festen Bestand von Rest-Krisis. Der damalige Konflikt wird freilich mit keinem Wort erwähnt.
Der „teutonische Yuppie“- Artikel basiert u.a. auf damaligen Analysen Jürgen Elsässers, der mittlerweile querfrontartig nach rechts konvertierte, wie so manche (ehemalige) Linke. Seine in vielerlei Hinsicht durchaus zutreffenden Überlegungen aus den frühen 1990er Jahren bestätigen sich heute an ihm selbst: Er ist zu dem geworden, vor dem er zu jener Zeit vehement gewarnt hatte.
Aufgaben an die Wert-Abspaltungs-Kritik, die seinerzeit noch formuliert wurden, sind mittlerweile zwar nicht erledigt, aber doch umrissartig weiterentwickelt worden, gerade was den Vermittlungszusammenhang von „Rasse“/Antisemitismus, Klasse, Geschlecht bestimmt (etwa Scholz, Differenzen der Krise – Krise der Differenzen, 2005), wobei auch die zentrale Exklusions-Struktur im Hinblick auf den in der Linken weithin vernachlässigten Antiziganismus herausgearbeitet wurde (u.a. Scholz, Homo sacer und die Zigeuner, 2007).
Roswitha Scholz für die Redaktion exit!, November 2018
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Roswitha Scholz
Die Metamorphosen des teutonischen
Yuppie
Wohlstandschauvinismus,
90er-Jahre-Linke und kasinokapitalistischer Antisemitismus
In den letzten Jahren und
besonders in der jüngsten Zeit wird nach den rassistischen Pogromen gegen
Asylbewerber, »Ausländer« usw. offen und latent eine zunehmende
antisemitische bzw. proto-antisemitische Stimmung spürbar. Die »Spekulanten«
z.B. sind ins Kreuzfeuer der Kritik geraten und auch in Esoterikzirkeln machen
sich verstärkt antisemitische, rassistische und sozialdarwinistische Tendenzen
breit.
In den 80ern hätten die wenigsten eine solche Entwicklung für möglich
gehalten. Der autistische Konsumhedonist/die autistische Konsumhedonistin galten
weithin als harmlose und friedliche Gesellen, die sich bestenfalls im Beziehungsgerangel
selbst etwas zuleide taten, aber dann konnten sie ja auch ins lust`ge Single-Dasein
überwechseln. Es ist deshalb langsam an der Zeit, die Metamorphosen der
teutonischen Individuen in der kasinokapitalistischen Ära in den Blick
zu nehmen und ebenso deren Stellenwert in einigen radikallinken Positionen zu
untersuchen. Denn wie mir scheint, ist gerade die Kritik dieser Phase und der
ihr entsprechenden Bewußtseinsformen als Konstituens für verstärkt
auftretende rassistische und antisemitische Haltungen und Gewalttaten spätestens
seit 89 bei etlichen Linken tabu.
Wenn ich dabei weiterhin ironisch in der männlichen Form vom »teutonischen
Yuppie« spreche, als Kritik an dessen beschönigtem Bild in manchen
linken Konzepten, und vom »deutschen Michel« etc., so will ich damit
mitnichten behaupten, daß nur Männer rassistisch und antisemitisch
seien und Haltungen wie Konkurrenzorientierung und Besitzstandswahrung zeigen
könnten (siehe dazu auch meine Kritik an der Frauenbewegung - Scholz 1995).
Da es sich dabei jedoch um feststehende Figuren handelt, soll das Maskulinum
beibehalten werden. Umgekehrt dürfte auch nicht bloß von Kapitalismus,
Kasinokapitalismus usw. wie im folgenden die Rede sein, sondern von patriarchalem
Kapitalismus, patriarchalem Hightech-Kapitalismus etc.
Dieses Problem verweist darauf, wie sehr patriarchale Geschichte zur Sprache
geronnen und wie schwierig es generell ist, einen nicht-patriarchalen, dennoch
flüssigen Schreibstil zu entwickeln. Gerade diese Schwierigkeit deutet
auf die grundsätzliche Berechtigung von »Political correctness«
hin (auch wenn die Forderungen im sprachlichen Bereich bisweilen überzogen
sein mögen); eine Position, die ja gerade in Deutschland, auch bei vielen
Linken, auf besondere Abwehr stößt.
Um also meinen Gedankengang straight durchziehen zu können, verzichte ich
manchmal auf die zusätzliche weibliche Form. In diesem Zusammenhang muß
auch die Analyse der Beziehungen zwischen Rassismus, Antisemitismus und Sexismus
auf eine andere Gelegenheit vertagt werden; ebenso bleibt die Veränderung
der Geschlechterbeziehungen in den letzten Jahrzehnten in ihrer Bedeutung für
neurechte nationalistische Tendenzen zunächst einmal ausgeblendet. Diese
wichtigen Bemerkungen vorausgesetzt, sollen nun die Metamorphosen des teutonischen
Yuppie in Augenschein genommen werden.
1.
Die 80er Jahre waren bekanntlich
die Hoch-Zeit des »Kasinokapitalismus«. Im Zuge von Thatcherismus,
Reaganomics und Kohlschem Aussitzer-Konservativismus in der alten BRD, kurz
der konservativ-liberalen Wende, traten wieder Leistungsbereitschaft, Konkurrenzorientierung,
Tüchtigkeit, Erfolgsstreben und ähnliche bürgerliche Tugenden
auf den Plan, gepaart mit einem demonstrativen Protz- und Luxusgehabe, die mit
der gleichzeitigen Zunahme der sogenannten »neuen Armut« einhergingen.
Egal ob der Yuppie nun bloß ein Medienphänomen war oder nicht, seine
Gestalt steht für gewisse Haltungen, die die 80er Jahre generell charakterisieren
und quer durch alle Klassen und Schichten gingen, samt ihren postmodernen Metamorphosen
in differente »Milieus«, wie es seither bezeichnenderweise kultursoziologisch
heißt. Auch Kultur, Streitkultur, Eßkultur, Wohnkultur, »Ethnie«,
die »Ästhetik« überhaupt haben in den verschiedensten Farben
und Formen seitdem Karriere gemacht. Sicherlich begann dies schon zu Zeiten
der Alternativbewegung mit der Rede von den »zwei Kulturen«, wie Wolfgang
Pohrt feststellt (vgl. Pohrt 1993 a, S. 127 ff), als auch das Schlagwort von
der »Pluralisierung der Lebenswelten« überhaupt die Runde machte;
auf jeden Fall aber blühte diese Erscheinung erst zu einer Zeit richtig
auf, in der die Pflege eines »kultivierten Lebensstils« absolut »trendy«
zu werden begann und »die Mode« Mode wurde.
Auch in Stadtteilen von London z.B., in denen hauptsächlich »Schwarze«
leben, können solche Tendenzen beobachtet werden: »In den 70er und
auch noch in den frühen 80er Jahren zählte die Demonstration des Nichtstuns
zur Kultur der schwarzen Viertel. Die Leute standen den ganzen Tag an einer
Ecke oder vor einem Plattenladen und weigerten sich, sich für fragwürdige
Konsumgüter für andere zum Idioten zu machen. Trotz der hohen Arbeitslosigkeit
siehst Du heute niemanden mehr an der Ecke stehen. Viele Leute haben einen oder
gar zwei Jobs in der Schattenwirtschaft. Alle arbeiten wie verrückt, sind
mit legalen und/oder illegalen Geschäften beschäftigt. Junge jamaikanische
Männer finden nichts mehr dabei, bei McDonalds die Klos zu putzen, wenn
sie davon nur den neuen Volvo oder die Klamotten bezahlen können. In Brixton
spielen harte Drogen heute eine Rolle, und es kam wiederholt zu Gang-Rivalitäten
mit tödlichem Ausgang. Der Thatcherismus hat seine Spuren hinterlassen.
Das amerikamische Reproduktionsmodell - Konsum gegen Wohlverhalten - hat sich
durchgesetzt« (Jacob, 1993 a, S.89).
Was der »schwarze« Popmusiker Linton Kwesi Johnson hier in einem Interview
mit Günther Jacob 1991 als »amerikanisches Reproduktionsmodell«
bezeichnet, ist indes so amerikanisch nicht. »Konsum gegen Wohlverhalten«
gilt in der wohlfahrtsstaatlich bei weitem besser ausgebauten BRD wohl noch
mehr, besonders in den kasinokapitalistischen Ausprägungen der 80er Jahre.
Ich erinnere mich noch an mein Sozialpädagogikstudium, das in der zweiten
Hälfte der 80er Jahre zu Ende ging. Sogar bei »den Sozialpädagogen«,
die ja selbst heute noch für gewöhnlich körneressend, bärtig,
langhaarig, in Jeans und Schlapper-Shirts imaginiert werden, mit erhobenen Händen
und hoher Stimme unentwegt »Frieden - Frieden« predigend, gab es durchaus
Leute, die trotz ausreichendem Bafög-Bezug oder genügender Bezuschussung
durch die Eltern sich noch Zusatzjobs suchten, weil sie einfach mit dem Taxi
nach dem Besuch der sündteuren Nobel-Kneipe heimfahren wollten statt mit
den öffentlichen Verkehrsmitteln. 15 Stunden stickige Fabrikluft wöchentlich,
umgeben von Leuten, die man nicht abkann, wurden in Kauf genommen, um sich ein
bestimmtes »Niveau« leisten zu können. Noch vor kurzem erzählte
mir ein 20jähriger Fabrikarbeiter bei »Quelle«, der auf »Joop«-Produkten
besteht, es sei »unter seinem Niveau« mit der U-Bahn zu fahren. Statt
daß sich die Leute für zwei-Mark-fuffzig eine Karte kaufen, sich
ein Buch unter den Arm klemmen und in aller Ruhe in die U-Bahn setzen, werden
die absurdesten Strapazen auf sich genommen, um sich einen angeblich »kultivierten
Lebensstil« leisten zu können. In gewisser Weise war also der mittlerweile
vielbeschworene und auch denunzierte »Achtzigerjahrespaß« (Bodo
Morshäuser) hart erarbeitet.1
In der ersten Zeit sah es so aus, als sei die konservativ-liberale Wende in
der alten BRD gar keine solche. Kohl plazierte Geißler und Süßmuth
auf zentrale Plätze. In Wirklichkeit hatten die 68er doch den Sieg errungen
- so schien es. Der Modesoziologe der 80er (und auch noch der 90er), Ulrich
Beck, imaginierte so eine Individualisierung, deren Schwierigkeit vor allem
in der Qual der Wahl bestand. Eine »echte« konservativ-liberale Wende
- kann danach doch nicht mehr kommen! In der »lust'gen Risikogesellschaft«
kann sich letztlich doch alles nur noch »demokratisch« zum besseren
wenden, angeschoben durch die neuen Protestbewegungen, die sanft im reformerischen
Einspruch die Gesellschaft in eine Phase der »reflexiven Modernisierung«
schippern. Aber nein, die davon selbst schon durch und durch affizierte Gesellschaft
schipperte dahin. Dem Motto von Margaret Thatcher »Es gibt keine Gesellschaft,
es gibt nur Individuen« kam Beck insofern nach, als er für seine aus
traditionellen Bindungen freigesetzten Individuen keinen übergreifenden
gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen mehr gelten ließ. All dies jedoch
grün-sozialdemokratisch eingefärbt.
Nicht wenige mittlerweile schick und bewegungsmüde gewordenen (Ex-)Protestler
ließen sich nun von dem sozialwissenschaftlichen Sandmännchen Beck
mit seinem La-Le-Lu-Gesang endgültig einschläfern bzw. seine Bücher
entsprachen dieser Stimmung, die allgemein verbreitet war, und kamen vermutlich
auch deshalb so gut an.
Damit konnte man/frau die verstärkt auftretende Konkurrenzorientierung
im Zuge der immer mehr greifenden konservativ-liberalen »Individualisierung«
- wider die eigene Erfahrung und eigenes Wissen - vor sich selbst verbergen
und sich sogar noch einbilden, als Altbewegte zur »Liberalisierung«
der Gesellschaft Kolossales beigetragen zu haben. Aus den Altbewegten wurden
so mehr und mehr Lebensweltyuppies, die in Markt und Staat geschickt Nischen
auszufüllen verstanden. Nicht wenige von ihnen wurden seitdem endgültig
zu dem, was linke KritikerInnen ihnen schon immer nachsagten: Kleinbürger,
die stolz auf ihr Geschäft, ihr (sozialstaatlich gefördertes) »Projekt«,
ihre Kneipe usw. sind, mit einer postmodernen, kasinokapitalistischen Wirts-
und Bäckermeistersmentalität, die von der eigenen Tüchtigkeit
durchdrungen ist und z.B. gern die Asylrechtskompromiß-SPD-Honoratioren
der Stadt vertraulich und geschäftsbeflissen als Gast/Kunde begrüßt.
Schleichend, langsam und klammheimlich verband sich ein Nationalismus, der teilweise
schon in den »neuen sozialen Bewegungen« zu finden war, mit der neu
entdeckten und zunächst euphorisch gefeierten - von Beck völlig entdramatisiert
dagestellten - konkurrenzorientierten Individualisierung. In den 80er Jahren
nahm gleichzeitig die Gewalt in Familien wieder zu, rassistische Gewalttaten
stiegen an und rechtsextreme Organisationen bekamen wieder mehr Zulauf.
2.
Die deutsche Vereinigung
brachte dann eine »Renationalisierung« auf breiter Front mit sich,
mit der viele nicht gerechnet hatten, als nach der Währungsumstellung in
Ostdeutschland und dem neoliberalen Rausch schon bald der Katzenjammer folgte.
Rostock, Mölln, Solingen und die Entwicklung danach sprechen für sich.
»Kohl erweist sich als Kanzler des Kasinokapitalismus, dem zum Schluß
noch ein großer Coup gelungen ist. Als nach der deutschen Einigung die
Rechnung bezahlt werden muß, wird der Ruf nach der Politik wach«
(Bude, 1993, S.446).
