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Marxistische Kritik Nr. 3, Juni 1987
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]

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Robert Kurz                                 [S. 53-113]

DIE HERRSCHAFT DER TOTEN DINGE / Teil 2
Kritische Anmerkungen zur neueren Produktivkraft-Kritik und Entgesellschaftungs-Ideologie

Vorbemerkung
Der erste Teil dieser Arbeit ist in der "Marxistischen Kritik" Nr. 2 erschienen (kann beim Verlag bestellt werden). Dort werden folgende Punkte behandelt:
1. Naturbeherrschung und Wertabstraktion: Vom "Fortschrittsglauben" zum Kulturpessimismus (Einleitungskapitel)
2. Der Zerfall gesellschaftlicher Totalität (Nachweis der positivistischen Methode bei den Produktivkraftkritikern)
3. Die Fetischisierung der Technik:
a) Subjektivierung der Natur und "Herrschaft" als Erbsünde
b) Verdinglichung des Produktivkraftbegriffs und Logik der Vernichtungsproduktion
Die Auseinandersetzung wird hauptsächlich mit den produktivkraftkritischen Theoretikern Otto ULLRICH und Winfried THAA geführt, und zwar anhand folgender Publikationen:
Otto Ullrich, Technik und Herrschaft, Ffm. 1977, zitiert unter der Abkürzung TuH;
ders., Weltniveau, Berlin 1980, zitiert unter der Abkürzung WN;
Winfried Thaa, Herrschaft als Versachlichung, Ffm. 1983, zitiert unter der Abkürzung HaV.
Der hier vorliegende 2. Teil setzt zunächst das 3. Kapitel "Die Fetischisierung der Technik" fort mit dem Unterpunkt c) Die Degradation des Arbeiters. Es folgt das 4. und letzte Kapitel "Dürftige Moral und Moral der Dürftigkeit: Konsequenzen der Produktivkraftkritik" mit den Unterpunkten: a) Entgesellschaftung und Warenfetisch: "Small is beautiful", b) Dürftige Moral: Die "Reduzierung der Dimension des Machens", c) Moral der Dürftigkeit: Die "Reduzierung der Bedürfnisse" und d) Die Rettung des unmittelbaren Produzenten als seine Verewigung.

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c) Die Degradation des Arbeiters

Ebenso wie die gebrauchswertschädliche, zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen führende Vernichtungsproduktion wird in den Theorien der Produktivkraftkritiker auch die Degradation des unmittelbaren Produzenten im kapitalistisch-industriellen Arbeitsprozeß unmittelbar aus der abstrakten, mystifizierten Naturbeziehung abgeleitet. Der Charakter der menschlichen Arbeitskraft als WARE wird, wie wir bereits gesehen haben, für die Gesellschaften der sowjetischen Produktionsweise überhaupt geleugnet, für die westlich-kapitalistischen Gesellschaften aber wie alle anderen Waren dem "Subsystem" des zirkulativ verkürzten "Warenverkehrs" zugeordnet. Die Ausbeutung des Lohnarbeiters erscheint dann, ganz in der Tradition des "Verteilungssozialismus" des 19. Jahrhunderts und der alten Arbeiterbewegung, nur noch äußerlich als "Verkürzung des Arbeitsertrags", als "Prellen" des Arbeiters um den Mehrwert, den der Kapitalist sich aneignet. Aus dieser verdinglichten Sichtweise fällt die Degradation des Arbeiters im maschinisierten Produktionsprozeß völlig heraus, übrigens in diametralem Gegensatz zur Marx'schen Theorie, in der gerade diese Degradation aus dem Lohnarbeitsverhältnis selbst abgeleitet wird. Auch hier überwinden die Produktivkraftkritiker die verkürzte Sichtweise der alten Arbeiterbewegung und des traditionellen, wertfetischistischen Marxismus nicht etwa, sondern machen sich diese Verkürzung vielmehr für ihre eigene, spezifische Mystifizierung zunutze. Wie schon bei den dinglichen Produkten und Produktionsmitteln zerreißen sie auch hinsichtlich der menschlichen Arbeitskraft den logischen Zusammenhang von Produktion und Zirkulation, von Produktionslogik und Vergesellschaftungs-Logik. Soweit die Arbeitskraft in ihrem Warencharakter überhaupt gesehen wird, bleibt dieser in den äußeren Vergesellschaftungs-Zusammenhang des "Arbeitsmarktes" verbannt und die Kritik an diesem Warencharakter bleibt auf die äußerliche Eigentums-Frage und Verfügungsgewalt über das hergestellte Gesamtprodukt beschränkt. Die von diesem Zusammenhang abgetrennte "Produktionslogik" aber wird auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen für den Arbeiter auf die abstrakte Naturbeziehung, auf Naturwissenschaft und Technik "als solche" zurückgeführt.
Die Kritik konzentriert sich auch in diesem Zusammenhang auf die angebliche "Herrschaftslogik" der Naturwissenschaft, nun aber neben dem Aspekt der "quantifizierenden Abstraktionen" des naturwissenschaftlichen "Messens" auf einen zweiten Aspekt, den Ullrich mehrfach als "reproduzierbare(n) Prozeß naturwissenschaftlicher Erkenntnis" (TuH, 82) bezeichnet. Worum soll es sich dabei handeln? Ullrich geht, teils explizit, teils implizit, von einem positiven Gegenmodell zur Naturwissenschaft aus, z.B. von bäuerlichen und handwerklichen (nicht-wissenschaftlichen) Auseinandersetzungen mit dem Naturstoff, die sich unmittelbar an diesem abarbeiten und "sinnlich" mit ihm verbunden bleiben. Dem stehe der "entsinnlichte" Prozeß der EXPERIMENTELLEN NATURWISSENSCHAFT gegenüber, die einen idealtypischen und REPRODUZIERBAREN Naturprozeß als "Konstruktion" anstrebt. Dem experimentellen Naturwissenschaftler geht es also um einen von allen

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"störenden Einflüssen" gereinigten Ablauf kontrollierbarer Naturerkenntnis, deren Wahrheit sich eben in ihrer beliebigen Reproduzierbarkeit erweist. Seiner lebensphilosophischen Subjektivierung der Natur folgend, deutet Ullrich nun auch diese Struktur der experimentellen Naturwissenschaft um in ein mystifizierendes "Herrschaftsverhältnis"; da es "Herrschaft" nur als Beziehung zwischen Subjekten geben kann, muß die Natur eben zum Subjekt mystifiziert werden. Dieses absurde "Subjekt" der anorganischen und organischen Natur soll nun nicht nur durch das naturwissenschaftliche "Messen" als solches "vergewaltigt" werden, sondern auch darüber hinaus durch die experimentelle Anordnung und Zurichtung des Naturstoffs: "Das Herrschaftswissen über die Natur geht aus von 'bereinigten', isolierten Prozessen. Um einen komplexen Prozeß, einen zusammengesetzten 'Arbeitsprozeß' der Natur für den Menschen, in gleicher Weise zu beherrschen, bedarf es einmal einer großen Zahl partikularer Gesetze, und zum anderen muß das Naturmaterial auch genügend 'begradigt' sein, damit der synthetisierte Prozeß auch 'wirklich' berechenbar abläuft"(TuH, 101). Die experimentelle Naturwissenschaft stelle also das "Modell" eines "selbsttätige(n), von außen zu steuernde(n) und kontrollierbare(n), gleichmäßig ablaufende(n) Prozess(es)" (TuH, 101) dar. Um die Mystifizierung auf die Spitze zu treiben, muß sogar noch eine Gegenwehr des "Subjekts Natur" allen Ernstes konstruiert werden: "Dies machte anfänglich Schwierigkeiten; auch der Naturprozeß ließ sich nicht unwiderstrebend in einen kontrollierten Vorgang zwingen" (TuH, 102). Das Verbrechen der Naturwissenschaft gegen die Natur besteht also in diesem Modell einer "Außensteuerung" und "Kontrolle" im Unterschied und Gegensatz zur nicht- und vorwissenschaftlichen "sinnlichen" Behandlung des Naturstoffs: "Die Beherrschung der Natur, auch eines komplexen zusammengesetzten Prozesses, durch symbolisches Wissen aus der Distanz, ohne Einschaltung des eigenen Körpers(!), ist nun prinzipiell möglich" (TuH, 101). Ironischerweise sind solche bis zur Lächerlichkeit gehenden Mystifizierungen des Naturverhältnisses objektiv nur möglich durch eben jene Distanz des Universitätsmenschen und reinen "Kopfarbeiters" von der physischen Produktionsarbeit, die überhaupt erst durch Produktivkraftentwicklung und Wissenschaft in großem Maßstab möglich geworden ist. Ullrich würde vielleicht weniger Unsinn über "Naturbeherrschung" reden, wenn er sich einmal ganz praktisch vorstellen könnte, was es z.B. für die Arbeit in der Agrarproduktion bedeuten würde, vom Mähdrescher wieder zurückzukehren zum Dreschflegel und so dem Naturstoff unter "Einschaltung des eigenen Körpers" zuleibe zu rücken! Es entbehrt nicht der tragikomischen Züge, wenn der Universitäts-Soziologe Ullrich allen Ernstes der auf "Naturbeherrschung" ausgerichteten Wissenschaft vorwirft, daß sie die "Mühseligkeit" in der Reproduktion einmal gewonnener Naturerkenntnis beseitigt: "Im Produkt wissenschaftlich experimenteller Tätigkeit ist der Prozeß der Entstehung, die mühsame Auseinandersetzung mit dem widerstrebenden Gegenstand der Natur nicht mehr sichtbar ... die Reproduktion des geistigen Produkts ist im Gegensatz zum handwerklichen Produkt mit erheblich geringerem Aufwand möglich, als er für die Originalproduktion nötig war, da der mühselige vorbe-

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reitende Prozeß entfällt. Das Subjekt kann sich aus dem experimentell konstruierten Naturprozeß nun heraushalten. Der Prozeß läuft berechenbar 'selbsttätig' ab, er ist von außen manipulierbar durch Verändern der in ihrem Einfluß bekannten Parameter" (TuH, 81). Der pejorative Charakter solcher Aussagen bei Ullrich wird nur möglich durch die mystifizierende Subjektivierung der Natur. Abgesehen davon ist seine negative Kennzeichnung der experimentellen Naturwissenschaft aber noch aus einem anderen Grund unsinnig. Denn nicht einmal metaphorisch stimmt die Denunzierung des Experiments als "Herrschaftsbeziehung". Es handelt sich um einen reinen, jeweils beschränkten Erkenntnisvorgang an Naturprozessen, die als solche per definitionem vom Menschen UNABHÄNGIG sind. Menschliche Erkenntnis kann Naturgesetze nicht "beherrschen", sondern eben nur in ihrem unabhängigen, objektiven Dasein ausfindig machen und das eigene Verhalten danach ausrichten. Die von der Wert-Ökonomie erzwungene Vernichtungsproduktion stellt alles andere als eine "Herrschaft" über die Natur dar; viel besser wäre sie zu kennzeichnen als ein gesellschaftliches Handeln GEGEN NATURGESETZE, das letztlich nicht den Untergang der Natur "als solcher" und ihrer objektiven Gesetzmäßigkeiten, sondern den Untergang der menschlichen Zivilisation herbeiführen muß. Deswegen wird ja auch, sogar von Ullrich selber, die Vernichtungsproduktion gerade unter Hinweis auf ERKANNTE NATURGESETZE (Ökologie usw.) kritisiert und bekämpft. Die ganze Begrifflichkeit einer "Herrschaft" über oder gegen die Natur ist nichts als eine völlig schiefe und den gesellschaftlichen Zusammenhang verdunkelnde Metaphorik.
Aber Ullrich BRAUCHT diese falsche und schiefe Metaphorik, diese Denunziation des naturwissenschaftlichen Experiments als "lebensfeindlich" usw. unbedingt, sogar wenn er selber mit Erkenntnissen dieser angeblich so negativen Experimentalwissenschaft ganz munter argumentiert (woher wüßte er sonst überhaupt etwas über "Ammoniak" oder "Fotosynthese" usw.?). Er braucht diese mystifizierende Denunziation, weil er die GESELLSCHAFTLICHEN Herrschaftsbeziehungen über die logische Kette "Naturwissenschaft - Technik - Industriesystem" auf die abstrakte Naturbeziehung zurückführen will. Dies wird nun vollends deutlich in der Art und Weise, wie die Degradation des Arbeiters im Fabriksystem abgeleitet wird. Nachdem er die Experimentalwissenschaft genügend schwarz eingefärbt und verteufelt hat, geht Ullrich zu einem ganz platten ANALOGIESCHLUSS über. Die experimentelle Naturwissenschaft "beherrsche" vergewaltigend die Natur durch das Modell eines "von außen zu steuernden und kontrollierbaren, gleichmäßig ablaufenden Prozesses", DASSELBE geschehe nun im Industriesystem mit den Arbeitern! Obwohl dieser flache und willkürliche Analogieschluß durch nichts als seine eigene schiefe Metaphorik und mystifizierende Subjektivierung der Natur "begründet" ist, baut Ullrich seine gesamte weitere Argumentation auf dieser haltlosen Grundlage auf.
Nachdem er zunächst für die Naturwissenschaft auf die beschriebene Weise eine "strukturelle Affinität zur Logik des Kapitals" (TuH, 69) festgestellt und die "Herrschaftskonformität der Wissenschaft" (TuH, 69) nicht aus ihrer gesellschaftlichen Stellung, sondern aus

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ihrem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß selbst abgeleitet hat, kann er diese selbstfabrizierte Logik durch ständige Wiederholung in verschiedenen Zusammenhängen dem Leser einreden: "Die kapitalistische Logik verlangt eine Produktionsorganisation, die auffallende Ähnlichkeit hat mit der Herrschaftslogik der experimentellen Naturwissenschaft" (TuH, 115), oder: "Die wissenschaftlich motivierte Beherrschung der Natur und die kapitalistisch motivierte Beherrschung des Produktionsprozesses haben eine hohe strukturelle Ähnlichkeit" (TuH, 138) usw. Tatsächlich aber geht Ullrich sogar noch einen Schritt weiter. Die bloße "strukturelle Ähnlichkeit" und gegenseitig sich bedingende "Herrschaftslogik" von Naturwissenschaft und Kapital genügt ihm nicht, er will die Naturwissenschaft bzw. die ihr entspringende Technologie in ihrer "autonomen" Bereichs-Logik zur EIGENTLICHEN HISTORISCHEN UND MATERIELLEN GRUNDLAGE des Fabriksystemsund der darin enthaltenen Degradation des Arbeiters machen: "Zusammenfassend kann man also sagen: daß die Logik der Naturwissenschaft eine Logik der Herrschaft ist, ist zunächst nicht verwunderlich ... Daß die gleiche Logik jedoch einen Herrschaftsverband der materiellen Produktion ermöglicht, suggeriert(!) und ideologisch vorbereitet, noch ehe die spezifische Logik des Kapitals eine prägende Rolle spielt, wird nicht genügend beachtet. Zwar sind Naturwissenschaft und Kapital beides bürgerliche Produkte und eine 'reine' Trennung nicht möglich, nur muß dann auch die bürgerliche Prägung der Naturwissenschaft erkannt werden, die sie zu einem Herrschaftsmedium über Natur UND (Hervorheb. Ullrich) Menschen macht, ohne dazu vom Kapital erst 'gezwungen' werden zu müssen" (TuH, 103). Wohlgemerkt: Ullrich spricht hier weder von der gesellschaftlichen Stellung der bürgerlichen Naturwissenschaft noch von der gesellschaftlichen Denkweise oder den sozialen Interessen usw. ihrer Träger, sondern immer von Inhalt und Form der Naturerkenntnis "als solcher"! So verwundert es nicht, daß schließlich das Kapitalverhältnis hinsichtlich des Herrschaftscharakters des Industriesystems als sekundär und eigentlich unwichtig erscheint, man kann es nach Ullrich wegnehmen und der Herrschaftscharakter wird unverändert bestehen bleiben, "er wird auch für eine naturwissenschaftliche Technik kennzeichnend sein, die von der Logik des Kapitals abgetrennt worden ist" (TuH, 107).
Aus dieser aufwendig hergeleiteten Konstruktion heraus führt Ullrich nun alle bekannten Erscheinungen der Degradation des Arbeiters im Fabriksystem der Wert-Ökonomien nicht mehr auf die völlig ausgeblendete Lohnarbeit zurück, sondern unmittelbar auf das durch die Verwissenschaftlichung der Produktion gesetzte Naturverhältnis. Die Hierarchisierung des Produktionsprozesses, die systematische und immer weiter ausgebaute Trennung von Kopf- und Handarbeit, der Taylorismus usw. werden unmittelbar aus der verwissenschaftlichten Technologie als solcher und als deren eigenes "notwendiges Strukturmerkmal" bestimmt: "Die Synthese und Bestimmung der Arbeit durch einen fremden Willen über die Köpfe der unmittelbaren Produzenten hinweg ist ein quasi natürliches(!) Strukturmerkmal moderner materieller Produktion, und für die Stabilisierung und Befestigung dieses Strukturmerkmals spielt die naturwissenschaftliche Technik eine wesentliche Rolle" (TuH, 116).

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Aus diesen angeblich "natürlichen" Strukturmerkmalen der Naturwissenschaft und der naturwissenschaftlichen Technik leitet Ullrich schließlich, gestützt u.a. auf die Arbeiten von L. Mumford, die den Arbeiter degradierende "große Maschine" ab, deren Urformen er (durch neue falsche Analogieschlüsse) bis auf die ägyptischen Pharaonen zurückverlegt und in der er alle typischen Degradationsformen angelegt sieht: "Hohe Arbeitsteilung, lebenslange Kettung an eine Tätigkeit, straffe hierarchische Autoritätsbeziehungen, Ausbeutung der Schwächeren, Standardisierung von Produkten und Arbeitsvollzügen, Auftrennung zwischen Kopf- und Handarbeit, vollkommene Enteignung der Individuen und Nichtigkeit der Individuen ..." (WN, 49).
Statt der Wert-Ökonomie muß Ullrich so Naturwissenschaft und Technik als die negative gesellschaftliche Identität des "Realsozialismus" und des westlichen Kapitalismus behaupten und die Technik als "Trojanische Maschine" (TuH, 431) der Herrschaft in "nachkapitalistischen" Gesellschaften bezeichnen; Winfried Thaa gibt ihm darin ausdrücklich recht (HaV, 150) und geht seinerseits davon aus, daß die den Arbeiter degradierende Arbeitsteilung "in der Konstellation von Techniken versteinert bewahrt" (HaV, 150) sei. Die angebliche "innere Wertform der Technik" wird so direkt zur Ursache der Degradation des Arbeiters erklärt; Thaa behauptet, daß durch die naturwissenschaftliche Technik selbst "in der Produktion eine DER FORM NACH DESPOTISCHE GESELLSCHAFTLICHKEIT (Hervorheb. Thaa)" (HaV, 128) entsteht. Auch bezüglich dieser Degradation des Arbeiters schafft Thaa Verwirrung dadurch, daß er beständig von "Wertabstraktion" und "wertabstraktiver Gesellschaftlichkeit" redet, in Wirklichkeit aber eben die abstrakte Naturbeziehung in der von der Warenproduktion abgetrennten naturwissenschaftlichen Technik meint; er setzt die Hierarchisierung der Menschen im Arbeitsprozeß sogar ausdrücklich dem kapitalistischen Verwertungsprozeß äußerlich: "Nun aber schafft sich die Form der Produktion in den arbeitsteiligen Beziehungen zwischen den Repräsentanten ihrer wertabstraktiven Gesellschaftlichkeit und den Arbeitern eine neue soziale Existenz. Und zwar wird die Leitung in der arbeitsteiligen Organisation zu einer Notwendigkeit der produktiven Tätigkeit selbst ... Entscheidend ist nun, daß diese hierarchische Gesellschaftlichkeit des Arbeitsprozesses nicht nur ihren logischen und historischen Ursprung im Verwertungscharakter der Produktion hat, sondern darüber hinaus EINE EIGENE SOZIALE FORM DER WERTABSTRAKTIVEN VERSACHLICHUNG DARSTELLT" (HaV, 126f., Hervorheb. Thaa).
Nun wird natürlich niemand bestreiten, daß jeder KOOPERATIVE ARBEITSPROZESS auf verschiedenen Ebenen eine "Dirigentenfunktion" (Marx), eine Leitung etc. voraussetzt. Dies ist selbst-evident, und den Tatbestand als solchen pejorativ bestimmen wie Thaa und Ullrich hieße nichts anderes, als gesellschaftlich-kooperative (über handwerkliche Familienbetriebe hinausgehende) Arbeitsprozesse überhaupt ablehnen (daß Thaa wie Ullrich zumindest der Tendenz nach tatsächlich in diese Richtung gehen, soll im letzten Kapitel ausführlich behandelt werden). Aber nicht im geringsten selbstverständlich und keines-

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wegs direkt aus dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses folgend ist die lebenslange Subsumtion eines großen Teils der Menschen unter die rein ausführende Tätigkeit, als "Anhängsel der Maschine" usw. Aber es ist diese Degradation keine "neue", unmittelbar aus der Technik "als solcher" folgende soziale Existenz, wie Thaa suggeriert, sondern eben die der LOHNARBEIT, d.h. dieselbe Erscheinung, die in der Zirkulation als Warencharakter der Arbeitskraft auftritt, zeigt sich IDENTISCH in der Produktion selber als SUBSUMTION DES ARBEITERS unter die Teilfunktion, als seine Unterordnung unter die Logik der abstrakten Arbeit. Aus der produktiven Tätigkeit als STOFFLICHER geht diese Notwendigkeit nicht im geringsten hervor, vielmehr aus der Verwandlung dieser stofflich-produktiven in eine wert-produktive Tätigkeit ("Doppelcharakter der Arbeit"), in der die Arbeiter als bloße Einheiten der Verausgabung abstrakter Arbeit behandelt werden. Vom Standpunkt des Kapitals aus und für seinen Zweck besteht der GEBRAUCHSWERT der "Ware Arbeitskraft", des menschlichen Arbeitsvermögens, nicht etwa in dessen Fähigkeit zur Herstellung materieller Produkte (diese erscheinen für das Kapital selber nur als WertTräger), sondern vielmehr in seiner erzwungenen "Fähigkeit", MEHR WERT ZU PRODUZIEREN, ALS SEINE EIGENE REPRODUKTION KOSTET: "Der Gebrauchswert des Arbeitsvermögens  ist für es (das Kapital, R.K.) eben der Überschuß der Quantität Arbeit, die es liefert über die Quantität Arbeit, die in ihm selbst vergegenständlicht und daher zu seiner Reproduktion erheischt ist. Sie liefert dieses Quantum natürlich in der bestimmten Form, die ihr als besondrer nützlicher Arbeit zukommt, als Spinnarbeit, Webarbeit etc. Aber dieser  ihr konkreter Charakter, der sie überhaupt befähigt, sich in Ware darzustellen, ist nicht ihr spezifischer Gebrauchswert für das Kapital. Für es besteht dieser in ihrer Qualität als Arbeit überhaupt und in der Differenz des Arbeitsquantums, das sie leistet über dem Arbeitsquantum, das sie kostet ... Der kapitalistische Produktionsprozeß ist daher auch nicht bloß die Produktion von Waren. Er ist ein Prozeß, der unbezahlte Arbeit absorbiert, Material und Arbeitsmittel - die Produktionsmittel - zu Mitteln der Absorption unbezahlter Arbeit macht" (Theorien über den Mehrwert, MEW 26, 376).
Produktiv in diesem Sinne des Kapitals ist aber nur diejenige Arbeit, die in das Produkt wirklich eingeht und es zum "Wertgegenstand" macht, zur gesellschaftlich fiktiven "Verkörperung" von "Arbeit überhaupt", und für das Kapital zu MEHR "Arbeit überhaupt", als es selber "vorschießen" muß. Dies gilt aber NICHT für den größten Teil der wissenschaftlichen Arbeit, die getrennt vom Produktionsprozeß in den Labors, Universitäts-Instituten usw. stattfindet; diese erscheint für das Kapital als nur stofflich notwendig, im ökonomischen Sinne aber als "faux frais" (Entwicklungskosten, Kosten für Grundlagenforschung etc.). Unter dem Diktat des Selbstzwecks der kapitalistischen Produktionsweise als Verwertung des Werts müssen daher die großen Massen der Gesellschaft von diesen wissenschaftlichen Potenzen der Gesamtreproduktion ausgeschlossen und unter die Maschinerie subsumiert werden als deren bloßes "Anhängsel" und Träger der (Mehr-)Wertproduktion. Nicht aus sich heraus, sondern einzig und allein aufgrund dieser gesellschaft-

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lich-ökonomischen Logik wird die TECHNIK der verwissenschaftlichten Produktion zu einer dem Arbeiter fremden und äußerlichen Sache. Dasselbe gilt für die Leitungsfunktionen im Produktionsprozeß selbst. Auch deren notwendige Existenz als solche setzt nicht an sich die totale Subsumtion der Masse der Arbeitenden lebenslang unter diese Funktionen voraus. Diese Subsumtion ist vielmehr ebenso Resultat des Doppelcharakters des Produktionsprozesses als stofflicher und als Verwertungsprozeß wie die Subsumtion unter die Maschinerie; diese Funktionen der Leitung sind nur produktiv, soweit sie aus den Notwendigkeiten der stofflichen Produktion hervorgehen, unproduktiv hingegen, soweit sie aus dem Charakter der Produktion als Verwertungsproduktion und somit aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit hervorgehen. Sie müssen sich daher ebenso wie die wissenschaftliche Tätigkeit als begrenzte und ausschließliche Korporationen unter dem Kommando des Kapitals den Arbeitern gegenüber verselbständigen: "Die Kollektivkraft der Arbeit, ihr Charakter als gesellschaftliche Arbeit, ist daher die Kollektivkraft des Kapitals. Ebenso die Wissenschaft. Ebenso die Teilung der Arbeit, wie sie erscheint als Teilung der employments und ihnen entsprechender Austausch. Alle gesellschaftlichen Potenzen der Produktion sind Produktivkräfte des Kapitals und es selbst erscheint daher als das Subjekt derselben. Die Assoziation der Arbeiter, wie sie in der Fabrik erscheint, ist daher auch nicht von ihnen, sondern vom Kapital gesetzt. Ihre Vereinigung ist nicht IHR Dasein, sondern das Dasein des Kapitals. Dem einzelnen Arbeiter gegenüber erscheint sie zufällig. Er bezieht sich auf seine eigne Vereinigung mit andren Arbeitern und Kooperation mit ihnen als fremde, als Wirkungsweisen des Kapitals" (Grundrisse, 479).
Die "betriebswirtschaftliche" Trennung der gesellschaftlichen Teil-Produktionen nach außen mit ihrer Logik der gebrauchswertschädlichen Vernichtungsproduktion ohne Rücksicht auf die stofflichen Verkettungszusammenhänge des umgeformten Naturstoffs setzt sich also ebenso nach innen fort, als Degradation des Arbeiters, als Rücksichtslosigkeit gegen sein Dasein als Teil des Gesellschaftskörpers, als seine Subsumtion unter die Logik der abstrakten Arbeit als Mehrwertproduktion. Dieses PRODUKTIONSVERHÄLTNIS hat sein anderes Dasein in der Zirkulation als Warenform der Arbeitskraft und als Geld-Lohnform der Reproduktion des von den gesellschaftlichen Potenzen enteigneten Arbeiters. Dieses Produktionsverhältnis und die Warenform der Arbeitskraft stellen nicht verschiedene, voneinander unabhängige "Bereiche" des Arbeiterdaseins dar, sondern sind vermittelte Identität, die Identität seiner Existenz als variables Kapital.
Die Trennung von Produktions- und Vergesellschaftungslogik, die Mystifizierung der gesellschaftlichen Produktionsbeziehung zur abstrakten Naturbeziehung aber führt gerade zur Trennung und Leugnung dieses Zusammenhangs in der Degradation des Arbeiters und seiner Unterordnung unter die Hierarchisierung der sozialen Beziehungen in der Wert-Ökonomie; so behauptet Thaa, "daß sich die sozialen Verhältnisse innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses von der Warenförmigkeit in der Zirkulationssphäre gründlich unterscheiden ..., daß die herrschaftlichen Verhältnisse in der Produktion,

