Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Zuerst erschienen in: Merz-Akademie Stuttgart (Hg.): 5 Interviews zur Veränderung des Sozialen mit Robert Kurz, Ulrich K. Preuß, Richard Sennett, Paul Parin u. Diedrich Diederichsen, Stuttgart 1992, S.57–89. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung einer Neuveröffentlichung bei der  Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien, Stuttgart.

Aufhebung der Form

Interview mit Robert Kurz

von Wilhelm Beermann

In Ihrem Buch, »Der Kollaps der Modernisierung«1, wenden Sie sich gegen, wie Sie sagen, linke und radikaldemokratische Geschichtsverbesserer, gegen menschenfreundliches Aufklärertum und systemreformerischen guten Willen. Diese Positionen bleiben Ihres Erachtens dem Autonomiegebaren des bürgerlichen Subjekts, der für es typischen Subjektillusion, verhaftet. Zu jener Illusion zählen insbesondere die, wie Sie sagen, Evergreens der Gleichheit und Freiheit. Allerdings schränken Sie Ihre Ablehnung auf solche Positionen ein, die jene Ideen wie Gleichheit und Freiheit verfechten, ohne die Basisstruktur des warenproduzierenden Systems – und sei es nur begrifflich – anzutasten.

Ich würde Sie gern zu einigen Positionen befragen, die Ihrer Kritik in diesem Sinne nicht anheimfallen. Michael Theunissen sagt beispielsweise, daß speziell zur bürgerlichen Gesellschaft eine Idee von Allgemeinheit gehört, sofern diese die allumfassende Menschengesellschaft sein wollte. »Mit einem derartigen Anspruch war die Selbstverpflichtung der je bestimmten Gesellschaften verbunden, auch nach innen alles in sich aufzunehmen, was Menschenantlitz trägt«.2 Theunissen stellt nun eine These über Allgemeinheit und bürgerliche Gesellschaft auf. Dieser These zufolge »ist die bürgerliche Gesellschaft ihrer Idee nach auf Allgemeinheit angelegt, sofern sie die niemanden ausschließende Menschheitsgesellschaft sein will. Dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht jedoch (...) ihre Realität. Denn realiter beruht diese Gesellschaft auf einer Wirtschaftsordnung, die Allgemeinheit verhindert, weil sie die Eigentümer der Produktionsmittel von denen trennt, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen. Aufgrund des Widerspruchs von Begriff und Realität gerät die bürgerliche Gesellschaft in den Selbstwiderspruch, daß sie die unmittelbaren Produzenten in sich einschließt und zugleich von sich ausschließt. Dieser Widerspruch war unter den Bedingungen des Kapitalismus seit je auch der des Staates.«3 Die Position von Theunissen ist, wie man zum Schluß klar sieht, eine, die die Warenproduktion sehr wohl antastet, aber andererseits, indem sie sich auf jene Allgemeinheit bezieht, einen – ich nenne es jetzt einmal – bürgerlichen Wert, eine Subjektidee ausspricht. Diese Position braucht sogar die Allgemeinheitsvorstellung, um jenen Widerspruch zu formulieren, d.h. um die kritische Distanz zur Warenproduktion herzustellen.

Ich denke, hier liegt ein Mißverständnis vor. Kritik des Kapitals ist eben nicht automatisch Kritik der gesellschaftlichen Form, der Warenform selber. Das ist das Kernproblem. In diesem sich auf die Form der Allgemeinheit Beziehen in dem Sinne, in dem man sagt: hier liegt ein Selbstwiderspruch vor, daß nämlich die Form der Allgemeinheit doch nicht so allgemein ist wie sie sagt – darin liegt für mich ein Mißverständnis. Denn die Form, um die es hier geht, die Konnotation, die hier mitschwingt, ist natürlich: Allgemeinheit all dessen, was Menschenantlitz trägt, im positiven Sinne. Wenn man es aber herumdreht und sagt: diese Allgemeinheit, diese Abstraktheit der Form, das ist selber das Negative, dann kann man es auch identifizieren mit der Warenform, und in der Warenform, auch in der Subjektivität, sind inzwischen alle. Und jetzt stellt in dem Maße, wie sie das werden bzw. heute real geworden sind, sich auch die Negativität dieser Allgemeinheit heraus, und sie müßte als solche kritisiert werden. Also nicht mehr in ihrem Selbstwiderspruch, wo die Allgemeinheit erst noch einzulösen wäre, sondern in der Aufhebung dieser abstrakten Allgemeinheit selber und damit in der Aufhebung von Freiheit und Gleichheit, die als diese puren Abstraktionen, die sie sind, nichts weiter reflektieren als die Freiheit und Gleichheit der Form selber. Das – denke ich – ist eine entscheidender Unterschied zu Theunissen. Das, worauf er rekurriert, ist eigentlich nur die Durchsetzungsgeschichte, in der das Einklagen mit Blick auf die noch nicht in der Warenform befindlichen unterständischen Massen von Arbeitern, von Kolonialvölkern etc. noch Sinn machte; denn ein Zurück hinter diese Moderne – das kann es natürlich nicht geben. Und die Emanzipationsgehalte, die in dieser Moderne stecken, die wurden dann ja auch von denen, die außerhalb gehalten wurden, auch eingeklagt. Das ist aber das Problem dieser Durchsetzungsgeschichte der Warenform selber, daß die unterständischen Massen, Kolonialvölker, die Frauen nicht zuletzt, sie eingeklagt haben, um in diese Allgemeinheit der Warenform als vollgültige Subjekte hineinzukommen, und nur in diesem Kontext ist die Zentralreferenz der Selbstwiderspruch. Aber in dem Maße, in dem dieses Hineinkommen erreicht ist, wird die Form selber zum Problem.

Gibt es also nicht die Frage oder den Gesichtspunkt, daß zwar alle der Warenförmigkeit zufolge vergesellschaftet sind, daß man aber trotzdem sagt: Was immerhin noch aussteht, ist die Ungleichheit in dem Punkt, daß die einen die Arbeitskraft besitzen, und die anderen eben das übrige? Das ist ja das, was für Theunissen so ins Auge fällt, und deswegen würde er vielleicht umgekehrt zugeben: ja warenförmig sind wir natürlich alle, aber es bleibt doch etwas. Und die Allgemeinheitsformel, oder die Gleichheitsformel, hat doch immerhin gegenüber jenem Ausschließungsverhältnis bzw. Ungleichgewicht eine gewisse Kraft.

Gerade hierin liegt aber das Problem der Subjektillusion, und diese Subjektillusion im traditionell-marxistischen Sinne trägt ja auch einen Namen, indem nämlich der Eigentumsbegriff als zentral genommen wird – die Frage des Habens oder Nichthabens. Hier liegt ein Mißverständnis vor, denn das Problem ist nicht das Haben oder nicht Haben, sondern die Form selber und ihre Bewegungsgesetze. Solange ich als zentrale Referenz den Eigentumsbegriff habe und nicht sehe, daß dieses Eigentum nur ein Funktionsmechanismus von etwas anderem ist, nämlich dieser Formbewegung selber (der abstrakten Allgemeinheit der Warenform), habe ich eben die Subjektillusion – nämlich zu sagen: es gibt Subjekte, die haben und wollen haben, und verteidigen ihr Haben gegen andere, die nicht haben und auch haben wollen und es nicht kriegen. Darin liegt gerade die Subjektillusion, nämlich dann sozusagen den Arbeiter als bürgerliches Subjekt ernstzunehmen und zu sagen: alle sollen Eigentümer werden. Damit führt man aber das Verhältnis selber ad absurdum.

Das Zentralproblem, das auch erst heute, in dieser one world, dieser warenförmigen Totalgesellschaft, ans Licht der Oberfläche tritt, ist die Bewegungsgesetzlichkeit selber. Und diese ist der Eigentumsform gegenüber im einzelnen gleichgültig. D.h. ob es sich um ein individuelles Privateigentum, um eine Aktiengesellschaft, um ein Staatseigentum, um genossenschaftliches Eigentum handelt, das ist dieser Formbewegung gleichgültig. Insofern können eigentlich alle Eigentumsformen inklusive des Staatseigentums auf der Basis von Wertverwertung als verschiedene, zum Teil auch historisch verschiedene sich ausdifferenzierende Formen von Privateigentum identifiziert werden. Und diese Vorstellung, Privateigentum sei gebunden an eine spezielle ausgeprägte Form, und andere, etwa das Staatseigentum oder das genossenschaftliche Eigentum, seien ein Gegensatz dazu, die transportiert genau wieder diese Illusion, die nicht die Form selber begreift.

Nun schwebt einem, aus den Pariser Manuskripten von Marx, dieses Wort »das wahrhaft soziale Eigentum«4 vor. So etwas muß es, nach Marx, ja geben.

Also Eigentum verstanden als Aneignung, Aneignung des wirklichen Reichtums, der Reichtum der sinnlichen Welt und gleichzeitig Reichtum an Zeit ist, diese Aneignung von Reichtum kann man durchaus auch als Eigentum bezeichnen. Nur das wäre dann kein Privateigentum mehr, aber erst dann, wenn es diese Form selber durchbrochen hat, diese Form abstrakter Allgemeinheit im Sinn der Warenform.