Plötzlich stand der jahrelang gehätschelte teutonische Yuppie gar
nicht mehr so gut da beim Establishment, das sich jetzt kurzerhand zu einfachen
»Bürgern« umdefinierte: »Vieles hängt von uns, den
Bürgern ab. Wir müssen uns ändern. Ein Wandel der Maßstäbe
ist notwendig. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft ist als Wirtschaftsprinzip
unentbehrlich, aber es darf nicht als Entschuldigung für Nichthandeln mißbraucht
werden. Das Gemeinwohl muß wieder an die erste Stelle rücken. Es
ist ein Skandal, daß Gewalt, Korruption und ein egoistischer Bereicherungstrieb
als normal angesehen werden, während ein unter Umständen sich regendes
Unrechtsbewußtsein kurzerhand mit dem Hinweis auf die "Selbstregulierung
des Marktes" beschwichtigt wird. Wir haben es satt, in einer Raffgesellschaft
zu leben, in der Korruption nicht mehr die Ausnahme ist und in der sich allzu
vieles ums Geldverdienen dreht. Es gibt wichtigeres im Leben des einzelnen wie
auch im Leben der Nation« (Dönhoff u.a. 1992, S. 18f.).
In dem von Dönhoff und Co. verfaßten Manifest »Weil das Land
sich ändern muß« wird Kapitalismuskritik zugunsten der Nation
betrieben unter ausdrücklicher Beibehaltung des Kapitalismus, der nunmehr
zuförderst dem Zweck des »Volkswohls« dienen und dementsprechend
an die Kandare genommen werden soll. Der seit 89 erst recht forcierte neoliberale
Kapitalismus ist dem Establishment über den Kopf gewachsen, die mit ihm
notwendig einhergehende Individualisierung muß nun durch eine nationalistische
Kapitalismuskritik »von oben« gedämpft werden. Der Angriff auf
den »individuellen Bereicherungstrieb« dient dem Ausbau des Nationalstaats
und der »Festung Europa«: »Ohne Besinnung auf die Tugenden der
Vergangenheit, ohne Selbstbescheidung und Sparsamkeit, ohne Verzicht und Solidarität
gefährden die Deutschen sich selbst und ihre Nachbarn« (Klappentext).
Fremde sollen dabei durchaus »hereingelassen« werden, solange dies
dazu dient, daß die Deutschen nicht aussterben.
Internationale Wirtschaftsverflechtungen werden durchaus in Rechnung gestellt,
mit dem Ziel, dabei für »Deutschland« in der Krise das Beste
herauszuholen. Ebenso wird implizit für einen kleinbürgerlichen Alltag
plädiert, in dem alles seine Ordnung hat. Dem entspricht die Kritik an
der permissiven Gesellschaft und der Rekurs auf »Tradition, Religion, soziale
Gewohnheiten« als notwendige soziale Bindemittel (S. 104). Der Einzelne
soll bei Dönhoff und Co. zwar marktkonform handeln, im Grunde aber wie
in der Armee sich dem Kollektivzweck, dem »Gemeinwohl«, das nun an
erster Stelle kommen soll, unterordnen. Ausgerechnet auf diese paradoxe Weise
soll der zivilisatorische Standard von Individualität gewahrt werden. Nicht
zuletzt macht auch die Verwendung des Terminus »Raffgesellschaft«,
der an die Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital erinnert
und somit vielleicht ein antisemitisches Ressentiment beinhaltet, die Manifest-Position
zu einer nationalkonservativen und fragwürdigen.
Nun, das »Manifest« kam in »deutschen Landen« bis auf wenige
kritische Rezensionen allenthalben gut an. Die Auflagen schnellten in die Höhe
und ein hoher Stoß liegt noch heute in vielen Buchhandlungen auf. Sollte
sich der teutonische Yuppie, der für die Gesamtstimmung spätestens
seit Mitte der 80er und erst recht Anfang der 90er Jahre nach der Vereinigung,
dem DM-Taumel und der neoliberalen Euphorie stand, nun auf einmal ganz einfach
eines anderen, besseren besonnen haben? Sollte unser teutonischer Kosmopolit
sich plötzlich zum deutschnationalen und gleichzeitig altruistischen Gutmenschen
gewandelt haben? Hat sich sein »individueller Bereicherungstrieb«
so schnell und plötzlich verflüchtigt? Wohl kaum. Vieles spricht dafür,
daß er sich eher dahin zurückzuziehen versucht, wo die Bedingungen
für ihn aufgrund der veränderten ökonomischen Verhältnisse
günstiger scheinen, wo er glaubt, sich nun bei zunehmend enger werdendem
Handlungsspielraum immer noch am besten entfalten zu können: ins nationale
Körbchen.
Ist sein Besitzstand gefährdet, wendet sich sein im Zuge der Individualisierung
entstandener konkurrenzorientierter Differenzhedonismus gegen die »Anderen«,
die keinen deutschen Paß besitzen und nicht dem Bild des mitteleuropäischen
Menschen entsprechen. Und er denkt daran, daß doch schon mal zu Friedensbewegungszeiten
vom »Nationalen« die Rede war und entwickelt vaterländische Gefühle.
Der jähe Absturz der vorher (besonders nach der Vereinigung) geweckten
hochfliegenden Prosperitätserwartungen im Osten wie im Westen Deutschlands
(wer erinnert sich nicht an die ostdeutsche Parole: »Helmut nimm uns an
der Hand und führ uns ins Wirtschaftswunderland«) in der ökonomischen
Krise und die damit einhergehenden Existenzängste führten schließlich
dazu, daß die kasinokapitalistischen Individuen zu Amokläufern wurden
und zu rassistischen und antisemitischen Gewalttätern - bzw. sie delegierten
bewußt oder unbewußt »bestimmte Aufgaben« an ihre als
unzurechnungsfähig geltenden Gewaltkids.
Es entstand also eine Situation, die in mancherlei Hinsicht jener ähnelt,
wie sie Hannah Arendt für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen beschrieben
hat. Der »alteingewöhnte Individualismus hatte ... zur Folge, daß
die monotone Gleichgültigkeit, mit der das gleiche Schicksal Massen von
Individuen befallen hatte, diese nicht daran hinderte, an sich selbst nach wie
vor die Maßstäbe der konkurrierenden Erwerbsgesellschaft anzulegen
und sich selbst in Vorstellungen von individuellem Erfolg zu be- und verurteilen
(...) Aber selbst diese egozentrische Bitterkeit, die individuell psychologisch
gesehen das Kennzeichen einer ganzen Generation wurde, war nicht etwas, was
sie gemeinsam hatten, obwohl alle individuellen Unterschiede schließlich
in einem allgemeinen Ressentiment untergingen; der Egozentrismus konnte keine
gemeinsamen Interessen entstehen lassen, und er war daher sehr oft mit einer
typischen Schwächung des Instinkts der Selbsterhaltung verbunden. Selbstlosigkeit,
nicht als Güte, sondern als Gefühl, daß es auf einen selbst
nicht ankommt, daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch
ein anderes ersetzt werden kann, wurde ein allgemeines Massenphänomen«
(Arendt, 1991, S. 510 f).
Wie sehr gilt das, was Hannah Arendt hier beschreibt, erst für heute, wo
durch die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung und die sie schließlich überlappende
kasinokapitalistische Phase Individualisierungsprozesse viel weiter fortgeschritten
sind als zu Zeiten der Weimarer Republik? Ein »konkurrierender Egozentrismus«
paart sich heute umso mehr mit einer haltlosen Selbst-Indifferenz. Und genau
dies ist die Stunde für autoritäre Ordnungsstifter und für Manifestler,
die sich in deren Nähe befinden.
3.
In manchen linken Positionen
wird der Zusammenhang zwischen konservativen und nationalistischen Momenten
in den »neuen sozialen Bewegungen«, kasinokapitalistischer Entwicklung
in der BRD, konkurrenzorientiertem Egozentrismus in den 80ern und 90ern, Absturz
der ökonomischen Situation, massivem Rechtsruck und - damit zusammenhängend
- Egozentrismus und »Selbstlosigkeit« (im obigen Sinne Hannah Arendts)
in den letzten Jahren zu wenig bzw. gar nicht berücksichtigt. Zwar werden
nicht selten der Konservativismus und Nationalismus der »neuen sozialen
Bewegungen« kritisiert; es fällt aber auf, daß gerade die kasinokapitalistische
Yuppie-Phase mit ihrer Arbeits-, Tüchtigkeits- und Luxusemphase und eine
damit gekoppelte Ichbezogenheit unter den Tisch fallen.2 Gerade
die Berücksichtigung dieser Phase erscheint mir aber unentbehrlich, sollen
ein rassistischer Wohlstandschauvinismus und ein neuer kasinokapitalistischer
Antisemitismus (auf den ich später eingehe) geklärt werden.
So kritisiert z.B. der »Konkret«-Redakteur Wolfgang Schneider zwar
nicht zu Unrecht am Manifest von Dönhoff und Co., daß es sich hierbei
»um eine Sammlung von Gemeinplätzen aus dem Repertoire einer faschismuskompatiblem
Kultur- und Gesellschaftskritik (handelt)«(Schneider, 1994, S. 170). Und
er konstatiert weiterhin zutreffend: »es sollten doch bitte konsequenterweise
alle diejenigen, die es "satt haben", in einer "Raffgesellschaft"
zu leben, die gleichwohl aber weder deren Eigentumsverhältnisse umstürzen
noch nach Grönland oder Papua-Neuguinea auswandern wollen, sich schleunigst
aufhängen« (S. 173). Dennoch bleibt aufs Ganze gesehen nach dem Lesen
seines Textes der Eindruck zurück, als sei die Kritik des »kapitalistischen
Strebens nach Profit«, der »Aufruf zum Verzicht« und das »Ressentiment
gegen den Wohlstand«, wie sie bei Dönhoff und Co anzutreffen sind,
schon immer nur eine rechte Kritik. In der undifferenzierten Betrachtung - und
damit zusammenhängend pejorativen Formulierung - bleibt dabei ausgeblendet,
daß ein derartiges Räsonnement erst im Verbund mit dem Ziel des »Volksganzen«,
mit autoritären Annahmen, mit der Klage über den Verfall traditioneller
Werte und dem Affekt gegen das »Sozialschmarotzertum« etc. zu einem
rechtskonservativen wird.
Herbert Marcuses Kritik an den »falschen Bedürfnissen« und die
Kritik daran, »sich für fragwürdige Konsumgüter für
andere zum Idioten zu machen«, wie sie Linton Kwesi Johnson im obigen Interview
übt, wird aus einer Sicht wie der von Schneider eigentlich unmöglich.
Und ebenso unmöglich wird dann eine Kritik am Wohlstandschauvinismus, der
auf Kosten »der Anderen« leben will.3 Es
kann nicht mehr gefragt werden: Welcher Wohlstand? Was heißt das überhaupt?
Auf wessen Kosten geht er unter den gegebenen Umständen? Die Kritik an
einem autistisch selbstbezogenen und in mancherlei Hinsicht auch inhaltlich
fragwürdigen Wohlstandsverständnis in den hochentwickelten Industrienationen
wird so implizit schon immer dem rechten »Ressentiment gegen den Wohlstand«
gleichgesetzt. Wie in der warenförmigen Gesellschaft üblich, wird
in der Kritik Schneiders nur die Quantität und das »Überhaupt«
des Wohlstands berücksichtigt, qualitative Gesichtspunkte geraten demgegenüber
ins Hintertreffen.
Nun ist es ja durchaus richtig, rechte Verzichtsvorstellungen anzugreifen. Daß
es in den hochentwickelten Industrienationen mittlerweile massive Verarmungs-
und Verelendungstendenzen gibt und das soziale Gefälle größer
wird, pfeifen längst die Spatzen von den Dächern. Deswegen erübrigt
sich allerdings nicht die Frage, ob dabei der Lebensstil der »Nichtdarbenden«
nicht auch groteske Züge trägt, und ob er als verallgemeinerter erstrebenswert
ist. So z.B. schon bei bestimmten Segmenten der postmodernen Mittelschichten
wie etwa dem vielbemühten Luxus-Single mit seiner 5-Zimmer-Wohnung oder
bei manch teurer Sportart, die wohl nicht selten bloß aus Statusgründen
betrieben wird.
In der undifferenzierten Polemik von Schneider gerät (implizit) fast schon
die Konsumkritik der »Frankfurter« in die rechte Ecke, auf die man
sich als 68er doch einmal positiv und durchaus zu Recht berufen hatte. Dabei
ist es ein Hohn, wird der »Konsumterror« der 60er und 70er mit dem
der 80er Jahre verglichen, bei gleichzeitig wachsender Armut besonders seit
der konservativ-liberalen Wende. Aus dem Blick gerät dabei auch, daß
die Entwicklung von der Produktions- zur Konsumorientierung seit den 50er Jahren
(was eine mehr oder minder starke Arbeitsorientierung in verschiedenen Phasen
dieses Zeitabschnitts nicht ausschließt) ein kapitalismusinterner Prozeß
war, der in der neoliberalen Zeit der 80er und Anfang der 90er seinen Höhepunkt
erreichte. Sogar Wolfgang Pohrt, der doch schon vor Jahren u.a. wegen seiner
Angriffe auf die Konsumkritik der Alternativbewegung berühmt-berüchtigt
war, in der er (angesichts auch nationaler Bestrebungen in den neuen Protestbewegungen
vielleicht nicht ganz unberechtigt) antiamerikanische Haltungen witterte, fühlte
sich bemüßigt zu schreiben: »Der Westen glänzte nicht mehr,
sein Stern sank schon lange, als er 1989 unverhofft noch mal schnuppern durfte,
was ihm wie Morgenluft riechen mußte. Erstmals in der Geschichte wurde
das Kapital ein Massenidol. Seiner Verkörperung in der Leitwährung
DM jubelte die Menge zu, daß es aussah, als habe Bunuel die Bibelgeschichte
vom "Tanz ums Goldene Kalb" verfilmt. Die Nacht der Währungsumstellung
bot gotteslästerliche Szenen religiöser Verzückung. Für
den Westen war der Rausch im Osten die Droge, die ihn einen Moment lang seine
eigenen Depressionen und seine Dekadenz vergessen ließ« (Pohrt, 1993
b, S. 10).