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genauer: die funktionalen Hierarchien der vertikalen Arbeitsteilung, eine Form der realen Versachlichung der Arbeit darstellen und deshalb,obwohl nicht warenförmig, doch als Wertverhältnisse zu verstehen sind" (HaV, 153). Allen Ernstes soll sich also für Thaa der Lohnarbeiter in zwei völlig verschiedene Wesen aufspalten, die Warenförmigkeit seiner Arbeitskraft als solche überhaupt nichts zu tun haben mit seiner Degradation im Arbeitsprozeß; das "nicht warenförmige Wertverhältnis", die phantastische "innere Wertform der Technik" soll sich also direkt in der Degradation des Arbeiters bewahrheiten. Warum aber muß dann die Arbeitskraft überhaupt "außerhalb" der Produktion Warencharakter annehmen? Allen Leugnungs- und Verschleierungsversuchen zum Trotz tut sie dies ja auch in den Wert-Ökonomien der sowjetischen Produktionsweise; auch dort wird die Arbeitskraft zwecks Akkumulation von abstraktem Reichtum, Erwirtschaftung von Devisen etc. der Geld-Lohnform (inclusive Arbeitsvertrag, Arbeitsrecht usw.) in ihrer Reproduktion unterworfen und damit im Produktionsprozeß der Logik der abstrakten Arbeit, also unter Degradation des Arbeiters und seinem Ausschluß von den wissenschaftlichen Potenzen der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion. Die absurde Aufspaltung der Gesellschaftlichkeit in zwei völlig getrennte "Parallelwelten" von Zirkulation und Produktion löscht diesen notwendigen Zusammenhang systematisch aus.
Ullrich und Thaa können sich mit ihrer Mystifizierung allerdings, darauf habe ich schon hingewiesen, durchaus auf die verkürzte Sichtweise des traditionellen Marxismus stützen. So spricht Thaa interessiert von einer "im Marxismus - und keinesfalls nur da - vorherrschenden Tradition, den Herrschaftscharakter der vom Kapitalismus hervorgebrachten Produktionsweise wesentlich als Aneignungsverhältnis zu bestimmen" (HaV, 154). Zur Illustration dieser dem Produktionsprozeß äußerlichen Eigentums- und Verteilungsbeschränktheit dient ihm die Definition von Herrschaft bei dem "traditionellen" Marxisten Werner Hofmann in dessen 1969 erschienener Arbeit "Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft": "Unter Herrschaft sollte ... etwas sehr bestimmtes verstanden werden: nämlich ein GRUNDVERHÄLTNIS der Gesellschaft, das gekennzeichnet ist durch die ANEIGNUNG FREMDER ARBEITSLEISTUNG DURCH NICHTARBEITENDE, und zwar aufgrund von Herrengewalt an den entscheidenden Produktionsmitteln" (zit. nach HaV, 154, Hervorheb. W. Hofmann). Thaa moniert demgegenüber zu Recht, daß durch die bloße "Gegenüberstellung von Arbeitenden und nichtarbeitenden Aneignern die soziale Organisation im Innern des Produktionsprozesses von vornherein als herrschaftsfrei gesetzt (wird). Hofmanns Definition kann die Kommandoverhältnisse im Produktionsprozeß, in denen ja der Kommandierende durchaus eine produktive Funktion wahrnimmt ..., wo also das Verhältnis zum Untergebenen trotz eventueller Lohndifferenzen im Kern kein Aneignungs- sondern ein Arbeitsteilungsverhältnis darstellt, nicht als herrschaftlich begreifen" (HaV, 154). Und triumphierend kann Thaa die begriffliche Verkürzung bei Hofmann feststellen: "Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Herrschaftsdefinition der tatsächlich die Form von Aneignungsbeziehungen tragenden Zirkulationssphäre der bürgerlichen Gesellschaft ver-

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haftet bleibt, gegen die sie die unbezahlte Mehrarbeit des Proletariats einklagt" (HaV, 154f.). Thaa merkt aber gar nicht, daß er damit indirekt auch seine eigene, bloß spiegelverkehrte Beschränktheit und Verkürzung des Kapitalverhältnisses angreift. Denn nicht nur bei Hofmann, sondern auch bei Ullrich und Thaa selber wird ja durch die verkürzende soziologistische Sichtweise der Selbstzweckcharakter kapitalistischer Produktionsweise, d.h. das übergreifende dingliche "automatische Subjekt" des Werts ausgeblendet. Gerade dadurch aber erscheint der Charakter kapitalistischer Aneignung bei Hofmann auf die Zirkulationssphäre beschränkt, während Ullrich und Thaa, diese Beschränkung bestätigend, die "eigentliche" Produktionssphäre von dieser Aneignung GETRENNT setzen, als abstraktes Naturverhältnis, dessen "eigenständiger" Herrschaftscharakter in der Degradation des Arbeiters der Herrschaftslogik der Naturwissenschaft in ihrer Naturerkenntnis entspringe. Beide Seiten, sowohl traditionelle Marxisten wie Produktivkraftkritiker, vergessen, worin der kapitalistische Aneignungsprozeß wirklich besteht,WAS eigentlich "angeeignet" wird. Die Beschränkung des Aneignungs-Begriffs auf die Zirkulationssphäre ist in doppelter Weise falsch: zum einen ganz platt deswegen, weil in der Zirkulation überhaupt keine Aneignung stattfindet, sondern nur ein TAUSCH VON ÄQUIVALENTEN. Das zu Tauschende muß also schon vorher angeeignet worden sein, entweder vermittels eigener Arbeit oder durch Ausbeutung fremder Arbeit. Insofern behält selbst Hofmann in seiner Verkürzung noch recht gegenüber Ullrich und Thaa, die Zirkulation und Distribution nicht unterscheiden können und übersehen, daß die Aneignung des Mehrprodukts aufgrund des Privateigentums an gesellschaftlichen Produktionsmitteln bereits vor der Zirkulation der Produkte stattfindet (in den sowjetischen Produktionsweisen nimmt der Staat als verselbständigte Korporation gegenüber den Produzenten diese formelle Rolle des Privateigentümers ein).
Aber auch dieser richtig bestimmte Aneignungsbegriff bleibt als formelle Bestimmung dem realen ANEIGNUNGSPROZESS noch äußerlich. Angeeignet werden ja nicht eigentlich die dinglichen Produkte der Produktion, die als solche nur GEBRAUCHSWERTE darstellen. Angeeignet wird in Wahrheit die ARBEIT SELBST, als abstrakte Arbeit, als Wert; darauf deutet ja auch Hofmanns Formulierung von der "Aneignung fremder Arbeitsleistung" hin, ohne daß der traditionelle Marxismus allerdings den wahren Gehalt dieser Worte zu erfassen vermag. Die wirkliche Aneignung der Arbeit findet im Produktionsprozeß statt, in seiner Gestalt als WERTBILDUNGSPROZESS, deren gespenstische abstrakte Gegenständlichkeit stofflich in der Vernichtungsproduktion aufscheint ebenso wie in der Degradation des Arbeiters, der auf seine "wertbildende" abstrakte Funktion reduziert wird. Die VERGEGENSTÄNDLICHUNG dieser abstrakten Arbeit, "Arbeit als solcher", ist eine real werdende GESELLSCHAFTLICHE FIKTION, die den dinglichen Produkten als solchen nicht anzusehen ist, sondern eben erst in der Zirkulation als dingliche REALABSTRAKTION DES GELDES zu sich kommt. Deswegen kommt auch der reale Aneignungsprozeß in der Produktionssphäre erst in der Geldform der Zirkulationssphäre zu sich; an der Oberfläche er

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scheint dies als Notwendigkeit, den "Mehrwert" zu "REALISIEREN", d.h. die im Mehrprodukt fiktiv vergegenständlichte Mehrarbeit in Geld zu verwandeln. Die an sich absurde, "verrückte" Form der Aneignung von "Arbeit" statt von Gebrauchswerten, die durch den flüssigen Prozeß der Arbeit erzeugt wurden, wird nur möglich durch die logische Verschränkung von Produktion und Zirkulation, durch die dingliche Erscheinung der abstrakten Arbeit in der Zirkulation als Geld. Diese vermittelte Identität ist weder den traditionellen Marxisten noch den Produktivkraftkritikern klar, weil sie den fiktiven, "verrückten" Charakter des "Werts" nicht kritisch durchschauen, sondern rein definitorisch-ontologisch als fertige, feste, unabänderliche Tatsache positivistisch hinnehmen. Statt das Geld in der kapitalistischen Reproduktion als die dingliche Erscheinung der Aneignung fremder Arbeit IM PRODUKTIONSPROZESS zu begreifen, muß es so als bloßes Ding, als "Instrument" der Zirkulation mißverstanden werden. Die wirkliche Aneignung von Arbeit kann nur im Wertbildungsprozeß der Produktion selber stattfinden, und eben diesem Charakter der Produktion als Wertbildung entspringt die Degradation des Arbeiters ebenso wie die spezifische dinglich-technologische Struktur der Produktionsmittel, bis hin zur Vernichtungsproduktion. Das den Arbeiter zum bloßen Wertbildungs-Atom degradierende "Arbeitsteilungsverhältnis" in der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion ist so selber das eigentliche Aneignungsverhältnis, wobei sowohl die "Offiziere und Unteroffiziere" des unmittelbaren Produktionsprozesses wie die Wissenschaftler, das Management usw. nur die FUNKTIONÄRE des "automatischen Subjekts" darstellen, des sich verwertenden Werts als Selbstzweck der kapitalistischen Produktionsweise. Die Zurückführung der Degradation des Arbeiters auf das abstrakte Naturverhältnis und den absurden "Herrschaftscharakter" der Naturerkenntnis "als solcher" beruht daher auf derselben verdinglichten Begriffsbildung, wie sie den traditionellen zirkulativ bzw. distributiv verkürzten, wertfetischistischen "Aneignungs"-Marxismus auszeichnet, der seine eigenen Begriffe nicht begreift.

4. Dürftige Moral und Moral der Dürftigkeit: Konsequenzen der Produktivkraftkritik

Der als anthropologische Konstante verstandene Entfremdungs-Begriff und lebensphilosophisch gefärbter Kulturpessimismus, resultierend aus der Ableitung von gesellschaftlicher "Herrschaft" aus der abstrakten Naturbeziehung, haben die originale Kritische Theorie und ihre späteren Vertreter emanzipationstheoretisch verstummen und in offene Resignation münden lassen. Horkheimer, Adorno, Marcuse und ihre (wenigen) authentischen Nachfahren konnten und wollten aus den Antinomien ihrer Theorie keine platten "praktischen" Konsequenzen ziehen. Anders die heutigen Produktivkraftkritiker, die vom begrifflichen Apparat der Kritischen Theorie nur noch die für ihre Zwecke brauchbaren Teile ausschlachten und das reaktionäre lebensphilosophische Moment daher auch viel stärker betonen (offenbar ohne sich über die historischen Wurzeln völlig im Klaren zu sein). Ihr aus der 68er Bewegung ererbter Impuls, auf jeden Fall "praktisch" werden und sich

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politisch vermitteln zu müssen, verleitet sie dazu, den produktivkraftkritischen Ansatz bis zu handlungsorientierten gesellschaftspolitischen Konzeptionen auszubauen. Nirgendwo werden aber die logischen und analytischen Schwächen, die letztlich reaktionäre Tendenz der Produktivkraftkritiker so deutlich wie in ihren quasi-programmatischen Versuchen, auf die ich nun abschließend eingehen will. Dabei sollen auch die sozialen Grundlagen dieses Denkens bis zur Kenntlichkeit enthüllt werden.

a) Entgesellschaftung und Warenfetisch: "Small is beautiful"

Sowohl bei Ullrich wie bei Thaa ist die gesellschaftliche Realabstraktion des Geldes aus der Schußlinie der Kritik genommen und zur sekundären, "unwichtigen" und im Realsozialismus angeblich gar nicht mehr dominierend vergesellschaftenden "Bereichslogik" eines nachgeordneten "Subsystems" erklärt worden. Ebenso haben beide Produktivkraftkritiker die abstrakte Naturbeziehung und damit Naturwissenschaft und Technik "als solche" zur eigentlichen und primären Grundlage von "Herrschaft" verbogen und zurechtgestutzt. Ich habe bisher nur nachgewiesen, daß damit der Kern der Wertabstraktion und aller daraus folgenden gesellschaftlichen und natürlichen Konsequenzen verfehlt wird. Da es sich jedoch bei der Produktivkraftkritik heute keineswegs bloß um die logisch-begrifflichen Fehler einzelner Theoretiker, sondern um einen breiten und mächtigen Strom gesellschaftlicher Ideologie handelt, ist über die wissenschaftliche Kritik der bloßen Inhalte hinaus auch deren sozial-historische Grundlage herauszuarbeiten.
Das Vorbeizielen an der konkreten Kritik des Geldes legt den Schluß nahe, daß die von Thaa wie Ullrich gegen die "Versachlichungspotenzen" von Naturwissenschaft und Technik beschworene Subjektivität und Individualität in letzter Instanz nichts anderes darstellt als die ABSTRAKTE PRIVATHEIT des waren- und geldbesitzenden abstrakten, d.h. BÜRGERLICHEN Individuums. An dieser Problematik ist ja auch bereits die alte Kritische Theorie von Horkheimer, Adorno und Marcuse gescheitert, die am entscheidenden Nervenpunkt eben gerade nicht über den traditionellen Marxismus der alten Arbeiterbewegung hinauszukommen vermochte. Auch der Lohnabhängige ist als "Warenbesitzer" seiner Arbeitskraft ein bürgerliches Individuum und insofern dessen auf die Logik des Geldes verpflichteter Ideologiebildung ausgeliefert; eine Sprengung dieses Zusammenhangs wäre nur möglich durch die konkrete Kritik der abstrakten Arbeit in ihrer Totalitätsform von Produktion und Zirkulation. Die lebensphilosophische "Naturalisierung" des Wertverhältnisses bietet nun in ihren zahlreichen Schattierungen dem bürgerlichen Individuum ebenso zahlreiche Möglichkeiten, die Konsequenzen kapitalistischer Vergesellschaftungs-Logik zu kritisieren und zu bekämpfen, ohne doch den Boden der abstrakten Geld-Subjektivität wirklich zu verlassen. Die ideologischen Konstrukte der Produktivkraftkritik wären so als aufwendiges Ausweichmanöver des wertfetischistischen Bewußtseins zu erklären. Das offen oder klammheimlich auf seiner abstrakten Privatheit beharrende bürgerliche Subjekt kann (und muß) auf einer zweiten

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Ebene der Fetischisierung die Mächte der negativen, wert-ökonomischen Vergesellschaftung in ihrer toten Sachlichkeit und Gegenständlichkeit unvermittelt attackieren. So gesehen handelt es sich aber bei der Beschönigung, Vertuschung und Verkleisterung des Geldes als der Realgestalt der Wertabstraktion kaum um ein bloßes Mißverständnis. Das Geld ist ja die dingliche Inkarnation jener Privatheit oder (abstrakten) Subjektivität, die um jeden Preis gegen ihre eigenen Konsequenzen verteidigt werden soll, weil anders keine Selbstbehauptung des Individuums möglich scheint. Der zunächst geheime Sinn der theoretischen Trennung von Produktions- und Vergesellschaftungslogik, von toter technisch-wissenschaftlicher Maschinerie und "Warenverkehr" kann von daher entschlüsselt und auf eine Formel gebracht werden, die den ewigen Wunschtraum des abstrakten Ware-Geld-Subjekts ausdrückt: die nicht anders als in ihrer Verkehrung denkmöglich erscheinende Vergesellschaftung soll die Schmerzgrenze der geldvermittelten Privatheit nicht verletzen, die Produktivkräfte den Horizont der Warenproduktion nicht überschreiten dürfen. Die Vermeidung einer Identitätskrise des Geld- bzw. Lohn-Individuums um jeden Preis, d.h. die geradezu hysterische Abwehr auch nur des Gedankens einer Revolution über den Tauschwert hinaus, dies ist das wahre Credo der Produktivkraftkritik.
Um der Verewigung der Warenproduktion willen sollen die Produktivkräfte und damit wissenschaftliche Naturerkenntnis und Technik auf "kleiner Flamme" gehalten werden. "Klein" ist dabei buchstäblich zu verstehen. Wie sein Gewährsmann Mumford rennt auch Don Quichotte Ullrich gegen die negative Vergesellschaftung in ihrer windmühlenhaften Fetischgestalt als "Große Maschine" an; so wettert er gegen die "zentral steuerbare Groß-Produktions-Maschine" (WN, 32), gegen "das immer höher integrierte Organisationswesen der modernen Gesellschaft" (WN, 32), gegen die "ganze Territorien überziehenden Netzapparaturen des Transports, der Kommunikation, der Kanalisation(!) und der Kraft-, Licht- und Wasserversorgung" (WN, 33), nachdem er schon vorher das im Kommunistischen Manifest kühl benannte "unbarmherzige Zerreißen der menschlichen Bande" (WN, 29) gegeißelt hatte. Es lebe das Plumpsklo im Hof und die bucklige Blutsverwandtschaft! Oder auf gut deutsch: "Small is beautiful"!
Aber nicht nur die schiere "Größe", die angeblich die "menschlichen" (i.e. Waren-) Proportionen übersteigt, ist den Produktivkraftkritikern an der verwissenschaftlichten Produktion ein Dorn im Auge, sondern gleichzeitig die aus dieser "Größe" und "Unüberschaubarkeit" abgeleitete (bürokratische) "Zentralmachtorientierung". So die eigentümliche Staatsableitung bei Ullrich, die den modernen Staat folgerichtig nicht mehr aus den Antinomien der Warenform erklärt, sondern unmittelbar aus der toten technologischen Gegenständlichkeit: "Eine weitere zentralisierte 'Netzapparatur', die ebenfalls ein Kennzeichen des Industriesystems ist und in ihm an Umfang zunimmt, ist die Staatsmaschine. Wenn auch ... Marx noch glaubte, daß der Staat bei entfalteten Produktivkräften überflüssig würde, ist es heute offensichtlich, daß eine zentralisierte Groß-Produktions-Organisation und Großvernetzung der Gesellschaft einen zentralisierten, bürokratisierten Staat in West und Ost gleichermaßen notwendig

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macht" (WN, 33). Der Vergesellschaftungsprozeß soll also deswegen an sich prinzipiell von Übel sein, weil es sich dabei immer nur um "eine zentralmachtorientierte Vergesellschaftung" (WN, 34) handeln könne.
Auch in diesem Punkt stimmt Thaa völlig mit Ullrich überein: "Die Vergesellschaftung, die der technisierten Produktion entspricht, ist deshalb extrem zentralmachtorientiert. Im Idealfall sind die Teilprozesse vollkommen determiniert durch die vorgegebenen Normen der Zentrale. An den einzelnen Stellen des Gesamtsystems kann weder der Sinn der Tätigkeit - zumindest nicht unmittelbar - eingesehen, noch die Zweckmäßigkeit des Verfahrens beurteilt werden. Beides erfordert die 'höhere Warte' der Zentrale" (HaV, 144).
Die Produktivkraftkritiker bringen hier durcheinander, was überhaupt durcheinanderzubringen ist. Von einer wirklichen gesellschaftlichen "Zentralisierung" kann auf der Basis einer Wert-Ökonomie überhaupt nie die Rede sein. Die gesellschaftliche Realexistenz der Wertabstraktion impliziert, in welchen spezifischen Formen auch immer, den "Warentausch" und damit eine "Zirkulationssphäre", d.h. aber VONEINANDER GETRENNTE ÖKONOMISCHE EINHEITEN. Deren Beziehung zueinander kann, selbst bei noch so hochorganisierter bürokratischer Regulierung (durch den Staat), immer nur eine INDIREKTE sein, was durch die Existenz des Geldes als allgemeiner Verkehrsform bestätigt wird. Die innere Produktionslogik dieser ökonomischen Einheiten (Betriebe, Konzerne, Korporationen) ist und bleibt daher in West und Ost gleichermaßen eine GETRENNTE, "BETRIEBSWIRTSCHAFTLICHE". Gleichzeitig aber hebt der Verwissenschaftlichungsprozeß der Produktion diese betriebswirtschaftliche Trennung im stofflichen Sinne auf, d.h. er führt zu einer allseitigen technologischen "Vernetzung" der Gesellschaft. Unter dem Diktat der Wertabstraktion bleiben aber die Menschen durch das Geld voneinander getrennt, diese Trennung verschärft sich durch den "verkehrten", negativen Vergesellschaftungsprozeß des Werts sogar zunehmend mit seiner Verallgemeinerung ("Monetarisierung der Welt"). VERGESELLSCHAFTET WERDEN DIE TOTEN SACHEN, NICHT DIE MENSCHEN SELBER. Wie schon ihre bürgerlichen lebensphilosophischen Vorläufer sehen die Produktivkraftkritiker zwar den Entleerungsprozeß der menschlichen Individuen und die Schein-Verlebendigung der toten Dinge, aber sie ziehen die verkehrten Schlußfolgerungen, weil sie über die gesellschaftliche Verkehrtheit des Werts nicht hinausdenken können.
Soweit also auf der Ebene der gesellschaftlich-ökonomischen Grundbeziehung von einer "Zentralisierung" die Rede sein kann, bezieht sie sich zunächst immer nur auf die einzelnen, voneinander getrennten (und eben nicht wirklich zentralisierten) Einheiten selber. Diese sind NACH INNEN sehr wohl zentralisiert, einem einheitlichen Willen unterworfen, nämlich dem des kommandierenden Geldkapitals (dessen formverschiedene Existenz im Osten nichts an der gesellschaftlichen Grundbeziehung ändert); dabei sind menschliche Individuen nichts weiter als "Funktionäre des Werts" (Marx), d.h. der Selbstbewegung des Verwertungsprozesses. Diese "Zentralmacht" innerhalb der Basis-Einheiten der Wertökonomie aber ist ja, wie sich schon anhand der Frage der Degradation des Arbeiters im Produktionsprozeß ge-

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zeigt hat, in Wahrheit nicht dem stofflichen Verwissenschaftlichungsprozeß geschuldet, sondern eben der "betriebswirtschaftlichen" Logik der Wert-Produktion, die alle im wertmäßigen Sinne "unproduktiven" Funktionen zu minimieren sucht und diese daher auf gesonderte und ausschließliche Korporationen hierarchisierend überträgt, um die Lebenszeit der tatsächlichen Wert-Produzenten mit optimaler "Rationalität" als Verausgabungsprozeß abstrakter Arbeit organisieren zu können. Die "Zentralmachtorientierung" NACH INNEN kommt also aus DEMSELBEN Grund zustande, aus dem heraus die Betriebe usw. NACH AUSSEN eben in letzter Instanz gerade NICHT "zentralisiert" sind. Was die Sowjet-Ökonomie betrifft, so genügt ein Blick auf den ökonomischen Inhalt der Reformdebatten unter Gorbatschow, um zu begreifen, daß das Hauptproblem die nicht genügende "Effizienz" der betriebswirtschaftlichen Führung im Sinne der Wert-Ökonomie ist. Hieraus erklärt sich übrigens eine im Westen meist übersehene Erscheinung: je "zentralisierter" scheinbar die Wert-Ökonomie als Ganzes ist, d.h. je mehr die nach wie vor betriebswirtschaftlich getrennten Produktionsprozesse einer bürokratischen äußerlichen Regulierung des "geplanten Marktes" unterliegen, desto weniger "zentralmachtorientiert" sind auch die einzelnen Betriebe nach innen. Zu den beklagten Erscheinungen gehört z.B., daß die Arbeiter als Wert-Produzenten nach Lust und Laune krank feiern, aus rein persönlichen Gründen vor dem offiziellen Arbeitsschluß nach Hause oder während der Arbeitszeit zum Einkaufen gehen usw. Die vielbeklatschte ökonomische DEZENTRALISIERUNG und daraus folgende "DEMOKRATISIERUNG" der sowjetischen Gesellschaft dürfte daher eine vornehm verschwiegene Kehrseite haben: die umso schärfere betriebswirtschaftliche "Zentralmachtorientierung" der Produktionseinheiten NACH INNEN. Wie in jeder Demokratie sollen die wirklichen ökonomischen Grundlagen, die optimale Rationalität der Wert-Produktion, durchgesetzt und also die Arbeiter in ihrem wirklichen Lebensprozeß an die Kandare genommen werden. Dafür dürfen sie dann auch viel "freier" als bisher ihr Kreuzchen bei Wahlen machen.
Begrifflich getrennt werden muß der STAAT als besondere Erscheinungsform der WertÖkonomie, während Ullrich und Thaa alle negativen gesellschaftlichen Erscheinungen völlig begriffs- und unterschiedslos auf eine allgemeine "Groß-Technologie" und "Zentralmacht-Vergesellschaftung" zurückführen. Der Staat kann in Wirklichkeit die vom Wert erzwungene Trennung der Betriebe usw. nicht durch "Zentralisierung" aufheben. Er ist selber eine Ausgeburt dieser Trennung, soweit vom modernen Staat die Rede ist. Die Logik des Werts ist so absolut blind gegenüber menschlichen Bedürfnissen, daß sie als alleiniges Vergesellschaftungsprinzip zum schnellsten Zusammenbruch der Reproduktion führen müßte, zum Kampf aller gegen alle, zur Verwahrlosung und Zerstörung vieler notwendiger Momente der Reproduktion, die nicht unmittelbar betriebswirtschaftlich "rentabel" betrieben werden können usw. Dies gilt umso mehr, je höher der stoffliche Verwissenschaftlichungsprozeß fortgeschritten ist und in immer schreienderen Widerspruch tritt zur Wertabstraktion, die sich gleichwohl gerade durch denselben Prozeß verallgemeinert. Um die allgemeinen und äußeren Reproduktionsbedingungen zu sichern, ist daher auch die Absonderung einer Instanz des "All-

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gemeinen" notwendig, die aber auf der Wert-Basis notwendig ein "abstrakt Allgemeines" bleibt. Mit anderen Worten: es tritt das Paradox ein, daß die ALLGEMEINHEIT der Gesellschaft sich dieser gegenüber als ein BESONDERES verselbständigt, also in Form einer besonderen Korporation auftritt. Jedem einzelnen Staatsbürger tritt in seinem wirklichen, vom Wert diktierten Lebensprozeß seine eigene gesellschaftliche Allgemeinheit als ein besonderer Apparat, als Staatsapparat eben, fremd und äußerlich gegenüber (Polizei, Bürokratie usw). Und je höher der stoffliche Vergesellschaftungsprozeß fortschreitet, desto mehr muß dieser besondere Apparat der abstrakten Allgemeinheit institutionell und regulierend in Erscheinung treten ("Gesetz der zunehmenden Staatsquote" am Bruttosozialprodukt). Aber diese reale Abstraktion der Allgemeinheit, die der realen Abstraktion der gesellschaftlichen Arbeit als GELD entspricht als ihr Zwilling (Geld und Staat bedingen sich gegenseitig als Realabstraktionen der negativen Gesellschaftlichkeit), kann der wertmäßigen Reproduktion immer nur äußerlich und mit deren eigenen Mitteln gegenübertreten. Der Staat muß die Gesellschaft nach außen vertreten, aber eben als Verkörperung einer wertabstraktiven National-Ökonomie anderen ebensolchen gegenüber und den blinden Gesetzen des Werts unterworfen. Der Staat muß die Gebrechen, Übel und Verheerungen, die von der Wert-Ökonomie nach innen angerichtet werden (Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung, Kriminalität, Krankheit usw.) und die sich nicht rein betriebswirtschaftlich "behandeln" lassen, recht und schlecht verwalten und reparieren; aber er kann dies selber nur mittels des Geldes als allgemeiner Verkehrsform tun und gerät dabei mit zunehmender Vergesellschaftung auch zunehmend in Schwierigkeiten (Staatsverschuldung, Privatisierungs-Diskussion). Der Staat muß immer mehr unverzichtbare Momente der stofflich vergesellschafteten Produktion (Energieversorgung, allgemeine Transportsysteme, Institutionen der Infrastruktur usw.) direkt in eigene Regie übernehmen, weil sie nicht in ihrer Existenz völlig der betriebswirtschaftlichen Rentabilität überlassen werden dürfen ohne Gefahr eines Zusammenbruchs der Produktion überhaupt; aber trotzdem muß er auch selber im betriebswirtschaftlichen Sinne, d.h. wert-ökonomisch wirtschaften, woraus sich neue Widersprüche ergeben. Kurz: die "Zentralmachtorientierung" des Staatsapparats ist erstens selber eine Ausgeburt der Warenproduktion (im Osten wie im Westen) und daher nicht Ausdruck einer tatsächlich realen gesellschaftlichen Zentralisierung, sondern des genauen Gegenteils; zweitens aber ist die reale Zentralisierung dieses Apparats den abstrakten Staatsbürger-Individuen gegenüber ebenso eine Funktion des im Geld zu sich kommenden Werts wie die Zentralisierung auf betrieblicher Ebene den Arbeitern gegenüber. Die Ableitung der Produktivkraftkritiker bleibt demgegenüber plump und begriffslos.
Tatsächlich könnte die stofflich-technologische gesellschaftliche "Zentralisierung" an sich selber kein Übel sein, wenn die gesellschaftlichen Individuen sie unter sich subsumieren könnten anstatt umgekehrt unter sie subsumiert zu werden. Ich möchte nur kurz am Beispiel des "zentralistischen" Kommunikationssystems "Große Tageszeitung" (BILD-Zeitung z.B.) erläutern, wie wenig die Subsumierung der Individuen unter eine solche "Zentralmacht" un-