Das Problem ist, wir sprechen über jemand dritten (Marx), und er kann sich nicht verteidigen. Wir können ihm ja zugutehalten, daß er letztlich so etwas im Auge gehabt hat.

Ja, aber es ist bei ihm noch nicht analytisch getrennt; es verschwimmt ständig diese Problematik der Kritik der Form selber und die Binnenproblematiken, die innerhalb dieser Form ihre Durchsetzungsgeschichte ausmachen. Dieses auszudifferenzieren und zu zeigen, es gibt hier etwas, was binnenproblematisch ist, und etwas, was die Problematik der Form selber ist – darum geht es.

In dem Kontext käme ich dann auch auf das Problem der Subjektlosigkeit, weil es die Bewegungsgesetze der Form selber sind, die subjektlos sind. Die agierenden Subjekte als Eigentümer von Ware Arbeitskraft, von Produktionsmitteln, das ist die Binnenproblematik; hier treffen Subjekte aufeinander. Die Formgesetzlichkeit selber und ihre Bewegung – das ist subjektlos. Das ist genau das, was bei Marx sozusagen als das Betriebssystem der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt ist, was aber kein Subjekt hat, auch keinen Kapitalisten als Subjekt.

Bewogen hat mich natürlich zu meiner Ausgangsfrage Ihre – in der Ausgangsfrage schon formulierte – Differenzierung zwischen solchen, die aufklärerisch klingende Ideen bringen, ohne die Warenlogik in Frage zu stellen, und solchen, die dazu sehr wohl bereit sind. D.h. ich habe gemeint, es gibt für Sie ein in-Anschlag-Bringen von solchen Ideen, das akzeptabel ist, weil es zusammengeht mit einer Kritik des Warensystems. Sie fassen also die Möglichkeit ins Auge, daß man beides zusammen haben kann. Es muß ja nicht behauptet werden, daß irgendjemand oder irgendeine Institution beides zusammengebracht haben, aber Sie lassen diese Möglichkeit doch zu.

Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstehe. Worum es mir geht, ist ja das Problem der Aufhebung, Aufhebung dieser abstrakt allgemeinen Warenform selber – vermittelt mit wirklichen (welt-)gesellschaftlichen Krisenprozessen, d.h. nicht einfach als Idee, sondern auch als praktisches Problem. Und Aufhebung heißt natürlich, in dem bekannten Hegelschen Sinne, keineswegs tabula rasa machen. Solange es sich noch um die Durchsetzungsgeschichten dieser abstrakt-allgemeinen Warenform handelte, konnte die Opposition entweder selber nur dazu dienen, wie etwa die Arbeiterbewegung, diese Form weiterzuentwickeln, oder sie wurde ganz platt-reaktionär, wollte also auf irrationale Weise zurück hinter die Moderne. Ich denke aber, daß es falsch ist, heute diese Polarisierung erneut aufzumachen; sie gehört der Geschichte an. Jetzt käme es darauf an, über dieses Aufklärungsdenken hinauszugehen und nicht immer und ewig wieder die Ideen der Moderne einzuklagen. Denn wenn dieses Formproblem selber zum Gegenstand wird, dann muß man auch darüber hinausgehen, und Aufhebung heißt eben nicht einfach Vollenden, es heißt auch Beseitigen; etwas muß beseitigt werden, es ist diese Form selber, allerdings nach vorwärts und nicht nach rückwärts.

Insoweit würde ich behaupten, es geht nicht um Subjektillusion schlechthin, sondern um die Illusion, man könne Subjektivität dort, wo sie heute nötig wird – eben auf der Ebene der Organisierung von Ressourcen und des gesellschaftlichen Zeitfonds –, mobilisieren in der Form, in der sie gerade verunmöglicht wird. Ich gehe schon davon aus, daß die Aufhebung der Warenform möglich ist, zumal es eine praktische weltgesellschaftliche Frage ist – von der UNO bis zum Regionalismus kann man da ins Detail gehen. Die Crux scheint mir darin zu bestehen, daß von den praktischen Problemen her zwar durchaus eine Menge Ansätze da sind, die sich im Detail mit diesem Aufhebungsproblem befassen, allerdings ohne es zu wissen, weil sie gleichzeitig bewußtlos warenförmig weiterdenken. Und mir schient das weniger das Manko der Praktiker zu sein; von denen kann man das ja auch nicht verlangen – den ersten Schritt in jener Hinsicht muß die Theorie tun.

Den tut sie aber nicht, denn diese ganze Debatte um die Postmoderne hat sich ja eigentlich eingeigelt: Entweder es wird weiter das Aufklärungsdenken propagiert, d.h. es wird weiter versucht, Ideen der Aufklärung einzulösen, nochmal und nochmal. Oder man kapituliert vollständig und sagt: es ist eben ein subjektloses System, und man muß den blinden Gesetzen einfach gehorchen, weil man sie ohnehin nicht antasten kann. Und da würde ich eben schon sagen, es wäre eklektisch, beides haben zu wollen in dem Sinne, daß man sagt, auf der einen Seite will man die Aufklärung, die Moderne vollenden, und auf der anderen Seite möchte man sie auch aufheben. Beides geht nicht, man müßte schon etwas antasten, was bisher nicht angetastet worden ist.

Vielleicht drückt sich sich ja das, was ich vorhin gesucht habe, allein schon in Ihrem Ausdruck von der »praktischen Vernunft« aus. Sie würden ja niemals sagen, wenn ich das Wort »Vernunft« in den Mund nehme, dann ist das Robert Kurz’ absolute Privatschöpfung, das hat mit der ganzen Geschichte dieses Wortes nichts zu tun. Es ist ja völlig sinnlos, so was zu sagen.

Ich habe statt von praktischer auch von sinnlicher Vernunft gesprochen. Der Ausdruck ist übrigens einer, der durchaus sozusagen in der Luft liegt. Es gibt ihn auch in der feministischen Debatte und auch in der ökologischen. Es ist also offenkundig ein Problem, daß diese Realabstraktion, wie es Sohn-Rethel genannt hat, der Ware-Geld-Form, die sich zum Weltsystem totalisiert hat, in immer stärkere Konfrontation mit dem sinnlichen Inhalt (auch den Bedürfnissen, Möglichkeiten, Potenzen in der Naturbeziehung), den sie gleichzeitig im Verlauf der Geschichte hervorgebracht hat, gerät, und die gesellschaftliche Praxis eigentlich danach schreit, daß die Vernunft selber sich ändert, nicht mehr alles über diesen einen Leisten der Abstraktionslogik der Waren- und Wertform schlägt.

Insofern gibt es vielleicht auch einen interessanten Berührungspunkt zum Pragmatismus. Denn pragmatisches Denken würde ich ja nicht ablehnen. Nur bezieht sich der Pragmatismus in seiner heutigen Gestalt – auch in seinen politischen Ausdrucksformen – blind-bewußtlos auf etwas, was eigentlich die reale gesellschaftliche Grundlage des Dogmatismus ist: das, was ich den realen Dogmatismus des Geldes nennen möchte. Diesen auszuhebeln ist einerseits sehr radikal und grundsätzlich (es ist das Problem der Aufhebung der Form); andererseits bedeutet es auf der erreichten weltgesellschaftlichen Ebene, auf eine neue Weise vernünftig zu handeln im Sinne von praktisch-pragmatischem Umgang mit Bedürfnissen und Ressourcen.

Hier steckt ein unaufgelöstes Problem, und insofern denke ich auch, daß diese Kapitulation des kritischen Denkens vor dem Westen, also vor sich selber eigentlich, falsch ist. Denn der emphatische Begriff von Weltvernunft hat ja selber etwas Dogmatisches. Aber die Vorstellung einer vernünftigen Gesellschaft im utopischen Sinne, mit diesem Dogmatismus von Vernunft, der eine ein für allemal festgelegte Form haben will, nach der alles endlich widerspruchsfrei ablaufen soll, diese Forderung nach absoluter Widerspruchsfreiheit – das ist ja selber ein Produkt der widersprüchlichen Entwicklung und Durchsetzungsgeschichte der Ware-Geld-Beziehung. Und jetzt zu kapitulieren und zu sagen: jetzt lassen wir’s eben laufen, wir machen uns klein als Theoretiker, das ist gerade falsch. Es ist unbescheiden. Die Bescheidenheit läge gerade darin, der Theorie den Ort zuzuweisen, endlich fertigzuwerden mit diesem gesellschaftlichen Realdogmatismus.

Ich möchte hier einen Vorschlag von Theunissen erwähnen, was man denn heute unter »vernünftig« verstehen könnte. Der Vorschlag knüpft an eine Idee von Selbstverwirklichung an, die Theunissen als Alternative zur gängigen, modernistischen Selbstverwirklichung versteht. Die modernistische Selbstverwirklichung versteht sich als Entfaltung der je eigenen Individualität, ja als Rückzug und Loslösung aus zwischenmenschlichen Beziehungen bis hin zur Vereinzelung. Dieser setzt Theunissen eine Selbstverwirklichung des Menschen als Menschen, in seinem Menschsein, zusammen mit den Mitmenschen gegenüber. Er nennt eine solche Selbstverwirklichung »subjektive Realisierung von Allgemeinheit«5, was zurückweist auf die Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft als einer umfassenden Menschengesellschaft. Nun gibt es, meint Theunissen, in sich vernünftige Sachen, nämlich die Weltprobleme der Ausbeutung der Natur, des Hungers und des Friedens; und »vernünftig« heißt hier so viel wie »relevant unter dem Gesichtspunkt der Selbstverwirklichung der Subjekte«. Meine Frage: Was halten Sie von einem solchen Nachfolger der aufklärerischen »Vernunft«?