Die Jagd nach dem von manchen Rechten wie Linken als »undeutsch« konstruierten
»Mammon« und neu-nationalistische Sehnüchte gehen also durchaus
zusammen. Die rechtskonservative Ausrichtung in den 90ern stellt dabei noch
in der Kritik an der neoliberalen Reagan-Thatcher-Kohl-Ära (letzterer ist
ja bezeichnenderweise heute noch an der Macht) bloß deren Verlängerung
dar, wobei heute die nach wie vor existierende, ja sogar noch härter werdende
Rambo- und Sigurd-Konkurrenzorientierung durch eine rückwärtsgewandte
Gemeinschaftsgesinnung abgefedert werden soll. Die in den 80ern und Anfang der
90er im Kontext einer konservativ-neoliberalen Politik entstandenen Pseudo-Wohlstandsvorstellungen,
basierend auf einer Luxus-Leistungs-Ideologie und -Mentalität, können
also nicht einfach als das relativ »Gute«, das relativ »Nichtreaktionäre«,
»Undeutsche« usw. den rechtskonservativen, völkischen Tendenzen
der Jetzt-Zeit gegenübergestellt oder wenigstens ungeschoren gelassen werden.
So klingt es aber bei manch linkem Kritiker, wobei in der impliziten Argumentation
gerade auch der harte Leistungsaspekt in den »goldenen neoliberalen Achtzigern«
häufig unterschlagen wird .
Dem entspricht, daß eine Kritik am neoliberalen egozentrischen Individualismus
bei Schneider letztlich tabu bleibt: »alle traktieren sie mehr oder weniger
ausgiebig die Frage, wie denn im Angesicht der Krise gegen die destruktiven
Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung, die natürlich nicht einfach
so, sondern "Individualisierung" genannt werden, die Ordnung der bürgerlichen
Gesellschaft aufrecht zu erhalten sei« (Schneider, 1994, S.174). Es ist
vollkommen o.k., daß Schneider hier die Intention einer Aufrechterhaltung
der bürgerlichen Ordnung in der Krise beim Großteil der derzeitigen
Individualisierungs-KritikerInnen attackiert und den kapitalismuskritischen
Bezugsrahmen einklagt. Trotzdem hat man das Gefühl, als dürfe der
egozentrische Individualismus der 80er Jahre nicht als solcher benannt werden.
Dabei käme es doch gerade darauf an, diese »schräge« Form
des Individualismus in seinem kapitalistischen Gewordensein und damit auch im
heutigen (kasino-)kapitalistischen Kontext zu verorten, anstatt ihn in nicht
näher bestimmten »destruktiven Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung«
aufgehen zu lassen und ihn dadurch letztendlich zu vernebeln. Weil die Kritik
an den Individualisierungstendenzen der letzten Jahre auch von Rechtskonservativen
bis hin zu zivilgesellschaftlich-kommunitaristischen Light-Verfechtern einer
Gesellschaftskritik geübt wird, ist sie aber nicht allein schon deswegen
völlig falsch.
Schneider verbaut sich so eine explizite eigene Kritik am konkurrenzorientierten
Egozentrismus der (bürgerlichen) Erwerbsgesellschaft im Sinne Hannah Arendts,
die auf das neu erreichte gesellschaftliche Niveau in der kasinokapitalistischen
Phase modifiziert bezogen werden müßte.
Wolfgang Pohrt dagegen weiß sehr wohl um die Analyse Hannah Arendts in
dem Band »Harte Zeiten« und sieht die Parallele zur heutigen Zeit.
Dennoch schleicht er um eine angemessene Kritik der neoliberal-kasinokapitalistischen
Yuppie-Ära, sieht man von wenigen Ausnahmen wie der oben zitierten Stelle
ab, merkwürdig herum. Er vermeidet es im allgemeinen, sie klar und systematisch
zu benennen und den Bezug zu der davor liegenden Phase der »neuen sozialen
Bewegungen« herzustellen. Höchstens nebenbei und unscheinbar geht
er darauf ein. So in folgender Passage: »Nicht von der Idee der Rettung,
sondern von der des Untergangs waren die apokalyptischen Massenbewegungen der
80er Jahre inspiriert - erkennbar daran, daß an die Stelle von love-ins
nun die-ins getreten waren, kindische Inszenierungen eines Massensterbens mit
Särgen, Leichentüchern und Grabkreuzen als Requisiten. Im makabren
Klamauk drückte sich die Todesgewißheit von Menschen aus, die das
Leben mit den Augen des Massenmörders betrachten, unter dem Aspekt seiner
möglichen Vergiftung, Verseuchung, Verstrahlung. "Genieße den
Tag, denn wer weiß, was der morgige bringt", hieß komplementär
dazu das unausgesprochene Motto der zeitgleich auftauchenden konsumfreudigen
Alternativ-Hedonisten."Nach mir die Sintflut" war die Geschäftsphilosophie
des unter Reagan und Thatcher gebildeten kurzlebigen Reichtums« (Pohrt,
1993 b, S. 10). Pohrt rekurriert sehr wohl auf die »Weltlosigkeit«
und »Verlassenheit« der vermassten Individuen im Rückgriff auf
die Überlegungen Hannah Arendts; der Hinweis auf den damit gleichzeitig
einhergehenden konkurrenzorienten Egozentrismus, herübergekommen aus der
bürgerlichen Erwerbsgesellschaft, fehlt aber, obwohl dieser doch gerade
heute ins Auge sticht.
Irgendwie sollen wohl wie bei Schneider die neoliberale Phase und ihr ausgeprägter
Ego-Kult aus der Schußlinie genommen werden. Der deutsche Michel muß
unbedingt einseitig als Gemeinschafts-Gemütlichkeits- und Zucht-Michel
phantasiert werden, zwanghaft pflanzenessend, Müll sortierend, Pendel schwingend
und scheinheilig gutmenschenartig.
Daß der deutsche Michel auch ein Konkurrenz-Hedonismus-Karriere-Aktienspieler-Michel
ist, der das erreichte Vergesellschaftungsniveau seit Ende des Zweiten Weltkriegs
und den damit verbundenen »weltmännischen« Lebensstandard und
-stil durchaus schätzt, paßt einfach nicht richtig ins Pohrt/Schneidersche
Konzept. Die teutonische Entwicklung vom Zupfgeigenhansel zu Madonna, vom Pumphosen-Roots-Stil
zu den Rodierklamotten, vom bauchigen Psycho- zum technisch besessenen Computerfreak,
vom Bahro-Fan zum Baudrillard- und Butler-Fan wird nicht mitreflektiert bzw.
die Amalgamierung der jeweiligen Gegensatzpaare wird nicht gesehen: es lassen
sich nämlich auch in Rodierklamotten vorzüglich Tarotkarten legen,
auch als gestylter Single-Yuppie kann man Müll sortieren und auch als Computerfreak
bevorzugt man nicht unbedingt die boden-lose Tomate. Und in diesem Zusammenhang
wird auch nicht erkannt, daß gerade dieser Konkurrenz-Öko-Hedonismus-Esoterik-Hightech-Michel,
in seinen komplizierten Verwerfungen, sich in ökonomisch brenzlig werdenden
Zeiten, um seine Haltungen zumindest leidlich wahren zu können, zu eben
jenen nationalistischen Gemeinschaftsideologien flüchtet, die Dönhoff
und Co vertreten.
4.
Ebenso schwach thematisiert
bleibt die kasinokapitalistische Ära und vor allem der ihr entsprechende
Egozentrismus bei den hedonistischen Linken, die zur Zeit so viel von sich reden
machen. Das vielleicht gerade deshalb, weil diese linke Variante selber ein
typisches Produkt der kasinokapitalistischen Ära ist. Es fällt auf,
daß sich Selbstreflexionen der popkulturellen Linken häufig, was
ihre Existenz in den 80ern angeht, gewissermaßen subkulturimmanent auf
das eigene »Kulturarbeitermilieu« beziehen und/oder auf ihr Verhältnis
zu anderen linken Gruppierungen; die eigene Einordnung in einen größeren
historischen und sozialökonomischen Zusammenhang dagegen findet bestenfalls
nur am Rande statt: »Was in der Hausbesetzer-Bewegung das eigene "selbstbestimmte"
Leben jenseits und gegen Staat und Konsumgesellschaft sein sollte, war in der
Boheme-Linken der Selbstversuch, in der Postmoderne auszunutzen und auszukosten,
was an Selbstverwirklichungs-, Verfeinerungs-, und Differenzierungsmethoden
im Angebot war. Das Zauberwort hieß "strategisch" - alles was
man tat, konnte man dadurch rechtfertigen, daß es im Hinblick auf einen
Erkenntnisgewinn, eine Umcodierung, eine semantische Erschütterung, eine
Dekonstruktion hin erfolgreich sein könnte, die die symbolische Seite der
Verhältnisse als notwendigen ersten Schritt erschüttern könnte«
(Diederichsen, 1994 a, S. 150).
Man nahm hier also die kasinokapitalistischen Verhältnisse bewußt
an und versuchte sie mit den eigenen Mitteln zu schlagen. Dem Spiel mit den
Zeichen in bestimmten Szenen entsprach das zeitgleich modisch werdende Spiel
an der Börse in der »offiziellen« Gesellschaft. Im Spiel mit
den Zeichen, einer im Grunde bloß kontemplativen Dekonstruktion, wird
(nicht zuletzt gegen den »Kulturpessimismus« der Franfurter Schule
gerichtet) offensichtlich das »Genieße den Tag, denn wer weiß,
was der morgige bringt« und die »Geschäftsphilosophie« des
konservativen Neoliberialismus »Nach mir die Sintflut« quasi-politisch
offensiv und lebensfreudig-hedonistisch zu wenden versucht. Dem entspricht auch,
daß man einen »Luxese«- Lebensstil pflegte: »auf Zeiten
der ausschließlichen Ernährung durch Bier folgten solche des gehobenen
Geschmacks« (Diederichsen, 1994 a, S. 174). Die Konzentration auf das »Hier
und Jetzt« ist offensichtlich.
Deswegen wurde die »abstrakte Arbeit« aber nicht grundsätzlich
abgelehnt bzw. man stand diesem Bereich, wo man (weniger »frau«, denn
bei der popkulturellen Linken handelt es sich in erster Linie um eine männliche
Boheme) seine kreativen Fähigkeiten (das »kulturelle Kapital«
- Bourdieu) in die Waagschale werfen konnte, in einer typisch postmodernen Mischung
affirmativ-oppositionell gegenüber. Der »große Kompromiß
(Widerspruch, Symptom) der 80er (war) der, der sagte: Wir bleiben radikal, aber
wir arbeiten auch mit dem Markt zusammen, sonst werden wir weltfremd (oder auch:
es ist viel radikaler, mit dem Markt zusammen zu arbeiten)« (Diederichsen,
1994 a, S. 157). Daß sich viele (ex-)radikale linke und alternative Vettern
spätestens seit der 2. Hälfte der 80er Jahre ebenfalls dazu entschlossen,
mit Markt und Staat zusammenzuarbeiten und konsumhedonistisch »drauf kamen«,
zunehmend ohne sich - realistischerweise - einzubilden, man sei dabei immer
noch radikaloppositionell, nahm die popkulturelle Linke offensichtlich weithin
gar nicht zur Kenntnis. Um sich abzugrenzen, braucht man eben - so mein Verdacht
- das Watschenbild einer »puritanischen Linken«, dessen Realität
im Grunde nur noch in Kümmerformen existiert.
Das postmoderne Subjekt wurde in der hedonistischen Linken, in gewisser Weise
ähnlich wie bei Beck, dem Star der sich etablierenden Alternativen, zum
einseitig zivilisationsfördernden, in vielerlei Hinsicht »verfeinerten«
zurechtgeschminkt, auch wenn dabei mit radikal individualistischem Gestus subjekt-
und »selbstlose« (!) Medientheorien, die in der popkulturellen Linken
besonders beliebt waren/sind, vertreten wurden. Die Konkurrenzorientierung und
der Egozentrismus des kasinokapitalistischen Individuums und die Problematik
eines darüber vermittelten Hedonismus werden dabei nicht gesehen.
Was diesen Punkt angeht, so wird die Selbstreflexion in den 90ern sogar eher
durch ein noch lauteres »hedonistisches« Trommeln ersetzt, wie sich
z.B. an der Zeitschrift »Die Beute« zeigt. Ausgerechnet auf diese
paradoxe Weise soll den Rechtstendenzen in den 90ern begegnet werden. Gleichzeitig
sollen so wohl auch durchaus »konservativ« die prekär gewordenen
Besitzstände aus den kasinokapitalistischen 80ern erhalten und in den 90ern
erweitert werden. Dafür stehen die »Zeichen« der Zeit allerdings
günstig: Popkultur, Medientheorien u.ä. sind große Themen im
bürgerlich-teutonischen Gesamtdiskurs der 90er.
Damit soll nicht gesagt werden, daß die popkulturelle Linke nicht in vielerlei
Hinsicht auch sehr sympathische Züge trägt wie übrigens auch
andererseits die »Alternativen« in manchem; die Ökologiethematik
etwa wurde in neuerer Zeit erst von ihnen zur Diskussion gestellt und das Problem
der Frauenunterdrückung von der neuen Frauenbewegung erst massiv in die
Diskursarena eingebracht. Bei der popkulturellen Linken ist es etwa die »Pflege«
eines Selbstdenkertums, das gegen die »dogmatische Linke« gerichtet
(und gleichwohl auch ein neoliberales Produkt) ist, nichtsdestotrotz aber überschießende
Momente in sich trägt. Oder aber die Insistenz auf den »Genuß«,
wenngleich ihr Hedonimusverständnis auch leicht zum Hedonismuß, zur
Ideologie, zu werden droht und damit auch repressive Momente aufweist. Ihr Rekurs
auf Party, Disco usw. deutet auch auf das »Andere«, das in einer postmonetären
Gesellschaft möglich wäre, hin.