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mittelbar von deren purer "Größe" und "Zentralisierungsfunktion" bedingt ist. Daß ein derart großes Vernetzungs-System auf einer bestimmten Ebene tagtäglich Kommunikation von Flensburg bis Rosenheim ermöglicht, wäre ja rein stofflich gesehen ein großer Vorteil, wenn es sich darum handeln würde, einfach Informationen über Geschehnisse, Meinungen usw. auszutauschen, eine allgemeine Debatte über gemeinsame Probleme zu führen usw. Aber dafür wird bekanntlich ein solches Kommunikationssystem nicht benutzt. Warum nicht? Warum wird es zu einer kommunikativen "Einbahnstraße", über die nichts als sensationelle Verzerrung der Wirklichkeit und Desinformation verbreitet werden? Der  altgediente Hinweis auf das formelle Privateigentum hilft da nicht weiter, solange dieses Privateigentum eben nur formell verstanden wird. Das Kommunikationssystem "große Tageszeitung" ist wie alle anderen gesellschaftlichen Institutionen in die verselbständigte Wert-Reproduktion eingebunden, auf deren Boden es keine direkte menschliche Debatte und Verständigung über die gemeinsamen Angelegenheiten geben kann. Da nicht die Menschen selber, sondern die toten Sachen vergesellschaftet sind, ist das Kommunikationssystem nicht nur selber als Einheit von Verwertung des Werts der Form nach organisiert, sondern auch die transportierten Inhalte der Kommunikation tragen das Kainsmal der verschiedenen Fetischgestalten des gesellschaftlichen Lebens, die alle ihrerseits wieder getrennte Korporationen darstellen. Sowohl der Form wie dem Inhalt nach tritt also das Kommunikationssystem dem einzelnen Individuum in seiner Doppeleigenschaft als abstrakter Funktionär des Geldes und als abstrakter Staatsbürger äußerlich, fremd, getrennt und selber abstrakt gegenüber wie alle anderen Formen menschlichen Verkehrs auch. Das Individuum erlebt das Kommunikationssystem Zeitung nicht als direktes Moment seiner eigenen Gesellschaftlichkeit, an dem es lebendigen Anteil hat, sondern als totes Konsumprodukt, das als solches eine Wertgegenständlichkeit besitzt und einen in Geld ausgedrückten Preis hat wie alle anderen Waren. Nur auf dieser Schiene des abstrakten Tauschakts findet die reale Verbindung des Individuums mit dem Kommunikationssystem statt. Was danach noch kommt ist der gleichgültige Akt des Konsums, in dem das tote, ausgestoßene Produkt des Kommunikationssystems auch bloß die Funktion eines Einwickelpapiers übernehmen könnte. Anders als totes, fremdes Konsumprodukt kann das System Zeitung auch im inneren Lebensprozeß des abstrakten Individuums gar nicht in Erscheinung treten; dafür hätte es gar keine Zeit. Da die Lebenszeit des Lohnarbeiters unter den Verausgabungsprozeß abstrakter Arbeit subsumiert ist, besitzt er weder die inhaltliche Kompetenz noch den formalen Zugang zur Informationsverarbeitung, die nötig wäre, um eine Erörterung der allgemeinen Angelegenheiten leisten zu können. Dafür steht ihm kein Zeit-Fonds in seinem Lebensprozeß zur Verfügung; stattdessen gibt es "Spezialisten", Politiker, Wissenschaftler, Künstler usw., während das Kommunikationssystem selber wiederum von anderen Spezialisten in Gang gehalten wird. Für das unmaßgebliche Meinungsgeschwätz der Masse von Inkompetenten genügt dann die Spielwiese und kommunikative Hyde-Park-Ecke der Leserbriefe (oder der berüchtigten Telefon-Kommunikation im Idiotenfunk, die ebenfalls kommunikative Teilhabe suggeriert). Letztlich besteht so für den

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Konsumenten des Systems Zeitung die Funktion des Produkts gar nicht in der Kommunikation hinsichtlich seiner eigenen Gesellschaftlichkeit, sondern in seiner weiteren Zurichtung als Produzent und Konsument der Wert-Ökonomie: Die Sensationen und grellen Desinformationen dienen seiner einsamen Zerstreuung und Aufputschung, damit die grauenvolle Öde und Leere seines Reproduktionsprozesses erträglicher wird, die überflutende Werbung der Kanalisation seiner Kaufkraft.
Wie mit dem Staat und den Kommunikationssystemen, so verhält es sich auch mit allen anderen "großen" gesellschaftlichen Vernetzungs-Zusammenhängen, die allesamt in ihrer Fetischgestalt als Momente der Wert-Reproduktion immer bedrohlicher erscheinen müssen. Es ist schon eine Zumutung, wenn Ullrich Marx die naive Auffassung unterstellt, mit zunehmenden Produktivkräften werde der Staat von selber überflüssig werden. Bei Marx liegt allerdings die "Kleinigkeit" einer Revolution gegen die Wert-Ökonomie dazwischen. Solange die Vergesellschaftungsform über die Wertabstraktion nicht von den Menschen abgeschüttelt worden ist, werden alle Stufen der Produktivkraftentwicklung automatisch zu ebensovielen Stufen einer Aufblähung der abstrakten Allgemeinheit des Staatsapparats und einer verstärkten Entleerung und Nichtigkeit des Individuums gegenüber den toten "Zentralmächten" seiner eigenen Gesellschaftlichkeit. Da Ullrich und Thaa die Logik des Geldes in einen nicht als wesentlich erachteten Sekundär-"Bereich" verbannt haben, bleiben sie auch total unfähig, den gesellschaftlichen Grund der "Zentralmachtorientierung" zu verstehen.
"Klein" gegen "groß", "dezentral" gegen "zentral" - die extreme Dürftigkeit dieser Gesellschaftskonzeption verweist schon darauf, daß nur eine Abstraktion gegen eine andere ausgetauscht und der Boden der Warenproduktion nicht verlassen worden ist, Eine wirklich gebrauchswertorientierte Reproduktion wird die Frage nach "kleinen" oder "großen", nach "zentralisierten" oder "dezentralen" Zusammenhängen mit großer Selbstverständlichkeit vom STOFFLICHEN INHALT und dessen sinnvoller Vernetzungs-Reichweite abhängig machen, d.h. unter Abwägung qualitativer Bedürfnisse und stofflicher Verkettungs-Zusammenhänge. Natürlich ist es eine himmelschreiende Verrücktheit, wenn z.B. die Produktion von Radieschen ökonomisch "zentralisiert" und in kontinentale Distributions-Vernetzungen mit riesigen Transportwegen eingespannt wird, während Abermillionen von Menschen in den großen Städten nicht einmal ein winziges Fleckchen Garten besitzen, um ohne alle Umstände ihre Radieschen selber anzubauen und frisch zu verzehren. Sie müssen auf diese Weise nicht nur eine solche Kleinigkeit wie den Radieschen-Konsum über den abstrakten Wert-Geld-Zusammenhang abwickeln, es wird ihnen auch noch das Vergnügen geraubt, das durch Pflanzen- und Gartenbau gewährt wird. Daß die totale "Monetarisierung der Welt" solche Irrsinns-Blüten von "Zentralisierung" hervortreibt, kann aber doch nicht ernsthaft zum Anlaß genommen werden, nun auch die Produktion von Lokomotiven "dezentral" vornehmen oder abschaffen zu wollen, die gesellschaftlichen Kommunikationssysteme in provinzielle Enge zurückzutreiben usw., bloß um einem entgegengesetzten Abstraktionsprinzip Genüge zu tun!
Das hysterische Sich-Festklammern an der abstrakten Waren- oder Wert-Subjektivität

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gegen die unbegriffenen Vergesellschaftungstendenzen, wie sie aus der Entwicklung der Produktivkräfte resultieren, ist seit langem zum Dauerbrenner bürgerlicher Ideologiebildung geworden. In gewisser Hinsicht kämpfen auch die Konzernführer und Mittelstands-Ideologen für "Dezentralisierung" und "Entstaatlichung", so neuerdings die Monetaristen im angelsächsischen Raum und die Neo-Wirtschaftsliberalen vom Schlage des Grafen Lambsdorff in Deutschland. Sogar die staatliche Förderung der Wissenschaft wird von ihnen angegriffen. Auch in der Arbeiterbewegung gibt es eine Tradition, so in Gestalt der Anarchisten, Syndikalisten und der Genossenschaftsbewegungen (Kibbuz in Israel), in der abstrakte Staatskritik vermittelt ist mit einer Propagierung "kleiner", dezentraler Warenproduktion, um den unbegriffenen Übeln der kapitalistischen Vergesellschaftungslogik zu entfliehen. Ullrich beschwört auch ganz offen diese Traditionslinie: "Es gibt aber auch die Geschichte einer ANDEREN (Hervorheb. Ullrich) Arbeiterbewegung: der Genossenschaftsbewegung, der Anarchisten, Syndikalisten und utopischen Sozialisten usw. Für diese Bewegungen standen das Individuum, die unmittelbaren Interessen von Menschen, eine von den Betroffenen selbst beherrschbare und wünschbare Lebensweise in kleineren Sozialnetzen wesentlich stärker im Vordergrund. Die Große Industrie UND (Hervorheb. Ullrich) die großindustrieorientierte Arbeiterbewegung haben diese Alternativen unterdrückt und vernichtet" (WN, 19).
In der Tat hat der Hauptstrom der alten Arbeiterbewegung, von dem auch die verkürzte, wertfetischistische Rezeption des Marxismus getragen wurde, zu einer Integration in den demokratisch-kapitalistischen Staat, zur Einbindung in das "fordistische" Kapitalverhältnis und andererseits zur Staatsmaschine einer nachholenden wert-ökonomischen Industrialisierung in der Sowjetunion geführt. Diese alte Arbeiterbewegung hatte die Traditionslinien der Dezentralisierungs-Propaganda und der antistaatlichen genossenschaftlichen Warenproduktion als "kleinbürgerlich" eliminiert, jedoch nur, um eine mehr oder weniger staatlich regulierte, als "krisenfrei" erhoffte gesellschaftliche Warenproduktion und Lohnarbeit zu propagieren. Der Gedanke einer Aufhebung des Warenfetischs und damit der Lohnarbeit selber ist dieser Bewegung immer ganz äußerlich geblieben und daher auch zunehmend im 20. Jahrhundert verblaßt und schließlich ganz verschwunden, sogar aus der Theoriebildung. Eine Arbeiterbewegung und ein "Marxismus" aber, die über das Wuchern mit dem Pfund der eigenen menschlichen Arbeitskraft als Ware nicht hinauskommen, die daher alle zentralen Fetischgestalten des bürgerlichen Lebensprozesses lediglich formverwandelt und mit entsprechenden neuen Widerspruchsebenen reproduzieren, können auch den klein-bürgerlichen Schatten eines "anderen" Auswegs aus der kapitalistischen Vergesellschaftungs-Misere nicht loswerden. Wie der Graf Lambsdorff und die Monetaristen alle Eingriffe der abstrakten Allgemeinheit des Staates in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß als Verletzung der "eigentlichen, wahren, korrekten" Warenproduktion und ihrer Prinzipien empfinden, so die Genossenschaftsideologen, Syndikalisten usw. und heute die Produktivkraftkritiker die Selbstauslieferung der Arbeiterbewegung an Staat und fordistische Industrie als "Verrat" an den Prinzipien einer kleinvernetzten, "menschengerechten", dezentral-antistaatlichen genossen-

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schaftlichen Warenproduktion unter Ausschaltung der "Großen Industrie", die den Menschen das "Eigentum" an ihren Produktionsmitteln raubt. In Wahrheit aber handelt es sich nur um verschiedene Formen des Steckenbleibens in der Wertabstraktion, die sich als Schein-Alternativen in wechselnden Formzusammenhängen stets aufs neue ergänzen und gegenseitig bedingen. Die "unmittelbaren Interessen", wie sie Ullrich bemüht, sind für die abstrakten Subjekte der Wertökonomie immer befangen in den vorausgesetzten Bedingungen negativer, blinder Gesellschaftlichkeit und ihrer Antinomien, daher immer abstrakte Geld-Interessen, ganz gleichgültig, ob sie sich auf Sozialstaat und regulierte Lohnarbeit oder auf kleinvernetzte, dezentrale Warenproduktion beziehen. Solange dieser Teufelskreis des wert-ökonomischen Denkens nicht durchbrochen wird, müssen die sozialistischen Programme und "Utopien" stets aufs neue unter dem erbärmlichen Schicksal leiden, nur zwischen fordistischen Sozialstaatsillusionen und neo-kleinbürgerlicher Projektemacherei schwanken zu können. Davon sind heute nicht nur die Programme der Sozialdemokratie, sondern auch die der Grünen und diverser sozialistischer bzw. "kommunistischer" Sekten gezeichnet. Und so ist es auch kein Wunder, daß angesichts der Krise des Fordismus und des Sozialstaats die alten Genossenschaftsideologien wieder zu blühen beginnen und die einschlägige Publizistik zu wuchern anfängt, nicht nur im Dunstkreis der Grünen und der Alternativbewegung, sondern auch am Rande der Sozialdemokratie. Alte Ideen werden nicht gegen neue, sondern gegen noch ältere, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bloß schein-überwundene eingetauscht und noch einmal durchlaufen, obwohl sie auf der heutigen mikroelektronischen Vergesellschaftungsstufe des Kapitals noch viel illusionärer und dümmer sind als im letzten Jahrhundert.
Wie sehr die Ableitung der Vergesellschaftungs-Übel aus der schieren "Größe" von Reproduktions-Zusammenhängen auf einem verkürzten, formal-juristischen "Eigentums"-Begriff des Kapitals beruht, von dem dann die auf Verwissenschaftlichung beruhende Vernetzungsgröße als separater Ursachenkomplex abgetrennt wird, zeigt wiederum Ullrich mit überraschender Deutlichkeit. So führt er als illustratives Beispiel für einen angeblich nicht-kapitalistischen, bloß auf Großvernetzung beruhenden Verdinglichungsprozeß ausgerechnet die bis vor kurzem gewerkschaftseigene "Neue Heimat" an: "... Wachstum abstrakter Flußgrößen oder Leitvariablen ist so wesentlich gesellschaftlich institutionalisierter Mechanismus unserer Produktionsweise, daß auch Produktionsbereiche, die nicht in 'privatkapitalistischer' Hand sind, sich diesem Sog nicht entziehen können. Beispiele gibt es hierfür in kapitalistischen Gesellschaften genug. In der Bundesrepublik wäre als oft kritisiertes Beispiel die 'arbeitereigene'(!) Wohnungsproduktionsfirma 'Neue Heimat' zu nennen, die ihre Produktion auch nur ausrichtet an Wachstumsraten von abstrakten Wohneinheiten, die weitgehend losgelöst sind von qualitativen, emanzipierten Wohninteressen. Dabei, so sollte man annehmen, bestünde doch gerade hier die Chance - da durch direkte Einflußnahme 'privatkapitalistischer Interessen' nicht behindert -, die abstrakte Wachstumsvariable auch in qualitative Bedürfnisdimensionen auszuweiten. Dieses Beispiel erinnert jedoch daran, daß ... 'Besitz' oder Eigentum nur eine Variable unter anderen ist, die für die Beurteilung verdinglichter Pro-

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zesse auf hohem Komplexitätsniveau der Vergegenständlichung zunehmend eine geringere Bedeutung hat. Neben der Tatsache einer Einbettung in die gesellschaftlich institutionalisierte Grundlogik des Kapitals würde am Beispiel 'Neue Heimat' bei genauerer Analyse auch deutlich werden, daß noch zusätzliche Mechanismen verantwortlich sind für die quantitativ-abstrakte Außenorientierung dieser 'nicht-kapitalistischen' Produktionsorganisation: von der Logik des Kapitals unabhängige Verdinglichungstendenzen großer vergegenständlichter Prozesse ..." (TuH, 256).
Plumper kann die Verblendung einer wertfetischistischen Ideologie fast nicht mehr daherkommen. Weil die kapitalistische Verwertungseinheit "Neue Heimat" von Gewerkschaftsgeldern angekauft ist, deswegen stellt sie für Ullrich eine "arbeitereigene" Reproduktionseinheit dar. Der Begriff des "Eigentums" ist hier noch deutlicher als in anderen Zusammenhangen völlig von jedem sachlich-gesellschaftlichen Inhalt abgetrennt und zum rein äußerlichen totalen Rechtsfetisch geronnen. Und in der Tat, wenn der Begriff des Kapitals kein sachlich-gesellschaftliches Verhältnis darstellt, sondern bloß eine rein formale Beziehung, dann müssen alle realen sachlichen und persönlichen Momente dieses Verhältnisses als lauter separate und miteinander nur äußerlich in Beziehung stehende "Sphären" oder "Bereiche" erscheinen. Dann kann als Gipfelpunkt dieser Mystifikation dem abstrakten Gesellschaftsverhältnis der Wert-Ökonomie sogar dessen eigene "Größe" als äußerlicher, separater Mechanismus und Ursachenzusammenhang gegenübergestellt werden!
Die Realabstraktion des Geldes bleibt dabei deswegen außerhalb der Reichweite der Kritik, weil sie gar nicht mehr als historische Besonderheit erscheint, sondern als unbezweifelbare ontologische Grundtatsache des menschlichen Lebens, die allen Produktionsweisen gemeinsam ist und die in Frage zu stellen als ebenso verrückt betrachtet werden muß wie etwa die Forderung, daß die Atemluft abgeschafft werden soll. Es zeigt sich so die gepanzerte Hartnäckigkeit des abstrakten Individuums, das sich nur als Geld-Subjekt weiß und jedes Aufbrechen des Geld-Panzers der abstrakten Vergesellschaftung als Angriff auf seine Identität als Subjekt erleben muß. Wenn Wert und Geld aber absolute, unhistorische, ontologische Gegebenheiten sind, dann kann es höchstens noch darum gehen, das Geld aus der Verselbständigung des kapitalistischen Verwertungsprozesses und aus den teuflischen Fängen der verwissenschaftlichten Großproduktion wieder heimzuholen in den Märchenpark kleiner Warenproduktion. Dort könnte es, im Rahmen "menschengerechter" Proportionen "kleiner" Vernetzungszusammenhänge, für Ullrich wieder die Rolle spielen, die ihm "eigentlich" zukommt, nämlich bloßes "Mittel des Austauschs" zu sein: "Für die entwickelte Tauschgesellschaft war vorher typisch, daß am Anfang und am Ende des Tauschvorgangs ein Produkt stand. Jemand stellte ein Produkt her, verkaufte es, um dafür ein andres Produkt kaufen zu können. Dieser Austausch wurde zwar vermittelt über Geld, aber der Endzweck des Tauschvorgangs blieb der GEBRAUCHSWERT (Hervorheb. Ullrich) der Ware. Für die kapitalistische Wirtschaftsweise dagegen ist typisch, daß sich dieser Zyklus Ware - Geld - Ware (W - G - W) umwandelt in Geld - Ware - Geld (G - W - G). Am Anfang und am Ende steht

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das Geld, der TAUSCHWERT (Hervorheb. Ullrich) der Ware, und der einzige Zweck des Prozesses ist, diesen Geldwert zu erhöhen" (WN, 28).
Was Ullrich hier beschwört, hat es freilich als eigenständige Gesellschaftsformation nie gegeben; die einfache Warenproduktion, die "im Gebrauchswert erlischt", stellt nichts als eine unentfaltete Form der Wert-Ökonomie dar, die sich auf die "Nischen" einer überhaupt nicht "warenförmigen" feudalen etc. Agrarproduktion beschränkt, in der das Mehrprodukt nicht über die Wertabstraktion angeeignet wird, sondern natural auf der Basis persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse. Und selbst in diesen "Nischen" vorkapitalistischer Produktionsweisen entwickelt sich das Geld schon zum Selbstzweck (etwa in Form der Schatzbildung, des Kaufmanns- und des besonders idyllischen Wucherkapitals), wenn auch noch nicht im unmittelbaren Produktionsprozeß selbst. Wie viele Autoren vor ihm verwechselt Ullrich das analytische Moment der Wertformanalyse bei Marx, den "einfachen" W - G - W -Vermittlungszusammenhang, mit einer realen Produktionsweise oder Gesellschaftsformation der Vergangenheit. Die von ihm wie von den meisten Produktivkraftkritikern immer wieder als Vorbild aus dem Hut geholten handwerklichen Warenproduzenten gab es in Wirklichkeit nur als verschwindende Minderheit, die der Masse der unmittelbaren Produzenten gegenüber ungeheuer privilegiert war und den realen gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß gar nicht entscheidend trug. Die Verallgemeinerung der Wert-Ökonomie hingegen, die längst vor der industriellen Revolution einsetzte und zu Beginn des 19. Jahrhunderts schon eine lange Geschichte hat, geht auch einher mit der Herausbildung von verschiedenen Formen der Lohnarbeit. Während aber in der Marx'schen Theorie die innere Logik der Entfaltung des Wert-Geld-Zusammenhangs als negative Vergesellschaftung anhand des realen Geschichtsprozesses herausgearbeitet wird, erscheint die Geschichte der Wert-Ökonomie bei Ullrich, der die Logik des Geldes umnebelt und beschönigt hat, schlicht als willkürliche Fehlentwicklung, die bei "rechter Einsicht" auch ganz anders hätte verlaufen können. Wie für jeden beliebigen Amateur-Weltverbesserer ist der real vorgefundene Gesellschaftsprozeß für ihn nur "dieser wenig glückliche Geschichtsverlauf ..." (WN, 20), an dem er nun mit dem gesunden Menschenverstand des abstrakten Warensubjekts, das unsäglich guten Willens ist, herumbasteln und -bosseln will.
Während sich Thaa vornehm zurückhält, was die praktischen Konsequenzen aus der Produktivkraftkritik angeht, kennt Ullrich in dieser Hinsicht kein Halten mehr. Mit der Unbeeindruckbarkeit des Eklektikers legt er frohgemut los und malt völlig unbekümmert einen Gesellschaftszustand aus, wie er für das abstrakte Geldsubjekt "wünschenswert" und akzeptabel wäre. Die leichtherzige Willkür allen objektiven "Bedingungen" gegenüber, wie sie zwar nicht die Realität, wohl aber die Ideologie der abstrakten Subjektivität auszeichnet, wird konterkariert durch die Tatsache, daß das Geld immer schon als Bedingung in die "real-utopischen" Wolkenkuckucksheime mit eingeht, d.h. der "Austausch" der abstrakten Individuen, der als Naturbedingung nur auf sein "wahres" Maß gebracht werden soll. Es soll sich dann um eine "Gesellschaft der assoziierten relativ autonomen Kommunen" handeln,

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"in der es wieder 'richtige Proportionen' gibt und einen 'individuellen Austausch', wo in kleinen Netzen der Austausch der menschlichen Arbeitskraft(!) nicht über ein Büro verrechnet wird, wo die Kreisläufe der Produkte, der Energie, des Verkehrs klein und übersichtlich sind..." (WN, 134). Über den "Austausch der menschlichen Arbeitskraft" kann der Produktivkraftkritiker nicht hinausdenken, eine andere als die indirekte Vergesellschaftungsform über eine abgesonderte Zirkulationssphäre ist für seine abstrakte Subjektivität nicht menschenmöglich. Der naive Glaube an die Regulierbarkeit einer Wert-Ökonomie, den die Produktivkraftkritik mit ihren realsozialistischen und links-fordistischen Stiefgeschwistern durchaus teilt, kommt so bei Ullrich als das eklektische Gesellschaftsprojekt eines "Mischsystems" heraus, und zwar "ein Mischsystem, in dem nicht nur EIN (Hervorheb. Ullrich) Prinzip vorherrscht" (WN, 129). Denn "aus der Tatsache, daß Marktbeziehungen u.a. zur Ausbeutung von Schwächeren führen, kann man nicht phantasielos ableiten, daß nun alles durch einen Plan geregelt werden müßte..." (WN, 128). Es ist ja alles so babyleicht: "Den Fluß der meisten Halbfertigprodukte regelt wohl am besten ein kommunaler Markt mit Geld als Tauschmittel ... Das Ganze könnte überlagert sein durch einen National- und Weltmarkt für eine mengen- und wertmäßig geringe Zahl von Spezialprodukten" (WN, 128). So also sehen die "Realutopien" einer Linken heute aus, die aufgebrochen ist, um - zum wievielten Male? - "über Marx hinaus" zu gelangen und doch immer nur von neuem hoffnungslos hinter diese Theorie, die durchaus einer Weiterentwicklung bedürfte, kläglich zurückfällt. Das reaktionäre Zurückdrehen der Produktivkräfte auf den Stand einer historisch fiktiven "einfachen Warenproduktion" muß dann folgerichtig auch den erreichten Stand der Welt-Vergesellschaftung negieren, um zu rein nationalen oder regionalen Reproduktionsformen zurückzukehren: "Vor allem muß die Exportabhängigkeit gebrochen werden..." (WN, 133). Es kann also für die "Utopie" Ullrichs ein Resumé gezogen werden, das vom ökonomischen Inhalt her kaum über das Ahlener Programm der CDU von 1946 hinausreicht: "Man muß alles unterstützen, was die Zentralen, die radikalen Monopole und die großen Vernetzungen schwächt ..." (WN, 129).
Ein solches "Modell" ist im schlechtesten Sinne reformistisch. Nicht nur, daß die Idee einer "kleinen" Vernetzung über die Geldform Fleisch vom Fleische der Wertabstraktion ist und daher befangen bleibt im Horizont der bürgerlichen Ideologie; die ökonomischen Abstraktionen Ullrichs könnten von so ziemlich jeder ordinären Mittelstandsvereinigung und Metzgersinnung unterschrieben werden. Daß es sich um ein Projekt innerhalb der real existierenden Gesellschaftsform inclusive deren beschriebener und kritisierter Übel handelt, stellt übrigens Ullrich selber ausdrücklich fest: "Trotz der vielen Behinderungen sind kleine Netze jetzt schon möglich, und sie entstehen auch zusammen mit vielfältigen Vorformen in Wohngemeinschaften, Bürgerinitiativen oder in der Frauenbewegung. Sie setzen nicht schon eine im ganzen veränderte Gesellschaft voraus, sondern sie sind als Inseln, als Einsprengsel in der alten Gesellschaft möglich, die nach und nach auch Rückwirkungen auf die Gesellschaft haben können, wie in Spuren etwa in Holland schon erkennbar wird" (WN, 127).