Zunächst einmal fällt mir dazu ein: Warum muß man sich eigentlich selbst verwirklichen? In gewisser Weise – in dieser Abstraktheit formuliert – ist es ja selber schon eine Allgemeinheitszumutung. Und was heißt es überhaupt, sich selbst zu verwirklichen? Es ist im Grunde eine Idee, die aus dem Repertoire der Aufklärung des bürgerlichen Denkens selber stammt, und sie transportiert auch ein Problem. Wenn man es auf seinen reellen Kern bringt, dann wäre es das Problem, daß der bürgerliche Mensch sich immer an irgendeinem Teil seiner selbst unwirklich oder nicht verwirklicht fühlt; daß immer eine Spannung da ist, die resultiert aus dem Verfall der warenförmigen Monade mit sich selbst und mit den andern. Ein Individuum zu sein, aber unvermittelt mit der eigenen Gesellschaftlichkeit, d.h. eben ein abstraktes Individuum zu sein – worüber dann historisch ja Individualität in diesem Sinne erst entstanden ist –, hat immer das Problem, sich abgrenzen zu müssen.

Man kann es, wenn man es auf den Kern bringt, wieder auf das Aufhebungsproblem zuspitzen: Sobald ein reeller Kern da ist, hieße dann sich verwirklichen das werden, was die Gesellschaft als ganzes – das Gattungswesen sozusagen – eigentlich schon ist, was aber keiner für sich hat; und das wären ja die hervorgetriebenen Potenzen und Möglichkeiten. Nur ist dieses unmöglich, wenn die Individuen nicht selber gesellschaftlich sind, sondern abstrakte Monaden. Solange das so funktioniert bzw. nicht mehr funktioniert, ist immer diese Spannung einer Ethik der Selbstverwirklichung da. Sich als Gattungswesen verwirklichen hieße, diese Potenzen in die Individuen zurückzunehmen. Das hieße eben ganz praktisch, daß man dann als Taxifahrer nicht mehr Taxifahrerinteressen, als Stahlarbeiter nicht mehr Stahlarbeiterinteressen, als Kohleproduzent nicht mehr Kohleproduzenteninteressen etc. hat. Die Partikularität bzw. Ungesellschaftlichkeit dieser Interessen ist ja nicht nur eine berufliche oder branchenmäßige, sondern auch eine der Form selber, gebunden an die betriebswirtschaftliche Vernutzungsmaschine: jeder ist hier an irgendeinem Punkt und es wird ihm ein Interesse aufgeherrscht, das aber nicht er ist.

Das ist aufzuheben, d.h. die Individuen sind gesellschaftlich zu machen, und diese Gesellschaftlichkeit ist ja auch schon da, die haben sie ja im Lauf der Geschichte dieser Wertvergesellschaftung selber hinter ihrem eigenen Rücken hergestellt – die berühmte Vernetzung: alle Produktionen sind vernetzt, weltweit; alle Produktionen haben mittlerweile ein gesamtgesellschaftliches Aggregat von Verwissenschaftlichung hinter sich, das diese einzelnen betriebswirtschaftlichen Einheiten und die Interessen, die damit verbunden sind, weit übersteigt.

Hier liegt das Problem, und hier kann man es auch praktisch machen. Nochmals allgemein formuliert: Nicht die abstrakte Allgemeinheit der Warenform, sondern die konkrete Allgemeinheit des vergesellschafteten Menschen herzustellen, darum ginge es; und in dieser Hegelschen Ausdrucksweise heißt das heute auch etwas ganz Praktisches.

Sie würden dann also sagen: Der Versuch des Auswegs, den Theunissen da in Aussicht stellt, indem er auf Anerkennung des oder der anderen als Menschen abhebt, droht zumindest innerhalb der Abstraktion zu verbleiben.

... ja, und genau den Ausweg zu nehmen, der hier von der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Denken selber hervorgebracht worden ist als Versuch, der aber nicht gelingt, nämlich Ethik, d.h das als ethische Forderung aufzustellen. Aber warum soll man dieser ethischen Forderung nachkommen? Es ist immer eine Zumutung an etwas, was man selber doch nicht ist, und das zu werden hieße ja, daß man diese Forderung erstmal an die eigene gesellschaftliche Form stellt und sagt: so kann's nicht bleiben. Man kann es ja auch umdrehen, als Frage: Warum überhaupt kommt es dazu, daß man den anderen nicht gelten läßt? Ist das ein ontologisches, ist es ein anthropologisches Problem, kommt es aus der Biologie oder woher auch immer? Oder ist es nicht vielmehr das Problem derjenigen gesellschaftlichen Form, in der die Menschen sich befinden, und der bisherigen Geschichte als Formgeschichte, als Geschichte der gesellschaftlichen Formationen, in denen immer Gegensätze gesetzt sind nicht aus den einzelnen Personen und Individuen und Subjekten heraus, sondern aus der Form selber heraus, in der sie sich befinden?

Es gibt ja, innerhalb der gesellschaftlichen Form, den Stammtischausdruck »Also jetzt mal: von Mensch zu Mensch« ...

... das kann man immer nachher, sich von Mensch zu Mensch unterhalten, aber nie vorher ...

... d.h. den Stahlarbeiter anders denn als Stahlarbeiter anzusprechen, gibt es viele Möglichkeiten, aber das ist eben nicht der Punkt; sondern es ist die gesellschaftliche Form, in der das stattfindet.

Ein anderer, zunächst aufklärungsverdächtiger Begriff ist der der Universalität, wie wir ihn bei Marx finden. In den Pariser Manuskripten geht Marx, wie er sagt, aus von dem nationalökonomischen Faktum der entfremdeten Arbeit und zieht daraus drei Konsequenzen. Die dritte Konsequenz betrifft den Menschen als Gattungswesen: »Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigene als auch die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern ... auch indem er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält.«6 Dann heißt es: »Indem die entfremdete' Arbeit dem Menschen 1) die Natur entfremdet, 2) sich selbst, seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens entfremdet sie das Gattungsleben und das individuelle Leben, und zweitens macht sie das letztere in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und entfremdeten Form.«7 Ich würde ergänzen aus dem vorherigen: Sie entfremdet ihm auch die Universalität, denn das folgte ja aus dem Satz über das Gattungswesen im ersten Zitat; und sie entfremdet ihm insofern auch das freie Wesen. Meine Frage: Ist eine entfremdete Universalität überhaupt noch eine greifbare oder der endgültige Verlust der Universalität?

Ja, ich reagiere erstmal negativ auf den Begriff der Universalität in dem Sinne dessen, was an Universalität eben vorgefunden wird: die existiert ja, auch als gesellschaftliche, aber in Form der Entfremdung, eben in Form der abstrakten Universalität des Geldes. Das ist ja nun etwas durchaus Handgreifliches und Eingreifendes, Alltägliches, und Universelles. Es ist nicht etwas, was den einzelnen Menschen oder auch die Gesellschaft ausmacht, sondern es ist ein blindes – Marx hat ja gesagt: fetischistisches – Medium, d.h die Gesellschaftlichkeit existiert paradoxerweise in einem toten Ding, und sei es auch nur ein elektronischer Buchungsimpuls – was ja auch etwas Verrücktes an sich hat. Übrigens macht das auch das Problem von Kommunikation aus, denn zu kommunizieren über ein totes Ding und dessen eigengesetzliche Selbstbewegung, die sich verselbstständigt hat, ist natürlich keine Kommunikation über Menschen, und es ist trotzdem etwas von Menschen Hervorgebrachtes.

In dieser Paradoxie liegt eigentlich das Problem, und es wird in dem Maße ein praktisches Problem, in dem es als weltgesellschaftlicher Widerspruch eben auch an seine Grenzen stößt und auch in praktischen Fragestellungen sich darstellt. Diese Universalität umzukehren kann natürlich nicht heißen, daß jetzt jeder Mensch alles macht oder unmittelbar alles ist, was die Gesellschaft als Ganzes sein könnte. Aber es könnte heißen: die Möglichkeit zu universellem Handeln bzw. den Bezug auf die Universalität, die das Gattungswesen angenommen hat – ohne daß allerdings irgendein einzelner Mensch damit umgehen könnte –, wieder in die Handlungsfähigkeit und die Kommunikation der Menschen zurückzunehmen.

Um jetzt einmal einen Sprung zu machen: Das ist ja auch das Problem der Runden Tische in Osteuropa. Der Impetus ist: es soll nicht durch Krieg, durch Konfrontation, durch blinde Formen von Auseinandersetzung, sondern durch bewußte – und das ist jetzt wieder Aufklärungsdenken – Kommunikation, Kompromisse Aushandeln etc. ein erträglicher Gesellschaftszustand hergestellt werden. Genau das geht aber nicht, wenn man sich selber auf einen blinden Mechanismus bezieht und diesen voraussetzt; und das ist die abstrakte Universalität des Geldes außerhalb der Menschen, die als Weltmarktbezug, als monetäre Zwangsgesetzlichkeit diese Runden Tische über den Haufen geworfen hat, umgestoßen hat, und jetzt sitzen die Menschen da, jetzt droht der Bürgerkrieg oder ist schon manifest, und die Leute wissen nicht, wie ihnen geschieht; sie sind eben selber, trotz dieser Kommunikationsversuche, nicht die universellen Wesen, die in ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit sich ausdrücken könnten – sie sind auf dieses blinde, tote Medium bezogen.