Dazu müßte allerdings - und das würde derartige Konzepte in
ihren Grundfesten erschüttern - von der Vorstellung einer Dissidenz in
der Affirmation und einer weithin undifferenzierten »Massenverfeinerung«
(Diedrich Diederichsen) in ihren jetzigen Formen Abstand genommen werden. Denn
in solchen Annahmen und somit in einer »falschen Unmittelbarkeit«
droht die Gefahr einer massiven Selbstauslieferung an die gegebenen Verhältnisse.
Der in popkulturellen Szenen propagierte Differenzhedonismus könnte im
Grunde erst dann fruchtbar werden, wenn er nicht mehr durch das Nadelöhr
der warenförmig-konkurrenten Vermittlung hindurch müßte.
In diesem Zusammenhang ist auch ein diffuser prinzipiell positiv besetzter Hedonismusbegriff
problematisch, wie er bisweilen anzutreffen ist; und zwar keineswegs bloß
bei Linken, die der popkulturellen Szene zugerechnet werden können. Es
besteht die Gefahr, daß dabei kleinbürgerlich-postmoderne Erlebnisbedürfnisse,
die Ausdruck eines gänzlich unoppositionellen kasinokapitalistischen Egozentrismus
sind, mit »gedeckt« werden. Gerade in den kasinokapitalistischen 90ern
gilt die Gleichung hedonistisch = schon immer nicht-spießig längst
nicht mehr. Der zumindest in seiner Freizeit in Ausschweifung lebende Techno-Fan
z.B kann zugleich eben auch ein (wohlstandschauvinistischer) Normalo sein. Ebenso
kann ich (abgesehen vom linken Gemeinplatz, den sogar Adorno vertreten hat,
daß selbst im warenförmigen »vulgären« Konsumgenuß
noch nicht-warenförmige Momente enthalten sind) beim besten Willen z.B.
am teutonischen Kilimandscharo-Touristen keine oppositionellen Momente entdecken,
um noch ein weiteres Beispiel anzuführen. Dieser unterzieht sich auf seiner
Suche nach »Kitzel« Gewalttouren, begleitet von schwarzen Lastenträgern,
separiert von der übrigen exotisch-verelendeten afrikanischen Umgebung,
die dem Wohlstandsbürger nicht schmeckt. Geplagt-hedonisch-erlebnishungrig
hechtet er, sich das große Geschäft einstweilen verdrückend,
von einem Kilimandscharo-Scheißhaus zum anderen, das extra für ihn
nach europäischen Maßstäben installiert wurde, bis er den exotischen
Gipfel erstürmt, sich doch bloß selbst immer nur mitnehmend. Zum
Schluß beschwert er sich über die vom Tourismus »verdorbenen
Schwarzen« am für ihn extra abgegrenzten Strand, deren Miene verrät,
daß sie sich, ob ihrer Butlerdienste, wohl ein besseres Trinkgeld ausgerechnet
hätten. Adäquates gilt etwa für die Touristen-Separees in allen
möglichen Teilen der Welt, wo der Teutone immer nur auf sich selbst trifft.
Derlei »lebensechte« Beispiele könnten noch mehr angeführt
werden. Sie zeigen auch, daß der teutonische »Fußgängerzonen-Mensch«
(Diedrich Diederichsen) die in ihn vor allem in den 80ern hineinprojizierten
Fortschrittspotentiale nicht so ohne weiteres erfüllt.4
Vielmehr ist der teutonisch-weltmännische Anspruch, sich
all dies in seiner Borniertheit leisten zu können, selbst ein Grund, andere
auszugrenzen, die zu »uns« kommen, wie die rassistischen Ausschreitungen
der letzten Jahre bezeugen. »Sich als Bürger einer reichen Exportnation
mit legitimen weltweiten Interessen zu verstehen, das ist die allgemeine Grundlage
des deutschen Überlegenheitsgefühls, das durch das verdrängte
kollektive Wissen um die faschistische Vergangenheit noch eine spezifische Prägung
erhält. Bevor man diesen ganzen Zusammenhang in Frage stellt, schlägt
man lieber jene tot, die als Opfer des Weltmarktes in die reichen Zentren kommen«
(Jacob, 1993 b, S, 217).
Sowohl der Position von Schneider als auch der von Pohrt und Diederichsen ist
also gemeinsam, daß sie mehr oder minder explizit die »deutsche Ideologie«
- durchaus auch zurecht, allerdings nichtsdestotrotz reduziert - bloß
in der Gemeinschaftsduselei, der Naturromantik, dem Affekt gegen den (als »amerikanisch«
konstruierten) Kommerz usw. sehen und dabei den konkurrenzorientierten teutonischen
Yuppie mit seinen Besitzstandswahrungs-Interessen im Endeffekt »schützen«.
Werden konsumistische Haltungen und Ansprüche bei Pohrt und Schneider implizit
fast schon als Schild gegen deutschnationale und faschistische Tendenzen gesehen
und dürfen sie deshalb zumindest nicht direkt angegriffen werden, so sind
sie bei der hedonistischen Linken im Grunde die subjektive Basis von Gesellschaftsveränderung
überhaupt.
Gerade in diesem Zusammenhang wird in bestimmten Teilen der Linken generell
kaum thematisiert, daß Deutschland schließlich zu den führenden
Wirtschaftsnationen gehört, daß dies ein hohes »Kommerzniveau«
beinhaltet, das man sowohl individuell als auch national-gesellschaftlich zu
erhalten trachtet - und daß gerade aus diesem »Niveau« der postmoderne
Teutone sein Selbstbewußsein bezieht. Es ist paradox, daß dabei
in linken Argumentationen nicht selten gleichzeitig der »dritte Griff nach
der Weltmacht« in Rechnung gestellt wird. Gesetztenfalls man teilt diese
Annahme, ginge dies heutzutage doch nur, wenn ein bestimmter hoher ökonomischer
und technologischer Standard Deutschlands auf dem Weltmarkt vorausgesetzt wird
und damit auch ein hoher Konsumlevel mit der dazugehörigen Bedürfnisstruktur
bei den teutonischen Subjekten, also nicht etwa eine ideologische Orientierung
an reduzierten Konsumbedürfnissen unterstellt wird, wie sie einem niedrigeren
Vergesellschaftungs- und Technologiegrad entsprechen würde.
Eines scheint mir sicher: den Hightech-Teutonen am Ausgang des 20. Jahrhunderts
zieht's nicht mehr in schlichte germanische Hütten; zwar schenkt er rechtskonservativen
Hochkulturschranzen wie Botho Strauß oder Syberberg sein Ohr, zunehmend
lieber beschäftigt er sich jedoch auch mit popkulturellen Theorien, die
aus »den USA« kommen, und eine Doktor-Eisenbart-Gesundheitsversorgung
möchte er auch nicht mehr haben (auch wenn er vielleicht zu partiellen
finanziellen Abstrichen in der Krise bereit ist). Und das ist auch gut so, schließlich
geht es nicht um ein Zurück zum Ochsenkarren, und es muß ja nun wirklich
nicht immer bloß Goethe sein. Dennoch ist dies nicht unbedingt ein Trost,
weil darüber auch ein chauvinistisches »Haben-Wollen« (Günther
Jacob) vermittelt ist, andererseits gerade in der Popmusik auch (pseudo-?)parodistisch
»der Berg ruft« und tatsächlich sich gerade der Hightech-Teutone
in den letzten Jahren immer mehr in angeblich historische Anhöhen und Haine
zurückzieht, um bei teuren Quacksalbern New-Age-Spielchen zu veranstalten.
Der Rekurs auf diese Zusammenhänge, auf die kasinokapitalistische Ära,
auf den ihr entsprechenden konkurrenzorientierten Egozentrismus (samt der sich
dabei entwickelnden Spielerleidenschaft seit den 80er Jahren) ist aber gerade
auch deshalb notwendig, um den neu aufkeimenden, nunmehr selber postmodernen
Antisemitismus zu begreifen.
5.
Dem kasinokapitalistisch-egozentrischen
Subjekt wird mehr oder weniger deutlich nicht nur in den bisher behandelten
Positionen zuviel Schonung oder gar Ehre zuteil. Auch in Artikeln und Schriften
von Autoren der »Krisis« finden sich dementspechende Hinweise auf
eine eher positive Einschätzung des teutonischen Yuppie. Stellvertretend
sei hier der Aufsatz von Johanna W. Stahlmann angeführt: »Pretty Woman.
Reflexionen über einen Kinobesuch und warum dem Überdruß des
Raffens keine Renaissance des Schaffens folgt« (»Krisis« Nr.
10), auch weil er für das im folgenden interessierende Problem einer Analyse
des neuen Antisemitismus einschlägig ist:
»Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich also geändert,
was nichts anderes heißt, als daß sich ihre menschlichen Protagonisten
verändert haben, ihr Bewußtsein einer veränderten Wirklichkeit
angehört. In diesem Zustand nun gehen sie ins Kino, nicht wissend, daß
ihnen die Moral vergangener Zeiten vorgebetet wird (in dem Film »Pretty
Woman«, wo der Spekulant im Gegensatz zum »schaffenden Kapitalisten«
schlecht wegkommt, R.S.), verpackt in die Gewänder der neuesten Entwicklungen,
sei es der Mode, sei es der Finanzmärkte. Daß die Folge nicht Haß
gegen die im Film personifizierte Spekulation sein kann, Raiderpogrome nicht
die soziale Folge, dürfte schon aus der einfachen Tatsache klar sein, daß
vielleicht ein nicht unbeträchtlicher Teil der zumeist jungen Kinobesucher
selbst spekuliert oder zumindest mit Geld und Aktien konfrontiert wird. In der
BRD sind 60% der Berufstätigen im Dienstleistungsbereich tätig, was
nichts anderes bedeutet, als daß sie Unschuldigen Versicherungen aufschwatzen,
Aktienportefeuilles verwalten, verdünnten Alkohol oder schlechtes Essen
verkaufen und zu horrenden Preisen Haare schneiden. Sie haben schon als Kinder
ihre Oma nur besucht, um Kohle abzuzocken und haben seit ihrem 15ten Lebensjahr
einen Überziehungskredit auf ihrem Girokonto. Sie sind auch jederzeit bereit,
dieses letzte bißchen Berufsethos aufzugeben, zu studieren und dabei BaFög
oder Sozialhilfe zu kassieren, um anschließend Broker oder Werbefachmann
zu werden« (Stahlmann, 1990, S. 70).
Dieser Text hat im Gegensatz zu manch anderer linken Veröffentlichung den
Vorzug, daß er mit der kasinokapitalistischen Entwicklung rechnet, gerade
auch mit ihren ökonomischen Implikationen (prekärer Finanzüberbau,
Obsoletwerden der »abstrakten Arbeit« etc.), daß er sie in einen
historischen Rahmen stellt und dabei gerade auch das Bewußtsein der kasinokapitalistischen
Subjekte mitthematisiert. Letzteres geschieht jedoch meines Erachtens in völlig
falscher Weise. Denn diese Position rechnet nicht im mindesten mit dem wiederholten
Zutagetreten auch nur irgendwie gearteter völkischer Tendenzen in der kasinokapitalistischen
Ära - der teutonische Yuppie macht's einfach unmöglich! Auch so kann
sich aber »das verdrängte kollektive Wissen um die faschistische Vergangenheit«
äußern, eben als Verdrängtes. Aus der objektiven Tatsache, daß
wertschaffende Tätigkeiten zunehmend weniger werden und daß heute
die meisten im »unproduktiven« Dienstleistungssektor beschäftigt
sind, wird gefolgert, daß der Durchschnitts-Normalo-Spekulant zu Raider-
oder anderen Pogromen nicht mehr fähig ist und antisemitische Haltungen,
wie sie in dem Klischee Jude = Spekulant enthalten sind, damit unmöglich
geworden sind.
Es ist wieder einmal die heitere 80er-Jahre-Mentalität, wie sie auch bei
Ulrich Beck und Diedrich Diederichsen festgestellt werden kann, die uns hier
gegenübertritt und die sich grundsätzlich dadurch auszeichnet, daß
sie suggeriert, die konkurrente kasinokapitalistische Existenz sei doch letztlich
im Kinder»spiel« zu bewältigen und in diesem Zusammenhang das
teutonische Spieler-»Spekulanten«-Beliebigkeits-Individuum als wie
immer »progressives« hochlobt oder es doch zumindest als »harmlos«
konzipiert: »Das neue Alltagsbewußtsein muß eher seine Existenz
als spekulierendes und spekulativ (beliebig) werdendes Individuum rechtfertigen,
als seine Existenz als werteschaffender Arbeiter. Freilich erweist sich dies
als um einiges schwieriger als die Ehrenrettung des Proletariers, was zu jener
seltsamen Erscheinung führt, daß es jenen Jungmonaden oft eher peinlich
ist, Bankangestellter, Sozialpädagogikstudent, Friseurlehrling oder Bekleidungsfachverkäufer
zu sein, der Sprung ins angebotene Beliebigkeitsjobberdasein leicht fällt«
(Stahlmann, S.70 f.).
Diese Zeitaufnahme der 80er-Jahre-Stimmung wird nun einfach in die Zukunft verlängert.
Obwohl gerade die »Krisis«-Position lange vor allen anderen dramatische
Krisenentwicklungen voraussah, wird hier dennoch davon ausgegangen, daß
das (implizit) tolerant konzipierte Beliebigkeits-Subjekt der 80er, wie es geschönt
auch in den Medien und in manchen Theorien konstruiert wurde, so bleibt wie
es ist und auch in der Krise weiterhin seine sanguinische Haltung zeigt. Dementsprechend
müssen die Indizien in dem Film »Pretty Woman«, die in eine andere
Richtung weisen, unbedingt so hininterpretiert werden, daß sie der 80er-Jahre-Leichtigkeit
entsprechen. Damit sitzt dieser Text auch dem ideologischen Selbstmißverständis
der 80er Jahre auf. Die sich vor allem in der 2. Hälfte dieser Dekade wieder
verstärkende Konkurrenz- und Leistungsorientierung und ein damit zusammenhängender
Egozentrismus, damals noch beschwichtigt durch Multikulti-Heiner und Süßmuth-Sanftmut,
werden auch hier ignoriert.