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Warum nicht gar! Das Schlimmste freilich ist, daß eine derartige gesellschaftspolitische Perspektive im kapitalistischen Krisenprozeß durchaus für die Stabilisierung der bestehenden "Herrschaft" instrumentalisiert werden kann. Die meisten "Alternativbetriebe" sind längst von "Staatsknete" abhängig geworden (und stellen insofern nur eine Variante der linkskeynesianistischen Illusionen dar) oder bei den Banken verschuldet; nur durch "Selbstausbeutung", Überarbeitung und Subsumtion der eigenen Lebenszeit unter das "Geschäft" über den erreichten Standard der Lohnarbeit hinaus können solche "Insel"-Projekte überhaupt eine Zeitlang dahinvegetieren. Ihre Hauptfunktion in den letzten Jahren war die galoppierende Entpolitisierung eines Teils der (Ex-) Linken und die Herausbildung eines durchaus dem "neuen" gesellschaftlichen Sein entsprechenden neo-kleinbürgerlichen Bewußtseins von geradezu klassischem Zuschnitt. Die Praxis hat bereits bewiesen, daß es sich genau umgekehrt verhält, wie Ullrich es erhofft: in ganz kurzer Zeit hat die "alte Gesellschaft" ihrerseits auf die verschiedenen Alternativprojekte "zurückgewirkt" und sie entweder eliminiert oder zur ganz "normalen" betriebswirtschaftlichen Kalkulation und Anpassung gezwungen. Die "Professionalisierungsdebatte" ist bekanntlich auch schon wieder vorbei, und "professionell" heißt im Rahmen hochvernetzter Warenproduktion eben bedingungslose Kapitulation vor der Wertabstraktion und also dem Geld, Unterwerfung der qualitativen Bedürfnisse unter die Logik der abstrakten Arbeit, sei es nun die eigene oder die von Lohnarbeitern. Die "Überschaubarkeit" der kleinen Warenproduktion, abgesehen von ihrer Gefangenschaft im monetären Spinnennetz von Staat und Banken, besteht höchstens darin, daß sie die Scheußlichkeit der abstrakten Geldbeziehung im Vergleich zu der wohltuenden Anonymität der "Großvernetzungen" zu allem Überfluß auch noch auf ein Niveau gleichzeitig persönlicher Beziehungen zurückführt und dadurch nur umso widerwärtiger und schmieriger macht.

b) Dürftige Moral: Die "Reduzierung der Dimension des Machens"

Es dürfte schwerfallen, die Notwendigkeit von "Moral" im praktischen Leben zu bestreiten. Nicht alles, was als "richtig" erkannt ist, läßt sich auch ohne weiteres in gesellschaftliche Praxis übersetzen; und zur Überwindung der gesellschaftlichen Hemmnisse, die auch das eigene Denken und Handeln in der Praxis beeinflussen (Angst, Macht der Gewohnheit, unmittelbares Partikularinteresse des abstrakten Individuums usw.), muß zweifellos auch ein "moralischer" Impuls mobilisiert werden. Aber der Impuls des "Sollens" und "Müssens" kann seine INHALTE weder unmittelbar aus sich selbst schöpfen noch entspringen sie einer jenseitigen Offenbarung oder einem "angeborenen" Kategoriensystem. Mißlich wird es daher, wenn die "Moral" in den ihr nicht zukommenden Rang gesellschaftlicher Erkenntnis gehoben wird; dies geschieht immer dann, wenn in der Theorie klaffende Lücken ausgefüllt werden müssen. Eine Linke, die nicht über die Wertabstraktion hinausdenken kann und im Warenfetisch befangen bleibt, muß daher stets aufs neue hinter den historischen Materialismus zurückfallen und auf den Notbehelf irgendeiner Variante des Kant'schen "kategorischen

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Imperativs" zurückgreifen. Am allerwenigsten entgeht die Produktivkraftkritik diesem Schicksal.
Wenn das "automatische Subjekt" des Werts als allgemeiner Bedingungsgrund aller menschlichen Interessenhandlungen ideologisch eliminiert worden ist und der Begriff des Vergesellschaftungs-Zusammenhangs in lauter zusammenhangslose "Bereichs"-Logiken von gesellschaftlichen "Subsystemen" zerfällt, dann muß sich auch die Frage nach der MOTIVATION für diese Handlungen völlig abstrakt stellen. Der Urgrund von "Herrschaft" soll die abstrakte Naturbeziehung sein, Naturwissenschaft und Technik sollen ein verselbständigtes gesellschaftliches Subsystem außerhalb der Warenlogik und unabhängig von dieser darstellen. Die Leiche liegt vor uns, der Mörder ist bekannt, aber was war das Motiv? Da der detektivische Scharfsinn der Produktivkraftkritik an dieser Stelle zwangsläufig versagen muß, bleibt nichts übrig, als die moralische Krücke aus dem dürftigen Methoden-Arsenal des Positivismus hervorzuholen. Was nicht mehr theoretisch erklärt werden kann, muß mit Moral zugeschüttet werden; die Moral selber wird zur Schein-Erklärung für den begriffslos gewordenen Sachverhalt.
Ein dankbares Exempel gibt natürlich die Atomphysik ab. Ullrich nennt nur kurz das "Erkenntnis-Produkt", nämlich "eine tiefere 'Einsicht' in die Struktur der Materie" (TuH, 232). Die Apostrophierung des Wortes "Einsicht" signalisiert schon, daß dem menschlichen Erkenntnisinteresse hier grundsätzlich ein pejorativer Sinn zugesprochen wird; hängt dieses Erkenntnisinteresse doch mit "Naturbeherrschung" und Produktivkraftentwicklung zusammen. Darüber hinaus ist es aufschlußreich, wie Ullrich auf die gesellschaftliche Form des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses eingeht: "Dieses Erkenntnisprodukt befriedigt ausschließlich die Interessen einer kleinen Gruppe der scientific community. Versuche, diese Erkenntnisse auch einem Teil der Bevölkerung zu vermitteln, die diese Forschung bezahlt, werden erst gar nicht unternommen" (TuH, 232).
Warum nur einem "Teil" der Bevölkerung? Und warum findet diese "Vermittlung" nicht statt? Warum wird Wissenschaft überhaupt zum Partikularinteresse einer abgesonderten Korporation? Und warum muß diese Forschung in Geld bezahlt werden, und zwar via Staat von "der Bevölkerung", die selber wissenschaftlich inkompetent bleibt? Ullrich kann keine einzige dieser Fragen beantworten, da er keinerlei Begriff des gesellschaftlichen Arbeitsteilungsverhältnisses der Wertabstraktion besitzt. Die von der negativen Vergesellschaftung des Werts erzwungene korporative Absonderung der Wissenschaft muß so unmittelbar aus sich selbst erklärt werden, als der Motivationszusammenhang einer "besonderen Sorte Mensch". In Wirklichkeit gilt für die Atomphysik vielleicht mehr als für jede andere Wissenschaft, daß die korporative Absonderung und gleichzeitige Unterwerfung unter die allgemeine Geldlogik sie unabhängig vom Bewußtsein ihrer wissenschaftlichen Träger in die Bahnen der Vernichtungsproduktion gezwungen hat. In allen Wert-Ökonomien gilt auch für die Wissenschaft der Zwang zur Einbindung in den Verwertungsprozeß. Da sie für die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt einerseits absolut notwendig ist, andererseits aber gleichzeitig selber nicht un-

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mittelbar produktiv ist im Sinne der Wertproduktion, wird die Wissenschaft und selbst die Naturwissenschaft zwar gefördert, gleichzeitig aber harten Restriktionen unterworfen, wo dies möglich erscheint. Auch die Wissenschaft kann sich nur über das Geld reproduzieren, aber das Geldinteresse ist himmelweit davon entfernt, mit dem Erkenntnisinteresse identisch zu sein. Dies gilt für den einzelnen Wissenschaftler und sein Interesse selbst, dies gilt aber erst recht für die Beziehung von Wissenschaft und kapitalistischer Vergesellschaftung. Besonders die Grundlagenforschung steht hier einem Dilemma gegenüber, die physikalische wie jede andere. Im Sinne eines partikularen Verwertungsinteresses ist eine Forschung schwer einsehbar, die durchaus etwas "Spielerisches" an sich hat und die hinsichtlich der profitablen technologischen Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse völlig undurchsichtig und vage bleibt. In den Sowjet-Ökonomien tritt dieses Hemmnis sogar verstärkt auf, da unter der Käseglocke des "geplanten Marktes" sogar noch die ökonomischen Stimulantien für kurz- und mittelfristige technologische Innovationen wegfallen und sich die Konkurrenz unter diesen Bedingungen viel leichter durch Qualitätsverschlechterung, formales Austricksen der Planungsvorgaben usw. bewerkstelligen läßt. Die wert-ökonomische Reproduktion und ihr beschränktes Geldinteresse müssen also notwendig gerade der Grundlagenforschung eher skeptisch gegenüberstehen. Dieser Widerspruch zeigt sich z.B. gegenwärtig in der BRD anhand der Weltraumforschung. Nachdem der Vorsprung der USA gegenüber Europa selbst auf diesem Gebiet zusammengeschmolzen ist, scheint hier eine große Chance für die europäische und speziell deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu liegen. Aber das Zögern ist groß und ohne staatliche Programme würde sich gar nichts bewegen. Denn zu weit ist die Grundlagenforschung im Weltraum von der betriebswirtschaftlichen Logik entfernt: "Die deutsche Industrie ist, um es milde auszudrücken, skeptisch gegenüber wissenschaftlichen Versuchen im Weltall ... Man sieht die Chancen, allein es fehlt der Glaube an ein vertretbares Kosten-Nutzen-Verhältnis. Entsprechend zögerlich ist die Bereitschaft der deutschen Industrie, sich an kommenden Programmen zu beteiligen" (W. Osel, in: Handelsblatt v. 6.3.87).
Es ist also klar, daß die Grundlagenforschung, die von unmittelbar profitabler Umsetzbarkeit am weitesten entfernt ist, innerhalb einer Wert-Ökonomie weitgehend auf die abstrakte Allgemeinheit des Staates angewiesen bleibt. Dieser ist zwar einerseits weniger direkt von rein betriebswirtschaftlichen Vorgaben abhängig, steht aber andererseits dem rein wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse kaum weniger fremd und äußerlich gegenüber. Als abgesonderter korporativer Apparat, der die wertabstraktive National-Ökonomie nach außen und innen als abstrakt Allgemeines repräsentiert, hat er sich in hohem Maße als Vollstrecker der ultima ratio aller Klassengesellschaft zu begreifen: der Gewalt nämlich. Seine höhere Bereitschaft zur Finanzierung von Grundlagenforschung wird daher zum überwiegenden Teil direkt und indirekt durch das militärische Interesse strukturiert; ganz besonders kommt dieser Zusammenhang bei Staaten mit parasitärer Weltmacht-Ökonomie wie dem faschistischen Deutschland oder heute den USA zum Ausdruck. Dieser Gesamtzusammenhang prägt natürlich auch das Bewußtsein der Wissenschaftler selbst, für die sich wissenschaftliches Erkenntnis-

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interesse, subjektives Geldinteresse und vorgefundene Einbindung in den militärisch-industriellen Komplex bzw. die staatliche Militärforschung bewußtlos zu einem einzigen, unveränderlich erscheinenden Bedingungszusammenhang verknüpfen. An der Oberfläche des wertfetischistischen Bewußtseins erscheinen die Widersprüche dieses Zusammenhangs dann als das subjektiv-moralische Problem des abstrakten Wissenschafts-Individuums, das nur noch mit Verweigerung und also Eliminierung aus dem Wissenschaftsbetrieb oder eben mit Zynismus reagieren kann. Gestützt auf seinen Gewährsmann Wagner (F. Wagner, Die Wissen schaft und die gefährdete Welt. Eine Wissenschaftssoziologie der Atomphysik, München 1964) verweist Ullrich auf die "Borniertheit" solcher "Väter der Atombombe" wie Teller und Oppenheimer und zitiert voll moralischen Abscheus Enrico Fermi, der gesagt haben soll: "Laßt mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen, das ist doch so schöne Physik!" (TuH,234f.). Dieses bösartige Bonmot drückt aber nicht nur bodenlosen Zynismus, sondern gleichzeitig
Hilflosigkeit aus. Und warum sollte auch der Atomphysiker Fermi ein höheres Bewußtsein über die Widersprüche und Vernichtungs-Konsequenzen der Wert-Ökonomie besitzen als der Soziologe Ullrich? Statt die in letzter Instanz aus den Widersprüchen der Wertabstraktion abzuleitende Situation der Wissenschaften und besonders der Grundlagenforschung bewußt
zu machen (was immer der erste Schritt für die Aufhebung eines ebenso unerträglichen wie zunächst unbegriffenen Zustands ist), schneidet Ullrichs systemtheoretische Verkürzung die Wissenschaft von ihrem gesellschaftlichen Kausalzusammenhang ab, damit er dann umso ungehemmter über die abstrakten Wissenschafts-Individuen als quasi "moralisch verkommene Subjekte" herfallen kann.
Natürlich weiß auch Ullrich, daß sein Abgleiten in bloßes Moralisieren nicht nur den Vorwurf des Pharisäertums provozieren könnte, sondern auch im positivistischen Verständnis aus der "Wissenschaftlichkeit" herausfällt. Er muß also noch eine zusätzliche "wissenschaftliche" Begründung für die moralische Abartigkeit der Atomphysiker nachschieben. Und es fällt ihm tatsächlich nichts Dümmeres ein, als deren "Wissenschaftstrieb", unterstellt als eine Art von der "Normalität" abweichendes Verhalten, zu - psychiatrisieren! Bekanntlich gehörte es zu den Leistungen der Neuen Linken und der Studentenbewegung in ihrer "Kritik der bürgerlichen Wissenschaft", am positivistischen Verfahren der Psychiatrie die völlige Ignoranz den gesellschaftlichen Zusammenhängen gegenüber aufgedeckt und gezeigt zu haben, wie die Folgen kapitalistischer Vergesellschaftung am Individuum als dessen subjektiver Defekt, abgeschnitten vom gesellschaftlichen Konstitutionszusammenhang, "behandelt" werden. Auch die Psychiatrisierung abweichenden politischen und sozialen Verhaltens, nicht nur in der Sowjetunion, war Gegenstand dieser Kritik. Ullrich wird nun, getrieben von der inneren Logik seiner dem Wertverhältnis gegenüber begriffslosen systemtheoretischen Verkürzung, zu einer ganz ähnlichen psychiatrisierenden Bestimmung des "Wissenschaftstriebes" der scientific community gezwungen. Mit vagen, an psychoanalytische Kategorien erinnernden Ableitungen der Wissenschafts-Subjektivität tastet er sich an diese Psychiatrisierung heran und behauptet, "daß für die scientific community eine situationsbezogene Motivations-

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basis und eine Eingrenzung des Bewußtseins gegeben ist, wie sie in analoger Weise vielleicht nur noch zu finden ist in einer weltvergessenen infantilen Spielsituation, nur mit dem Unterschied, daß das weltvergessene Spiel infantil gebliebener Wissenschaftler ein zerstörerisches Spiel mit der Welt sein kann" (TuH, 229).
Da der "Wissenschaftstrieb" hier als eine Art Steckenbleiben in einer infantilen Situation beschrieben ist, kann natürlich leicht als Gegenbild "reifer Persönlichkeit" ein nicht-wissenschaftliches Bewußtsein abgeleitet werden, das in der bloßen Reproduktion seines Lebens vollkommen aufgeht und keinerlei weiterreichendes Erkenntnisinteresse entwickelt. Womit wir wieder bei den famosen Bauern und Handwerkern etc. als kleinen Warenproduzenten angelangt wären. Ullrich hat schon vorher klargemacht, daß er dieses jämmerliche Gegenbild tatsächlich im Auge hat, wenn er allen Ernstes die "Bornierung" des Wissenschaftler-Bewußtseins nicht etwa aus den Abstraktionen und Trennungen der Wert-Ökonomie ableitet, sondern aus der gesellschaftlich bereitgestellten Freiheit von Sorge um die alltägliche materielle Reproduktion: "Eine nicht gesicherte Lebensreproduktion erlaubt nicht die Konzentration der Interessen auf einen von den unmittelbaren Lebensbedürfnissen isolierten Bereich. Sind jedoch durch eine genügend hohe Bezahlung die Lebensbedürfnisse 'gesättigt' erfüllt worden, wird ein 'Spielraum' frei für die Konzentration der Interessen auf einen lebensferneren Bereich. Durch die 'selbstverständliche' Erfüllung der 'normalen' Lebensbedürfnisse wird für diesen Bereich ein Wissen und Bewußtsein nicht mehr notwendig. Das Interesse, das Wissen und das Bewußtsein können sich einschnüren auf die 'Spielsituation' wissenschaftlicher Arbeit" (TuH, 227).
Abgesehen davon, daß der logisch-historische Beziehungszusammenhang der Wertökonomie mit der typisch positivistischen Oberflächlichkeit des durchschnittlichen akademischen Vulgär-Soziologismus als blanke "hohe Bezahlung" daherkommt, so schimmert auch hier wieder durch, wie der Produktivkraftkritiker von dem Drang beseelt ist, die Widersprüche nach rückwärts aufzulösen: er tauscht so die im Gefüge der Wertabstraktion erzwungene Bornierung des abstrakten Wissenschafts-Subjekts bloß durch die noch viel brutalere Bornierung des vorwissenschaftlichen und vorindustriellen Subjekts einer viel niedrigeren Vergesellschaftungsstufe ein. Welch eine niedrige und verächtliche Perspektive, was für ein Bonsai-Humanismus, wenn nichts weiter herauskommt als das biblische Motto vom "Brotessen im Schweiße des Angesichts"! Wenn die Wissenschaftlichkeit und ihr abstraktes Erkenntnisinteresse ausgetrieben ist, wenn das Bewußtsein in den Schafspferch der bloßen Lebensreproduktion und des Aufgehens in der ewigen Plackerei zurückgetrieben wird, dann kann nach dieser Diktion auch den "infantilen Flausen" des "Wissenschaftstriebs" der Boden weggezogen  werden. Als der erwachsene Normalmensch entpuppt sich so tatsächlich der nicht- und vorwissenschaftliche Warenproduzent; nicht umsonst wendet sich Ullrich bei jeder Gelegenheit gegen eine "Geringschätzung der bäuerlich-handwerklichen Lebensweise" (WN, 15). Der "Idiotismus des Landlebens" (Marx) wäre freilich eine ziemlich sichere Barriere gegen jeglichen "Erkenntnistrieb", der über eine Kuhstall-Perspektive hinausreicht.

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Von diesem regressiven Gegenbild aus erscheint dann die "Besessenheit" der Wissenschaftler, die innerhalb ihrer spezifischen abstrakten Subjektivität von ihrem Erkenntnisinteresse ausgeht, nicht mehr im modernen Sinne als bloße Metapher, sondern wird in einem quasi mittelalterlichen Sinne wieder buchstäblich genommen. Hatte Ullrich schon in den vorgeschichtlichen Magiern den verwerflichen Drang nach "Herrschaftswissen" gegen die Natur erkannt, so müssen nun die modernen Naturforscher wieder mit dem Bann belegt werden, der früher zur Verbrennung von Hexen und Zauberern geführt hatte. Seinem Gewährsmann Wagner folgend, verquickt Ullrich die Psychiatrisierung der Wissenschafts-Subjekte mit ihrer Mystifizierung als "Besessene, Magier, Verblendete" (TuH, 234), so unglaublich dies zunächst auch klingen mag. Nur kurz hält sich der Produktivkraftkritiker mit wissenschaftlichen Bedenken hinsichtlich seiner mehr als eigenartigen Verfahrensweise auf, um die Mystifizierung und Psychiatrisierung dann nur umso hemmungsloser weiterzubetreiben: "Es ist wohl überflüssig zu betonen, daß 'Trieb' und 'Besessenheit' unzulängliche Kategorien sind ... Versucht man jedoch zunächst auf der Ebene der Phänomene die Vorgänge zu ordnen, dann drängen sich bei der Beschreibung des Verhaltens der Mitglieder der scientific community die Begriffe 'Trieb' und 'Besessenheit' förmlich auf. Ich möchte darum, trotz aller Bedenken, in diesem Zusammenhang hier auf eine Analogie hinweisen zu einem pathologisch triebhaften Verhalten. Das Beispiel, das sich hier wiederum aufdrängt, im Vergleich zum Verhalten der Kernphysiker, ist das 'lustvolle' und 'erregende Abenteuer' des Feuerlegens durch Pyromanen" (TuH, 235).
Es genügt, an dieser Stelle haltzumachen und die dürftige Erklärung Ullrichs für die Beziehung von Wissenschafts-Individuen und Vernichtungspotenz der Physik zusammenfassend zu betrachten. Da er nicht über die abstrakte Geld-Subjektivität hinauskommt, wie sie alle gesellschaftlichen Prozesse einschließlich der Wissenschaft dinglich vermittelt, bleibt das Problem des Motivationszusammenhangs für ihn das Problem der MORAL ABSTRAKTER INDIVIDUEN. Die Wissenschaftler bestehen diese moralische Probe nicht, sie entwickeln vielmehr einen krankhaften Trieb zur Erkenntnis bzw. unterliegen einer magischen "Besessenheit". Die materielle Grundlage für eine freie Entfaltung dieser amoralischen, triebhaften Besessenheit wird durch die "hohe Bezahlung" der Wissenschaftler geliefert, d.h. durch ihre Freistellung von den "normalen" Erwachsenen-Sorgen eines völlig in seine pure Reproduktion verstrickten kleinen Warenproduzenten.
Überträgt man diese "Erklärung" von den Individuen auf die Gesamtgesellschaft, so läßt sich nach dieser Diktion als allgemeine Formel angeben, daß der Verwissenschaftlichungsprozeß an einer "Diskrepanz zwischen Machen, Verfügung und Bewußtsein, Verantworten" (TuH, 230) leidet. Nicht der völlig ausgeblendete Widerspruch von Wertabstraktion und Produktivkraftentwicklung, sondern der Gegensatz von "technischer Machbarkeit" und "moralischer Verantwortbarkeit" soll das entscheidende Signum moderner Gesellschaftlichkeit sein. Ullrich beruft sich dabei auf die Atombomben-Philosophie von Günther Anders, der von einem "prometheischen Gefälle" spricht, d.h. von einer zunehmenden Inkongruenz von "Griff-

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weiten der Vermögen" bzw. dem "Volumen des Machens und Denkens" einerseits und der Fähigkeit des "Vorstellens" bzw. "Fühlens" andererseits (zit. nach TuH, 189). In vereinfachter und vulgarisierter Form hat diese These als Gegensatz von "ungeheurem technischen Fortschritt des Menschen" und seinem gleichzeitigen Stehenbleiben auf der "moralischen Stufe der Steinzeit" Eingang in die landläufig-inflationäre bürgerliche Krisenphilosophie gefunden und ist geradezu zum Topos des wertfetischistischen theoretischen Bewußtseins geworden. Letztlich handelt es sich aber um nichts anderes als die ordinäre Stammtisch-Weisheit, daß "der Mensch" halt ein "moralisches Vieh" und deshalb zwanghaft zu disziplinieren sei.
Es ergibt sich fast von selbst, welche praktisch-gesellschaftspolitische Konsequenz Ullrich aus seiner moralisch-psychiatrisierenden Kennzeichnung der modernen Naturwissenschaft zu ziehen genötigt ist. Hinsichtlich der Position von Anders sagt er dazu: "Sollte dies richtig sein, dann wäre eine von den Menschen gewollte Kongruenz der Vermögen nur denkbar in der Reduzierung der Dimension des Machens" (TuH, 189). Daß genau darin seine Konsequenz tatsächlich besteht, bekräftigt Ullrich auch in anderen Texten: "Da weder durch individuelle noch durch institutionelle Ausweitungen die Diskrepanz zwischen HerstellenKönnen und Verantworten-Können eingeholt werden kann, muß eine Begrenzung und Reduzierung des technischen Mittelapparats erfolgen" (in: Techniksoziologie, 203). Die Menschen im allgemeinen und die Naturwissenschaftler im besonderen sind moralische Versager, und da sich Moral und wissenschaftliche Technologie nur im abstrakten Individuum schneiden können, muß die gesellschaftliche "Reduzierung des technischen Mittelapparats" gleichzeitig auch eine Sanktion gegen die abstrakten Wissenschafts-Subjekte sein. Auch vor dieser letzten Konsequenz schreckt Ullrich nicht zurück: "Zusammenfassend und abkürzend ... kann wohl gesagt werden: für die heutige Konstellation einer durch Wissenschaft möglichen Technik sollte die Gesellschaft im Interesse ihrer Lebens- und Überlebensfähigkeit den 'Forschertrieb' der scientific community zunächst als 'Krankheit' betrachten, die geheilt, eingedämmt oder zumindest auf ein 'lebensfähiges' Maß reduziert werden muß" (TuH, 237).
Also ab in die psychiatrischen Kliniken mit Atomphysikern und anderen allzu neugierigen naturwissenschaftlichen Grundlagenforschern, die dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen wollen und sich an der Madame "Natur" vergreifen und versündigen? Vor allem aber: Wer sind die Richter? Eine populistische Volksdiktatur unter Führung von Ullrich u. Co. etwa, eine erkenntnisfeindliche Staatspolizei nach dem Muster von "Fahrenheit 451" in einer calvinistischen oder pietistischen Gesellschaft kleiner Warenproduzenten, die kein vom Ebenbilde ihrer sozialen Bornierung abweichendes Verhalten mehr dulden wollen? Der Einfall ist im allerschlechtesten Sinne utopisch und gleichzeitig absurd. Nur einem von allen guten Geistern verlassenen neo-kleinbürgerlichen Ideologen wie Ullrich kann es in den Sinn kommen, das menschliche Erkenntnisinteresse gegenüber der Natur unter Kuratel und Polizeiaufsicht stellen zu wollen, bloß weil er selber in seinem Denken nicht über die Fetischismen von Ware und Geld hinauskommt. Denn nichts anderes verbirgt sich hinter der hochnotpeinlichen moralischen Aufwallung und psychiatrisierenden Verdammung des "Wissenschaftstriebes", als

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das selber hochgradig bornierte Verlangen, die hochentwickelten gesellschaftlichen Produktivkräfte samt ihrer naturwissenschaftlichen Basis gewaltsam in die Zwangsjacke des Werts und dessen abstrakten, negativen Vergesellschaftungs-Prinzips zurückzuzwängen. Die wildgewordene, vor ihren eigenen gesellschaftlichen Konsequenzen zurückscheuende abstrakte Geld-Subjektivität wäre noch eher bereit, die ganze moderne Wissenschaft fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel, als den Sprung aus der Wert-Ökonomie hinaus zu wagen. Der Wert IST ja diese abstrakte, dingliche Subjektivität, als deren Funktionär das abstrakte menschliche Individuum seine eigene Subjektivität nur begreifen kann und will. Für Ullrich träfe sich freilich so alles auf's beste; stünde doch die "Reduzierung des technischen Mittelapparats" in völligem Einklang mit dem Prinzip der kleinvernetzten, dezentralen Produktionsweise und der warenproduzierende Normalmensch, der niemals der Natur zu tief in den Ausschnitt blickt, könnte sich für immer und ewig auf seinem dicken Handwerkerundbauern Hintern selbstzufrieden niederlassen.

c) Moral der Dürftigkeit: Die "Reduzierung der Bedürfnisse"