Eine Nachfrage. Für Marx taucht ja – in diesen Zitaten – diese Universalität zweimal auf. Zunächst sagt er: Indem der Mensch das und das zu seinem Gegenstand macht, ist er Gattungswesen, und man kann dann gleich auch noch sagen: er verhält sich zu sich selbst als zu einem Gattungswesen oder als zu einem universellen Wesen, und – ich überspitze jetzt – das ist so, indem er produziert. Das ist das eine. Dann kommt also die entfremdete Arbeit, und die löst die beschriebenen Verkehrungen, auch gegenüber sich selbst als Gattungswesen, aus. Ich würde Sie gern – fast als Fernsehfrage – fragen: Würden Sie bejahen: der Mensch, indem er produziert, verhält sich zu sich selbst als Gattungswesen und als universelles Wesen – abgesehen davon, was man mit dieser Vorstellung dann macht, welche Schlüsse man daraus zieht; ich kann es als Axiom akzeptieren? Als Axiom akzeptieren hieße insbesondere, eine Unterscheidung zu machen zwischen dem produzierenden Menschen und dem unter den und den und nicht anderen Bedingungen produzierenden Menschen. – Oder würden Sie sagen: Solche Fragen führen in die Irre, das beantworte ich nicht, oder ähnlich?

Mir ist der Zusammenhang nicht ganz klar, denn dieses Problem des Gattungswesens ist ja selber nicht ein anthropologisches, sondern es ist selber ein historisches. Man kann hier – und vielleicht ist gerade die Interpretation dieser Marxschen Frühschriften nicht ganz frei davon – leicht in eine Richtung kommen, daß man ganz abstrakt und unhistorisch vom Gattungswesen spricht und sich dabei gar nicht mehr vorstellt, was ist denn das Gattungswesen in der Steinzeit, was ist es um 1200, was um 1800, was ist es heute? Wenn man das aber tut, dann stellt sich die Frage etwas anders. Dann muß man auch sagen, daß ja dieser Entfremdungsprozeß selber erst die Potenzen hervorgebracht hat, die jetzt sozusagen als heutige Aufgabe die seiner Aufhebung stellen.

Aber der Entfremdungsprozeß war ja nicht nur negativ, er hat ja gleichzeitig Potenzen und auch eine Universalität, vorerst in dieser fetischistischen, abstrakt-allgemeinen Form des Staates und des Geldes hervorgebracht, die auch immer emanzipatorische Momente enthalten hat – also das, was Marx die zivilisatorische Mission des Kapitals nennt, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Schaffung eines Zeitfonds, und auch eine neue Form von Universalität, nämlich daß die Tätigkeit des einzelnen Menschen nicht mehr eine fixierte ist, diese Möglichkeit, aus einer Tätigkeit in die andere überzugehen (bei Marx ist das noch sehr allgemein formuliert, aber heute ganz praktisch virulent geworden etwa technisch im Zusammenhang mit der Steuerungstechnik, oder bei den Menschen selber: daß die fixierte Berufstätigkeit allmählich erlischt, daß Menschen in die verschiedensten Bereiche gehen können im Laufe ihrer Lebensgeschichte).

Diese Universalität, die sich hier andeutet, befindet sich aber in einer Form, die mit ihr, mit sich selber unverträglich wird. Denn die Menschen tun das ja nicht als Gattungswesen, sondern als abstrakte Individuen, d.h. als Geldverdiener, und als Geldverdiener geraten sie mit sich selbst in Widerspruch, und zwar nicht mehr bloß psychisch oder auf irgendeine Weise philosophisch ausdrückbar, sondern ganz handfest: Als Interessensubjekte bzw. als Geldverdiener betreiben sie einerseits Zerstörungsproduktion, andererseits haben sie als Menschen das Interesse an intakter Umwelt; sie werden also schizophren. Die Schizophrenie der Interessen drückt aus, zeigt, ist ein Indiz dafür, daß diese abstrakte, fetischistische, äußerliche Universalität aufgehoben werden muß durch eine konkrete, sinnliche – wenn man so will – Universalität, die dieses Gattungswesen und das Individuum versöhnt.

Die Sache ist nur die: Marx spricht ja zuerst von einem Verhältnis zu sich als Gattungswesen und dann von einer Verkehrung. Nun kann man doch wohl zumindest sagen: Etwas, was verkehrt wird, muß schon da sein, sonst kann es nicht verkehrt werden. Und das heißt doch wenigstens: Zwar mag die Rede von der unverkehrten Universalität, wie man das auch bei Marx findet, unhistorisch klingen, und man muß auf jeden Fall sehen, daß diese Universalität auch historisch bedingt ist, insbesondere auch durch die sich steigernde Entfaltung der Warenform. Aber trotzdem ist es wenigstens möglich, daß sich in diesem Entfaltungsprozeß auch so etwas wie eine unverkehrte Universalität herausbildet. Sie muß in einem bestimmten Sinne existent sein, damit sie dann verkehrt werden kann. So ein Bild ist doch legitim.

Dieses Bild ist legitim. Ich möchte es wieder praktisch, empirisch betrachten – etwa bei Naturvölkern, aus rekonstruierten Zuständen (das ist immer problematisch mit den Rekonstruktionen, aber vielleicht kann man zumindest einiges nennen, wofür es zumindest Indizien gibt). Auf einer bestimmten Stufe, in der es wenig Arbeitsteilung gibt, erscheinen die Personen als vollere Menschen, weil sie ein ungeheuer großes Spektrum von Aktivitäten, gesellschaftlichen wie persönlichen, abdecken können, weil sie alles unmittelbar selber herstellen können, viele Fertigkeiten besitzen und noch wenig Mittel zwischen sich und die Natur geschoben haben. Diese noch rohe, naturverhaftete Universalität ist es ja, die durch die Arbeitsteilung, Spezialisierung und auch die Medien, die darüber entstehen als blinde (Fetisch-)Formen, allmählich ausdifferenziert wird. So kommt es zu einer Verengung auf der Seite des einzelnen Menschen, der eine Erweiterung auf der Seite des Gattungswesens entspricht, aber darum gerade Einzelmenschen und Gattung auseinandertreten läßt. Wollte man nun eine derartige (wie bei Marx) geschichtsphilosophische Konstruktion machen, dann könnte man durchaus sagen: Es geht um die Wiederherstellung der Universalität, aber jetzt hindurchgegangen durch diesen ganzen gewaltigen Prozeß der Zivilisation; das Problem ist jetzt, diese zwischen sich und die Natur geschobenen Mittel wieder von dem Gattungswesen als solchem kontrollieren und ausdifferenzieren zu lassen.

Es gibt in Ihrem Buch, neben wichtigen Neuerungen, auch eine auffallend klare Aufforderung. Diese lautet: »Radikalisieren wir uns gegen die Marktlogik«. Ähnlich zu dieser Aufforderung gibt es noch die Rede vom Abschaffen der Ware-Geld-Beziehung oder von der Kritik des Geldes. Zunächst: Soweit ich sehe, reden Sie nicht von der Abschaffung des Geldes, sondern lediglich von der Abschaffung von Zusammenhängen, die allerdings wesentlich mithilfe des Geldes inszeniert werden; m.a.W. vom Abschaffen des Geldes in diesen Zusammenhängen. Nun scheint mir evident, daß man das Geld nicht abschaffen kann, ohne das Kapital abzuschaffen, denn das Kapital braucht das Geld. Aber das Umgekehrte gilt meines Erachtens nicht. Eine Gesellschaft kann Geld und Waren verkehr haben, eben – in Ihrer Ausdrucksweise – die nachmoderne Ware/Geld, ohne kapitalistisch zu sein. Als erstes möchte ich Sie fragen, wie Sie allgemein zu dieser Behauptung bzw. Möglichkeit stehen.

Ja, ich halte sie für absurd. Das ist natürlich eine von vielen, vielleicht sogar die Grundfigur des marxistischen Denkens selber, und übrigens auch ironischerweise eine Grundlegitimationsfigur des soeben in Unehren verblichenen Realsozialismus. Natürlich war schon immer klar, daß hier (im Realsozialismus) eine Kritik des Geldes in der Form des Geldes versucht wird, was nur aus der Problematik einer nachholenden Modernisierung erklärbar ist. Und alles, was hier an Kritikpotenz drinsteckte, war immer dem Nachholungsproblem geschuldet und nie dem darüber-hinausgehen-Können.

Dieser Punkt leuchtet mir ein.

Wenn man es nun ablöst von dieser Legitimationsfigur, die sich erledigt hat, dann wäre diese Frage auch auf ihren allgemein-theoretischen Gehalt zu bringen. Und dann liegt hier ein grundsätzliches Mißverständnis vor, das nämlich darin besteht, daß Ware und Geld hier wieder unhistorisch gesetzt werden. Es gibt sozusagen einen ontologischen Grund von Ware und Geld und es gibt einen kapitalistischen Überbau; und nun könnte man diesen kapitalistischen Überbau von Ware und Geld beseitigen und dann sozusagen die ontologische Basis wiedergewinnen.