Dabei weiß doch auch Stahlmann, »daß der Phase der arbeitseinsaugenden
Innovation eine Periode spekulativen Kampfes um die letzten Stückchen Kuchen
gefolgt ist« (a.a.O., S. 68). Schon in den 80ern begann die niederträchtige
Asyldebatte verstärkt die Öffentlichkeit zu beschäftigen und
kamen die Republikaner ins Europaparlament. Zu was der teutonische Normalo-Spekulant-Yuppie
alles fähig ist, bewies er spätestens zwei Jahre nach dem Erscheinen
des »Pretty Woman«-Artikels angesichts von Rostock und den darauf
folgenden rassistischen und antisemitischen Gewalttaten, zu denen er schwieg
oder klammheimlich und sogar offen klatschte. Denn der Sozialstaat ist nun einmal
nationalstaatlich verfaßt (auch wenn er über Kreditaufnahmen mit
dem globalen spekulativen Finanzüberbau verbunden ist), und wenn dann »andere«
vom »Kuchen« etwas haben wollen, wird der teutonische Yuppie ungehalten;
ebenso versteht er keinen Spaß, wenn es um seine Jobs geht, die - so aus
seiner Sicht - ihm die »Anderen« wegnehmen könnten. Und dabei
ist es ihm ziemlich egal, ob er nun im Produktions- oder im Dienstleistungssektor
beschäftigt ist.
So verwundert es keineswegs, daß schließlich in den 90ern auch der
»echte« Spekulant in die Schußlinie gerät und sich damit
auch wieder ein antisemitisches Ressentiment verbinden könnte, ganz im
Gegensatz zur Stahlmannschen Theorie, die annimmt, daß die Ideologie vom
raffenden und schaffenden Kapital nur zu früheren Zeiten greifen konnte,
solange sich die wertschaffende Arbeit noch in Ausdehnung befand (vgl. Stahlmann,
1990, S. 66).
Das antisemitische Ressentiment macht sich dabei (noch?) nicht offen Luft, in
vielen Darstellungen und Kommentaren in der letzten Zeit (unter anderem zum
»Fall« Leeson und der Baring-Bank) war es dennoch mit Händen
zu greifen. So z.B. in zahlreichen Zeitungskommentaren wie dem folgenden: »Notenbanken
und Finanzpolitiker haben (...) auf die Gefahr, die sich aus der Zusammenballung
der finanziellen Macht in den Händen von weltweit vielleicht nur 200 oder
300 Großspekulanten ergibt, (keine Antwort gefunden). Solche Großanleger
haben die italienische Lira aus dem Europäischen Währungssystem geschossen
und 1987 den Börsencrash ausgelöst. Wenn sie das Vertrauen in die
politische Führung eines Landes verlieren und ihr Kapital abziehen, zwingen
sie dessen Währung in die Knie. Wem sie das Vertrauen schenken, dessen
Währung heben sie auf das Podest, ob dies nun tatsächlich gerechtfertigt
ist oder nicht. Politiker und selbst die Notenbankchefs haben dem in Zeiten
ungehinderten Kapitalverkehrs und offener Grenzen wenig entgegenzusetzen, müssen
sich ihr Handeln immer öfter von Spekulanten aufzwingen lassen, die eigennützige,
nicht dem Gemeinwohl dienende Zwecke verfolgen. Es ist Zeit, daß sich
das ändert, soll es nicht eines Tages auch im globalen Finanzsystem zum
Kollaps nach Baring-Art kommen« (Nürnberger Nachrichten, 28. 2. 1995,
S. 2).
Von solch kurzschlüssigen Argumenten ist es nur noch ein kleiner Schritt
zum Wahn von der »jüdischen Weltverschwörung«, auch wenn
in manch anderen Zeitungsartikeln sich der ehrliche Handy-Dandy umso mehr betont.
Sicherlich ist ein derartiger Spekulantenschimpf nun nichts speziell »deutsches«.
Problematisch ist aber, daß er hierzulande quer durch die gesamte Medienlandschaft
geistern kann, ohne daß bei irgendjemandem Erinnerungen an die nationalsozialistische
Ver- gangenheit mit ihren antisemitischen Stereotypen wach werden, die implizit
mitprojiziert sind.
6.
Ein zentraler Gedanke von
Moishe Postone zur in der Geschichte einzigartigen planmäßigen und
massenhaften Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus besagt, daß
die Juden mit dem »Wert« identifizert wurden (siehe zu den folgenden
Ausführungen Postone, 1988). Danach läßt der »Doppelcharakter«
der Ware als Wert (der im Geld in Erscheinung tritt) und als Gebrauchswert (der
im Produkt in Erscheinung tritt) die »Arbeit« fälschlicherweise
als ontologisches Moment erscheinen und die Ware als bloßes Gebrauchsding.
In der Wahrnehmung werden beide nicht mehr als Ergebnis gesellschaflicher Beziehungen
gesehen, das sie in Wirklichkeit sind. Durch den »Doppelcharakter«
des Kapitals als Arbeits- und Verwertungsprozeß erscheint so auf der logischen
Ebene des Kapitals die industrielle Produktion als nur noch materieller schöpferischer
Prozeß im Gegensatz zum unproduktiven Finanzkapital. Konkretes und Abstraktes
stellen sich so als Gegensatz dar. Der Kapitalismus erscheint nur noch im »Abstrakten«,
wohingegen das »Konkrete«, obwohl es genauso kapitalistisch geformt
ist, hypostasiert wird. Dementsprechend werden im Nationalsozialismus sowohl
»Blut«, Boden, Natur, Volk usw. wie auch die Industrieproduktion als
Gegenprinzipien zum Abstrakten gesehen. Das Konkrete erscheint jetzt als »natürlich«,
es erfolgt ein einseitiger und daher falscher Angriff auf die abstrakte Vernunft,
das abstrakte Recht, gegen das Geld, das Finanzkapital usw. Und dieses Abstrakte
erscheint nun in der antisemitischen Denkform in der Gestalt »des Juden«.
Dabei repräsentiert er nicht nur das Abstrakte, sondern dieses ist in ihm
personalisiert.
Alle Charakteristika des Werts, nämlich Unfaßbarkeit, Abstraktheit,
Universalität, Mobilität etc. werden mit »dem Juden« identifiziert.
Somit werden die Juden im Nationalsozialismus nach der Deutung von Postone nicht
nur mit dem Geld und der Zirkulationssphäre gleichgesetzt, sondern mit
dem Kapitalismus schlechthin, wobei die konkreten Anteile wie Technologie und
Industrie herausgenommen werden und der Kapitalismus sich eben nur noch im Abstrakten
darstellt. Für eine Reihe gesellschaftlicher Veränderungen (explosive
Verstädterung, Verfall traditioneller Werte, Untergang der traditionellen
Schichten und Klassen, die Ausprägung einer materialistisch-modernen Kultur
usw.), wie sie gerade auch vor 1933 beobachtet werden konnten, wird ausschließlich
»das Abstrakte« zur Rechnung gezogen. Die Juden wurden nun zu »Personifikationen
der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen
Herrschaft des Kapitals«; so gesehen war Auschwitz - paradoxerweise - »eine
Fabrik zur "Vernichtung des Werts"« (Postone, 1988, S. 221 und
224).
Moishe Postone versucht, den Antisemitismus in seiner Bedeutung für den
Nationalsozialismus zu begreifen. Wie aber könnte sich der Antisemitismus
heute äußern, nachdem das Produktivkraftniveau ein völlig anderes
ist, die abstrakte Arbeit immer mehr abnimmt, sich die Gesellschaft nicht zuletzt
durch konsumhedonistische Haltungen auszeichnet und »der Wert« somit
längst obsolet zu werden begonnen hat? Daß es die Möglichkeit
eines neuen Antisemitismus gibt, räumt in einem anderen »Krisis«-Artikel
Ernst Lohoff (»Krisis« Nr. 11) ein: »Das antisemitische Ressentiment
überlebt als eine mögliche Reaktionsbildung bei jenen, die in den
Konkurrenzkämpfen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft auf der Strecke
bleiben« (Lohoff, 1991, S. 72). Lohoff sieht also den konkurrenzorientierten
Egozentrismus, von dem Hannah Arendt spricht, durchaus; gerade auch in seinen
»postmodernen Potenzen« für das antisemitische Ressentiment.
Richtig insistiert Lohoff darauf, daß der neue Antisemitismus heute eben
etwas »Neues« ist im Gegensatz zum Nationalsozialismus. Meines Erachtens
darf dieses Pochen auf kritische Historisierung jedoch nicht dazu führen,
daß die geschichtliche Linie im »Neuen« verwischt und somit
der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit eine Chance geboten
wird. So klingt es ein wenig bei Lohoff in seinem Text. Auch das qualitiativ
»Neue« im historischen Ausgang des Wertverhältnisses hat seine
Vorgeschichte. Es ist nicht einsehbar, weswegen hier das eine gegen das andere
gesetzt werden soll. In Rechnung gestellt werden muß dabei gerade auch,
daß schon seit dem Historikerstreit in der öffentlichen Debatte an
einer Verharmlosung der nationalsozialistischen Vergangenheit gearbeitet wird.
Jürgen Elsässer dagegen meint: »Schon wenn die deutsche Volkswirtschaft
vom zweiten auf den fünften Platz in der Weltbestenliste abrutscht, schon
wenn die Triebabfuhr über den Autowahn nicht mehr unbegrenzt möglich
ist, werden sich die Landsleute als Sklaven der Wallstreet beweinen und zielsicher
im Arsenal der kollektiven Erinnerung nach den Schuldigen für die Misere
fahnden (...) In Deutschland trifft dieser primäre Antisemitismus auf den
bisher vorherrschenden sekundären Antisemitismus« (Elsässer,
1994, S. 391).5
Es ist absurd, bedenkt man, daß noch bis Anfang der 90er die Lokale »Freudenpark«
oder »Wallstreet« hießen: mittlerweile gibt es tatsächlich
Anzeichen, daß sich »die Landsleute als Sklaven der Wallstreet«
fühlen, in einer Situation, in der Deutschland noch nicht einmal in der
Weltmarktposition so sehr zurückgefallen ist. Sowohl Lohoff als auch Elsässer
gehen davon aus, daß mit zunehmender Krise der im Osten längst schon
in größerem Maßstab um sich greifende Antisemitismus auch im
Westen verstärkt manifest wird.
In diesem Zusammenhang halte ich es für entscheidend, daß die Ökonomie
schon lange gewissermaßen simulativ über »fiktives Kapital«
(Marx) vermittelt ist und sich die weitere Krisenentwicklung heute nicht zuletzt
auch verstärkt auf der (Oberflächen-)ebene der Finanzmärkte zeigt.
Bei Banken- und Finanzkrächen werden dabei nicht die Systemzusammenhänge
als »Schuldige« beleuchtet und dabei klargestellt, daß jede
und jeder das System ist, sondern wie jetzt schon in den Medien deutlich wird,
werden dingfest zu machende »Schuldige« gesucht: die »Spekulanten«.
Es ist also gerade umgekehrt wie J. W. Stahlmann meint: gerade weil heute
die meisten im »unproduktiven« Dienstleistungssektor tätig sind,
ökonomisch vermittelt über Staatskredite, unproduktives Kapital usw.,
und sich dementsprechend die Krise gerade in den »höheren Sphären
der Finanzmärkte« bemerkbar macht, sind Pogrome und damit verbundene
antisemitische Tendenzen in Zukunft nicht ausgeschlossen. Daß dabei die
»ehrliche Arbeit« des »kleinen Mannes«, auch wenn er Unschuldigen
Versicherungen aufschwatzt, zu alt-neuen Ehren kommt, wird schon heute ersichtlich.
Gerade weil die Erwerbsarbeit ohne erkennbare Möglichkeit zu einem »besseren
Leben« im Abnehmen begrffen ist, hat sie mittlerweile (wieder) einen hohen
Stellenwert. So sehnen sich z.B. heute auch viele ehemalige linke »Bürgerschrecks«
nach nichts mehr, als ein stinknormales, unauffälliges Leben in der Tretmühle
führen zu können. Die Verhausmeisterung der Gesellschaft schreitet
voran.6
Und auch heute schon wird deutlich, daß damit auch das »schaffende
Kapital«, obwohl bzw. gerade weil es an Bedeutung im ökonomischen
Gesamtzusammenhang verloren hat, als moralischer Wert beschworen wird: »Der
Hasardeursdrang, aus Geld im Handumdrehen mehr Geld zu machen - und zwar ohne
den mühseligen Umweg über die Herstellung und den Vertrieb nützlicher
Dinge (gemeint ist wohl der Produktions- und Konsumptionsschrott, der kapitalistisch
hergestellt Mensch und Natur kaputtmacht, R.S.) -, hat sich in den seriösesten
Banken und Industriekonzernen ausgebreitet. Statt ihre voluminösen Cash-Zuflüsse
und Überschüsse in die reale Wirtschaft und neue Arbeitsplätze
zu investieren wie einst in der solid-sozialen Ludwig-Erhard-Marktwirtschaft,
haben Börsianer und Finanzdirektoren die Kapitalmärkte in hochgestochene
Wettbüros und Spielkasinos umgewandelt« (Spiegel, Nr. 37, 12.9.1994,
S. 99). Als läge es an seinem guten Willen, soll sich hier das Kapital,
wie in romantisiert guten-alten Zeiten doch wenigstens »schaffend«
gebärden, wenn wir in den 90ern schon im »Casino Capitalsm« (a.a.O.,
S. 100) leben.
Sollte es tatsächlich zu einem großen Finanzkrach kommen, ginge alles
»drunter und drüber«. Panik machte sich breit (in Amokläufen,
Sektenanschlägen und nicht zuletzt in rassistischen Gewalttaten und Bürgerkriegen
macht sie ohnehin schon längst weltweit auf sich aufmerksam), und zwar
auch bei denen, die bislang noch keine Verlierer waren. Dabei ist die Annahme
von den Gewinnern und Verlierern insofern problematisch, als in der postmodern-kasinokapitalistischen
Ära eben nicht mehr unbedingt von »festen Gruppen« ausgegangen
werden kann (noch sehr viel weniger als in der Weimarer Republik), wie z.B.
die Kahlschläge im mittleren Management in den letzten Jahren im Zuge der
»lean production« zeigen. Potentiell ist der Gewinner von heute schon
der Verlierer von morgen. Es ist gerade diese die Gesamtgesellschaft umfassende
Grundunsicherheit, die für Pogrome anfällig machen könnte. In
so einer Situation wäre die »Selbstlosigkeit«, von der Hannah
Arendt spricht, perfekt. Alte antisemitische Sterotypen könnten wieder
schamlos und unverhohlen hochkommen.