Wenn die "Dimension des Machens" eingeschränkt und zurückgeschraubt, wenn der "technische Mittelapparat" reduziert werden soll, dann erhebt sich natürlich die Frage nach den BEDÜRFNISSEN, die vermittels dieses wissenschaftlich-technologischen Apparats befriedigt werden. Bekanntlich handelt es sich dabei gerade in den industriell entwickelten Ländern um Bedürfnisse keineswegs bloß der schmalen Oberschicht, sondern durchaus auch der berühmten "breiten Massen".
Es ist hier allerdings eine gewisse Begriffsverwirrung entstanden. Denn einerseits fällt es schwer, gegen die Höherentwicklung der Bedürfnisse und gegen die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen grundsätzlich etwas einzuwenden, andererseits gibt es aber auch Anlaß genug, zahlreiche in den industrialisierten Wert-Ökonomien entstandene Bedürfnisse vom Standpunkt eines "guten Lebens" aus zu kritisieren. In den alten, vorkapitalistischen Gesellschaften konnte man sich noch ausladend Zeit nehmen für Gastmähler, für eine umfassend sinnliche Freude an Essen, Trinken und damit verbundenen Kulturen usw., - falls es überhaupt etwas zu essen gab oder falls man ein "Herr" war. In den kapitalistischen Wert-Ökonomien ist die gesellschaftliche Produktivkraft so hoch entwickelt, daß jedenfalls für die große Mehrheit eine reichliche Nahrungsmittelversorgung zur Selbstverständlichkeit geworden ist; freilich gilt dies schon nicht mehr für eine wachsende Minderheit der "Neuen Armut", wovon die Armen-Suppenküchen im Chikago der Reagan-Ära ebenso Bände sprechen wie die "Restaurants des Herzens" für die neuen Armen Frankreichs, die in ihren Betten erfrorenen Rentner des glorreichen Thatcher-Großbritannien und die Sozialhilfe-Langzeitarbeitslosen der BRD, deren Kinder ihren Durst mit mehr oder weniger giftigem Leitungswasser löschen. Im krassen Unterschied zu allen vorkapitalistischen Produktionsweisen hat diese "Neue Armut" als jüngste Errungenschaft des freien Marktes ihren Grund aber

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nicht mehr in der mangelnden Produktivkraft, die selbst bei vergleichsweise kleinen Bevölkerungsmengen zu periodischen Hungersnöten führte, sondern einzig und allein in der gesellschaftlichen Logik der Wert-Ökonomie, die trotz eines relativen Überflusses an Gebrauchsgütern Menschen nur als abstrakte Verausgabungs-Einheiten von "Arbeitskraft" kennt und jedes Individuum, das aus diesem Verwertungsprozeß herausfällt, ziemlich rasch auf die Grenze des Existenzminimums herabdrückt. Mindestens ebenso schlimm aber ist die Kanalisierung der Bedürfnisse selbst in ihrem Inhalt. Die Produktion "schafft" die Bedürfnisse nicht nur in dem Sinne, daß mit der vom Industriesystem geschaffenen Fülle neuer Produkte auch die Bedürfnisse danach geweckt werden, sondern auch insofern, als der Produktionsprozeß selber den Menschen formt und damit seine Bedürfnisse in ein fremdbestimmtes Korsett zwängt. Beispiele gibt es mehr als genug. Das Bedürfnis, sich zu vergiften, erscheint auf den ersten Blick nur absurd, wird aber gesellschaftliche Realität in dem Maß, wie die immer wahnwitzigere Anspannung des abstrakten Verausgabungsprozesses eine permanente Aufputschung durch Koffein, Nikotin usw., auf die der Körper kaum noch reagiert, zur Massengewohnheit macht und umgekehrt die darauf folgende "Entspannungs"-Kurve nur noch mit Alkohol oder überhaupt im Suff erträglich scheinen kann. Auf der anderen Seite ist das Pendant der "Neuen Armut", der zunehmende gestylte Luxuskonsum bis in die gutverdienenden Mittelklassen hinein, durch seine Abkoppelung von den produktiven Potenzen der Gesellschaft völlig sinnentleert; das "Bedürfnis", mit einem Porsche zum Kaffeetrinken nach München zu fahren oder seine Kinder in wandelnde Ausstellungsstücke teurer Markennamen zu verwandeln, zeigt nur die kaum verwunderliche Tatsache, daß innerhalb einer Wert-Ökonomie das Leben auch der "Reichen" sich an die toten Dinge verliert, nicht nur im Arbeits-, sondern auch im Konsumprozeß, der ja derselben abstrakten Logik gehorchen muß.
Ganz ohne Zweifel ist daher nicht nur eine Kritik der Produktion, sondern ebenso eine Kritik der Konsumtion notwendig. Diese würde freilich ihr Ziel verfehlen, wenn sie nicht aufgehoben ist in einer Kritik der zugrundeliegenden Wert-Abstraktion selbst. Denn eine isolierte Kritik der Bedürfnisse muß sofort zur öden Moralpredigt verflachen, d.h. an das unbegriffene abstrakte Individuum ein Ansinnen nach Änderung der Bedürfnisse herantragen, ohne doch gleichzeitig den gesellschaftlichen Bedingungsgrund dieser "falschen" Bedürfnisse anzutasten. Auch hier also wird die Moral zur Krücke, um auf äußerliche Weise mit dem Nicht-Begriffenen irgendwie fertig zu werden. Vor allem aber gerät das begriffslose Moralisieren in die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten und mit der Kritik der "falschen", selbstzerstörerischen, barbarisierenden Bedürfnisse zugleich auch das BEDÜRFNISNIVEAU als ganzes anzugreifen. Wie es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen dem erreichten Niveau der Produktivkräfte als gesellschaftlicher Potenz und dem wertökonomisch geprägten Gegenstandscharakter der Produktionsmittel, so zwischen der echten Errungenschaft des gesellschaftlichen Bedürfnisniveaus und der gegenständlich kanalisierten, wertökonomisch geformten Bedürfnisstruktur.

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Die Kritik des "Fast Food" soll ja nicht zurück zum Steckrübenfraß, die Kritik des automobilen Individualverkehrs nicht zurück zum merowingischen Ochsenkarren führen. Das Spülklosett für alle, gekachelte Badezimmer, tägliches Duschen, tägliche warme Mahlzeiten, Waschmaschinen, Bücher (welchen Inhalts auch immer) für weniger als einen Stundenlohn, saubere Kleidung zum Wechseln usw.: es ist wohl den wenigsten Bedürfniskritikern heute mit völligem Bewußtsein klar, wie absolut und lebenslang unerreichbar die in solchen Alltäglichkeiten sich ausdrückenden Bedürfnisse für die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung in allen vorindustriellen Epochen waren. Marx hat mit vollem Recht von der "zivilisatorischen Mission" des Kapitals gesprochen, denn erst durch die transitorische Formation des Werts wurde das scheinbar unzerreißbare Band zum Naturdreck wirklich durchschnitten und ein heute nicht mehr zurücknehmbares menschenwürdiges Bedürfnisniveau geschaffen. Das transitorische Moment ist heute an seinem Endpunkt angelangt, der Wert offenbart die zerstörerischen Konsequenzen seiner dinglichen Subjektivität. Es gilt daher, das erreichte Bedürfnisniveau von den Zwängen der Wertabstraktion und für eine Gebrauchswert-Ökonomie direkter Vergesellschaftung zu befreien.
Die Produktivkraftkritiker geraten hier allerdings in eine höchst fatale Lage. Denn sie wissen natürlich, zumindest instinktiv, daß die offene Propaganda einer Zurücknahme des Bedürfnisniveaus unmöglich ist. Keine große Schwierigkeit macht dies vorerst den GRÜNEN als der unmittelbar politischen Ausgeburt einer wertfetischistisch verblendeten Oppositionsbewegung. Daß in ihren kunterbunten Programmen stark produktivkraftkritische Momente auftauchen, hindert sie keineswegs, eilfertig die Erhaltung des Bedürfnisniveaus auf volkstümliche Weise zu fordern: wie alle Politiker versprechen sie einfach das Blaue vom Himmel herunter und geloben, die zerstörerischen Konsequenzen des Geldes mit den Mitteln des Geldes zu beseitigen usw. Etwas mißlicher sieht die Sache freilich für den THEORETISCHEN Produktivkraftkritiker aus, denn dieser muß sich der unangenehmen Aufgabe stellen, Produktivkraftkritik und industrielles Bedürfnisniveau logisch-argumentativ miteinander in Einklang zu bringen. Diese Aufgabe ist leider unlösbar. Denn nachdem mit der Wertabstraktion und der Logik der abstrakten Arbeit der eigentliche gesellschaftliche Problemkern ausgeblendet bzw. in die abstrakte Naturbeziehung umgewandelt worden ist, ergibt sich auch ein logischer Selbstlauf der Argumentation, der vor der Frage der Bedürfnisse nicht haltmachen kann. Die Kritik der Naturwissenschaft (statt des Geldes und der Lohnarbeit) führt notwendig zur Kritik der Produktivkräfte, von da zur Propaganda der kleinen, dezentralen  Warenproduktion, und über die "Reduzierung des technischen Mittelapparats" am Ende notwendig auch zur "Reduzierung der Bedürfnisse", d.h. zur Zurücknahme des historisch erreichten Bedürfnisniveaus. Eine kleine Produktion mit kleinen Mitteln erlaubt eben letztlich auch nur kleine Bedürfnisse, nicht nur im rein quantitativen, sondern auch im qualitativen Sinne.
Entsprechend zögerlich gehen die Produktivkraftkritiker auch an die fatale Bedürfnisfrage heran. Thaa, der in den praktisch-gesellschaftspolitischen Konsequenzen sowieso stets

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vage und orakelhaft bleibt, setzt sich vor allem mit der Frage der menschlichen Bedürfnisse INNERHALB des unmittelbaren Produktionsprozesses nach "sinnvoller Arbeit" etc. auseinander (ich werde darauf im letzten Abschnitt ausführlich eingehen). Soweit es um die Frage des konsumtiven Bedürfnis- und Kulturniveaus des Alltagslebens und dessen unauflösliche Bindung an eine erreichte Höhe der Produktivkraftentwicklung geht, schweigt er sich vornehm aus bzw. flüchtet immer wieder in die typischen idealistischen Leerformeln der Kritischen Theorie, indem er z.B. am Ende seines Buches "Glücksansprüche im weitesten Sinn" und den "Reichtum einer mit den Triebansprüchen des Individuums versöhnten Gesellschaft" (HaV,256) fordert. Gleichzeitig wehrt sich Thaa durchaus gegen "asketische" Tendenzen in der Alternativbewegung und gegen einen "ökologischen" Rigorismus, der die Bedürfnisse womöglich noch mehr als der "Leistungsfetisch" sich zu unterwerfen gedenke (HaV, 255 f.) und reklamiert bereits in der Einleitung seines Werkes für sich einen Standpunkt, der "zu den Ursachen der Destruktivität moderner Industriegesellschaften führen" könne, "ohne alternativen Luftschlössern oder heilen gestrigen Zeiten anzuhängen" (HaV, 8). Wie dies alles jedoch unter einen Hut zu bringen und mit der Produktivkraftkritik praktisch vereinbar sein soll, darauf weiß Thaa keine Antwort. Und da er ohnehin nicht so sehr auf programmatische Konsequenzen für eine praktische Gesellschaftspolitik hinauswill, kann er sich diese Orakelhaftigkeit auch leisten. Bis zu einem gewissen Grade kann also die Unverbindlichkeit theoretischer Produktivkraftkritik mit der theoretischen Beliebigkeit grüner Programmatik insofern noch zusammengehen. Offen bricht das Dilemma erst dann auf, wenn die Produktivkraftkritik logisch als Gesellschaftsprogramm zu Ende gedacht wird.
Wie auch sonst fast immer ist es wiederum Otto Ullrich, der die Konkretisierung bis zur Blamage weitertreibt. Auch er hebt mit beschwichtigenden Versprechungen bezüglich des Bedürfnisniveaus an, wenn er für seine Programmatik kleiner Warenproduktion fordert, daß "die Nachfrage wieder die Produktion bestimmt, ohne dadurch mögliche vorindustrielle Kargheit und Bornierung einhandeln zu müssen" (WN, 9). Die "Zurücknahme" der Produktivkräfte soll also mit einem "guten Leben" vereinbar sein; Ullrich doziert dazu, "daß in der neuen Gesellschaft viele wesentliche Bestimmungsmerkmale des Industriesystems ZURÜCKGENOMMEN (Hervorheb. Ullrich) werden und eine qualitativ neue Richtung eingeschlagen wird. Bei 'Zurücknahme' fällt den phantasielosen Statthaltern von Kapitalgesellschaften, Zentralmächten und großen Maschinen nur ein: zurück auf die Bäume, zurück ins Mittelalter oder zurück zur Natur. Um ein solches Zurück geht es gar nicht..." (WN, 113). Wirklich nicht? Eine von der Wertabstraktion befreite Gebrauchswertproduktion könnte diesem Anspruch genügen, aber diesen Weg hat sich die Produktivkraftkritik ja selber verbaut. So wäre also zu fragen, wohin die "Phantasie" von Ullrich denn nun wirklich schweift, denn ein "gutes Leben" kann natürlich auch sehr willkürlich definiert werden, nicht zuletzt vom Soziologensessel des produktivkraftkritischen Gesellschafts-Alchimisten aus. Und Ullrich enttäuscht uns nicht: trotz aller Versprechungen tritt seine Phantasie

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unverzüglich den wenig beflügelten Fußmarsch nach rückwärts an, zurück in die Kargheit und Bornierung des vorindustriellen Bedürfnisniveaus.
Zunächst treffen wir dort auf die unvermeidlichen, jedem Amateur-Ethnologen und Alternativ-Esoteriker geläufigen Indianer und weisen Chinesen, die in der neo-lebensphilosophischen "Realitätsbewältigung" der deutschen Ex-Linken mittlerweile den Rang des Winnetou unserer Kinderzeit einnehmen: "Besonders ausgeprägt war diese Überzeugung von der Gleichrangigkeit allen Lebens auf der Erde in indianischen Kulturen Nordamerikas oder in China. Diese Religionen und Vorstellungen, die wir heute nur noch belächeln, waren sehr 'realitätsorientiert' und ermöglichten den Menschen ein angemessenes (!), nicht selbstzerstörerisches Leben in der Natur, zu der sie selbst gehörten" (WN, 43).
Wie so viele der neuen Indianer- und Chinesen-Freunde ignoriert auch Ullrich den Zusammenhang der angesprochenen naturmystischen Vorstellungen etc. mit einer bestimmten Stufe der menschlichen Gesellschaftlichkeit oder Vergesellschaftungsform, die untrennbar wiederum mit einem jeweils bestimmten Stand der Produktivkraftentwicklung und damit des Bedürfnisniveaus verbunden war. Die "Vorstellungen" können davon nicht beliebig abgelöst und auf beliebige andere Bedürfnisniveaus übertragen werden, ganz abgesehen davon, daß die Gesellschaftsformen der Indianer und der Chinesen sich ja doch wohl ganz grundsätzlich unterscheiden und innerhalb dieser Unterschiede jeweils konstituierende Züge aufweisen, wie sie mit Recht kein moderner Mensch ertragen könnte und möchte. Es ist immer wieder erstaunlich, wie es der positivistischen Willkür gelingt, gerade bei der chinesischen Kultur einzelne als "menschen- und naturfreundlich" erachtete Vorstellungen einfach wegzupräparieren von der despotischen, blutig grausamen und jede Individualität negierenden Vergesellschaftungsform der "asiatischen Produktionsweise". Für unseren Zusammenhang genügt es, darauf hinzuweisen, daß die Frage der "Angemessenheit" des Lebens nicht dem Richtspruch eines willkürlich eklektischen Denkens unterliegt, das aus den Epochen und Kulturen der Menschheit sich zusammenklaubt, was ihm "passend" dünkt, sondern der inneren Logik der eigenen geschichtlichen Gesellschaftlichkeit, innerhalb der allein die Frage der "Angemessenheit" diskutiert werden kann. "Angemessen" im Sinne der Indianer und Chinesen sind Bedürfnisniveaus, die bloß deswegen ihren "Vorstellungen" entsprechen, weil diese ihren Stand der Produktivkraftentwicklung reflektieren. Und diese Bedürfnisniveaus sind aus eben diesem Grunde "karg" und "borniert"; für die chinesische Kultur als im Vergleich zu den nordamerikanischen Indianern höher entwickelte Klassengesellschaft existierte freilich für die herrschenden Klassen ein ganz anderes und viel höheres Bedürfnisniveau als für die bäuerlichen unmittelbaren Produzenten. Aber auch dieses mit der Produktivkraftentwicklung untrennbar verbundene Problem wird von Ullrich systematisch ignoriert. Auch wenn er sich gern daran vorbeimogeln möchte: es gibt kein Zurück zu den "Vorstellungen" früherer Kulturen, ohne damit gleichzeitig deren niedrigere Produktivkraft und damit Klassen-Gesellschaftlichkeit inclusive des "kargen" und sozial kraß auseinanderfallenden Bedürfnisniveaus
in Kauf nehmen zu müssen.

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Von den Indianern und Chinesen gelangen wir mit den raschen Schritten von Ullrichs Phantasie in das fröhliche Leben des Mittelalters. In dieser Vergangenheit sieht er nicht nur "angemessene" Vorstellungen über das Mensch-Natur-Verhältnis, sondern direkt Momente eines "guten Lebens" verwirklicht. Der freie Zeit-Fonds für alle, von den Utopisten wie von Marx in die Zukunft verlegt, soll in der Vergangenheit bereits Realität gewesen sein: "Im Mittelalter gab es 189 Feiertage, in ganz Europa wurde nicht mehr als die Hälfte der Tage im Jahr gearbeitet" (WN, 58). Wieder unterschlägt Ullrich das tatsächliche Bedürfnisniveau und damit den wirklichen Lebensprozeß einer vergangenen Gesellschaftsformation, um stattdessen ein abstraktes Moment herauszupräparieren ("viele Feiertage") und damit eine vergleichsweise erbärmliche Vergangenheit zu glorifizieren. Die ackerbauende Gesellschaft des Mittelalters war nicht nur an den kirchlichen Feiertagen, sondern im Winter eine ganze Jahreszeit hindurch zur Untätigkeit im Sinne ihrer eigentlichen Reproduktion verurteilt. Freilich hieß dies keineswegs, daß der äußerlich "freie" Zeit-Fonds auch nur das geringste mit einem "guten Leben" zu tun gehabt hätte. Besonders lange Winter und damit besonders lange erzwungene Zeiten von Untätigkeit auf dem Acker führten sehr schnell zu verheerenden Hungersnöten; zahlreiche Menschen erfroren regelmäßig in ihren Hütten, wenn nicht genügend Brennholz herangeschafft werden konnte. In dieser "freien" Zeit mußten die Menschen ihre groben und kümmerlichen Werkzeuge oft mühselig reparieren, und den Rest verdämmerten sie an die Öfen gekauert, eher Tieren vergleichbar als etwa hochentwickelten Menschen, die aus einem reichen Zeit-Fonds schöpfen, um Kunst und Wissenschaft etc. zu betreiben. Im Sommer und Herbst war der kirchliche Feiertag sogar oft genug ein positives Unglück, wenn etwa bei drohenden Unwettern die Ernte eingebracht und dafür extra flehentlich die Erlaubnis bei den Pfarrern und Kirchenbehörden eingeholt werden mußte. Die mittelalterlichen Bauern als unmittelbare Produzenten hatten nicht freie Zeit FÜR SICH, sondern waren auf einem elenden Bedürfnisniveau gleichermaßen dem Jahreslauf der Natur wie den irrationalen Mächten feudaler Gesellschaftlichkeit ausgeliefert. Und der letzte Grund dieser gesellschaftlichen Zustände ist eben der Stand der Produktivkraftentwicklung, die das Bedürfnisniveau ebenso wie die sozialen Beziehungen determiniert. Die 189 Feiertage können nicht losgelöst von Tatsachen wie dem primitiven Brandrodungs-Ackerbau, willkürlich die Feldfrüchte niederreitenden feudalen Jagdgesellschaften, der Sitte des Ohren- und Nasenabschneidens bei Delinquenz oder dem Verrichten der Notdurft aus dem Fenster auf die Straße gesehen werden. Es ist nichts als fauler Zauber, wenn Ullrich sich einbildet, er könne durch ein Zurückdrehen der Produktivkraftentwicklung die abstrakte Zeit der "189 Feiertage" zurückholen, ohne damit auch das Bedürfnisniveau und die entsprechenden Gesellschaftszustände des Mittelalters zurückholen zu müssen.
Doch nicht genug damit, die phantastische Reise in die Vergangenheit führt uns noch weiter zurück in geradezu paradiesische Zustände: "Der Vergleich fällt noch ungünstiger aus, wenn man die Industriegesellschaften mit 'primitiven' Kulturen vergleicht" (WN, 59). Ullrich stützt sich dabei auf die Behauptung Mumfords, daß "sehr lange Zeit ... für die

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Menschheitsentwicklung die 'materielle Produktion' nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt (hat)" (WN, 59) und auf das 1972 erschienene Buch "Stone Age Economics" von Marshall Sahlin, in dem es über primitive Jäger- und Sammlergesellschaften heißt, daß "pro Kopf und Jahr mehr am Tag geschlafen wird als in jeder anderen Gesellschaftsform" (WN, 59).
Für die Jäger- und Sammler-Gesellschaften gilt aber noch weit mehr als für die Bauern des Mittelalters, daß ihre Nicht-Arbeitszeit keineswegs der Reichtum eines Zeit-Fonds für freie Lebensgestaltung ist, sondern vielmehr ganz im Gegenteil nur die geringe Fähigkeit eines Stoffwechselprozesses mit der Natur und also einen Mangel an Bedürfnissen darstellt. Die Herde ist vorübergezogen, der Bauch momentan gefüllt, die Wurzelknollen der Umgegend ausgegraben; also gibt es nichts weiter zu tun und die Menschen "schlafen" auch am Tag, verfallen in eine Art Dämmerzustand. Der Zeithorizont ist ungeheuer verkürzt wie bei kleinen Kindern und reicht nicht über die nächsten Stunden oder vielleicht den nächsten Tag hinaus, und diese begrenzte Reichweite des Denkens, die noch nicht durch den "Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias) hindurchgegangen ist, entspricht der ebenso begrenzten Reichweite der produktiven Arbeit. Daß solch paradiesische Zustände einem extrem niedrigen Bedürfnisniveau entsprechen, wird auch Ullrich klar, wenn er mit biblischer Naivität die treuherzigste Bedürfnislosigkeit in Diogenes-Manier beschwört: "Die Bedürfnisse, die unbedingt erfüllt werden müssen, damit ein Mensch überleben kann, sind sehr gering, in der Zahl und im 'Niveau'. Sie beschränken sich auf Nahrung und liebevolle Zuwendung durch andere Menschen. Schon bei Kleidung und Behausung gibt es eine große Variationsbreite. Selbst bei eisiger Kälte haben Menschen ohne Kleidung gelebt, wie z.B. in Feuerland" (WN, 102).
Damit sind wir am Ziel der phantastischen Reise angelangt, einem Ziel allerdings, bei dem vermutlich auch die Weisen des Ostens etwas die Mundwinkel verziehen dürften. Nicht zufällig ist die Phantasie des Produktivkraftkritikers mit ihm nach rückwärts durchgegangen, und nicht zufällig ist er nach dem eingangs gegebenen Versprechen, keinesfalls zu "vorindustrieller Kargheit und Bornierung" zurückkehren zu wollen, schließlich doch unversehens bei der Propaganda der Bedürfnislosigkeit und den nackten Feuerländern angelangt. Wie "ein Mensch" überleben kann, dies hängt eben nicht bloß von der puren physischen Nahrungsaufnahme und einem abstrakten Begriff "liebevoller Zuwendung", sondern auch von seinem einer bestimmten Produktivkraftentwicklung entsprechenden Kulturzustand und damit Bedürfnisniveau ab. Das "Stone Age"-Mittagessen und die anschließende liebevolle Zuwendung der Steinzeit-Mami dürfte selbst dem abgebrühtesten Bahnhofspenner des 20. Jahrhunderts übel bekommen. Ullrich arbeitet mit der schlechten Abstraktion eines unhistorischen Menschenbildes, weil er anders die Konsequenzen der Produktivkraftkritik nicht unterbringen kann. Er müßte sich, Schicksal des schlechten Utopisten, seine realen Individuen ebenso eklektisch zurechtmodeln und sie auf das Prokrustes-Bett seiner Bedürfnis-Phantasien spannen wie sein zusammengezimmertes Gesellschaftsmodell.
Nach mancherlei Winkelzügen und Seitenwegen läßt Ullrich die Katze also aus dem Sack

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und gibt offen zu, daß zu den praktischen Konsequenzen der Produktivkraftkritik eine einschneidende Senkung des allgemeinen Bedürfnisniveaus gehört. Auf eine allgemeine Formel gebracht hat dies bereits Sahlin, der von Ullrich zustimmend zitiert wird: "Es gibt nämlich zwei mögliche Wege zum Wohlstand. Bedürfnisse können bei hohem PRODUKTIVITÄTSNIVEAU - aber eben auch bei einem niedrigen BEDÜRFNISNIVEAU - 'leicht befriedigt' werden" (zit. nach WN, 59, Hervorheb. Ullrich).
In der Tat, wenn "Wohlstand" vom Diogenes-Standpunkt aus definiert wird, dann reichen Wasser, Brot und eine Tonne aus, um ein "gutes Leben" zu garantieren. Das Dumme ist nur, daß bei einem derart niedrigen Bedürfnisniveau die "freie Zeit" wertlos wird und eben höchstens zum Dösen verwendet werden kann. Zwar ist der Gesichtspunkt durchaus richtig, daß der Mensch sich nicht an die Dinge verlieren soll; aber er verliert sich ja nicht, weil er aufgrund einer "zu hohen" Produktivkraft zuviel davon besitzt, sondern weil er als abstrakter Wertproduzent von den produktiven Potenzen seiner eigenen Gesellschaftlichkeit abgeschnitten ist und sich die Dinge nur als "tote" Konsumprodukte aneignen kann. Ullrich kann die Entfremdung des abstrakten Konsums auf hohem Niveau nur hilflos mittels einer Reduzierung der Bedürfnisse bekämpfen, weil er die Logik der Wert-Ökonomie nicht begreift. Dies wird besonders deutlich, wenn er abstrakt den Zeit-Fonds der Individuen vorindustrieller Epochen mit dem heutigen vergleicht: "Menschen in Ländern mit hoher Arbeitsproduktivität, also mit dem technologischen Vermögen, viele Güter in kurzer Zeit herstellen zu können, haben immer weniger Zeit ... Viele ehemals lustvolle Tätigkeiten werden bei steigender Arbeitsproduktivität reduziert oder verdrängt, da sie nicht durch einen höheren Gütereinsatz intensiviert werden können. Dadurch werden die Menschen hektischer, oberflächlicher und empfindungsärmer. Auch die Kulturzeit gehört zu den Verlierern bei der neuen Zeitverteilung. Die alte Hoffnung, daß durch entfaltete Produktivkräfte die Menschen Zeit finden würden für Philosophie und Kunst, erfüllt sich gerade bei einer hohen materiellen Produktivität nicht" (WN, 104f.).
Man muß es den Produktivkraftkritikern gegenüber immer wieder betonen: Der Kapitalismus und die von ihm hervorgerufene Revolutionierung der Produktivkräfte WAR ein ungeheurer Fortschritt, ein nicht mehr zurücknehmbarer zivilisatorischer Schub, der trotz aller Grausamkeiten der "ursprünglichen Akkumulation" insgesamt das reale Alltagsleben der großen Masse erstmals in der Geschichte aus einem quasi viehischen, schmutzigen, erbärmlichen und bedürfnislosen Dasein herausgehoben hat. Wenn die Produktivkraftkritiker das privilegierte Leben der Minderheit von städtischen Handwerkern und Großbauern oder die idealistischen Philosophien herrschender Klassen der Vergangenheit als Kontrast zum "modernen Leben" bemühen, so muß ihre absolute "Phantasielosigkeit" dem elenden Leben der großen Mehrheit des "armen Volkes" der unmittelbaren Produzenten gegenüber, wie es sich in diesen Epochen abgespielt hat, umso unangenehmer auffallen. Ganz davon abgesehen aber ist der "Zeitdruck" und der Verlust an "Kulturzeit" in den westlichen wie den östlichen Industrieländern heute nicht der "hohen Arbeitsproduktivität" geschuldet, sondern der totalen