Wenn man aber jetzt die Ware-Geld-Beziehung selber historisiert, d.h. als historischen Prozeß insbesondere auch vor dem Kapitalismus sieht, dann, denke ich, kann man erkennen, daß die nicht-kapitalistische bzw. prämoderne Warenform schon immer gebunden ist an ein Niveau von Produktivkraftentwicklung. Also: Eine Ware-Geld-Beziehung, die nicht zum Kapital wird, das kann nur eine von solchen Warenproduzenten sein, die vom Stand ihrer Produktivkraftentwicklung her noch gar nicht den Verwissenschaftlichungsprozeß durchlaufen haben, die also noch tatsächlich als voneinander getrennte Produzenten agieren - der Bäcker, der Fleischer, der Bauer, die tatsächlich auf einen Markt angewiesen sind, um überhaupt in gesellschaftliche Kontakte treten zu können, die also – mit anderen Worten – nicht vernetzt sind; bzw. der einzige dünne Vernetzungsfaden ist tatsächlich der Markt. Das Paradox des Kapitals besteht gerade darin, daß es auf der einen Seite die Ware-Geld-Form totalisiert, zu einem Selbstbewegungsmechanismus, d.h. zu einem Selbstverwertungsprozeß macht, gleichzeitig aber inhaltlich-stofflich den ganzen Verwissenschaftlichungsprozeß überhaupt erst hervorbringt, der jene Vernetzung herstellt; diese liegt aber auf einer ganz anderen Ebene als auf derjenigen der abstrakten monetären Vernetzung. Insoweit hieße Abschaffung des Kapitals auch Abschaffung - wenn man schon in diesem Ausdruck redet – des Geldes überhaupt, weil der inhaltlich-stoffliche Prozeß, der Verwissenschaftlichungsprozeß ja nicht zurückgedreht werden kann.

Wenn man die Ware-Geld-Beziehung von den jeweils verschiedenen stofflich-inhaltlichen Produktivkraftständen trennt, die historisch zu beobachten sind, dann ontologisiert man ja nicht einfach eine bestimmte Form von Produktivkraftentwicklung (die man gar nicht mitdenkt), sondern man geht auch immer schon von einer bestimmten Subjektform aus, die selber erst historisch entstanden ist, nämlich diesem geldverdienenden Subjekt, das man so oder anders organisieren könne. Diese Denkweise unterschlägt ja, daß dieses Subjekt selber ein historisch gewordenes ist und auch als solches wieder aufgehoben werden kann, sich selber aufhebt zum Teil.

Das Problem, das ich mit der in Frage stehenden These habe, ist, daß hier diese Ware-Geld-Geschichte wieder in einen dinghaften Status rückt, der selber wieder bürgerlich ist. Also man sagt: Wir haben hier das Ding, die dinghafte Vergegenständlichung von Gesellschaftlichkeit in der Form von Ware und Geld, und demgegenüber verhält sich jetzt ein positivistisches Subjekt, das mit einem ihm äußerlichen Gegenstand so oder so agieren kann – da sind wir schon wieder bei der Subjektillusion des Aufklärungsdenkens. Die Dinghaftigkeit von Vergesellschaftung wird ontologisiert, ebenso der Subjektbezug – all das haben wir sozusagen durch die Hintertür wieder hineinbekommen. Das eigentliche Problem, das in der Form selber liegt, nämlich der Widerspruch zwischen den von dieser Form selber hervorgetriebenen Verwissenschaftlichungspotenzen und dem System globaler Vernetzung einerseits und ihr selbst als dieser Form andererseits, das wird sozusagen wieder gnädig zugedeckt.

Ich habe vermutet und damit gerechnet, daß Sie meiner Behauptung so nicht zustimmen würden. Gleichwohl möchte ich nochmals betonen, daß m.E. die Frage des Verhältnisses von Kapital und Geld eine ist, die im Zentrum der Problematik Ihrer Ideen steht. Ich komme auf das Problem in einer folgenden Frage zurück, deshalb können wir es zum Teil da hinschieben.8 Ich will zumindest eine Assoziation nennen, die mir bei der Lektüre Ihres Buches oft gekommen ist. Ich habe immer gelesen: »... Prinzip abstrakter Arbeit ... Selbstbewegung des Geldes ...« und ähnlich, und mir dabei gedacht: Gut, eins ist klar, Selbstbewegung des Kapitals, das gibt's, das kennst du. Aber was ja das – ich nenne es mal – Abweichlerische ist, auch gegenüber Marx, ist, daß Sie zwar ab und an vom Kapital reden (einmal gibt's die Formulierung »... der Kapitalprozeß ...«); aber es steht doch das Geld im Zentrum, und die Ware und diese Form. Ich habe mir bei der Lektüre also immer geholfen und gesagt: er meint natürlich auch die Selbstverwertung des Kapitals. Andererseits sehe ich natürlich ganz deutlich, daß Sie den sogenannten Widerspruch von Arbeit und Nicht-Arbeit auch relativieren. Darin sehe ich, zudem in Verbindung mit der Kapital-Geld-Frage, auf die Dauer ein Problem.

Ja, und beides hängt auch zusammen. Dieses Hinausgehen über Marx, über das, was ich für historisch erledigt halte, nämlich die Metaphysik der Arbeit, die Verewigung des unmittelbaren Produzenten als die Verallgemeinerung, oder Selbstbefreiung, der Arbeit als Arbeit, und auf der anderen Seite die Aufhebung der Arbeit selber durch den Verwissenschaftlichungsprozeß – das, denke ich, hängt sehr eng zusammen mit einer analogen Sichtweise auf der Ebene des Verhältnisses von Geld und Kapital. So wie der Arbeiterbewegungsmarxismus die Arbeit ontologisiert hat als eine ewige menschliche Daseinsbedingung, so hat er auch Ware und Geld ontologisiert, und so wie er die Arbeit als usurpiert von einem fremden, äußerlichen Wesen namens Kapitalist oder Besitzer der Produktionsmittel – in diesem verkürzten Begriff von Privateigentum – gesehen hat, so sah er eben auch das Kapital als Verhältnis jenseits, als etwas Ablösbares von dem ontologischen Dasein von Ware und Geld. Und ich würde da genau wie bei der Arbeit selber sagen: Es ist das Aufhebungsproblem der Warenform selber. Es ist das Geld nichts anderes als das Kapital; das Kapital ist das zum System gewordene Geld.

Ich denke, hier kann man auch zu dem wesentlichen Punkt mit der Systemtheorie kommen. Warenform als vormoderne ist keine Systemform, ist kein System, sondern ist, wie Marx sagt, Nischenform; und da, wo es aufhört, Nischenform zu sein, wo also das Geld zum System wird, da ist es auch Kapital. Denn System kann Geld nur werden als selbstreflexives Geld, d.h. als selbstreflexiver Wert oder Wertverwertungsprozeß, und das ist dann das Kapital. Beides nicht zusammen denken zu können, sondern das Kapital als diese äußerliche Privateigentümersubjektivität und demgegenüber die gute Ontologie der Arbeit, das ist genau das, was sich historisch erledigt hat.

Insofern würde ich jetzt noch einen Punkt bringen zu Leuten wie den Zivilitätstheoretikern. Sie haben ja für mich durchaus ein Moment der Berechtigung, nämlich: Sie grenzen sich ja ab von jenem kruden, noch zusammengebackenen Begriff von Kapital und von Arbeitsontologie, ohne es allerdings genau zu reflektieren; sie stoßen sich ab von dem Arbeiterbewegungsmarxismus. Insoweit handelt es sich ja auch um einen Fortschritt. Der klassische Marxismus, der demgegenüber so beharrt auf dem Klassenkampfmoment, auf dem eigentlich binnenkapitalistischen Prozeß des Ausagierens dieser Konfliktkonstellation (die immer Binnenkonstellation bleibt), trägt aber, ohne daß die Zivilitätstheoretiker es zu wissen scheinen, den Keim in sich, auf das Zentralproblem zu stoßen, nämlich die Form selber, und damit aber auch das Geld in anderer, neuer Weise wieder in einen kritischen Diskurs hereinzuholen, allerdings jetzt getrennt von dieser Klassenkampfmetaphysik.

Wie denn auch das, was man über das Geld findet bei diesen Leuten, doch recht bitter ist.

Ich halte es für naiv geradezu – naiv zu glauben, mit dem Arbeiterbewegungsmarxismus hätte sich die Kritik des Geldes erledigt. Soweit es in diesem Arbeiterbewegungsmarxismus eine Kritik des Geldes gab, soweit man sich – etwa in den Sozialisierungsdebatten nach dem Ersten Weltkrieg – eine sogenannte Abschaffung des Geldes vorgestellt hat, war das etwas vollkommen äußerlich Gedachtes. Die bürgerliche Subjektform, die Warenform als solche, wurde ja dabei nicht angetastet, sondern man hat sich nur das Geld als rein äußerlichen Mechanismus vorgestellt, den man jetzt wegnimmt, und dann den Prozeß der Warenform sozusagen bewußt-politisch organisiert. Das war die Vorstellung. Und insofern transportieren die Zivilitätstheoretiker mit ihrem – ich möchte mal sagen – Politizismus selber noch die Illusion der alten Arbeiterbewegung in einer Schwundstufe weiter. Sie versuchen weiter, mit dem Primat der Politik zu agieren, jetzt aber getrennt von jeder Reflexion im Hinblick auf die Ware-Geld-Beziehung.