Im Falle eines »Finanzmarkt-GAU« könnte heute das antisemitische
Ressentiment, festgemacht an den »Spekulanten«, bei einigen sogar
soweit gehen: »Der Jude« macht »unser« Wirtschaftssystem
kaputt und entzieht so der ganzen Welt die Lebensbasis. In diesem Zusammenhang
könnten auch Verschwörungstheorien, wie sie im obigen Kommentar in
den Nürnberger Nachrichten anklingen, gefährlich werden. Schon heute
sieht man manchen - nach dem verflogenen neoliberalen Rausch jetzt etwas verkatert
wirkenden - teutonischen Yuppie, den man bis vor kurzem nichtsdestoweniger für
halbwegs zurechnungsfähig gehalten hat, bei der Lektüre eines verschwörungstheoretischen
Wälzers dasitzen, ob seines Ertapptwerdens verschämt eine Entschuldigung
murmelnd. Die bauchtänzelnde Frau aus dem Naturkostladen drückt einem
einen Prospekt zu einem dicken Verschwörungsschmöker in die Hand mit
den Worten »hoch interessant«. Die »Silvio-Gesellerei« (Robert
Kurz), nach der der Zins die Wurzel allen Übels ist, breitet sich in erschreckendem
Maß aus, ebenso bekommen alle möglichen New-Age-Richtungen und »alte«
Esoterikzirkel wie die Anthroposophen etc. immer mehr Zulauf. Es wird nun endgültig
sichtbar, daß sich so manche Anfang der 80er zunächst nur schrullig
wirkenden Esoterikmarotten in den »neuen sozialen Bewegungen« langsam
in sozialdarwinistische, antisemitische und rassistische Richtungen auswachsen
- im Verbund mit einer zunehmenden Konkurrenzorientierung und um sich greifenden
Existenzängsten in der Gesellschaft überhaupt.
Die Psycho-Esoterik-Körperwelle, die im Grunde ja schon seit Mitte der
70er Jahre immer mehr anschwillt, kann dabei in ihrem einseitigen Abkippen in
der Kritik auch als Flucht ins Abstrakt-Pseudokonkrete gesehen werden, als selber
bloß abstrakte Verneinung des Abstrakten. Schon in den 80ern und davor
wurden ja dramatische gesellschaftliche Umbrüche sichtbar; der Kapitalismus
wurde seit Mitte der 70er Jahre zum Hightech-Kapitalismus, was sich in einer
nahezu allumfassenden Computerisierung, Medialisierung und auch weiteren Kommerzialisierung
der sozialen Verhältnisse zeigte. Diese Entwicklungen gingen in atemberaubender
Geschwindigkeit vonstatten. Nicht von ungefähr fallen die Individualisierungsdebatten
in diesen Zeitraum. Auch wenn sich der teutonische Yuppie längst an seinen
Computer gewöhnt hat (und nicht nur der männliche), ja gar nicht so
selten geradezu in ihn vernarrt ist, und alle möglichen Annehmlichkeiten
der Hightech-Entwicklung schätzt (von der Auswahl der Fernsehprogramme
bis hin zu den Fernreisen): gerade der Zulauf, den New-Age-Zirkel und verschiedenste
Esoteriksekten und Psychogruppen haben, deutet darauf hin, daß er mit
dieser extrem dynamisierten Entwicklung letztendlich doch nicht so gut zurechtkommt.
Es kommt offenbar zu einer Spannung im teutonischen Yuppie. In akuten Krisensituationen
könnte das in Verbindung mit Verschwörungstheorien womöglich
dazu führen, daß die raschen Umbrüche des Hightech-Kapitalismus
von manchen mit »den Juden« identifiziert werden. Ähnlich wie
schon einmal, könnte »das Netz dynamischer Kräfte, die, weil
sie nicht durchschaut (...) werden (...) in Gestalt des internationalen Judentums
wahrgenommen werden« (Postone, 1988, S. 246). Antisemitische Tendenzen
könnten sich dabei heute nicht nur daraus ergeben, daß »der
Jude« mit dem Wert gleichgesetzt wird, sondern gerade daraus, daß
der Wert eben in und durch die ihm eigene Abstraktion (auf der Oberflächenebene
z.B. in der arbeitsplatzeinsparenden mikroelektronischen Entwicklung sichtbar)
selbst zum (substantiellen) Verschwinden gebracht wird, ohne daß gleichzeitig
seine Zwänge und Kriterien aufgehoben werden. Zwar erscheint es als unwahrscheinlich,
daß sich eine staatlich organisierte Vernichtung der Juden wie im Nationalsozialismus
noch einmal wiederholt; dem stehen die Globalisierung, internationale Verflechtungen
usw. entgegen. Pogrome, Friedhofsschändungen, weitere Verfolgungen und
Diskriminierungen in größerem Maßstab sind aber nach wie vor
möglich.
7.
Antisemitische Denkmuster
unterscheiden sich von rassistischen Ressentiments. Jürgen Elsässer
differenziert, wohl im Rekurs auf Moishe Postone, zwischen einem »westlichen
Nationalismus«, dem der Wohlstandschauvismus entspricht und der sich in
der kolonialistischen Tradition rassistisch gegen »die Untermenschen«
richtet, und einem »völkischen Nationalismus«. Der völkische
Nationalismus richtet sich im Gegensatz zum westlichen Nationalismus gegen »Ausländer«
generell, auch wenn sie ökonomisch etwas »einbringen«, was den
westlichen Nationalismus zu ihrer Duldung veranlassen würde. Der Hauptgegner
des völkischen Nationalismus sind die Juden, die im Gegensatz zur »eigenen
Nation« als Weltmarktgewinner und als »Übermenschen« imaginiert
werden und denen eine »jüdische Weltverschwörung« unterstellt
wird (vgl. Elsässer, 1994, S.390). Im Hinblick auf die 80er und 90er Jahre
wäre jedoch meines Erachtens nach dem Zusammenhang von wohlstandschauvinistischem
Rassismus und dem (neuen) antisemitischen Ressentiment zu fragen.
Wie am Text von Johanna W. Stahlmann gut zum Ausdruck kommt, war gerade der
neoliberale Zeitgeist der 80er Jahre durch eine allgemeine Spekulationseuphorie
auf verschiedensten Ebenen geprägt (zentral wäre hier auch noch das
allgemeine Beziehungs-Tingel-Tangel zu nennen, das bis heute unvermindert anhält).
Das, was dem Klischee nach als »typisch jüdisch« gilt, Geschäftemachen,
Börsenspekulation, »Raffgier«, ein kosmopolitischer Gestus u.ä.,
fand der teutonische Yuppie damals ganz besonders neckisch; ganz zu schweigen
von der Raffgier vieler Ostdeutscher, die sich heute bisweilen als so »kommerzgeschädigt«
sehen. Nach der sozusagen »ruralen Phase« in den 70ern und auch Anfang
der 80er badete der teutonische Yuppie nun geradezu in der »Abstraktion«.
Die Luxusemphase bis Anfang der 90er steht damit natürlich in einem Zusammenhang.
Denn sie war zentraler Ausfluß des Scheinbooms einer defizitfinanzierten
Weltkonjunktur, die derartige Haltungen benötigte.
Seitdem jedoch diese Konjunktur mit ihrem hohen Hightech- und Konsumniveau in
den hochindustrialisierten Ländern zu Ende ist, schlägt der wohlstandschauvinistische
teutonische Yuppie um sich und macht seine Grenzen gegenüber Asylbewerbern
dicht; er will sich ein möglichst hohes Konsumniveau unter den verschlechterten
ökonomischen Bedingungen unbedingt erhalten. Dabei gehört es gewissermaßen
zum »Wesen der rechten Reaktion«, daß sie die fiktiven Grenzen
von Innen und Außen, von »Fremden« und »Einheimischen«
auch nach »innen« zieht. Deshalb kann es ironischerweise z.B. auch
Politikern passieren, daß sie wie Sozialhilfeempfänger wegen Sozialschmarotzer-
bzw. Korruptionsverdacht gleichsam mit einem Gitterwagen nackt durch die Stadt
gezerrt werden und der Henker mit glühenden Kohlen auf sie wartet. Alle
diejenigen, denen nachgesagt wird, daß sie nicht »anständig«
ihr Geld verdienen oder »unproduktiv« Kosten verursachen, geraten
nun plötzlich in die Schußlinie. Das ohnehin schwachsinnige Motto
des Kapitalismus: Freie Fahrt dem »Tüchtigen«, gilt jetzt erst
recht.
Im Fortgang der weiteren Krise kommt es nun natürlich - in derselben weltökonomischen
Fallinie - zu allerlei Turbulenzen auf den Finanzmärkten, zu »Baupleiten«,
scheinbar verschuldet durch »gemeine« Spekulanten (Schneider), zu
Bankenkrächen (zuletzt bei Baring) usw. Längst schon wurden die Negativfolgen
der neoliberal-konkurrenten Hightech-Individualisierung erkennbar, z.B. in der
Jugendgewalt. Und nun, nachdem er Exorzismusprozesse á la Dönhoff
und Co. durchlaufen hat, was seine üppigen konkurrenzorientierten »Spekulantenanteile«
in der prosperierenden neoliberalen Phase angeht, kann der teutonische Yuppie
jetzt auch auf die »echten« hinterhältigen und egoistischen Spekulanten
losgehen, mit denen er ja nun nichts mehr zu tun hat, und einem mehr oder weniger
offen werdenden Antisemitismus frönen. Jetzt entdeckt er »Raubritter
in Glaspalästen« (Hans G. Möntmann) und führt - massiv unterstützt
durch eine breite Öffentlichkeit - einen Kampf »Allein gegen die Banken«
(Christa Lobner). Der konsumfreudige und sorglos Kredit aufnehmende Häusle-Bauer-Yuppie
fühlt sich nun durch die Banken und durch »Wüstenrot« bedroht.
Man könnte daher sogar fast sagen, daß der teutonische Yuppie soweit
ging, mit dem Spekulantendasein bloß zu spielen, nach dem Motto: s'war
ja nicht so gemeint, ich hab' bloß so getan »als ob«!
Dieser Exorzismusprozeß begann jedoch schon in den 80ern, z.B. eben in
jenem Film »Pretty Woman«. Insofern hat J.<|>W. Stahlmann tatsächlich
recht, obgleich auch nur zur Hälfte, wenn sie an folgender Stelle über
das postmodern-spekulierend-beliebige Subjekt schreibt: »eins allerdings
können diese Subjekt-Objekte keinesfalls: ihren Frieden schließen
mit der Wertvergesellschaftung, indem sie irgendeine Perspektive in ihr finden,
sie werden beim besten Willen keine schaffenden Helden mehr werden, höchstens
selbst die Personifikation des raffenden Geldhechts. Letztere ist allerdings
eine schale, kurzatmige, deren Ende sich bereits aktuell in den kleinen und
großen Farcen der Finanzmärkte abspielt. Aus diesem Blickwinkel heraus
erklärt sich auch, warum jener unterhaltsame Film nichts weiter als das
Lächeln der Beliebigkeit zeigen konnte. Er ist gemacht von und für
Menschen, die sich selbst peinlich sind« (Stahlmann, 1990, S. 73). Eben!
Vielleicht sind gerade diejenigen die schlimmsten, die dem Geld »raffgierig«
hinterherlaufen und sich dabei selbst peinlich sind, besonders dann, wenn es
zunächst einmal ins Unbewußte gerutscht ist, daß einem schon
die Alten signalisiert haben, daß so ein Verhalten »jüdisch«
sei. Das Gefühl der Peinlichkeit ist eben pein-lich und will verdrängt
werden, und auf diese Weise gedeiht vielleicht gerade das antisemitische Ressentiment.
Die postmoderne 80er-Jahre-Mär vom harmlos-genießenden Konsumenten
(bei J.W.Stahlmann mit »Abzockermentalität«), wie sie häufig
anzutreffen war/ist, stimmt dabei auch insofern nicht, als dieser seine konsumhedonistischen
Haben-Wollen-Haltungen (nicht erst) in der Krise ohne weiteres zur Privatsache
erklären kann; mit den »gemeinwohlschädigenden« Haben-Wollen-Haltungen
in der öffentlichen Großsphäre, z.B. der (implizit jüdisch
konstruierten) Spekulanten, hat er dann nichts mehr zu tun. Dies kann sogar
soweit gehen, daß er z.B. selbst Steuern hinterzieht und dabei öffentlich
gleichzeitig nach strengeren Steuergesetzen schreit. Erst recht hält ihn
dann nichts davon ab, z.B. gegen »Asylanten« zu wettern, wenn er selbst
Sozialhilfe bezieht (es soll ja auch schon konservative Richter in Abtreibungsprozessen
gegeben haben, die drakonische Strafen verhängten, ihre Freundin aber nichtsdestoweniger
selbst zur Abtreibung gedrängt haben). Diese kapitalistische Grundstruktur,
die aus der Trennung in öffentliche und private Sphäre resultiert,
greift durchaus auch in postmodernen Zeiten noch. Auch deshalb geht die Rechnung
J.W. Stahlmanns nicht auf.
Dementsprechend schickt der sich nun »bieder« gerierende teutonische
Yuppie in den 90ern seine Psychologen aus, um die »pathologische Spekulantenseele«
zu ergründen und von sich selbst absehen zu können: »Bei vielen
Spekulanten sind bestimmte Persönlichkeitseigenschaften besonders ausgeprägt.