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Subsumtion der Individuen unter den Verausgabungsprozeß abstrakter Arbeit. Diese Subsumtion erstreckt sich nicht nur auf den unmittelbaren Arbeitsprozeß selber, sondern auf den gesamten Reproduktionsprozeß und also auch auf die Konsumtion samt den dazugehörigen Bedürfnissen. Der Mensch, der in seinem produktiven Gesellschafts-Dasein auf eine Verausgabungs-Einheit abstrakter Arbeit reduziert ist, kann nicht nach Feierabend gedankentief und empfindungsreich sein. Ullrich übersieht völlig, daß die hohe Arbeitsproduktivität GESELLSCHAFTLICH durchaus eine nie dagewesene Menge von "freier" Nicht-Arbeitszeit schafft, aber eben nicht in Form einer reichen Entwicklung und Entfaltung aller Gesellschaftsmitglieder, sondern in der gegensätzlichen und absurden Form der "Arbeitslosigkeit", in der die "nicht gebrauchten" Verausgabungs-Einheiten abstrakter Arbeit aus dem Reproduktionsprozeß ausgespuckt und tendenziell auf ein historisch bereits überwundenes Bedürfnisniveau "zurückgebombt" werden. Der von der hohen Arbeitsproduktivität erzeugte ZeitFonds wird durch den Raster des Werts in Zeit-Vernichtung für das Individuum verwandelt. Übrigens ist es eine reine Unterstellung von Ullrich, daß die "alte Hoffnung" auf einen "neuen Menschen" sich von Seiten der alten Arbeiterbewegung und ihrer Theoretiker jemals aus einem blanken Automatismus der Produktivkraftentwicklung hergeleitet hätte. Es bestand nie ein Zweifel, daß die PRODUKTIONSVERHÄLTNISSE revolutionär umgewälzt werden müssen, damit die Menschen durch "entfaltete" Produktivkräfte "Zeit finden würden für Philosophie und Kunst". Nicht daran muß die Kritik ansetzen, sondern an der ungeheuren Verkürzung im Begriff dieser Umwälzung, die den wirklichen Kern des abstrakten Wertverhältnisses völlig unangetastet gelassen hat. Für Ullrich aber ist der Wert sogar eher noch mehr als für die alte Arbeiterbewegung und ihre Theoretiker zur ontologischen Selbstverständlichkeit geworden, sodaß ihm sowohl die "falschen", selbstzerstörerischen Bedürfnisse als auch die Zeit-Vernichtung absurderweise unmittelbar der "hohen Arbeitsproduktivität" selber zu entstammen scheinen. Der zur Totalitätsform gewordene Wert ist gerade durch seine totale Allgemeinheit als historisch besondere Form der Vergesellschaftung unsichtbar geworden, nicht nur für das Alltagsbewußtsein, sondern auch für das theoretische Bewußtsein, jedenfalls das soziologistische von Ullrich u. Co.
Dabei könnte er es eigentlich durchaus besser wissen; in der Phänomenologie der Bedürfnisbefriedigung beschreibt er selber den Wert-Mechanismus, dessen Begriff ihm jedoch verschlossen bleibt, weil die zu verselbständigten "Subsystemen" geronnenen Momente des "Industriesystems" und des "Marktes" unvermittelt auseinanderfallen. Ullrichs "richtige" Zustandsbeschreibung wird so zu einem Paradebeispiel von Begriffslosigkeit: "Ein Grundzug des Industriesystems besteht darin, den Menschen die Möglichkeit und Fähigkeit zu nehmen, ihre Bedürfnisse unmittelbar und selbständig zu befriedigen. Um Bedürfnisse befriedigen zu können, müssen meist Mittel erworben oder Dienstleistungsbetriebe in Anspruch genommen werden. Der Ursprung hierfür liegt im Kapitalismus, der auf diese Weise sich seinen Zugriff zur Ausbeutung und Herrschaft sicherte. Ein entscheidender Schritt zu dieser Enteignung von der selbständigen Befriedigungsmöglichkeit der Bedürfnisse war die Etablierung

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von Marktbeziehungen mit Monopolcharakter: Nachdem alle Möglichkeiten, sich mit Nahrung und Kleidung selbst zu versorgen, zerschlagen waren, standen die Menschen nur vor der Wahl, entweder eine Lohnarbeit anzunehmen oder arbeitslos zu werden und damit aller Mittel der Existenzsicherung beraubt zu sein. Die Marktbeziehung hatte nun nicht mehr nur eine Ergänzungsfunktion, die man nutzen konnte, wenn man sich bestimmte zusätzliche Wünsche erfüllen wollte, auf die man aber auch leicht hätte verzichten können. Nun MUSS (Hervorheb. Ullrich) man die Marktbeziehung eingehen, wenn man leben will. Diese Industrialisierung der Befriedigung von Bedürfnissen erfaßt zunehmend alle Lebensbereiche" (WN, 103).
Die Beschreibung Ullrichs ist vorzüglich, aber die Begriffe sind falsch. In der Tat, die Menschen können ihre Bedürfnisse nicht mehr "selbständig" befriedigen. Die stoffliche Vergesellschaftung durch Wissenschaft und Maschinerie wurde als MENSCHLICHE vermittels der bisher einzig bekannten ökonomischen Vergesellschaftungsform des WERTES bewerkstelligt. In der Produktivkraftentwicklung unter der Zwangsform der Wertabstraktion aber ist die Logik der Entleerung und Enteignung des Individuums und der Unterordnung seiner Bedürfnisse unter den verselbständigten Akkumulationsprozeß des Werts angelegt. Bei Ullrich hingegen erscheint der Wert als neutrales, subjektiv von den Menschen einsetzbares "Mittel" und daher die Unterordnung der Bedürfnisse unter die totale Vermarktung nicht als innere Logik des Werts, sondern als innerhalb des Werts selber abschaffbare Willkür, als "Etablierung" von "falschen", dem "wahren", "menschlichen" Wertverhältnis widersprechenden "Marktbeziehungen mit Monopolcharakter". Der "antimonopolistische Kampf" läßt grüßen, sei es nun der genuin kleinbürgerliche oder die einschlägigen strategischen Phantasien des Vulgärmarxismus der DKP.
Und eben deshalb kann sich der Produktivkraftkritiker die Wiederaneignung der Bedürfnisse nur als STOFFLICHE Auflösung nach rückwärts, als Ent-Wissenschaftlichung und damit Ent-gesellschaftung vorstellen. Das richtig beschriebene Übel erscheint als "INDUSTRIALISIERUNG" der Bedürfnisbefriedigung statt als deren MONETARISIERUNG. Die Verwandlung aller Beziehungen in GELD-Beziehungen, wie schon im Kommunistischen Manifest angedeutet, ist aber der ökonomische Kern der Enteignung der Menschen von jeder "selbständigen" Bedürfnisbefriedigung. Da Ullrich die Unterwerfung der Bedürfnisse unter die Totalität des Marktes mit der stofflich-technischen Vergesellschaftung völlig begriffslos identifiziert, ist für ihn die "Selbständigkeit" der Bedürfnisbefriedigung auch identisch mit deren "Unmittelbarkeit", d.h. Nicht-Gesellschaftlichkeit. Als "Ideal" erscheint so plötzlich nicht einmal mehr die berühmte "kleine" Warenproduktion, sondern die autarke, geschlossene Hauswirtschaft mit nur ausnahmsweisen, auf "zusätzliche Wünsche" gerichteten Marktbeziehungen. Dabei läßt Ullrich natürlich wieder in seiner eklektischen Gesellschafts-Bastelei wesentliche Bestimmungen einer solchen Produktionsweise außer acht. Im Unterschied zur "kleinen Warenproduktion" als allgemeiner Vergesellschaftungsform ist die geschlossene Hauswirtschaft mit ausnahmsweiser, marginaler Marktbeziehung tatsächlich logisch möglich und

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auch historisch real. Ullrich hat nur leider vergessen, hinzuzufügen, daß auf dieser Stufe keineswegs lauter idyllische, autarke Wirtschaften nebeneinander gemütlich existieren, sondern diesen jeweils ein gepanzerter und waffenstarrender Feudalherr im Nacken sitzt und sie ausquetscht bis aufs Blut, wie die zahlreichen Bauernaufstände in allen entsprechenden Gesellschaftsformationen beweisen. Und diese wenig idyllische Sozialbeziehung ist eben keineswegs willkürlich oder zufällig, sondern notwendige Folge eines Standes der Produktivkraftentwicklung und der daraus resultierenden (niedrigen) Vergesellschaftungsstufe. Ullrich als willkürlicher Eklektiker aber bildet sich tatsächlich ein, es ließen sich "kleine" Produktivkräfte mit "kleinen" Vergesellschaftungsformen "etablieren", OHNE damit auch eine dementsprechende Totschläger-Herrenklasse in Kauf nehmen zu müssen. Er löst damit die Geschichte wieder in jene Summe von Willkürlichkeiten auf, als die sie den Aufklärern und Utopisten erschien.
Was die Produktivkraftkritik sich partout nicht vorstellen kann und will, ist die Möglichkeit einer "selbständigen", aber deswegen nicht "unmittelbaren", sondern gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung. Sich mit Nahrung und Kleidung wieder "selbst zu versorgen", würde als Preis der vermeintlichen "Selbständigkeit" den Menschen nicht nur die Unausweichlichkeit "direkter" und roher Herrschaftsbeziehungen aufdrängen, sondern gleichzeitig das Bedürfnisniveau wieder historisch weit zurückwerfen. Was für Kleider sollen das denn sein, die jeder in "Selbstversorgung" herstellt? Nicht der Weg zurück zur Selbstversorgung, sondern die Ent-Monetarisierung der gesellschaftlichen Industrie, die auch im Ostblock nicht im geringsten geleistet ist, steht historisch auf der Tagesordnung. Indem die gesellschaftlichen Individuen FÜR SICH zu solchen werden statt für die tote Dinglichkeit des Geldes auf dem Boden dinglicher Gesellschaftlichkeit sich als ökonomische Monaden gegenüberzutreten, können sie sich auch ihre Bedürfnisbefriedigung wieder selbst als gesellschaftliche aneignen. Dies schließt auch Momente "unmittelbarer" Bedürfnisbefriedigung keineswegs aus, jedoch nicht als gegensätzliches Abstraktionsprinzip der "Selbstversorgung" oder der "kleinen Warenproduktion", sondern als selbst-bewußte Entscheidung nach qualitativen Gebrauchswerten. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Radieschen und den Garten zurückkommen. In einer Gebrauchswert-Ökonomie direkter Gesellschaftlichkeit sind vielfältige Formen "unmittelbarer" Bedürfnisbefriedigung hinsichtlich Obst, Blumen, Frischgemüse usw. möglich und denkbar, wenn zu Wohnhäusern, Schulen, Fabriken und anderen Institutionen ohne weiteres auch GÄRTEN gehören, nicht bloß zur Zierde oder zu Lehrzwecken etc., sondern wirklich als Teilmoment der Versorgung. In einer Wert-Ökonomie aber wird nicht zuletzt Grund und Boden monetarisiert und der partikularen, betriebswirtschaftlichen Kalkulation oder sogar der monetären Spekulation unterworfen. Die Verwandlung der großen Städte in Stein- und Betonwüsten, das systematische Schrumpfen und Verschwinden der Gartenkultur aus den Städten ist schlechterdings nicht aus der Industrialisierung als solcher abzuleiten, sondern als notwendige Folge der Wert-Ökonomisierung des gesamten Lebensraums.

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Wie man die Sache auch dreht und wendet, es stellt sich am Ende doch heraus, daß die logische Konsequenz der Produktivkraftkritik tatsächlich "zurück ins Mittelalter" führt und die Betonung Ullrichs, daß es nicht um "vorindustrielle Kargheit" gehe, ein ebenso leeres Versprechen bleibt wie die abstrakten und inhaltslosen Verheißungen Thaas über "Glücksansprüche im weitesten Sinn" usw. Für den "Glücksanspruch" benötigt man in der famosen Zukunftsgesellschaft der Produktivkraftkritiker eine in Wahrheit völlig anspruchslose DiogenesMentalität, eine knechtische Haltung des Sich-Zufriedengebens. Die kleinen Bedürfnisse mit kleinen Produktivkräften in kleinen Einheiten und kleinen Vernetzungen produzieren unfehlbar auch kleinliche, kleinkarierte Menschen; die allseitige BESCHRÄNKTHEIT als Lebensund Gesellschaftsideal, das also ist das Resultat des ganzen weitausholenden theoretischen Aufwands, das die Produktivkraftkritik ohne Schamröte zu präsentieren wagt! Vom akademischen Soziologensessel aus läßt sich dann leicht in Phantasien einer "angemessenen" Ackerbau-Gesellschaft schwelgen, solange man nämlich selber keine Schaufel in die vom Schreiben so viel baren Unsinns schwieligen Hände zu nehmen braucht. "Als einzig sinnvolle Perspektive" erweist sich daher für Ullrich schließlich eine "arbeitsintensive(!) Produktionsweise in kleinen Einheiten ... Für den Antrieb von arbeitssparenden Maschinen werden auch Tiere wieder wie das Pferd sinnvoll integriert werden können. Über eine arbeitsintensive(!), biologisch ausgerichtete Landwirtschaft könnte sich auch ein neues Naturverhältnis des 'zivilisierten' Menschen entwickeln als eine ausgewogene(!) Synthese zwischen naiv-mythischer(!!) und aufgeklärt-wissenschaftlicher Haltung" (WN, 124).
Also tatsächlich wieder zurück zur Plackerei und Schinderei des Hackens, Grabens und Schaufelns mit der Hand, zurück zum Pflügen mit dem Pferd, zurück zur "arbeitsintensiven" Produktion von Adam und Eva, wo es keinerlei "disponible Zeit" des gesellschaftlichen Individuums gibt, sondern nur von der Natur erzwungene Notzeiten stumpfsinniger Ruhe in einem Leben endlosen Aufgehens in der täglichen Notdurft! Es fällt allerdings schwer, eine solche Perspektive überhaupt ernst zu nehmen. Daß die Menschen dann wieder fleißiger den Rosenkranz beten und sich vor Waldteufeln fürchten würden, ist durchaus einsehbar. Diese von der "kleinen" Produktivkraft produzierte Vorstellungswelt allerdings mit einer "aufgeklärtwissenschaftlichen Haltung" (wo soll die dann herkommen?) in Einklang bringen zu wollen, diese Zumutung stellt den Gipfelpunkt von Ullrichs historischem Eklektizismus dar! Eine derartige Monstrosität von "Ausgewogenheit" legt den Ratschlag nahe, Ullrich möge sich als Moderator bei der ARD bewerben; wissenschaftlich ernst genommen werden kann sie nicht.
Freilich dient eine derart kleinkarierte Utopie der allseitigen Bedürfnisreduzierung eher den ideologisch-weltanschaulichen Bedürfnissen einer neo-reformistischen, auf die abstrakte Geld-Subjektivität verpflichteten Oppositionsbewegung als daß sie im Sinne einer realen Gesellschaftsperspektive ernst genommen werden wollte; und es ist zweifelhaft, ob Ullrich selbst dies tut, sieht er doch den praktischen Ansatz einer Veränderung ausdrücklich ganz friedlich im Rahmen der bestehenden (kapitalistischen) Gesellschaft angesiedelt und auf die berüchtigte

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"Machbarkeit" unter diesen nicht mehr revolutionär in Frage gestellten Bedingungen eingeschränkt. Die reaktionäre Entgesellschaftungs-Propaganda der kleinen Warenproduktion, die auf dem Geld als "Mittel" beharrt und sich so mehr oder weniger freiwillig in den Reproduktionsprozeß der Wert-Ökonomie einfügt, wird damit durch die ergänzende ebenso reaktionäre Propaganda der Bedürfnisreduzierung sogar direkt zur Funktion kapitalistischer Krisenbewältigung gegen die Bedürfnisse der Massen. Konnten die neo-kleinbürgerlichen "Geschäfts"-Gründungen noch als Entpolitisierung auf eigene Rechnung einer lustlos und weich gewordenen Ex-Linken aufgefaßt werden, so erweist sich das verherrlichende Ausmalen eines gesenkten allgemeinen Bedürfnisniveaus, streicht man die Ausflüge in die Vergangenheit bzw. die eklektische Konstruktion phantastischer Kleinwelten weg und siedelt den Grundgedanken in der jetzigen Realwelt an, in der Konsequenz der Produktivkraftkritik als offene Flankendeckung für die neo-konservative "Wende" des "Exportmodells" Deutschland. Im Gerangel der grünen Realpolitik um die Position der "Mitte" zwischen SPD und CDU entpuppt sich dieser schäbige Kern der Produktivkraftkritik langsam aber sicher auch auf der prosaischen Ebene der Tagespolitik. Die Einbindung in die "Sachzwänge" der wertabstraktiven Vergesellschaftungs-Logik, gleichgültig ob an der Seite der Sozialdemokratie oder sogar zusammen mit "Wert-Konservativen" oder "Markt-Ökologen", muß die produktivkraftkritischen "Realutopien" unvermeidlich als Waffe gegen das historisch erreichte Bedürfnisniveau der Massen instrumentalisieren. Praktisch bewiesen hat dies bereits die Debatte um das "Mindesteinkommen", wo unter dem glänzenden Mäntelchen einer "realutopischen" angeblichen "Entkoppelung von Arbeit und Einkommen" sehr schnell die Krisenbewältigungs-Perspektive eines Zurückwerfens großer, aus dem Verwertungsprozeß als "überflüssig" herausfallender Massen (Arbeitslose, Kranke, Rentner etc.) auf ein erbärmliches Sozialhilfe-Niveau
sichtbar geworden ist.

d) Die Rettung des unmittelbaren Produzenten als seine Verewigung

Das "Zurückdrehen" der Produktivkräfte, die "Reduzierung der Dimension des Machens" usw. hat nicht nur den Rückfall auf ein niedrigeres, rohes Vergesellschaftungsniveau und eine Reduzierung der Bedürfnisse zur Konsequenz, sondern signalisiert als Ideologie (um etwas anderes handelt es sich ja nicht) auch ein bestimmtes Verhältnis zum unmittelbaren Produktionsprozeß selbst. Darin zeigt sich die eigene soziale Position der Produktivkraftkritiker und der Reflex ihres eigenen Interessenmoments innerhalb der real existierenden wert-ökonomischen Reproduktion vielleicht am deutlichsten, und deshalb will ich abschließend darauf gesondert eingehen. Schon hinsichtlich der realen, objektiven Degradation des Arbeiters (Lohnarbeiters) im Arbeitsprozeß, wie er als Verausgabungsprozeß abstrakter Arbeit erscheint, war die Ausblendung der Lohnform und das direkte Ableiten der Degradation aus dem toten technischen Mittelapparat selber in der Produktivkraftkritik deutlich geworden. Dieser Gedanke erscheint nun auch in den praktischen, gesellschaftspolitischen Konsequenzen

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wieder. Sowohl Ullrich als auch Thaa wollen die Frage der Bedürfnisbefriedigung nicht auf das Konsumtionsniveau beschränken, sondern den INHALT DER ARBEIT SELBST als wesentliches Bedürfnismoment festhalten; und darin ist ihnen auf dieser Abstraktionsebene auch unbedingt zuzustimmen. Die Frage ist nur, was aus dieser durchaus fruchtbaren Problemstellung unter den Prämissen der Produktivkraftkritik dann konkret wird.
Marx hat die Zerstörung der Arbeit als menschliches Grundbedürfnis und ihre Verwandlung in einen stummen äußeren Zwang bereits in den Frühschriften der "Pariser Manuskripte" unübertroffen dargestellt: "Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, ZWANGSARBEIT. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird" (Karl Marx, Texte zu Methode und Praxis II, Pariser Manuskripte 1844, Reinbek 1969, 54f.).
Zweifellos gilt diese Grundbestimmung entfremdeter (Zwangs-) Arbeit im Kern heute noch weit mehr als für die Mitte des 19. Jahrhunderts, und sie gilt nicht nur für den Westen, sondern auch für die Wert-Ökonomie des östlichen, sowjetischen Typus. Der Gedanke, daß die Arbeit selber in ihrem Inhalt ein Bedürfnis und ihre Ausführung eine Bedürfnisbefriedigung an ihr selber sein könnte, ist den Menschen bereits ganz fremd geworden. Auch die traditionelle Arbeiterbewegung hat im Prozeß ihrer fordistischen Integration den bloßen äußerlichen Mittelcharakter der Arbeit unter dem Diktat der Wertabstraktion bewußtlos akzeptiert und ihren Kampf in erster Linie auf die stetige Verbesserung der Arbeiter-Situation "zu Hause" gerichtet, dort, wo er "erst außer der Arbeit bei sich" ist als Konsument, Familienmensch, Hobby-Bastler, Vereinsmeier und geistloser TV-Pantoffelheld. Die weitgehende Verspießbürgerung der traditionellen Gewerkschaftsbewegungen hat ihre tiefsten Wurzeln sicherlich in dieser grundsätzlichen Akzeptanz der Lohnarbeit als solcher, d.h. der entfremdeten Arbeit, in der die Arbeitenden "außer sich" sind und "nicht zu Hause". Der Kampf um die "Arbeitsbedingungen" blieb demgegenüber immer auf das Notwendigste beschränkt und hat sich im 20. Jahrhundert immer mehr in Kleinigkeiten verloren oder auf die schwache Ideologie einer "Humanisierung der Arbeitswelt" umgelenkt, die zwar allerlei moralisches Räsonnement verbreitet, aber vor der Medusa der Lohnarbeit und der Wertabstraktion als ihrer Grundlage letztlich doch das Haupt verhüllt und den unbegriffenen "Sachzwang" hinnimmt.
Auch im Osten und in den politisch revolutionären "marxistischen" Parteien, Bewegungen und Strömungen hat sich die konsumtive Verkürzung in der Kritik des Arbeiterdaseins in

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verschiedenen Formen und Schattierungen festgesetzt. Die Lebenslüge der Sowjet-Ökonomie, daß sie nicht auf Lohnarbeit beruhe, entlarvt sich am krassesten darin, daß die entfremdete Arbeit mindestens so deutlich wie im Westen ihren bloß aufgezwungenen Mittelcharakter hinausschreit und die Administratoren des regulierten Arbeitsmarktes ihr nur durch moralische Phrasendrescherei einerseits und "Freizeit"-Kompensationen andererseits, die aber nirgends auch nur annähernd den westlichen Standard erreichen, das Maul zu stopfen suchen. Weil es sich in der nachholenden Industrialisierung niemals um die Herausbildung einer sozialistischen, nicht mehr auf der abstrakten Wertrechnung beruhenden Produktionsweise handeln konnte, sondern im Gegenteil um die forcierte gesellschaftliche Schaffung der Lohnarbeit und des Mechanismus der Wert-Akkumulation, eben deswegen wird die Frage des "materiellen Anreizes" nicht einmal im Traum INNERHALB DES ARBEITSPROZESSES SELBST gesucht, sondern verräterisch immer AUSSERHALB davon, in der rein abstrakt konsumtiv bezogenen Lohnhöhe oder verwandten Gratifikationen wie Prämien etc., die ebenso selbstverständlich allesamt die GELDFORM annehmen müssen. Die Marx'sche These, daß in einer sozialistischen Gesellschaft die Arbeit allmählich bis in den Übergang zum "vollen Kommunismus" zum "ersten Lebensbedürfnis" werde, verwandelt sich so in allen Sowjet-Ökonomien in eine geradezu niederträchtige, heuchlerische Lüge, die in den quasi-religiösen Partei-Traktätchen eher der moralischen Erbauung der Funktionäre dient als daß sie irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun hätte. Genauso falsch und heuchlerisch werden auf der anderen Seite alle konsumtiven Freizeit-Gratifikationen, die sich von den westlichen nur durch ihre geringere Quantität und Qualität unterscheiden, in ebensoviele Beweise für das "Herankommen" an den "Kommunismus" umgelogen. Gerade diese totale Unfähigkeit, die Menschen mit dem Inhalt ihrer Arbeit zu versöhnen und ihr den inneren Bedürfnischarakter wiederzugeben, hat vielleicht den "Realsozialismus" bei den arbeitenden Massen der Welt am meisten desavouiert, und mit vollem Recht. So stark ist die Resignation gegenüber der gesellschaftlichen ZWANGSARBEIT in den Wert-Ökonomien geworden, daß auch die vermeintlich radikalen Richtungen und Parteien des Westens das Heil nur noch in der konsumtiven Kompensation sehen und auch in ihrer Begriffswelt die Arbeit nicht mehr als mögliches Bedürfnis, sondern nur noch als "Pest" erscheint, von der man sich befreien muß. Gerade für die verschiedensten aus der Neuen Linken hervorgegangenen Gruppen und Strömungen, von den Neo-Anarchisten, Operaisten, "Autonomen" usw. bis hin zur "Marxistischen Gruppe" hat sich die Marx'sche Bestimmung des Kommunismus als der Wiederherstellung des Bedürfnischarakters der Arbeit auf dem Niveau der industriellen Vergesellschaftung in ihr Gegenteil verkehrt, in die falsche Utopie eines bloßen Konsum-Kommunismus der Unproduktiven, in dem die Arbeits-Pest auf ein Minimum für den Einzelnen reduziert ist, ohne daß sie jemals aufhören könnte, Widerwillen einzuflößen.
Es wäre also zunächst durchaus als ein Verdienst der Produktivkraftkritik und der grünalternativen Bewegung im weitesten Sinne zu rechnen, daß sie die Frage nach dem INHALT der Arbeit selbst gegenüber dem bloß kompensatorischen Konsumdenken wieder aufgeworfen

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und die Forderung nach "sinnvoller Arbeit" gestellt hat. Unglücklicherweise versperrt aber die produktivkraftkritische Ideologie wie schon in allen anderen Fragen jeden Zugang zum Gedanken einer Aufhebung der "sinnentleerten" Arbeit auf dem industriellen Vergesellschaftungsniveau. Zunächst ergibt sich diese Ausweglosigkeit natürlich daraus, daß ja für die Degradation des Arbeiters im industriellen Produktionsprozeß unmittelbar nicht die Lohnarbeit, sondern die abstrakte Naturbeziehung und also der aus dem Verwissenschaftlichungsprozeß resultierende tote technische Mittelapparat verantwortlich gemacht wird. Was liegt näher, als auch im Inhalt der Arbeit selber eine "Auflösung nach rückwärts" anzustreben? Zwar zieren sich die Produktivkraftkritiker in dieser Hinsicht nicht weniger als in der Frage des Bedürfnisniveaus; so sagt Ullrich über den handwerklichen Arbeitsprozeß vorsichtig: "Ich greife diese Form der produktiven Tätigkeit nicht deswegen auf, weil ich hierin ein anzustrebendes Ideal industrieller Arbeit sehe und weil beobachtbare Industriearbeit an diesem Modell zu kritisieren sei. Diese Sehnsucht nach Rückwärts ist oft genug und schon von Marx kritisiert worden. Die Struktur dieser handwerklichen Arbeit wird mit zunehmender Industrialisierung eine immer geringer werdende Bedeutung haben" (TuH, 201).
Das schreibt derselbe Autor, der sich nicht entblödet, zum Pferdepflug und zum "naiven Mythos" zurückkehren zu wollen! Die Schutzbehauptung ist ihm in keiner Weise abzunehmen, denn sein ganzes Werk strotzt nur so von "Sehnsucht nach rückwärts" und gerade das Loblied des handwerklichen Arbeitsprozesses singt er über weite Strecken aus vollem Halse. Die innere Logik der produktivkraftkritischen Argumentation läßt auch gar nichts anderes zu. Da das selbst-bewußte vergesellschaftete Individuum nicht gedacht werden kann, weder außerhalb noch gar innerhalb des Arbeitsprozesses, bleibt keine andere Idee übrig, als die negative kapitalistische Vergesellschaftung der toten Dinge einfach wieder größtenteils zurückzunehmen. Für den unmittelbaren Arbeitsprozeß bedeutet dies, daß die in der negativen Vergesellschaftung des Werts arbeitsteilig abstrakt auseinanderfallenden und auf die Maschinerie übertragenen Fertigkeiten und Fähigkeiten wieder in das arbeitende Individuum ZURÜCKGENOMMEN werden sollen, wobei der vorindustrielle handwerkliche Arbeitsprozeß das Vorbild abgibt: "Um das Ziel zu erreichen, müssen ständig 'geschickte' Handlungen erfolgen. Die geschickten Hände, genau registrierende Sinne und ein erfahrenes, koordinierendes Gehirn sind die wichtigsten Teile des handwerklichen Funktionskreises. Entsprechend ist die Wissensform dieses Gehirns nicht abstrakt an Symbole gebunden, nicht sprachlich in den einzelnen Schritten
aufbereitet, sondern unmittelbar an den Prozeß gebunden, gespeichert als 'Fertigkeit' und 'Erfahrung'..." (TuH, 53). Und es gibt keinerlei Zweifel, daß Ullrich das Loblied dieser vorindustriellen, noch nicht von der Naturwissenschaft "befleckten" Technik singt und direkt oder indirekt deren "Zurückholen" anstrebt: "Eine erfolgreiche Tätigkeit ist nicht von analytisch-symbolischem Wissen abhängig, sondern von Erfahrung, Kunstfertigkeit und schöpferischer Spontaneität" (TuH, 54); "Die Vergegenständlichung ist also kein Verlieren an den Gegenstand, sondern eine Möglichkeit der Selbsterkennung und Selbstgestaltung" (TuH, 58); "Die vorindustrielle Technik war also ... 'körperzentriert' 'überschaubar' ... von ihren Pro-