Beim Thema ›Primat der Politik‹ und ›Illusion der alten Arbeiterbewegung‹ möchte ich ein Zitat von Marx über die »politische Form der Arbeiteremanzipation« einschieben. Vorhin haben Sie die sogenannte Ontologisierung der Arbeit mit der Ontologisierung der Ware-Geld-Beziehung parallel gesetzt; das Zitat legt nochmals die Betonung darauf, daß für Marx zumindest die Ontologisierung der Arbeit eine durchaus relative Angelegenheit ist: »Aus dem Verhältnis der entfremdeten Arbeit zum Privateigentum folgt (...), daß die Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc., von der Knechtschaft, in der politischen Form der Arbeiteremanzipation sich ausspricht, nicht als wenn es sich nur um ihre Emanzipation handelte, sondern weil in ihrer Emanzipation die allgemein menschliche enthalten ist, diese ist aber darin enthalten, weil die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist und alle Knechtschaftsverhältnisse nur Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses sind.«9

Ich wiederhole es erstmal. Marx spricht hier von der menschlichen Emanzipation, die ineins fällt mit der Emanzipation der Arbeiter als Arbeiter – das muß man aber betonen. Diese Differenz könnte man aber noch genauer machen: Emanzipation der Arbeiter als Arbeiter oder Emanzipation der Arbeiter von der Arbeit. Auf diese Weise wäre die andere Ebene, nämlich Emanzipation der Gesellschaft von ihrer eigenen Form, mit eingeschlossen. Für Marx fällt beides eben noch unmittelbar zusammen. D.h. den Widerspruch von Form und Inhalt, von stofflich inhaltlicher Potenz, die hervorgetrieben worden ist, auf der einen und der Wert-/Geldform auf der anderen Seite faßt er noch in empirischen Subjektkategorien von Arbeiter und Kapitalist als diese krude Personage, die eben einer historischen Entwicklungsstufe jenes Widerspruchs noch geschuldet ist.

In dem Maße, wie dieses Verhältnis sich seit Marx weiter ausdifferenziert hat, wird sichtbar, daß es sich ja hier um reine Funktionskategorien handelt, und sowohl Arbeiter und Management ihrer eigenen Form gegenüberstehen. Im einzelnen findet sich die Differenz (Arbeiter – Management u.ä.) noch vor in der Mikroorganisation der kapitalistischen Reproduktion, in ihren betriebswirtschaftlichen Formen, aber es ist inzwischen klar: Es ist nicht das Subjekt, das die Fäden zieht namens Kapitalist, sondern es ist dieser anonyme Mechanismus; auch der Funktionsträger, der Manager, kann betrachtet werden als das, was er ist, eben als Funktionsträger; d.h. man könnte es selber genauso machen, wenn man in der Funktion wäre. Insofern gibt es diese subjektive Emphase, auch in der Negation, nicht mehr.

Mir fällt als Einschub ein: Andererseits betonen Sie ja (in Ihrem Buch) völlig zurecht, daß das gemeingefährliche Wahnsystem, das die abstrakte Form darstellt, empirisch gebrochen werden muß. In dem Zusammenhang ist ja wirklich die Rede von einem Adressaten – Sie bezeichnen ihn als die Apparate, die die Krise aufzuhalten versuchen – und davon, daß ihnen gegenüber in der einen oder anderen Form Gewalt angewendet werden muß. D.h. die Anonymie der abstrakten Form ist keine vollständige, sondern es gibt auch den nicht-anonymen Aspekt an der ganzen Sache, der auch identifiziert und adressiert ist.

Die Menschen, die Träger, die in der Öffentlichkeit agieren, sind natürlich nicht anonym, aber der Mechanismus, dem sie folgen, ist anonym, ist sachlich. Er ist Versachlichung der Verhältnisse auch in dem Sinne, daß es inzwischen erscheint auch als das, was es ist, an der Ausdifferenzierung von Funktionsträgern und nicht mehr als Subjektgegensatz Arbeiterklasse versus Kapital. Ich möchte eben nicht mehr mit dem Problem der Aufhebung in der alten Weise agieren, daß man schon ein vorgefertigtes ontologisches Subjekt hat, nämlich den unmittelbaren Produzenten bzw. das gute Subjekt der Arbeit, das nur noch zu sich selber kommen muß; und es muß zu sich selbst in der Arbeit kommen, die als solche verewigt erscheint – obwohl sie in dieser Abstraktheit ja schon immer die abstrakte Arbeit der Warenform ist –, und so mit sich selbst ins reine kommen; erst damit erlöst sie dann die Gesellschaft als Ganzes, das Gattungswesen, aber eigentlich doch wieder in der Form der Knechtschaft, eben der abstrakten Arbeit. Deshalb hat ja übrigens Adorno dem Marx einmal vorgeworfen, er wollte die ganze Gesellschaft in ein Arbeitszuchthaus verwandeln. Das ist nun diese Arbeitermetaphysik, die auch noch bei Marx selber mitschwingt. Gleichzeitig gibt es aber bei Marx die höhere Abstraktionsebene, in der der subjektlose Charakter dieses Systems, d.h. der systemische Charakter schon zum Ausdruck kommt.

Das Problem wäre nun – und jetzt komme ich zur Systemtheorie –, nicht in einem Kampf vorausgesetzter ontologischer Subjekte einen Sieger ermitteln zu wollen, sondern dort Subjekt zu werden, zu setzen, wo bisher noch nie eines war; d.h. das, was bisher durch gesellschaftliche blinde Form ersetzt worden ist, ins Subjekt hereinzuholen. Hier ist die Systemtheorie durchaus, wenn auch unfreiwillig, ein Zwischenglied in der Ausformung dieses Gedankens und auch ein Reflex auf eine entsprechende Praxis. Denn die Systemtheorie insistiert ja berechtigterweise dem – auch linken – Aufklärungsdenken gegenüber auf der Erkenntnis: es gibt kein Subjekt, jedenfalls nicht auf der Ebene, um die es da dauernd geht. Das erkannt zu haben, ist ein gewaltiger Fortschritt.

Nur ist die Frage, welche Konsequenzen zieht man daraus. Zieht man – nicht zuletzt auch aus den beobachtbaren Krisenphänomenen – die Konsequenz, daß es auf dieser Ebene möglich sein muß, Subjektivität zu erzeugen, dann würde das die Gesellschaft in einer neuen Weise quasi politisch ausdifferenzieren in die Warenformerhalter und diejenigen, die sehen, daß es in der Form nicht mehr weitergeht, und die gegen die Warenform selber agieren. Das letztere wäre erst wirklich eine subjektive Konstitution aus den gesellschaftlichen Problemlagen heraus und hätte nichts vorgängig Ontologisches mehr an sich.

Insoweit könnte man nun die Systemtheorie kritisieren, denn es ist ja nicht zufällig, daß der Prozeß gegen das Subjekt, den auch schon der Strukturalismus angestrengt hat, auch ein Prozeß gegen die Geschichte war. Es werden da einfach die historisch entstandenen systemischen Formen des warenproduzierenden Systems, sein systemischer Charakter überhaupt selber wieder ontologisiert bis hin zu ganz kruden Vergleichen mit toter oder lebender Natur, mit biologischen Systemen; es wird eine abstrakte Beschreibung gegeben, die nichts mehr beim Namen nennt, die nur noch von System, Subsystem und Umwelt von Systemen spricht, was ironischerweise dann das menschliche Subjekt selber ist, das seinerseits die Umwelt seines eigenen Systems ist – darin kommt ja schon die Paradoxie zum Ausdruck.

Ähnlich ist es, wenn Luhmann sagt: Rationalität verlangt eigentlich, daß die Gesellschaft in der Gesellschaft vorkommt, was aber andererseits ausgeschlossen sei, weil sich die Gesellschaft nur nach einzelnen Funktionen ausdifferenziere. Aber genau das ist ja das Problem: daß die Gesellschaft als Ganzes, als Gattungswesen, in der Gesellschaft gar nicht vorkommt. Wenn die Gesellschaft in der Gesellschaft vorkommt und auch im einzelnen Subjekt, dann wäre das in der Tat die Aufhebung der herrschenden gesellschaftlichen Form und Subjektkonstitution auf einer Ebene, wo bisher kein Subjekt war. Damit könnte man sowohl den Prozeß gegen das Subjekt als auch gegen die Geschichte, den Strukturalismus und Systemtheorie berechtigterweise angestrengt haben, in einer neuen Weise an den Ankläger zurückweisen.