Sie sind extrem leistungsmotiviert, konkurrenzorientiert und materialistisch
- gelegentlich sogar gewinnsüchtig. Ihre Bereitschaft zum Risiko ist besonders
groß, da Risiko in ihrem Umfeld geradezu als soziale Norm gilt. Probleme
und Mißerfolge werden verdrängt, weil letztendlich nur Gewinner zählen.
Ferner folgen die meisten Spekulanten einer Machbarkeitsideologie, so daß
sie anfällig sind für sogenannte Kontrollillusionen: Sie überschätzen
ihre Möglichkeit, Ereignisse an den Finanzmärkten erklären, vorhersagen
und beeinflussen zu können. Dabei paaren sich häufig Selbstglorifizierung
und Angst zu einer paradoxen Mischung« (Carsten Lüthgens/Stefan Schulz-Hardt:
Spiel ohne Grenzen, in: Die Zeit Nr. 12, 17. März 1995).
Zwar wird in diesem Artikel auch bemerkt, daß derartige Eigenschaften
auch andere Menschen besäßen, bloß eben nicht so ausgeprägt.
Gerade dadurch aber eignet sich dieser Text gut für Projektionen des teutonischen
Durchschnitts-Yuppie, der seine eigene Leistungs- und Konkurrenzorientierung,
materielle Ausrichtung usw. in Absetzung von der angeblich »besonderen«
Pathologie der Spekulanten nun auch noch als »gesund« und »normal«
ansehen kann. Im Grunde zeigt aber das obige Zitat zur »Spekulantenseele«
den Zustand des freigesetzten Individuums in der »Risikogesellschaft«
(Ulrich Beck) und im »Zeitalter des Narzißmus« (Christopher
Lasch) wie in einem Brennglas, wobei dieses Zeitalter überhaupt, vor allem
in Krisenzeiten, sowohl individuell als auch kollektiv zwischen Allmachts- und
Ohnmachtsphantasien schwankt. »Risiko« gilt heute ja nun weiß
Gott fast für jede und jeden als »soziale Norm«. Seit der Reagan-Thatcher-Kohl-Wende
zählen erst recht nur Gewinner und ist dementsprechend eine Gute-Laune-Miene
angesagt, die »Probleme und Mißerfolge verdrängt«, um den
»Erfolg« auf keinen Fall durch irgendwelche psychischen Instabilitäten
zu gefährden. »Positives Denken« sozusagen, wie es in New-Age-Zirkeln
nicht von ungefähr schon seit geraumer Zeit als Maxime ausgegeben wird
und in Manager-Seminaren längst seinen festen Platz hat.
Konsum- und angebotsorientierte Haltungen und »Geldhechtereien« sowie
ein damit verknüpfter - mehr oder weniger feiwillig gewählter - flexibler
Lebensstil sind so gesehen eben mitnichten ein Bollwerk gegen den Antisemitismus,
wie es z.B. bei Stahlmann erscheint, die naiv eine Identifikation des teutonischen
Yuppie mit dem Bild »des Juden« voraussetzt und daraus schließt,
daß er kein Antisemit mehr sein kann! Eher ist das Gegenteil der Fall.
Gerade in der Krise bergen konsumhedonistische Haltungen im Zusammenhang mit
Kokurrenz- und Besitzstandswahrungsinteressen sowohl das wohlstandsstandschauvinistisch-rassistische
als auch das antisemitische Ressentiment gleichermaßen in sich. In seinen
Projektionen sieht sich der teutonische Yuppie im Fortgang der weiteren Krisenentwicklung
womöglich zunehmend »den Juden« gegenüber als »Untermensch«,
wie er selbst Asylbewerber, Menschen mit anderer Hautfarbe, »Ausländer«
als »Untermenschen« betrachtet, die ihm etwas wegnehmen könnten!
8.
Dementsprechend hat der
teutonische Yuppie in den Mittneunzigern trotz aller Erschütterungen nicht
von seinem Yuppie-Sein gelassen, wenngleich sich auch das Spielniveau in der
Krise geändert hat und der Börsen-highflow (wie er zumindest in der
öffentlichen Gesamtstimmung in den 80ern da war) beim Möchtegern-Normalo-Yuppie
nun vielleicht nicht mehr so hoch »im Kurs« steht. Dafür allerdings
das Glücksspiel, der Jackpot, die Lotterie umso mehr, die weniger kostspielig
sind. Seine »Raffgier« ist in vielerlei Hinsicht ungebrochen, auch
wenn sich heutzutage der teutonische Yuppie hierfür freilich sogleich selbst
in den Medien geißelt: »Inzwischen ist der vor das Spielervolk gehaltene
Glücksbrocken ins Gigantische angewachsen. Das steigert die Gier und erhöht
die Spiellust. Aber die greift ohnehin immer mehr umso sich: Nahezu allgegenwärtig
ist die Jagd auch nach dem kleinen Schnäppchen - am deutlichsten im Fernsehen.
Dort zählen Gewinnspiele zur Routine« (Spiegel, 37, 12.9.1994, S.
98).
Aber auch noch auf anderen Ebenen wird gespielt, was das Zeug hält. Im
teutonischen Gesamtdiskurs der 90er Jahre steht dem Kollaps-, Katastrophen-
und Apokalypsediskurs, der allem ein Ende macht, der Politik, der Vernunft,
der Geschichte usw. und einem noch (?!) marginalisierten biologistischen Anthropologiediskurs
gleichberechtigt ein »Gute Laune«- Diskurs gegenüber, der sich
um keinen Preis verdrießen lassen will. Man hat geradezu den Eindruck,
daß Existenzängste und Ratlosigkeit die Spielleidenschaft ungemein
fördern und die spekulativ-beliebigen Spielindividuen, -wissenschaftler,
-theoretiker und -philosophen die Möglichkeit eines Spiels ohne Grenzen
annehmen lassen. Denn diese unbegrenzte Spielmöglichkeit ist der Ausgangspunkt
vieler Zukunftsvisionen und 90er- Jahre-Utopien.
Demgegenüber polemisiert etwa Wolf Dieter Narr gegen zivilgesellschaftliche
und kommunitaristische Entwürfe, aber auch gegen neuere Politik- und Demokratiedebatten,
wie sie sich gerade auch bei Politikerfindungs-Beck in den 90ern finden, die
von einer »schier unbeschränkten Kontingenz« ausgehen und sowohl
empirisch und theoretisch als auch was ihre Realisierungsmöglichkeit angeht
kaum einen Boden unter den Füssen haben: »Herrliche Zeiten scheinen
ob dieses grenzverdämmernden Spielraums, handlungstheoretisch begriffen,
anzubrechen. Der Chance nach jedenfalls. Die globalen Kontingenzen blüh'n,
es ist eine Lust in einer solchen "postmetaphysisch" restlos offengemachten
weltweiten Risikogesellschaft zu leben und zu forschen (...). Milan Kunderas
Warnung, daß eine "unerträgliche Leichtigkeit des Seins"
drohe, kann überhört werden, wenn die Leichtigkeit individualistisch
entlasteten Seins überall möglich zu werden scheint. Die bewohnte
Erde als quirliges Pluriversum« (Narr, 1994, S. 589). Rien ne va plus.
In diesem Zusammenhang müssen natürlich auch die anderen »Spielernaturen«
genannt werden, Erlebnisgesellschafts-Schulze und Multioptionsgesellschafts-Gross,
die neben Risikogesellschafts-Beck in der phänomenologischen Abteilung
der Uni Bamberg einsitzen bzw. ehedem einsaßen, und die die willige Teutonenwelt
mit ihren Heile-Welt-Options-Konzeptionen schon seit geraumer Zeit beglücken
- entbunden aller größeren gesellschaftskritischen Zumutungen.
Aber auch die Vorliebe für Medientheorien, das Spiel mit den Zeichen und
den Identitäten sind - ausgehend von bestimmten popkulturellen Szenen,
wo sie ein ideales soziales Biotop in den 80ern hatten - in den teutonischen
Gesamtdiskurs geschwappt. Trotzig wird einer (früher) oft pauschalen und
ressentimentgeladenen Medien- und Technikfeindlichkeit und einigen weniger radikalen,
nachdenklichen Hinweisen auf eventuelle Negativfolgen einer umfassenden »Durchmedialisierung«
der Gesellschaft nun eine ebenso pauschale, ins andere Extrem fallende Medieneuphorie
entgegengesetzt. Die Medien selbst machen sich nun zu einem »aufgedrehten
Medienthema« (Wolfgang Welsch). Cyberspace, Computersimulation und in dem
Zusammenhang die Abkehr vom humanistischen Menschenbild sind die Stichworte,
an die sich die Zukunftshoffnungen knüpfen. Dabei wird im »Technodiskurs«
grundsätzlich davon ausgegangen, daß »die unbeschränkte
Simulationsfähigkeit bloß eine Frage der Zeit sei. In den Worten
Peter Weibels: "Dann wird die Realität zu einem Text der Macht, dann
werden die Objekte zu Zeichen im Diskurs der Macht"« (Köster,
1993, S. 797).
Mit Hilfe einer allumfassenden Medialisierung und Ästhetisierung sollen
jetzt alle Menschheitsprobleme gelöst und neue Formen einer selbstorganisierten
und solidarischen Praxis gefunden werden, ohne im mindesten die kapitalistisch-warenförmige
Basis in Frage zu stellen (vgl. zur Kritik auch Mayer, 1994).
Ebenso wird in den Debatten um das Trio Klasse, »Ethnie« und Geschlecht,
die seit 89 sowohl die etablierten Verfechter einer grün-sozialdemokratischen
Multi-Kulti-Bonsai-Gesellschaftsveränderung an den Universitäten als
auch bestimmte Teile der verbliebenen linkradikalen Opposition gleichzeitig
in Atem halten, beständig »umcodiert«, »dekonstruiert«
und mit Identitäten und Zeichen gespielt bzw. Sinn und Unsinn solcher theoretischer
und praktischer Strategien sind überhaupt Gegenstand der Diskussion.
Judith Butlers Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« z.B. hat (nicht
nur im Feminismus) großes Aufsehen erregt. Darin ruft sie zum institutionalisierten
Spiel mit den Geschlechtsidentitäten auf, um die symbolische Geschlechterordnung
zu stören. Transvestiten und Transsexuelle haben in der sozialwissenschaftlichen
Forschung und in den Zeitgeistblättern Hochkonjunktur. Und so verwundert
es auch nicht, daß unsere Johanna W. Stahlmann eigentlich »männlicher
Natur« ist, aber ein weibliches Pseudonym verwendet, also ihrem Text getreu
mit den Geschlechtsidentitäten spielt. Es soll hier nicht gänzlich
in Abrede gestellt werden, daß das »Spiel mit Identitäten«
in mancherlei Hinsicht auch etwas bringen kann; auf Ganze gesehen erweist es
sich aber, auch nachdem es von einer breiten Medienöffentlichkeit entdeckt
ist, in Krisensituationen vor allem als symbolische Entsorgung sozialer Probleme
und als Verschleierung sozialer Disparitäten und Machtverhältnisse.7
In diesem Zusammenhang besteht auch die Gefahr, daß die bloß einseitige
Kritik am (westlichen) Universalismus in poststrukturalistischen Konzepten antisemitisch
aufgegriffen und zurecht-interpretiert werden könnte.
In etlichen Artikeln wird - in gewisser Weise zurecht - eine Bohemisierung der
Gesellschaft konstatiert. Der Lebensstil einer früheren Avantgarde habe
sich heute verallgemeinert. Fragwürdig ist es aber, wenn dabei das Problematische
an der massenhaft prekären postmodernen (Arbeitslosen-)Existenz entdramatisiert
und mit dem (freigewählten) Künstlerdasein verglichen wird: »Die
Ähnlichkeit der Arbeits- und Lebensformen der Arbeitslosen und der Künstler
wird immer auffälliger. Marginal sein heißt heute zum einen egal
sein, immer häufiger aber auch für den Rest-Konsens als bedrohlich
eingestuft zu werden« (Diederichsen, 1993 a, S.12). Durch den Vergleich
mit dem Künstler wird so der unsicheren postmodernen Lebenssituation ein
spitzwegscher Charme verpaßt und ihr eine spielerische Aura verliehen.
Ganz abgesehen davon, daß doch gerade dem popkulturellen Künstler
und Theoretiker, den Diederichsen wohl im Auge hat, in letzter Zeit im Teutonenreich
nicht gerade wenig Aufmerksamkeit zuteil wird (von Marginalisierung kann da
keine Rede sein).
Die durchaus auch vorhandenen kreativen Potenzen des Arbeitslosendaseins könnten
sich meines Erachtens jedoch gerade erst dann entfalten, wenn sie eine ernsthafte
Auseinandersetzung mit der individuellen und gesellschaftlichen Gesamtsituation
(Obsoletwerden der abstrakten Arbeit etc.) zentral miteinschlössen und
gerade nicht mehr durch Romantisierungen schöngezeichnet würden, die
auf fragwürdigen Analogien basieren. Die vermasste prekäre Existenz
bzw. auch nur die Angst davor enthält allemal auch die Gefahr des Umkippens
ins Pogrom, gerade wenn sie im gesellschaftlichen Bewußtsein marginalisiert
wird und zugleich konkurrent, denunziatorisch und gemein um Anerkennung und
Integration ringt (daß dabei auch die »etablierten« Künstler
früher und auch heute gegen rechtskonservative Tendenzen keineswegs gefeit
sind, wie die Castorfs und Co. neuerdings wieder beweisen, lasse ich hier mal
außer Betracht).
Es gibt sicherlich noch andere Spielebenen in den 90ern: das Spiel mit dem Tod
wäre hier unbedingt zu nennen, nicht nur in Selbstdarstellungen von Aidskranken,
sondern auch in den mittlerweile als schick geltenden hingeschminkten Augenringen
des Topmodels Nadja Auermann z.B.; ein Spiel, das vielleicht den Mittler zwischen
einer Kasino- und einer Katastrophenstimmung darstellt. Diese Aufzählung
reicht jetzt aber erst einmal.