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duzenten und Benutzern überschaubar in ihrer Funktionsweise und in ihren Auswirkungen" (TuH, 61).
Ullrich spricht schließlich auch von einer "vorkapitalistischen handwerklichen Produktionsweise" (TuH, 114), die vom Arbeitsinhalt und dessen Struktur her der ökonomischen Form der "kleinen Warenproduktion" entspricht und die es ebensowenig wie diese als eigenständige Produktionsweise historisch jemals gegeben hat. Die "schöpferische Kunstfertigkeit" des alten Handwerks war ebenso wie seine ökonomische Form, die "einfache" Warenproduktion, nichts als ein marginales Einsprengsel in den großen Ozean der feudalen Agrarproduktion, die sich vom konkreten Arbeitsprozeß her ganz und gar nicht als "schöpferische Kunstfertigkeit "darstellte, sondern als heute unvorstellbare körperliche Plackerei. Dieses körperliche Sich-Abrackern allerdings, das wissen wir bereits, nimmt Ullrich für seine Zukunftsgesellschaft der kleinen Kreisläufe freudig in Kauf und stilisiert es sogar zum menschlichen Grundbedürfnis. Dieser dreiste Gedanke von Schreibtischtätern spukt tatsächlich in der gesamten produktivkraftkritischen Literatur. So bedauert es Ullrichs Gewährsmann Mumford, daß "die Arbeit in unserer Gesellschaft infolge der Automation zu verschwinden beginnt und der Begriff der täglichen Mühsal für den einzelnen bedeutungslos wird(!)..." (Lewis Mumford, Mythos der Maschine, Frankfurt 1977, S. 169) und feiert an anderer Stelle die Einheit von Kopf- und Handarbeit auf der Basis von "Muskelkraft": "Der Fluch der Arbeit war eine wahre Heimsuchung für jene, die unter die Herrschaft der autoritären Technik (!) gerieten. Doch der Gedanke, alle Arbeit abzuschaffen, die Geschicklichkeit der Hand ohne die Vorstellungskraft des Geistes auf eine Maschine zu übertragen - diese Idee war nur der Traum eines Sklaven und enthüllte eine verzweifelte, aber phantasielose Sklavenhoffnung; denn sie ignorierte die Tatsache, daß Arbeit, die nicht auf Muskelkraft beschränkt ist, sondern alle Funktionen des Geistes mit einschließt, kein Fluch, sondern ein Segen ist" (ebda, S. 277f.). Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Günther Anders, der ebenfalls allen Ernstes bedauert, daß "das Arbeiten auch heute schon um die Anstrengung des Arbeitens, und nicht nur um die Anstrengung, sondern um die Lust an der Anstrengung, um die unverzichtbare voluptas laborandi, betrogen(!)" sei (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Bd. 2, München 5/ 1987, S. 102). Gleichzeitig kritisiert Anders "die Kompensationsleistung des Sports": "Während wir als Fließbandarbeiter um die Chance betrogen sind, uns mit unserer Tätigkeit zu identifizieren und das Ergebnis der eigenen Arbeit vor uns zu sehen, sind wir als Sporttreibende: als Läufer, Schwimmer, Skifahrer nicht nur fähig, (aufs freudigste) mit unserer Aktion eins zu sein, sondern sogar unfähig, das nicht zu sein" (ebda, S. 104). Anders bringt hier unzulässig zwei ganz verschiedene Momente willkürlich auf einen Nenner, nämlich einmal die "Sinnentleerung" der Fließbandarbeit, die unmittelbar der Unterordnung des Individuums unter den Verausgabungsprozeß abstrakter Arbeit der Wert-Produktion entspringt, und andererseits die Verlagerung körperlicher Anstrengung aus der Arbeit heraus auf die spielerische Ebene des Sports, die unbedingt eine echte zivilisatorische Leistung des Kapitalismus darstellt und zur Hebung des allgemeinen Bedürfnisniveaus gehört. Was seit der Antike den

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Herrenklassen vorbehalten war, nämlich die körperliche Auslastung außerhalb der Arbeit im agonalen Spiel, ist heute zum Massenstandard geworden und gehört wie die Möglichkeit der allgemeinen Körperhygiene zu den unverzichtbaren kulturellen Errungenschaften. Anders selber, der im US-Exil zu Fabrikarbeit gezwungen war, sollte den Unterschied in der "voluptas laborandi" zwischen einem Waldlauf oder einem Fußballspiel und dem Ziehen schwerbeladener Paletten oder dem Heben sperrigen Materials usw. gut genug kennen und wissen, daß das tendenzielle Verschwinden der schweren körperlichen Belastung aus den Arbeitsprozessen zu den großen Fortschritten der Menschheit gehört. Die Abqualifizierung der spielerischen körperlichen Betätigung außerhalb der Arbeit als quasi "unnatürlich" und die Propaganda der körperlichen Mühsal im Arbeitsprozeß als Preis für die angebliche Wiedervereinigung von Kopf und Hand zeigt deutlich genug, wohin sich die Produktivkraftkritik versteigen muß, wenn sie von ihren Grundlagen aus die Frage der Arbeitsinhalte und der Arbeit als Bedürfnis thematisiert.
Auch Thaa bleibt trotz seines Versprechens, keinen Träumen einer "heilen gestrigen Welt" nachhängen zu wollen, letztlich doch keine andere Wahl, als die Kunstfertigkeit des vorindustriellen Handwerks zu feiern, über dessen Art der Auseinandersetzung mit der Natur er sagt: "In der handwerklichen Tätigkeit etwa drückt sie aus, daß der Arbeitende selbst noch Herr seiner Tätigkeit ist, auch wenn er bereits für den Markt, also für die Bedürfnisse anderer produziert ... Arbeit ist noch nicht Selbstverlust, sondern Selbstgewinnung" (HaV, 124). Der Grund dafür ist klar: die Kunstfertigkeit des Handwerkers enthält noch alle "Wissens"Potenzen in sich selber; diese Potenzen sind noch nicht als Wissenschaft und deren technologische Anwendung vom unmittelbaren Produzenten (soweit er zur Minderheit der "kunstfertigen" Handwerker gehört!) abgespalten: "Er bedient sich des Mittels und bleibt das den ganzen Prozeß übergreifende Subjekt ... Die Arbeit behält so immer ein Moment subjektiver Bildung, ist nicht nur Veräußerung, sondern darin auch stets Selbstbestätigung. Als Subjekt übergreift der Arbeitende den Prozeß eben nicht nur in bezug auf den produktbezogenen Zweck, sondern er besitzt im Handwerk darüberhinaus die Möglichkeit zur Reflexion der Produktionsweise auf seine Person" (HaV, 140f.).
Wie von selbst kommen die Produktivkraftkritiker immer wieder auf das Handwerk als "positives" Gegenbild zurück; nur dort "stimmt" alles, nur in dieser Hinsicht können sie "konkret" werden in ihren Alternativen zur industriellen Arbeit, unter vornehmer Ignoranz allerdings dem wirklichen historisch-gesellschaftlichen Bedingungszusammenhang gegenüber oder sogar unter Glorifizierung der weniger schönen Aspekte, etwa der schweißtreibenden "Mühsal". Unkonkret und dunkel bleibt die Rede allerdings, sobald eine Perspektive angegeben werden sollte, die den Bedürfnischarakter der Arbeit in ihrem Inhalt konstituiert, OHNE platt auf ein vorindustrielles Niveau zurückzufallen. Den Eklektiker Ullrich mit seinen Pferdepflügen und nackten Feuerländern können wir in diesem Zusammenhang ohnehin vergessen; aber auch Thaa spricht nur vage und mit rückwärts gewandtem Blick von einer "Wiederaneignung der produktiven Potenzen durch die Produzenten" (HaV, 151). WIE aber soll diese "Wiederan-

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eignung" denn bewerkstelligt werden, ohne schlicht zum Handwerk zurückzukehren? "Die technische Konstruktion selbst müßte dazu 'resubjektiviert' werden, um so eine reflexive Dimension zu gewinnen, in der eine von den Produzenten bewußt hergestellte Relation zwischen den auf das Produktergebnis und die Tätigkeit selbst gerichteten Bedürfnissen gegenständlich aufgehoben wäre. Erst dadurch, daß so die Verkehrung zwischen Arbeit und Arbeitenden rückgängig gemacht wird, können die Produzenten auch zum Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung werden" (HaV, 151f.).
Alles klar? Die Geschwollenheit der Ausdrucksweise zeigt, wie der Produktivkraftkritiker vergeblich mit der konkreten Bestimmung ringt. Woher sollte die auch kommen? Wenn die abstrakte Naturbeziehung als letzter Grund an die Stelle der gesellschaftlichen Beziehungen gesetzt wird, wenn die Wissenschaft selbst in ihrer Naturerkenntnis und die daraus mögliche technologische Anwendung zum eigentlichen Grundübel erklärt worden ist, dann kann "Resubjektivierung" der Arbeit eigentlich immer nur genereller Abbau des "verwissenschaftlichten" Mittelapparats heißen, eine logische Konsequenz, die Thaa freilich weitaus weniger schmeckt als etwa Ullrich oder Mumford. Die Forderung nach "Resubjektivierung der technischen Konstruktion" bleibt aber vor dem produktivkraftkritischen Hintergrund inhaltsleer und steht sogar noch in dieser leeren Abstraktheit im Widerspruch zu den ideologischen Prämissen. Denn wenn Naturbeziehung und also Verwissenschaftlichungsprozeß "als solche" die Entsubjektivierung der Arbeit bewirkt haben, dann kann es auch ohne logische Willkürlichkeit innerhalb dieses Verwissenschaftlichungsprozesses keine "Resubjektivierung" geben.
Wie immer die "technischen Konstruktionen" in einer sozialistischen Gebrauchswertgesellschaft verändert werden mögen aus der Einsicht in qualitativ-stoffliche Verkettungszusammenhänge heraus, das Problem der "Resubjektivierung" ist in letzter Instanz kein "technisches", sondern ein Problem der gesellschaftlichen Grundbeziehung oder der VergesellschaftungsLogik des Werts. Deren notwendige Aufhebung freilich wäre auch unmittelbar identisch mit der AUFHEBUNG DES UNMITTELBAREN PRODUZENTEN SELBST. Und sofort wird deutlich, daß das begriffliche Zurückscheuen der Produktivkraftkritiker vor der Kritik und Aufhebung der Wertabstraktion eigentlich nichts anderes ist als ein Zurückscheuen vor der Aufhebung des unmittelbaren Produzenten! Thaa spricht Bände, wenn er "die moderne Industrie" folgendermaßen anklagt: "Der Arbeitsprozeß der modernen Industrie ist keiner Zweckbestimmung durch die Arbeitenden unterworfen, er emanzipiert sich davon gewissermaßen durch die Objektivierung, die er in seiner wissenschaftlich-technischen Gestaltung erfährt. Der 'Fortschritt', seine Weiterentwicklung, LÖST SICH VON DEN UNMITTELBAREN PRODUZENTEN (Hervorheb. R.K.) und wird zur 'Sache' von Wissenschaft und Technik ... Das heißt, die wissenschaftliche Technik schließt ... DIE UNMITTELBAREN PRODUZENTEN ALS ÜBERGREIFENDE SUBJEKTE DES PRODUKTIONSPROZESSES AUS" (HaV, 142f., Hervorheb. R.K.).
Jetzt haben wir also das eigentliche Verbrechen der Wissenschaft vor uns: sie stellt (natürlich ohne sich dessen bewußt zu sein) den unmittelbaren Produzenten als solchen in Frage! Denn nur unter der Bedingung, daß der "unmittelbare Produzent" eine ontologische, ewige

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soziale Kategorie darstellt, muß die Verwissenschaftlichung der Produktion als das Unglück einer ausweglosen Entsubjektivierung des Inhalts der Arbeit begriffen werden. Wird diese Bedingung aber nicht akzeptiert, dann stellt sich vielmehr eine grundsätzlich neue historische Aufgabe, nämlich erstmals in der Geschichte die Aufhebung des unmittelbaren Produzenten selbst: dies wäre der SOZIALE INHALT einer Aufhebung der Wert-Ökonomie. Dies wäre gleichzeitig die endliche Herstellung des konkreten GESELLSCHAFTLICHEN INDIVIDUUMS, von dem an vielen Stellen des Marx'schen Werkes die Rede ist. Wie aber ist diese Aufhebung zu denken? Die allgemeine Bestimmung einer AUFHEBUNG DER ARBEITSTEILUNG kann von den Produktivkraftkritikern nicht mehr gedacht werden, angeblich weil diese Aufhebung durch den Verwissenschaftlichungsprozeß verunmöglicht wird, in Wirklichkeit aber, weil sie den unmittelbaren Produzenten begrifflich zur ewigen sozialen Seinskategorie versteinert haben. Die Aufhebung der Arbeitsteilung besteht im Kern gerade darin, die unmittelbaren Produzenten von der totalen Unterordnung unter den unmittelbaren Arbeitsprozeß zu befreien und sie an den abgekoppelten, korporativ verengten gesellschaftlichen Potenzen der Reproduktion teilhaben zu lassen, d.h. an Wissenschaft und Technik ebenso wie an Planung, Verwaltung usw. Dies hieße umgekehrt natürlich, die bisher auf einer Gesellschaftsklasse lastende unmittelbare Produktionsarbeit auf alle Gesellschaftsmitglieder zu verteilen, d.h. die bisher korporativ abgesonderten Wissenschaftler, Planer, Beamten usw. ebenso zur Produktionsarbeit heranzuziehen wie die bisherigen einseitig unter den unmittelbaren Produktionsprozeß subsumierten Produzenten zur wissenschaftlich-technologischen und planenden usw. Arbeit. Marx sah mit Recht die Möglichkeit einer solchen grundsätzlichen Aufhebung der Arbeitsteilung gerade durch die PRODUKTIVKRAFTENTWICKLUNG gegeben, die es zunehmend nicht mehr NÖTIG macht, einen Teil der Gesellschaft ausschließlich mit direkter Produktionsarbeit zu beschäftigen.
Es wäre also eine Gesellschaft zu denken, die nicht mehr in abgesonderten, nur über die Wert-Geld-Beziehung abstrakt verbundenen Korporationen sich blind reproduziert, sondern in sich selbst direkt gesellschaftlich organisiert ist und daher ihren Reproduktionsprozeß mit Bewußtsein - und das heißt: mit dem Bewußtsein jedes ihrer individuellen Mitglieder - selber steuert. Eine solche Gesellschaft wäre von der lokalen und sublokalen bis hinauf zur kontinentalen Ebene in, sagen wir, "Räten" organisiert, die einerseits die unmittelbare Produktionsarbeit auf ihrer Ebene organisieren und andererseits zahlreiche, sagen wir, "Ausschüsse" für alle gesellschaftlichen Angelegenheiten wie Wissenschaft, Erziehung, Kunst, Wohnungsbau, Gartenbau usw. bilden. Die "Arbeitszeit" jedes Individuums wäre immer auf verschiedene Ebenen und Funktionen der gesellschaftlichen Reproduktion verteilt, sodaß ein "blindes" korporatives Partikularinteresse im bisherigen Sinne ebensowenig möglich wäre wie das abstrakte Geldinteresse der individuellen ökonomischen Monade. Indem jedes Individuum unmittelbar an den gesellschaftlichen ZWECKSETZUNGEN und an den WISSENSCHAFTLICHEN POTENZEN seiner Arbeit beteiligt ist, diese als sein eigenes "Projekt" begreifen kann, wird diese Arbeit auch "resubjektiviert", gewinnt ihren Inhalt wieder und wird zum "ersten Bedürf-

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nis". In demselben Maße, wie Produktionsarbeit, Planung, Wissenschaft, kulturelle Betätigung usw. ineinander übergehen und sich durchdringen, wird die bisherige Unterscheidung zwischen "Arbeit" und "Freizeit" hinfällig, weil die Arbeit ihren ZWANGSARBEITS-Charakter verliert. Und in demselben Maße, wie die gesellschaftlichen Projekte, ihrer wert-ökonomischen Verdinglichung und Mystifikation entkleidet, Gegenstand der unmittelbaren gesellschaftlichen Debatte und Beschlußfassung werden, an der jedes Individuum über seine Involvierung in "Räte" und "Ausschüsse" etc. direkt beteiligt ist, muß auch die mystifizierende Trennung der Gesellschaftlichkeit in die gegeneinander verselbständigten Sphären von "Politik" und "Ökonomie", von "Öffentlichkeit" und "Privatheit" sich auflösen. Diese Aufhebung wäre freilich etwas ganz anderes als die Schein-Aufhebung in den Sowjet-Ökonomien, wo die abstrakte Wert-Subjektivität ebenso fortbesteht wie die abstrakte Staatsbürgerlichkeit und die behauptete "Aufhebung der Privatheit" in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Orwell'sche Allgegenwärtigkeit des korporativ verselbständigten Staatsapparats der abstrakten Allgemeinheit und dessen (zum Scheitern verurteilter) Versuch, sich die unaufgehobene Privatheit seiner Bürger durch Gängelung und Kontrolle bis auf die Unterwäsche und bis in die Gefühlsregungen hinein gefügig zu machen ("Proletarischer Lebensstil" etc.).
Natürlich ist eine solche neue, direkte Gesellschaftlichkeit der Menschen nicht aus dem Stand zu leisten, es ist ein Prozeß der Auflösung aller verselbständigten Korporationen und der Beseitigung des Wissens- und Kompetenzgefälles etc. nötig, der seinen Anfang nur durch einen tiefen revolutionären (und vermutlich gewaltsamen) Einschnitt in die bisherige Vergesellschaftungslogik nehmen kann. Kein Zweifel allerdings kann daran bestehen, daß das Problem kein "technisches", sondern eines der gesellschaftlichen Grundbeziehung ist. Nicht durch die verwissenschaftlichte Technik "als solche" werden die unmittelbaren Produzenten daran gehindert, sich der wissenschaftlich-gesellschaftlichen Potenzen ihrer eigenen Arbeit zu bemächtigen, sondern durch die wert-ökonomisch erzwungene Unterordnung ihrer totalen Arbeitszeit unter den Wertbildungsprozeß. Dies zeigte sich schon anhand der Degradation des Arbeiters auf der Ebene des einzelnen Betriebs (gegenüber den "Offizieren und Unteroffizieren" des Kapitals etc.), erst recht gilt dieser Zusammenhang auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene (gegenüber dem Staatsapparat, den Wissenschafts-Institutionen usw.). Das Problem ist die Verteilung des zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Zeit-Fonds, und dieses Problem wird nicht durch irgendeinen "Sachzwang" der Technik determiniert, sondern durch die innere Logik der dinglich verselbständigten Wert-Geld-Rechnung. Vom Standpunkt der "betriebswirtschaftlichen" Wert-Logik aus wäre die Aufteilung der nicht-wertproduktiven gesellschaftlichen Tätigkeiten unter alle Gesellschaftsmitglieder eine ebenso unmögliche, zutiefst "un-ökonomische" Verschwendung wie etwa die Wiedereinführung der Gartenkultur in die Städte oder die Kontrolle der Produktion nach ihren stofflichen Verkettungen.
Andererseits ist es aber der (auf mehreren Ebenen und in mehreren Dimensionen stattfindende) "betriebswirtschaftliche" Konkurrenzmechanismus selbst, der gerade durch sein beständiges Vorantreiben der Verwissenschaftlichung die Wert-Ökonomie untergräbt, jeden-

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falls dort, wo er - wie im Westen - seine innere Dynamik entfalten kann, während der äußerliche staatliche Regulierungsmechanismus des "geplanten Marktes" in den Sowjet-Ökonomien den Verwissenschaftlichungsprozeß der gesellschaftlichen Reproduktion eher stagnativ bremst. Soweit aber die Verwissenschaftlichung voranschreitet, besteht ihre Tendenz gerade darin, lebendige Arbeit im unmittelbaren (einzig wert-produktiven) Produktionsprozeß zu eliminieren. DIESELBE "betriebswirtschaftliche" Logik also, die "nach innen" die maximale Subsumtion der lebendigen Arbeit unter die unmittelbare (wertschöpfende) Produktion erzwingt, wird ihrerseits durch den Konkurrenzmechanismus "von außen" gezwungen, eine immer größere Masse dieser unmittelbaren lebendigen Arbeit aus dem Produktionsprozeß herauszunehmen und durch Maschinerie zu ersetzen ("Automation"). Die betriebswirtschaftliche Logik als Ausdruck der zirkulativen ökonomischen Trennung der Produktionseinheiten bei gleichzeitiger (gegenläufiger) stofflicher Vergesellschaftung führt sich so selber ad absurdum. Der von der Verwissenschaftlichung freigesetzte gesellschaftliche Zeit-Fonds wird nicht produktiv für die Aufhebung des unmittelbaren Produzenten genutzt, sondern erscheint in der gegensätzlichen und krisenhaften Form der "Arbeitslosigkeit". Während die verbleibende lebendige Arbeit weiterhin, und in schärferen Formen als vorher, der wert-produktiven abstrakten Arbeit unterworfen wird, "muß" andererseits eine wachsende Masse von arbeitsfähigen Menschen aus der aktiven gesellschaftlichen Reproduktion überhaupt ausgeschlossen werden. Das letztendliche Resultat dieser Entwicklung kann nur das sein, was die erste Generation von "Marxisten" noch dunkel und ohne konkreten Begriff den "Zusammenbruch des Kapitalismus" nannte, auch wenn der Zeithorizont dieses Prozesses viel weiter reicht, als die damaligen Theoretiker in ihrer verkürzten Begrifflichkeit dachten und erst heute auf der Stufe der Mikroelektronik allmählich praktisch erreicht wird. Unglücklicherweise aber hat gerade heute nahezu das gesamte Spektrum der Linken, vermeintlich durch die Empirie belehrt, den Gedanken einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Vergesellschaftungs-Logik endgültig begraben und vergessen; während sich die Wert-Ökonomie ihrer bisher größten Krise nähert, ist die Linke der Wertabstraktion gegenüber so bewußtlos und unkritisch wie nie zuvor in ihrer Geschichte - und die Produktivkraftkritik liefert das beste Beispiel für diesen beklagenswerten Zustand.
Dies zeigt sich am krassesten in der Auseinandersetzung der Produktivkraftkritiker mit der "Automationsutopie", wie sie es nennen. Thaa greift diese Fragestellung im Zusammenhang seiner Kritik an der einschlägigen DDR-Literatur auf, in der die "Befreiung" der lebendigen Arbeit gesellschaftlich völlig unvermittelt direkt aus der rein technologischen Entwicklung der "wissenschaftlich-technischen Revolution" ("wtR") abgeleitet wird: "Die entscheidende Veränderung, um die es hier geht, soll darin liegen, daß der Mensch mit der Automation aus dem unmittelbaren Produktionsprozeß heraustritt" (HaV, 222). Ganz abgesehen davon, daß es den Sowjet-Ökonomien einschließlich der DDR in Wirklichkeit gar nicht ausreichend gelingt, den Verwissenschaftlichungsprozeß gegen das stagnative Trägheitsmoment des "geplanten Marktes" durchzusetzen, so bleibt auf dem unangetasteten Boden der Wertabstraktion

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"der Mensch" in jedem Fall dem Verausgabungsprozeß abstrakter Arbeit unterworfen und somit der unmittelbare Produzent des Wertbildungsprozesses unaufgehohen. Sollte also den Sowjet-Ökonomien ein technologisches Aufholen in der Automatisierung gelingen, so müßte sich diese Entwicklung ganz genauso wie im Westen GESELLSCHAFTLICH in der Form von "Arbeitslosigkeit" früher oder später darstellen. Es ist ziemlich lächerlich, dies etwa unter Verweis auf "Verfassungsgarantien" des berühmten "Rechts auf Arbeit" ableugnen zu wollen; Verfassungen lassen sich ändern, besonders wenn diese Änderung gleichzeitig als Fortschritt und "Demokratisierung" erscheint - die Gesetze der Wert-Ökonomie aber lassen sich auf ihrem eigenen Boden nicht ändern, sondern können nur durch eine revolutionäre Aufhebung
der Wert-Geld-Rechnung selber beseitigt werden.
Thaa aber fällt es nicht ein, die Kritik von dieser Seite her zu leisten. Sein Begriff von "Heraustreten aus dem unmittelbaren Produktionsprozeß" bleibt ebenso verkürzt wie derjenige der DDR-Autoren zur "wissenschaftlich-technischen Revolution", der sich schlicht auf den technischen Produktionsablauf bezieht: "Grundlage einer derartigen Einschätzung der Automation ist die Gleichsetzung der Herauslösung des Menschen aus der unmittelbaren Fertigungstätigkeit mit der Wandlung der menschlichen Tätigkeit zu einem die Produktion übergreifenden, sie beherrschenden Moment. Der Arbeiter wird aber nicht dadurch vom Anhängsel zum Subjekt des Produktionsablaufs, daß er statt der mechanischen Maschine die elektronischen Meß- und Kontrollgeräte bedient ... Daß der Mensch hier oberflächlich betrachtet wieder die Maschine anwendet, statt umgekehrt von ihr angewandt zu werden, scheint eine Analogie zum Handwerk zu bilden, wo die Tätigkeit des arbeitenden Subjekts den Gesamtprozeß übergreift und beherrscht. Der entscheidende Punkt liegt aber darin, daß in der von der wtR hervorgebrachten Automation der arbeitende Mensch gerade nicht als Subjekt, das heißt mit all seinen konkreten Eigenschaften und Bedürfnissen im Zentrum des Produktionsablaufes steht, sondern als Vollstrecker einer zu Objekt-Objekt-Verhältnissen formierten Verlaufslogik" (HaV, 223f.).
Es ist klar: Thaa ganz ebenso wie die DDR-Autoren können sich nichts anderes vorstellen, als den Arbeiter als Arbeiter, als unmittelbaren Produzenten aus seinem "Anhängsel"-Dasein zu befreien. Das allerdings ist, und damit behält Thaa auf allzu billige Weise recht, bei einer stofflich vergesellschafteten und verwissenschaftlichten Produktion grundsätzlich unmöglich. Der Arbeiter muß sich nicht INNERHALB des Produktionsprozesses befreien, sondern indem er selber aus diesem heraustritt, sich die wissenschaftlichen Potenzen aneignet und also AUFHÖRT, ARBEITER IM SINNE DES UNMITTELBAREN PRODUZENTEN ZU SEIN. Thaas Argumentation bleibt zwielichtig, wenn er das "Bedienen von elektronischen Meßgeräten" etc. als "Herauslösen des Menschen aus der unmittelbaren Fertigungstätigkeit" akzeptiert, um dann anklagend nachzuweisen, daß dieses "Herauslösen" den Arbeiter eben nicht zum Subjekt der Produktion macht. Das ist selbst-evident, denn die wirklichen gesellschaftlichen Potenzen der verwissenschaftlichten Produktion stecken überhaupt nicht im engeren Umkreis der "Fertigung", sondern eben in der Wissenschaft selbst und in