Nur eine Ergänzung dazu. Die Systemtheorie ist ja jetzt so weit gekommen, daß sie sagt: Gut, wenn das alles so ist, wie wir das an uns erfahren haben in der Theorie in den letzten 20 Jahren, dann sagen wir eben: Ausgangspunkt der Theoriebildung und auch Ausgangspunkt der wirklichen Gesellschaft ist eine Paradoxie. Damit treffen sie sich übrigens mit Leuten wie Castoriadis, die auch vom Grundwiderspruch ausgehen; und wenn man sie fragt, worum es sich da handelt, dann schweigen sie stille. Das ist dann eben Ausgangspunkt und Basis der Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes. Ich denke, es sind relativ verrückte Zustände, die da zum Teil in der Theorie herrschen ...

Ja, vielleicht kommt die Systemtheorie selber noch zu dem Punkt, daß sie den nächsten Schritt auch tut oder mitvollzieht – vielleicht muß da auch ein Anstoß von außen kommen –, daß sie nämlich erkennt, daß sie gar nicht von Systemen schlechthin spricht, sondern immer von einem bestimmten historischen System, ja daß der Systembegriff überhaupt erst auf dem Boden dieses Systems entstehen konnte.

Noch ein Nachsatz. Sie sagen einerseits klar, daß der Wahn unseres Systems der Wahn der abstrakten Form selber ist. Trotzdem gibt es auch das, was Sie Rebellion nennen – teilweise auch gewaltsames Brechen des Wahnsystems, und dabei muß es so etwas geben wie eine Trägerschaft, Personifikation oder wie man will, des Wahns, denn die Richtung ist ja klar: Es sind die bestehenden »Apparate« zu brechen ...

Trotzdem möchte ich hier schon Einspruch erheben, denn die Träger – das sind tatsächlich buchstäblich wir alle. Denn egal was wir tun, in irgendeiner Weise sind wir am Gesamtprozeß der Gesellschaft beteiligt – als Geldverdiener, als Leute, die ein Arbeitsplatzinteresse haben. Ich möchte also schon gleich die Möglichkeit abschneiden, sozusagen an die Stelle des alten Schurken der Geschichte, der Kapitalistenklasse, ersatzweise einen neuen Schurken zu setzen, namens Bürokratie

oder Apparat oder Management. Das würde ja die alte Subjektillusion des Aufklärungsdenkens nur negativ reproduzieren ...

Aber Sie formulieren es ja, es wird ja angesprochen; am Schluß des Buches steht ja ...

Nein – vielleicht habe ich es auch mißverständlich formuliert. Ich versuche es nochmal zusammenzufassen. In dem Maße, in dem die Form selber ganz praktisch, in ihren Erscheinungsformen, prekär wird, taucht also das Problem ihrer Aufhebung auf. In der Gesellschaft als Ganzer und auch im Individuum ist nun ein Trägheitsmoment vorhanden, weil es zunächst versucht, zu überleben in der Form, in der es sich befindet. Jetzt haben wir kein Gegensubjekt – die revolutionäre Arbeiterklasse – mehr, jetzt müssen wir für uns werden in einer anderen Weise, nämlich ohne schon auf ein Ansich zurückgreifen zu können. Das ist schwierig; es wird wieder so etwas reproduzieren müssen wie das Zerfallen der Gesellschaft in zwei Lager – so stelle ich es mir zunächst einmal vor. Dabei verlaufen die Fronten quer zu den bisherigen Klassen, Institutionen und Apparaten. Vielleicht gibt es ja auch in den Apparaten Leute, die sich gerade aufgrund ihrer Kompetenz und Einsichtsfähigkeit praktisch gegen die Warenform wenden bzw. zumindest gegen ihre Konsequenzen. Da es den Versuch geben wird, an der alten Form gewaltsam festzuhalten und in ihr die Interessen auszuagieren, wird innerhalb der bisherigen Klassen, Apparate und Institutionen das Konfliktpotential wachsen.

Das mit der Gewaltsamkeit – das möchte ich lieber vorsichtig formulieren; ich möchte mich auf keinen Fall auf eine Gewaltmetaphysik hinbringen lassen. Genauso wie es eine Arbeiterklassenmetaphysik gibt, gibt es – gerade bei den Autonomen – eine Gewaltmetaphysik. Es ist wichtig, das festzuhalten. Wenn ich das angesprochen habe, so nur deswegen, um mich nicht auf einen sozialen Pazifismus festlegen zu lassen. Wenn es nicht gelingt, aus der Warenform einen –, den Begriff kann man ja übernehmen – sozialökologischen Ausweg zu finden, dann wird es zu Konfrontationen kommen, und das ist ja beobachtbar, z.B. in den Verliererökonomien. Dann zu sagen: das kann in Friede, Freude, Eierkuchen ablaufen, das ist illusionär.

In meiner letzten Frage möchte ich zur Krisentheorie kommen. Sie haben auf den Seiten 262 und 263 Ihres Buches Ihre Krisentheorie in einigen Punkten zusammengefaßt, von denen ich die Punkte a) bis c) zitieren möchte: »a) Der Kapitalismus ist tendenziell ›ausbeutungsunfähig‹ geworden, d.h. die globale Gesamtmasse der produktiv vernutzten abstrakten Arbeit sinkt aufgrund der permanent gesteigerten Produktivkraft erstmals in der kapitalistischen Geschichte auch absolut, und das bedeutet: unabhängig von der konjunkturellen Bewegung. – b) Da betriebswirtschaftliche Rentabilität nur auf der jeweils erreichten Höhe der Produktivität hergestellt werden kann, und zwar nur noch im weltgesellschaftlichen Maßstab, und da dieses Niveau wegen der zunehmenden Kapitalintensität für immer mehr Unternehmen ins Unerreichbare steigt, werden auch immer mehr materielle Ressourcen in immer mehr Ländern stillgelegt; die entsprechende Kaufkraft und die daraus resultierenden Märkte verschwinden, und die Menschen werden von den kapitalistischen Bedingungen ihrer Bedürfnisbefriedigung abgeschnitten. – c) Die vom Kapitalismus selbst blind hervorgetriebene ›Produktivkraft Wissenschaft‹ hat daher auf der inhaltlich-stofflichen Ebene Potenzen geschaffen, die nicht mehr mit den Basisformen kapitalistischer Reproduktion vereinbar sind, aber dennoch gewaltsam weiter in diese Formen gepreßt werden. Der Preis dafür ist die Verwandlung der Produktivkräfte in Destruktionspotentiale, die ökologische und sozialökonomische Katastrophen erzeugen.« Ich denke, daß Ihre Überlegungen zur Rolle der Kapitalintensität im wesentlichen richtig sind, und werte sie nicht zuletzt als Anschlußüberlegungen an die im Kern richtige Marxsche These vom tendenziellen Fall der Profitrate. Nun zu meiner Frage. Wenn das von Ihnen in Punkt c) Gesagte aufgrund von Punkt b) schlüssig ist, dann fragt sich doch folgendes. Bevor die kapitalistischen Zentren immer weiter destruktiv und katastrophal werden, könnten sie auf die Idee kommen, internationale Zonen mit unterschiedlichen Rentabilitätsniveaus einzurichten, um Schlimmeres zu verhüten (Man vergleiche zum Beispiel die jahrzehntelangen Erfahrungen mit interner Konkurrenz und internen Verrechnungspreisen in Großunternehmen). Über die notwendige Installationsmacht verfügen sie ja, wie auch Sie annehmen, wenn Sie die Möglichkeit in Aussicht stellen, daß ganze Binnenregionen zu »Weltsozialfällen« erklärt werden könnten. Ist eine solche Einrichtung verschiedener Rentabilitätsniveaus vorstellbar, womit ja erst einmal etwas aufgehalten werden könnte? (In diese Richtung gehen gewisse linke Vorschläge zur – nun verpaßten – Sanierung von DDR-Betrieben; z.B. hat Johan Galtung vorgeschlagen, in Abschätzung einer sehr wohl vorhandenen Nachfrage dem Trabant-Werk bis 1995 die Abnahme von 200 000 technisch verbesserten Trabis zu garantieren).

Ich muß zugeben, daß ich diese Option für vollkommen illusionär halte. Ich denke, daß der Vergleich mit innerbetrieblichen Management-Methoden, die Konkurrenz simulieren, in diesem Fall der unterschiedlichen Rentabilitätsniveaus nicht funktioniert. Denn es geht da ja gerade darum, daß man bestimmte Teile des Weltsystems aus ihren Standards herausnimmt. Das wäre wieder eine metapolitische Entscheidung; irgendeinen Träger müßte es da ja geben. Wer sollte das überhaupt sein?

Daß es solch einen gibt, habe ich angenommen. Denn Ihre These vom Weltsozialfall setzt ja voraus, daß es sozusagen eine Superbehörde gibt ...

Ja, aber all das, was z.B. Galtung sagt – das sind ja binnenökonomische bzw. nationalstaatliche, also partikulare Vorschläge. In einem bestimmten Raum geht das schon, wenn er als ganzer eine Gewinnerposition auf dem Weltmarkt hat, denn dann kann er seine eigenen Verlierersegmente alimentieren. Nimmt man jetzt aber das System als ganzes, dann gibt es ja keine Metainstanz, die diese Umverteilungskompetenz des Nationalstaates oder auch Staatenblocks hätte. Oder es wäre der Weltstaat – also etwa EG als der Weltstaat; aber wohin sollen dann die Geschäftskosten des Systems exportiert werden? Wenn man dann gerade die Verliererregionen auf der Weltebene zu Sozialfällen in dem positiven Sinne erklärt, daß man ihnen Zugeständnisse macht (vgl. die verschiedenen Rentabilitätsniveaus), dann müßte man ja die Systemlogik außer Kraft setzen ...