In den 80ern und Anfang der 90er war das Yuppie-Jüngelchen, klischeehaft
dargestellt mit Financial Times unterm Arm, sündteurem Aktenköfferchen,
postmodernem Hitlerjungenhaarschnitt (!) und Ring im Ohr, der Protagonist der
neoliberalen Ära. Es hat etwas Perfides: Nicht lange nach dem Abklingen
der kasinokapitalistischen Spekulations- und BWL-Hipness wird er nun in Handschellen
abgeführt, wie der vom Spiegel denunziatorisch so genannte »Geld-Jongleur
Leeson«. Die gesamte närrische 80er-Jahre-Gesellschaft vom »kleinen
Mann« bis zum Establishment will nun von sich selbst nichts (mehr) wissen.
Es ist der glücklose Glücksspieler mit seinen narzißtischen
Omnipotenzphantasien im (angeblich) »quirligen Pluriversum« vor dem
Hintergrund höchstwahrscheinlich weiterer krisenhafter Entwicklungen, dessen
heitere 80er-Jahre-Miene sich nun zur verkniffen-teutonischen Kleinbürgervisage
verzieht, der Zeigefinger streckt sich und es fehlt nicht viel, und der Ruf
ertönt: »Schlagt ihn tot, er ist ein Spekulant!« Die Angst geht
um, der (»richtige«, womöglich als »jüdisch« imaginierte)
Spekulant könnte dem teutonischen Yuppie nun endgültig das Spiel verderben,
das er seit Anfang der 90er u.a. auch als Palliativmittel benutzt und im Gegensatz
zu den 80ern deshalb noch einmal - in Potenz - talmihaft betreibt.
9.
Um in dieser Situation
einer Stimmung zu begegnen, die antisemitische Tendenzen in sich enthält,
wäre es deshalb notwendig, sowohl von einem infantilen »Gute Laune-Diskurs«
als auch einem albern baßstimmig vergetragenen »Kulturpessimismus«,
gerade auch in der Linken, Abstand zu nehmen (wie er auch Robert Kurz, einem
Herausgeber dieser Zeitschrift, und seinem Stil schon nachgesagt wurde);8
beides, das mittlerweile vielbeschworene Spenglerbedürfnis
und das ihm nicht selten entsprechende völkische Geraune, als auch der
ebenso teutonische Easy-Life-Diskurs ergänzen sich nämlich und bilden
die Extrem-Pole, die die 90er Jahre- Stimmung ausmachen. Sie gehören zu
dem Gesamtsyndrom, das weitere Pogrome und irrationale Ausbrüche hervorbringen
könnte. Stattdessen müßten ernsthafte Debatten geführt
werden, was in der prekären Gesamtsituation der 90er zu tun ist, welche
theoretischen und praktischen Handlungsalternativen sich in einer emanzipatorischen
Perpektive eröffnen. In dieser Hinsicht ist es auch notwendig, die skizzierten
Metamorphosen des teutonischen Yuppie in Rechnung zu stellen und von der Vorstellung
eines bloß körneressenden Ruralteutonen mit autoritären Tendenzen
und Potentialen (der übrigens auch in der Schweinsbraten-Variante existiert)
abzugehen, wie sie manche Linke immer noch hegen.
Insbesondere wären, was die Lage auf den Finanzmärkten und die sozialen
Probleme wie z.B. die Wohnungsnot usw. ebenso wie die Negativfolgen eines plötzlichen
Hightech-, Medien- und Kommerzialisierungs-Schubs in den letzten Jahren angeht,
die warenförmig-systemischen Zusammenhänge zu erhellen, um wenigstens
den Versuch zu machen, der Suche nach Sündenböcken und einem damit
einhergehenden antisemitischen Ressentiment den Boden zu entziehen. Dabei müßte
der teutonische Yuppie, gewissermaßen als ein Subjekt-Objekt dieses systemischen
Gesamtzusammenhangs, nachdrücklich mit sich selbst konfrontiert und auf
die entsprechenden Projektionen aufmerksam gemacht werden mit Hinweis auf die
nationalsozialistische Vergangenheit und deren Vorgeschichte, die sich bekanntlich
schon einmal durch ein stahlgewittriges Runen-Raunen auszeichnete.
Gerade wenn man/frau um die »Grenzen der Aufklärung« (Detlev
Claussen) und um die versteinerten gesellschaftlichen Verhältnisse mit
ihren postmodernen Kleinbürger-Subjekten weiß, bleibt nichts anderes
übrig, als diesen Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen,
um sie, wenn schon nicht großspurig zum Tanzen zu bringen, so vielleicht
doch ein Stück weit aus ihrer gemeingefährlichen Bewegungsstarre aufzuscheuchen
und zu provozieren.
Und genau die Einsicht in diese Grenzen verbietet es auch, Initiativen gegen
Rassismus und Antisemitismus, sofern sie nicht in der nationalistischen Welle
mitschwimmen, von vornherein abzulehnen, wenn sie nicht den »richtigen«
wertkritischen und antikapitalistischen Standpunkt haben. Schon die »neuen
sozialen Bewegungen« in den 70ern und 80ern, in deren Gefolge diese Initiativen
stehen, gingen ja nie im Konservativismus auf, wie manche Linke mein(t)en. In
der Krisensituation der 90er geht es meines Erachtens nämlich darum, mit
all jenen zu rechnen, die noch bei Sinnen sind und sich ein Unrechtsbewußtsein
und einen gesunden Menschenverstand im Sinne Hannah Arendts bewahrt haben, also
diametral entgegengesetzt zu der heute wieder so beliebten Stammtischweisheit:
»Der Ehrliche ist immer der Dumme« und dem sozialdarwinistischen Uralt-Gemeinplatz
der bürgerlichen Gesellschaft: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht
essen«.
Manche der verbliebenen
Restlinken werden sich in der zugespitzten Krise womöglich in einer traurigen
alt-linken Tradition selbst jener bloß oberflächlichen und ressentimentgeladenen
»antikapitalistischen« Stimmung der »dummen Kerle« anschließen,
die antisemitische Tendenzen impliziert und - Personifizierungen erliegend -
z.B. an der billigen Jagd auf »Spekulanten« teilnehmen. Andere Linke
sehe ich schon beisammenstehen, offen oder klammheimlich um den teutonischen
Yuppie-Puppi greinend. Wie war er doch so schön, geschleckt, kosmopolitisch,
hedonistisch und tolerant, so undeutsch und uninnerlich in seine Maske verliebt
- ganz im Gegensatz zu dem verkniffen-provinziellen Kleinbürger-Pöbel.
Dabei - ist der teutonische Yuppie das selbst.
1
Diesen Aspekt habe ich in meinem Artikel »Die Maske des Roten Todes. Kasinokapitalismus,
Frauenbewegung und Dekonstruktion« nicht genug betont und die hedonistische
Seite der 80er Jahre zu sehr herausgestellt (Scholz 1995).
2
Freilich gilt dies nicht für alle Linken. So thematisiert z.B. Jürgen
Elsässer diese Phase unter den Überschriften »Postfordismus und
Postmoderne« und »Postmoderne und Antimoderne« und bezieht dabei
auch die Überlegungen Hannah Arendts mit ein (Elsässer 1992, S. 115
ff.). Und auch die Redaktion der Zeitschrift »17°C« fragt in ihrem
Artikel »Gegen den deutschen Opferkult« in Abgrenzung zu altlinken
Standpunkten, die Modernisierungsprozesse außer acht lassen und immer
noch den »autoritären Charakter« für neuere Rechtsentwicklungen
bemühen: »Zu welcher "Barbarei" ist der Hedonist fähig?«
(Nr. 10, 1995, S. 26). In gewisser Weise ist die kasinokapitalistische Phase
hier also mit angesprochen (vgl. dazu auch den Aufsatz von S.G.: »Geisterkunde.
Die "Wiederkehr des Faschismus"« in demselben Heft).
3
Daß das Dilemma der sogenannten Dritten Welt heute gerade darin besteht,
eben nicht mehr ausgebeutet zu werden, wie in letzter Zeit häufig zu hören
ist, kann hier nicht ernsthaft geltend gemacht werden. Denn es ist ja, absurd
genug, gerade dieser Umstand, der kriegerische Auseinandersetzungen und Flüchtlingsbewegungen
hervorruft, der also bewirkt, daß »die Anderen« zu »uns«
kommen. Wird der ökonomische Sachverhalt in einem derart wohlfeilen Sinne
geltend gemacht, so äußert sich für mich darin selber schon
der Wohlstandschauvinismus.
4
Diederichsen weiß in dem neueren Artikel »Die Elenden und die Erlebenden.
Drogen, Techno, Sport« (1994 b) zumindest zum Teil um die hier aufgezeigten
Zusammenhänge. Er trennt verschiedene Hedonismus-Varianten: einen protestantischen
Geißler-Hedonismus, der erst in der Strapaze zu sich kommt, einen chemisch-leichten
Junkie-Hedonismus und die Ekstase der Techno-Kids, wobei er freilich für
die beiden letzteren Partei nimmt. Wohlstandschauvinistische Haltungen und problematische
kasinokapitalistische Individualisierungstendenzen sind dabei bezeichnenderweise
nicht sein Thema. Eine zunehmende Konkurrenz- und Arbeitsorientierung wird bloß
am Rande thematisiert und ist der Argumentation eher implizit unterlegt. Stattdessen
geht es Diederichsen darum, »mal kurz innezuhalten und nachzusehen, was
der Mainstream in Bezug auf Lifestyle, Drogen, Ausgrenzung und Aufräumen,
innere Sicherheit, Polizeivollmachten und Neubewertung von Ekstase zur Zeit
an Konsensvorlagen verhandelt und demnächst verabschieden wird« (Diederichsen,
1994 b, S. 7). Ausgrenzungsabsichten werden dabei vor allem gegenüber als
»Ausländer« konstruierten Dealern kritisiert und das damit verknüpfte
Vergiftungs- und Verseuchungsphantasma aufgezeigt - beides meines Erachtens
sehr berechtigt, aber nichtsdestoweniger reduziert von der analytischen Ausstattung
her. Ein wenig entsteht so der Eindruck, daß die Angst um die eigenen
Hedonismus- bzw. Ekstase-Möglichkeiten die Feder führt. Der in vieler
Hinsicht durchaus auch sympathische Text von Diederichsen appelliert im Grunde
an die »an sich« hedonistische Gesellschaft, sich dem repressiven
90er-Jahre-Staat entgegenzustellen, ohne zu fragen, wie das eine und das andere
gleichzeitig möglich ist und zusammenhängt.
5
Unter »sekundärem Antisemitismus« versteht Elsässer dabei,
wie in der Fachwissenschaft üblich, den »Antisemitismus wegen Auschwitz
- also nicht trotz Auschwitz, sondern wegen Auschwitz. Dieser neuartige Antisemitismus
äußert sich beispielsweise in der "Ausbeutungsthese": Israel
wolle "mit den Schuldgefühlen der Deutschen ein Geschäft machen",
in der daraus resultierenden Ablehnung der Wiedergutmachung und vor allem in
der Forderung "endlich in Ruhe gelassen zu werden", nichts mehr hören
zu müssen von der deutschen Schuld« (Elsässer, 1992, S. 72).
6
Daß die Figur des Hausmeisters in den 90ern zurückkehrt und wiederum
ein neues Spießertum zum Vorschein kommt, weiß auch einer der teutonischen
Oberyuppies: der »Trendforscher« Matthias Horx (1993, S. 118. ff).
7
So ist es mir z.B. mehr als suspekt, wenn weiße Heteromänner, die
sich seit Jahr und Tag gegen feministische Zumutungen gewehrt haben, und für
die weder Sexismus noch Homophobie in Diskussionen jemals ein ernstzunehmendes
Problem darstellten, auf einmal zu glühenden Judith-Butler-Fans werden.
Es drängt sich hier unweigerlich der böse Verdacht auf, daß
man sich so aller Infragestellungen der weißen, männlichen Heterosexualität
und der damit verbundenen männlichen Dominanz in der Gesellschaft entledigen
will. Man eignet sich den Style, den Habitus von Frauen und Schwulen an und
kann sich bei diesem (angeblich) subversiven Verfahren zur »Störung«
der symbolischen Geschlechterordnung sogar noch auf ein feministisches Konzept
berufen, ohne sich der Machtfrage aussetzen zu müssen (die im Sinne eines
Herrschaftsverhältnisses in poststrukturalistischen Konzepten ja auch nicht
mehr gestellt wird). In öffentlichen Diskussionen z.B., in denen das männliche
Diskussionsverhalten kritisiert wird, kann man sich dann sogar darauf zurückziehen,
daß eine derartige Kritik ja die symbolische Geschlechterordnung befestigen
würde und nunmehr geradezu mit der Weihe der Fortschrittlichkeit darauf
pochen, daß alles seine patriarchale Ordnung behält. Im übrigen
(und nicht zuletzt) kann man in der Aneignung des Styles, des Habitus von Frauen
seine (unaufgehobene) männliche Identität erweitern und sogar noch
eine bessere Frau werden, nämlich als der überhaupt beste Mann (um
die weiblichen Seiten bereichert). Eine Haltung, die von feministischen Forscherinnen
schon an den Romantikern festgestellt wurde, und die in Krisenzeiten wie der
heutigen, wo gerade das männliche Selbstwertgefühl sinkt, erst recht
verlockend sein kann. Bei alledem geht man dann - höchst heterokonform
- zuhause mit der Freundin ins Bett, die halt »als Person« und »ganz
privat« nicht ganz so theoretisch, nicht ganz so politisch ist...Demgegenüber
muß selbst Judith Butler in Schutz genommen werden, deren Konzept sich
dem Anspruch nach noch immer gegen Sexismus und Zwangsheterosexualität
richtet und sich, zumindest streng theoretisch genommen, der Beliebigkeitsvereinnahmung
verweigert, auch wenn sie im »Unbehagen der Geschlechter« der Sprache
nach einer derartigen Interpretation Nahrung gibt.
8 So
schreibt z.B. auch Diedrich Diederichsen: »Gute Laune ist progressiver
als Kulturpessimismus« (Diederichsen 1993 b, S. 114). Ich denke, daß
weder das eine noch das andere die Perspektive sein kann.
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