... partiell.

Ja.

Das ist ja gerade meine Frage. Denn so wie ich Sie verstehe, ist die entscheidende Sache das gleiche Rentabilitätsniveau überall. Daran scheitern die Ökonomien.

Ja, aber das gleiche Rentabilitätsniveau resultiert ja aus der Globalisierung. Die müßte man dann zurückdrehen. Positiv genommen, ginge das ja gar nicht. Denn das wäre ja im Grunde genommen der Versuch, daß der Kapitalismus für ausgewählte Zonen sozusagen den Realsozialismus wieder installiert. Wenn man es allgemein formuliert, war der untergegangene Realsozialismus nichts anderes als der Versuch, mit politischen Mitteln ein unterhalb des Rentabilitätsniveaus des Weltmarktes agierendes partielles Wahnsystem aufrechtzuerhalten ...

... , aber ohne die Konkurrenz. Das Problem, bei meinem Vorschlag, läge ja gerade in dem Versuch, so ein System ...

Gut, jetzt positiv formuliert wäre das ja nichts anderes, als partiell die Warenlogik auszuhebeln. Insoweit könnte ich natürlich nichts dagegen haben ... wenn die NATO selber den Kommunismus einführt in gewisser Weise ...

... als eingezäunte, eingehegte ...

... als eingehegtes System, daß also um des Überlebens eines Teils der Menschheit willen dort die Rentabilitätslogik partiell weggenommen wäre ...

... das Rentabilitätsniveau erniedrigt wäre. Also etwa die 200 000 Trabis, dafür gibt es eine Nachfrage, die gehen nach Indien ... anstatt jetzt überall tabula rasa zu machen. D.h. der ganze Prozeß würde natürlich nur verlangsamt.

Allerdings ist dann die Frage, warum außer einigen gutwilligen – um es ironisch zu sagen –Weltverbesserern kein Mensch aus dem Management und aus den tragenden Institutionen selber auf so einen Gedanken kommt.

Das stimmt.

Das hat ja auch seinen Grund. Denn es ist ja das Problem, daß hier ein Zusammenhang besteht zwischen der Gewinnerposition und der Verliererposition. Das heißt ich kann in einem Spiel, das auf der Externalisierung der Geschäftskosten von den Gewinnern zu den Verlierern beruht, nicht sagen: Die Verlierer sind aber arg schlecht dran; ich nehme ihnen jetzt ihren Verliererstatus weg, kann aber selber als Gewinner übrig bleiben. Das ist ja eine relative Beziehung; der Gewinner setzt ja immer einen Verlierer voraus und umgekehrt. Es läuft also in gewisser Weise auf die Quadratur des Kreises hinaus ...

Im Hintergrund meiner Frage stand natürlich die Annahme, daß die kapitalistischen Zentren – wie soll ich mich ausdrücken – das Buch von Robert Kurz gelesen haben und ihnen gewisse Dinge dämmern und wirklich bewußt werden. Und dann ist die Frage: Wie könnten Auswege aussehen ...

Da sind wir aber wieder bei dem Punkt, allgemein gesprochen, der Subjektillusion. Es mag ja darüber soviel Bewußtsein entstehen wie es will, es werden dadurch die Systemgesetzlichkeiten nicht ausgehebelt – es sei denn, man greift das System selber an. Ich bezweifle, daß die NATO oder die USA selbst Elemente von Weltkommunismus einführen – auch wenn sie es ganz anders nennen würden –; denn das Gewinner-Verlierer-Problem ist ja kein subjektives, sondern ein systemisches. In dem Maße, wie die Externalisierung von Kosten nicht mehr möglich ist, weil man selber sieht: es geht nicht mehr, kommt natürlich der Rückschlag. Das heißt wenn man weder Arbeitslosigkeit noch ökologische Kosten mehr in die niederkonkurrierte Verliererregion exportieren kann, dann kann man selber kein Gewinner mehr bleiben. Man müßte selber diese Geschäftskosten tragen und sogar noch die Verliererregion indirekt mitalimentieren, indem man auf den Konkurrenzvorteil der höheren Produktivität verzichtete. Mit anderen Worten, es ginge dann schon ans Eingemachte; man könnte das nicht mehr so handhaben, daß man sagt: Wir handeln nun mal in Teilen der Erde nicht kapitalistisch und bleiben aber selber ein kapitalistisches System. Es ist ja auch die Illusion, die jetzt im Osten vorhanden ist, daß man das Ganze als Modellfrage sieht, als Frage von ordnungspolitischen Maßnahmen. Auch hier in den erwähnten Vorschlägen kommen ja rein ordnungspolitische Vorstellungen zum Ausdruck, die überhaupt nicht berücksichtigen, daß wir es hier mit einem historischen, inhaltlichen Prozeß zu tun haben, der diese Globalisierung hervorgebracht hat, nicht zuletzt von Unternehmen und Geld. Wer soll denn das zurückdrehen? Man müßte dann wirklich einen neuen eisernen Vorhang bauen .… Es gibt ja sogar schon im Westen die Verliererökonomien. Man müßte dann also in immer mehr Ländern anfangen, die Rentabilitätslogik auszuhebeln, also auch im Westen selber. Dann sind wir bei dem Punkt angelangt, zu dem man gerade nicht hinkommen will: denn die Rettung des Systems wäre dann seine Aufhebung.

Verschiedene Niveaus der Rentabilität bedeuten aber noch nicht die Aufhebung der Logik der Rentabilität, sondern es wird nur kraft einer enormen Definitionsmacht ...

Man müßte sie aber aufheben, denn verschiedene Rentabilitätsniveaus kann man ja nur durch einen bewußten politischen Eingriff herstellen ...

Klar. Da hatte ich mir dann vorgestellt: Der kommende Etatismus, von dem Sie ja sprechen ...

... und das hätte natürlich Rückschläge auf die eigene Position, denn die beruht ja darauf, daß man diesen Export von Geschäftskosten machen kann, die anderen niederkonkurrieren kann. Nur geht das natürlich nur bis zu einem gewissen Grad.

Ich finde Ihre Überlegungen zur Gesamtlage im großen und ganzen richtig - ich habe mir einmal wortschöpfend gedacht: wir sind nicht mehr im galaktischen Kapitalismus, sondern in einem black-hole-Kapitalismus, in dem das Energiezentrum selber sich selber und alle anderen hineinreißt. Aber davon wäre doch die ins einzelne gehende, ökonomische Frage zu trennen: Welche Wege, Möglichkeiten gibt es noch? Wie ist es wirklich mit der Mehrwertmasse und all dem?

Trotzdem würde ich dann schon entgegenhalten: Was beobachtbar ist, ist ja das genaue Gegenteil. D.h. die Verliererökonomien werden gnadenlos zur Öffnung gezwungen; die sogenannte Privatisierung von Staatsbetrieben – in ganz Lateinamerika, Osteuropa, der Sowjetunion – heißt nichts weiter als Stillegung von Kapazitäten ...

... das ist richtig.

Das ist ja auch in den 70er und 80er Jahren in Südeuropa, in der europäischen Peripherie geschehen ...

... aber denen sagt man natürlich andererseits – Thema Einführung der EG-Währung –: Ihr müßt nicht mitmachen, ihr könnt später. Allerdings ist es trotzdem wahr, daß es im Moment nicht so geht, wie ich beschrieben habe. Im Moment geht der Weg umgekehrt. Ich habe mir nur vorgestellt: Wie ist es dann später?

Ja, die Abkopplung gibt es ja auch und wird es geben, nur nicht in positiver Form als bewußtes Ausgrenzen von Teilen des Weltsystems, die nun bewußt einem anderen Rentabilitätsniveau zugeführt werden, damit sie überleben können. Sondern genau umgekehrt. Es werden die jetzt noch vorhandenen Umverteilungsstrukturen innerhalb der einzelnen Staaten und -blöcke derart prekär werden, daß man im Westen selber beginnen wird, ganze Regionen abzustoßen – d.h. nicht etwa andere Rentabilitätsniveaus, sondern schlicht absolute Armutszonen, die sich ausdehnen. Diese werden also nicht mehr durch Umverteilung mitgezogen, sondern man sagt: wir können nicht mehr, das für die Umverteilung nötige Geld wird nicht mehr verdient; so daß ganze Regionen nicht etwa auf einem geänderten Rentabilitätsniveau weiterproduzieren können, sondern auf dem gegebenen Rentabilitätsniveau stillgelegt werden.


  1. Frankfurt/M 1991.^

  2. Berlin 1980, S. 11.^

  3. ibd. S. 35.^

  4. Karl Marx, Frühe Schriften, 1. Band, herausgegeben von H.-J. Lieber und P. Furth, Darmstadt 1971, S. 574.^

  5. 'Selbstverwirklichung und Allgemeinheit', S. 6.^

  6. Frühe Schriften, 1. Band, S. 566.^

  7. ibd. S. 566-7.^

  8. Leider sind wir in unserem Gespräch nicht mehr bis zu dieser Frage gelangt. (W.B.).^

  9. Frühe Schriften, 1. Band, S. 573.^