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der Planung, gesellschaftlichen Kombination etc., die in der Maschinerie dem unter die Wertbildung subsumierten Arbeiter versteinert gegenübersteht.
Der Übergang von mechanischen Tätigkeiten in den Lücken des Maschinensystems zum Ablesen von Kontrollgeräten ist in Wirklichkeit nur eine Veränderung von Tätigkeitsmerkmalen INNERHALB DER UNMITTELBAREN PRODUKTION, deren Dunstkreis dadurch überhaupt nicht verlassen wird. Es ist höchstens ein schlechter Scherz, diesen Wandel als ein "Heraustreten" des Menschen aus der direkten Fertigung zu bezeichnen, die dann auf sehr krude Weise bloß als unmittelbares "Handanlegen" an das Produkt mißgedeutet wird. Ein solch enger Begriff von "unmittelbarer Fertigung" stimmt aber schon auf früheren Stufen der Mechanisierung nicht mehr, denn immer schon tritt ja zwischen "Hand" und Produkt ein zunehmendes Maschinenaggregat. Der Übergang zur Bedienung von Meß- und Kontrollgeräten entläßt die in der Produktion verbleibenden "Arbeitskräfte" nicht im geringsten aus ihrem Status als unmittelbare Wertproduzenten, er ändert nur oberflächlich die konkrete Form der Verausgabung abstrakter Arbeit. Thaa tut so, als wäre diese Selbstverständlichkeit ein gewichtiges Argument gegen die "marxistische Automationsutopie": "Die Lösung von der mechanischen Bewegung durch die Automation befreit die Arbeit so wenig, wie dies die Freisetzung aus der unmittelbaren Stoffverwandlung durch die Maschinerie im 19. Jahrhundert tat. Stattdessen markiert die Automation einen Fortschritt in der reellen Subsumtion von hauptsächlich intellektuellen Tätigkeiten, die der wertabstraktiven Logik bislang nur formell untergeordnet waren, nun aber durch ihre Formalisierung und Mathematisierung ein ähnlich 'objektives Skelett' erhalten wie die unmittelbar stoffliche Tätigkeit durch die Maschine. Auch die geistige Tätigkeit kann damit zunehmend real als abstrakte Arbeit formiert werden" (HaV, 224).
Es ist eine Zumutung, das Ablesen von Kontrollgeräten als "hauptsächlich intellektuelle Tätigkeit" zu bezeichnen! Es gibt überhaupt keine menschliche Tätigkeit, die nicht immer schon gleichzeitig eine "geistige" wäre; selbst beim Schieben einer Schubkarre muß das Gehirn ein geistiges Modell der Tätigkeit vorab bilden und den realen Ablauf steuern. Ein Begriff von Intellektualität, der mit dieser Abstraktion des "Geistigen" überhaupt zusammenfällt, muß völlig sinnlos werden. In Wirklichkeit aber ist die intellektuelle Tätigkeit eine Geistigkeit höherer Ordnung, die auf einem riesigen historisch-kulturellen Begriffsapparat mit bereits jahrtausendealter Entwicklung fußt, der die bloße geistige Verarbeitung sinnlicher Einzelwahrnehmungen in einem formalen Bezugszusammenhang weit überragt. Aber gerade von dieser wirklichen, im Prozeß der menschlichen Kultur herausgearbeiteten Intellektualität ist ja der unmittelbare Produzent als solcher immer ausgeschlossen, gleichgültig ob er nun Hebel und Knöpfe drückt oder Kontrollgeräte abliest. Das weiß Thaa auch selber, wenn er über die "neuen" Tätigkeitsformen sagt: "Die Produktionsarbeit wird zwar wissenschaftlich gestaltet, erhält dadurch aber nicht den Charakter wissenschaftlicher Arbeit" (HaV, 225).
Richtig. Der Arbeiter kann also nicht auf die technologische Entwicklung als solche für

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seine Befreiung vertrauen, sondern muß seine GESELLSCHAFTLICHE Grundbeziehung revolutionär aufheben, um sich die wissenschaftlichen Potenzen aneignen zu können. Die technologische Entwicklung unter der Form des Werts erzeugt nicht per se die Befreiung des unmittelbaren Produzenten, sondern vielmehr letztlich eine gesellschaftliche Reproduktionskrise, die früher oder später bei Strafe des Untergangs ein revolutionäres Handeln erzwingt. Thaa verkennt diesen Zusammenhang völlig, wenn er die Geburtshelferrolle der Automatisierung für die Heraufkunft einer neuen Gesellschaft als bloß ideologische Vertröstung beschreibt: "Statt eine Umwälzung im Verhältnis der Produzenten zum Produktionsprozeß anzustreben, schreibt die Automationsutopie dessen Versachlichung fort und vertröstet auf den irgendwann zu erhoffenden vollständigen Rückzug aus der unmittelbaren Produktion" (HaV, 225).
Thaa bemerkt nicht einmal, daß dieser "vollständige Rückzug" in allen westlichen Industrieländern bereits begonnen hat, freilich nicht als gemütliche Umgestaltung des Produzentendaseins, sondern als kontinuierlich steigende und zunehmend zyklusunabhängige Massenarbeitslosigkeit in allen OECD-Ländern. Die "soziologistische" Betrachtungsweise verstellt völlig den Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang des Werts und dessen krisenhafte Entwicklung, um stattdessen wie gebannt auf die (industriesoziologischen) "Tätigkeitsmerkmale" des konkreten Arbeitsprozesses zu starren, wo der wirkliche Charakter des Umwälzungsprozesses gar nicht sichtbar werden kann und allenfalls als oberflächliche Umgruppierung erscheint. Die Automatisierung, soweit sie bei Marx schon ansatzweise behandelt wird, kommt nicht als friedliche Utopie einer Befreiung durch Technik (dies ist allein die BÜRGERLICHE Lesart des "Fortschritts") vor, sondern als Moment der KRISENTHEORIE. Und die "Umwälzung im Verhältnis der Produzenten ZUM Produktionsprozeß" kann sich demzufolge auch keineswegs IM Produktionsprozeß abspielen, sondern nur in einer gesamtgesellschaftlichen Aufhebung des Werts und damit des unmittelbaren Produzenten. Nur weil sein soziologistisch verengter Blick nicht den gesamtgesellschaftlichen Zeit-Fonds im Auge hat, sondern bloß die technologische Deskription des von der Wertabstraktion diktierten unmittelbaren Arbeitsprozesses, verwandelt sich für Thaa die revolutionierende Rolle der Automation in eine falsche Utopie. Sein eigenes Denken bleibt so bloß negatives Abziehbild der von ihm kritisierten flachen DDR-Ideologen, die dem gesellschaftlich unaufgehobenen unmittelbaren Produzenten eine rein technologische Befreiung in die Tasche lügen wollen.
Etwas anders als Thaa geht Ullrich an die Frage der Automatisierung heran. Zunächst freilich stellt auch er die banale Wahrheit fest: "Entfremdete Arbeit ist auch in automatisierter oder hochmechanisierter Produktion 'möglich' und vorhanden" (TuH, 283). Auch die "marxistische Automationsutopie" wird ähnlich wie bei Thaa mit einem Seitenhieb bedacht: "Aber der Topos, daß durch eine 'automatische Fabrik' eine 'befreite Arbeit' sich durch die technologische Basis gleichsam aufdrängt, hat auch für viele marxistisch orientierte Autoren eine gewisse Faszination" (TuH, 282). Die soziologistische Verengung wird sogar noch deutlicher als bei Thaa, wenn Ullrich die gesellschaftliche Bedeutung der Automation nur in Be-

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ziehung setzt zu einem unmittelbar vom konkreten Arbeitsprozeß bestimmten subjektiven Einzelbewußtsein der Produzenten und daraus ausgerechnet schlußfolgert, daß "auf dieser
Produktionsstufe, wenn der Kapitalismus sie einmal erreicht hat, Zusammenbruchs-Theorien
und Theorien über einen sich verschärfenden Widerspruch in den Situationen die weitere
Entwicklungsdynamik nicht mehr angemessen darstellen (können)" (TuH, 283).
Hier zeigt sich die ganze Flachheit des subjektivistischen Soziologismus "moderner" akademischer Prägung, dessen begrifflicher Horizont unglaublich verkürzt ist. Der auf den empirischen Mikro-Zusammenhang von Automatisierung und unmittelbarem "Arbeiterbewußtsein" fixierte Positivisten-Blick Ullrichs sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht; das objektive, aus der Makro-Bewegung der Wert-Ökonomie resultierende und "hinter dem Rücken der Produzenten" (Marx) heranreifende Krisen- und Zusammenbruchspotential entgeht ihm völlig - damit aber auch die Notwendigkeit und Möglichkeit eines gesamtgesellschaftlichen Eingriffs der den unmittelbaren Produzenten als solchen aufhebt. Stattdessen mobilisiert der Produktivkraftkritiker auch gegen die "Automationsutopie" seine sattsam bekannte Feier der vorindustriellen Mühsal: "Auf jeden Fall würde die Perspektive einer vollautomatisierten Arbeitswelt in gar keiner Weise das Industriesystem transzendieren. Es wäre zudem die phantasielose Hoffnung eines Sklaven (Mumford), der Arbeit nur als abschaffenswerte Mühsal kennt und sich nicht vorstellen kann, daß eine Kopf und Hand integrierende, auch körperlich an strengende Arbeit(!) in der richtigen Dosierung zu einer unverzichtbaren Quelle der Befriedigung gehört" (WN, 127).
Womit wir scheinbar wieder bei der Handwerksidylle angelangt wären. Der vermeintliche Utopismus dieser kleinkarierten Vision sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Produktivkraftkritik weder die Warenproduktion noch das Dasein des unmittelbaren Produzenten grundsätzlich kritisiert und ihr ganzer Zugriff daher flach reformistisch bleiben muß. Hatte es sich schon herausgestellt, daß die schein-utopische kleine Waren- und Subsistenzproduktion ganz friedlich mitten im Betonkapitalismus grünen und diesem Reformimpulse vermitteln soll, so zeigt sich jetzt bei Ullrich der reformistische Ansatz auch in der angestrebten Umwälzung des unmittelbaren Produktionsprozesses. Denn nicht nur in den Projekten der Alternativ-Betriebe und der "Eigenarbeit" oder gar "Selbstversorgung" etc. sieht er solche Möglichkeiten, sondern auf einer zweiten Schiene auch in der industriellen, kapitalistischen Produktion selbst. Getreu seinem eklektischen Empirismus stellt sich die Automatisierung für ihn nämlich keineswegs als umfassender, einer inneren Logik folgender, übergreifender Prozeß dar - das wäre ja "hegelianische Choreographie" - , sondern als eine in manchen "Bereichen" bzw. Branchen und auf einigen Ebenen durchaus aufhaltsame oder "umbiegbare" Entwicklung, die durch "Einsicht", aber auch durch technische Erfordernisse selbst in wünschenswerte Bahnen gelenkt werden kann. Es wäre dies die reformistische Perspektive einer "relativ 'nichtentfremdete(n)' Arbeit in einem verdinglichten System", wodurch sich eine "technische Sinnfälligkeit" der Arbeit "auf mittlerem Niveau" (TuH, 201) ergeben könnte. Für ein bestimmtes Niveau der "Teilautomatisierung" malt Ullrich diese Hoffnung aus: "Der

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'eigenverantwortliche' Eingriff ist in einer bestimmten Bandbreite möglich und notwendig. Darum ist eine Ausbildung erforderlich, die über eine 'natürlich' vorhandene Geschicklichkeit hinausgeht. Sie kann z.B. bestehen in allgemeiner technischer Grundausbildung und in einer zusätzlichen mittellangen oder längeren Anlernzeit oder auch in einer standardisierten Berufsausbildung als Facharbeiter mit kurzer Anlernzeit. Damit wird die radikale Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit relativ zurückgenommen. Überhaupt liegt in diesem Modell eine allgemeine relative Zurücknahme von negativen Auswirkungen der Industriearbeit nach dem Maschinenmodell: die Relation zwischen Vermögen und geforderter Leistung steht in einem befriedigenderen Verhältnis, eine relative Einsicht in die technischen Prozesse ist vorhanden, Kooperationsformen zwischen den Arbeitern sind möglich und notwendig ..., die Arbeit ermöglicht eine Identifikation, sie erscheint den Betroffenen nicht 'entfremdet'..." (TuH, 208). Ullrich sieht in "diesem Modell" sogar wesentliche Momente der gesellschaftlichen ZWANGSARBEIT aufgehoben, denn es sei hier "die Mitwirkung eines 'technisch sensiblen' Menschen notwendig" und bei den "Gründen zur Mitarbeit" sei "die Motivation durch den Arbeitsvollzug selbst kein untergeordneter Bestandteil" (TuH, 209).
Nach dem vehementen Kreißen des Berges und der scheinbar radikalen Wissenschafts- und Industriekritik nimmt sich die hier geborene Maus einigermaßen kläglich aus. Was Thaa und Ullrich selber über die konkrete Arbeit innerhalb der Automatisierung überhaupt sagten, nämlich daß sie keineswegs die Aneignung der wissenschaftlichen Potenzen durch die unmittelbaren Produzenten bedeutet, gilt natürlich ganz genauso für das plötzlich hervorgeholte "Modell" einer "relativ nichtentfremdeten" Arbeit auf dem "mittleren Niveau" der Teilautomation. Aber so genau kommt es offenbar nicht drauf an. Wie für Thaa stellt auch für Ullrich der unmittelbare Produzent als Lohnarbeiter eine unveränderliche, quasi "natürliche" Sozialkategorie dar, und so muß er natürlich von der wirklichen Wissenschaft ausgeschlossen bleiben und es genügt völlig, wenn ihm einige Brocken bornierter "Arbeitszufriedenheit" innerhalb seiner niemals grundsätzlich in Frage gestellten Daseinsweise zugeworfen werden. Ullrich nimmt auch kein Blatt vor den Mund, was den politischen Zusammenhang seiner Vorstellungen angeht: "Z.B. könnten die Vorstellungen über eine 'humane Arbeit' und einen 'humanen Arbeitsplatz', die entwickelt werden von einem liberal-bürgerlichen Staat, von einem 'aufgeklärten' Management und von einer reformistischen Gewerkschaft, sich treffen in diesem Modell der Arbeit" (TuH, 211).
Das ist wenigstens offen und ehrlich; freilich müssen wir uns erinnern, daß Ullrich seinen ganzen Ansatz als "Ergänzung des Marxismus" offeriert und mit der Ankündigung von "Realutopien" etc. um sich geworfen hatte, deren hundserbärmlicher Kern sich jetzt entpuppt. Ganz zu schweigen davon, daß diese Träumereien einer "befriedigenden" Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozeß unter den Fittichen von "liberaler" Staatsmacht und "aufgeklärtem" Management angesichts der realen Krisenperspektive des Weltmarkts außerdem hoffnungslos unrealistisch sind.
Freilich wird hier auch sichtbar, wie bestimmte Momente der Produktivkraftkritik, die

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ansonsten ein rotes Tuch für den Arbeitsplatz-Fetischismus des gewerkschaftlichen Bewußtseins im "Exportmodell" Deutschland darstellt, sich durchaus an bestimmten Punkten mit einem völlig auf die Lohnarbeit fixierten, bornierten Facharbeiter-Reformismus treffen kann. Bekanntlich würden die traditionellen, aus der alten Arbeiterbewegung hervorgegangenen Gewerkschaften auf der ganzen Welt lieber Selbstmord begehen, als die Lohnarbeit grundsätzlich in Frage zu stellen. Das Schlagwort von der "Humanisierung der Arbeitswelt" innerhalb der Unterordnung unter die Verausgabung abstrakter Arbeit im unmittelbaren Produktionsprozeß ist vor diesem Hintergrund nicht nur schwache Ideologie, sondern spiegelt gleichzeitig den mehr oder weniger zähen Kampf der verschiedenen Facharbeiter-Kasten um ihre "Qualifizierung" gegen die Logik des Automatisierungsprozesses wider. Die "gespenstische" Form der Produktion als Verausgabungsprozeß abstrakter Arbeit, als "Wertbildung", impliziert auch eine historische Entwicklung des "Abstraktwerdens" der konkreten Arbeit selbst, d.h. ihre Verwandlung in gleichgültige, dem Arbeiter äußerliche und reduzierte Tätigkeiten, während das Moment der Konkretisierung im Stoffwechsel mit der Natur außerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses sich in die Wissenschaft verlagert und dem Arbeiter fremd in der Maschinerie gegenübertritt. Aber dieses "Abstraktwerden" der unmittelbaren Produktionsarbeit als ein lang sich hinziehender Prozeß, der erst heute mit der Mikroelektronik und dem Einsatz flexibler Industrieroboter etc. eine entscheidende Höhe erreicht, hat noch lange Zeit quasi-handwerkliche Qualifikationsebenen teils als Restbestände weitergeschleppt, teils sogar in seinem eigenen Zusammenhang erst neu geschaffen. Die große historische Tendenz wurde dadurch nicht grundsätzlich beeinträchtigt, aber es hat sich da bei ein nicht so leicht abzuschmelzender Kern bornierter "Arbeitszufriedenheit" verschiedener Facharbeiter- und Technikerformationen und -Korporationen erhalten, der sein Dasein innerhalb der Lohnarbeit verteidigt, auch wenn er von den wirklichen wissenschaftlichen Potenzen der Gesellschaft letztlich ebenso ausgeschlossen bleibt wie die "unqualifizierten" Arbeiter. Wenn Ullrich mehr oder weniger deutlich an dieses bornierte Qualifikationsbewußtsein innerhalb der industriellen Lohnarbeit appelliert, das sich da und dort immer wieder mit bestimmten technologischen Teilentwicklungen, Übergangsschritten usw. verknüpfen kann, so wittert er in den Restbeständen arbeitsstolzer Facharbeiter natürlich die verwandte Seele, die auf dem Boden der Warenproduktion "ergänzend" zur Handwerks- und Selbstversorgungsidylle in der Industrie selbst ihr gemütliches soziales Schrebergärtchen pflegen möchte.
Allerdings hat diese auf dem Papier liebevoll ausgemalte reformistische "Modell"-Konstruktion auch ihre höchst fatale und unangenehme Kehrseite. Nicht alle Momente des schief als "relativ nichtentfremdet" bezeichneten Facharbeiterdaseins gehen im handwerklerischen Arbeitsstolz bruchlos auf und nicht jeder Facharbeiter läßt sich mit derart kleinen Brötchen abspeisen, wie sie Ullrich ebenso backt wie der Gewerkschaftsreformismus. So ist es mehr als bloß eine ironische Anekdote, daß auf einer der "Sozialistischen Konferenzen" zu Beginn der 80-er Jahre, als Leute wie Ullrich ihre ersten großen Auftritte hatten und der produk-

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tivkraftkritische touch in den linkssozialistischen Debatten über die "Zukunft der Arbeit" deutlich sichtbar wurde, ein leibhaftiger Dreher aufstehen und den akademischen Verehrern der "geschickten Hände" einige unangenehme Wahrheiten über eine Berufskrankheit sagen mußte, die den schönen Namen "Dreherrücken" trägt. Aber die erhoffte Arbeitszufriedenheit "auf mittlerem Niveau" soll ja auch nur "relativ" nichtentfremdet sein und auch die "voluptas laborandi" der "natürlichen Mühsal" darf schließlich nicht vergessen werden. Ullrich scheut sich übrigens nicht einmal, den hier sichtbar werdenden bodenlosen Zynismus auch offen auszusprechen, in aller produktivkraftkritischen Unschuld selbstverständlich: "Da die meisten Soziologen keine 'eigene' Erfahrung mit industrieller Arbeit haben und schon gar nicht mit industrieller körperlicher Arbeit und da sie als (Bildungs-) Bürgerkinder, als Gymnasiasten und Akademiker meist nur eine geringe oder überhaupt keine Sensibilität und Fähigkeit in 'praktisch' technischen Dimensionen entwickeln konnten, fällt es ihnen schwer, in einer ihnen 'fremden' technischen Arbeit, die unterhalb des akademischen Niveaus liegt(!), eine interessante, befriedigende und an hohes 'Können' gebundene Arbeit zu sehen. Wenn dann noch geringe Kenntnisse über die konkrete Arbeitssituation vorliegen oder die Beurteilung nur über einige 'äußerliche' Kriterien erfolgt wie 'Lohnabhängigkeit' und 'Monotonie'(!) die bezogen wird auf das eigene ganz andersartige Anspruchsniveau(!!), dann können eklatante Fehleinschätzungen über industrielle Arbeit die Folge sein..." (TuH, 212).
Es bleibt uns also im Strauß der produktivkraftkritischen Blüten nicht einmal das Argument der schwieligen Faust erspart. Diese Passage bei Ullrich ähnelt der abwiegelnd-distanzierten Reaktion etlicher Gewerkschaftsfunktionäre, als die ersten Industriereportagen Wallraffs herauskamen; die Sensibilität des akademisch gebildeten Literaten, so hieß es, die ihm viele Aspekte des Arbeitsprozesses als unerträglich erscheinen lasse, gehe den Arbeitern eben ab und so könnten sie sich trotzdem wohlfühlen in der Lohnarbeit. Der einzige "Beweis" für derart zynische Argumente besteht immer darin, daß die Arbeiter ja nicht offen rebellieren; diese Tatsache zeigt allerdings nichts weiter, als daß die Individuen ihren unbegriffenen gesellschaftlichen Bedingungen hilflos ausgeliefert sind und die alte Arbeiterbewegung nicht imstande war, ein gesellschaftliches Kollektivsubjekt herauszuarbeiten, das eine Zielvorstellung über die Lohnarbeit hinaus entwickelt hätte und an das sich die Individuen halten könnten. Verarbeitet wird die Unerträglichkeit trotzdem, freilich mehr oder weniger unbewußt nach "innen" als schleichender Selbstzerstörungs- und vorzeitiger Alterungsprozeß. Auch bei den quasi-handwerklich in vielen Schattierungen qualifizierten Fach- und Maschinenarbeitern werden technisches Interesse und Arbeitsstolz konterkariert durch massenhafte Berufskrankheiten, Krebs und Herzinfarkte, hohe Sterblichkeit vor Erreichen des Rentenalters bzw. nur kurzes Erleben der Rente, aber auch durch zahllose psychische Ausdrucksformen der Vereinseitigung und Bornierung, die aus dem Arbeitsprozeß heraus unerkannt im Kapillarsystem der persönlichen Beziehungen verwandelt wiedererscheinen.
Es wäre nun ein Resumee zu ziehen, um die letzten Konsequenzen der Produktivkraftkritik gerade als Verweis auf ihre eigenen sozialhistorischen Grundlagen herauszuarbeiten.

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Dabei sollen die genuin Marx'sche und die produktivkraftkritische Position noch einmal grundsätzlich gegenübergestellt werden.
1. Für Marx ist der Prozeß der Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlichen Reproduktion unter der Herrschaft der Wertabstraktion gleichzeitig der unaufhaltsame Prozeß des "Abstraktwerdens" der konkreten Arbeit, d.h. ihrer "Sinnentleerung" für den unmittelbaren Produzenten. Gleichzeitig untergräbt aber derselbe Verwissenschaftlichungsprozeß die Form der wertabstraktiven Vergesellschaftung selbst und verwandelt den gewonnenen gesellschaftlichen Zeit-Fonds krisenhaft in die negative, gegensätzliche Form der "Arbeitslosigkeit". Historisch gelingen zwar kapitalistische Anpassungsprozesse durch die fortgesetzte Kapitalisierung und "Monetarisierung" der Welt sowie durch Schaffung neuer Produktionszweige, aber in einer immer enger werdenden Spirale, bis schließlich ein rezessiver Dauerzustand erreicht wird, der die weitere Ausbeutung von Lohnarbeit ad absurdum führt und unmöglich macht. Die GESAMTGESELLSCHAFTLICH "disponible Zeit" ist dann so angewachsen, daß sie unter dem Diktat der Wertabstraktion "die Mehrheit der Bevölkerung außer Kurs setzt" (Marx) und die Wert-Ökonomie damit zusammenbricht. Der historische Zwang zu ihrer Aufhebung impliziert als seinen sozialen Inhalt gleichzeitig die Aufhebung des unmittelbaren Produzenten selbst, der sich mit der positiven Aneignung der gesellschaftlich gewonnenen disponiblen Zeit auch die wissenschaftlichen Potenzen der Produktion endlich selber aneignen kann. Das Subjekt dieser Umwälzung kann nur ein revolutionäres sein, das die ganze bisherige Verkehrsform der Gesellschaft gewaltsam aufhebt. Die einzige Alternative dazu wäre die offene Barbarei und der gemeinsame "Untergang der kämpfenden Klassen" (Marx), wobei sich diese "Klassen" am Ende nicht mehr in quasi-ständischer Form gegenüberstehen, sondern nur noch differenzieren in die "Funktionäre" der Wertabstraktion einerseits, die "den Wert als Wert erhalten wollen" (Marx), und die "außer Kurs gesetzte" Masse bzw. die Reste des im Produktionsprozeß verbliebenen unmittelbaren Produzenten andererseits.
2. Für die Produktivkraftkritik dagegen ist der Verwissenschaftlichungsprozeß an sich ein "falsches Prinzip", das nach rückwärts korrigiert werden muß. Der Prozeß der "Sinnentleerung" für den unmittelbaren Produzenten soll innerhalb der ontologisch vorausgesetzten Wert-Ökonomie "aufhaltsam" gemacht werden, teils durch das Festschreiben "relativ nicht-entfremdeter" quasi-handwerklicher Qualifikationen innerhalb der industriellen Lohnarbeit, teils durch "kleine Kreisläufe" in der Form alternativ-ökonomischer "einfacher Warenproduktion" und durch "Selbstversorgung", wobei radikaler Anti-Industrialismus und Handwerksidylle mehr eine ideologische Überhöhung darstellen denn als reales Konzept gelten können. Die negative Herstellung gesellschaftlich disponibler Zeit bleibt völlig ausgeblendet, die "Arbeitslosen" werden bloß als empirische Sozialkategorie wahrgenommen und letztlich der "Armenfürsorge" des Sozialstaats überantwortet, womöglich in Gestalt des "garantierten Mindesteinkommens". Wert-Ökonomie und unmittelbarer Produzent werden als unveränderliche, ewige Kategorien gedacht, außerhalb derer gesellschaftliche Reproduktion nicht einmal denkmöglich erscheint. Das Subjekt dieser Veränderungen kann nur ein reformistisches sein,

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z.B. alternative Kleinunternehmer (Müsli-Yuppies); liberaler Staat, aufgeklärtes Management, reformistische Gewerkschaften etc. Das grundsätzliche Funktionieren des Weltmarkts wird vorausgesetzt, eine fundamentale Krise der kapitalistischen Ökonomie gilt als überwunden und erscheint als ausgeschlossen.
Es bleibt so ein mehr als schaler Geschmack zurück, wenn die Produktivkraftkritiker sich um die Erhaltung der "geschickten Hände" sorgen und die "Wiedervereinigung von Kopf und Hand" im Produktionsprozeß "zurückgewinnen" wollen; die "Rettung" des unmittelbaren Produzenten ist so gleichzeitig seine Verewigung. Es kommt hier überdeutlich das korporative Eigeninteresse der sozialwissenschaftlichen Intelligenz zum Ausdruck, die das Produzentendasein nur deswegen wieder mit "Geschick" und "Arbeitszufriedenheit" anreichern möchte, um es "unterhalb des akademischen Niveaus" zu halten und nicht an das "andersartige eigene Anspruchsniveau" heranzulassen. Die sozialwissenschaftliche Intelligenz im weitesten Sinne, die im keynesianistischen Klima der 70-er Jahre eine gewaltige Ausdehnung erfahren hatte, wird damit nicht nur ihrem Beruf als soziale und ideologische Reparaturkolonne der Wert-Ökonomie gerecht, sie verteidigt gleichzeitig (ganz ähnlich wie die Facharbeiter) ihre kollektive Position als spezifisch-korporatistisches abstraktes Ware-Geld-Subjekt gegen die Nivellierungstendenzen des fordistischen Vergesellschaftungsprozesses, denen sie verspätet als so ziemlich letzte Sozialkategorie unterworfen wird.
Auf diese Weise wird dann endlich auch der soziale Sinn des "Abschieds von der Arbeiterklasse" deutlich. Dieser Slogan deutet nicht ein Aufarbeiten der alten, an ihr Ende gelangenden Arbeiterbewegung und ihrer noch "ständisch" gefärbten Lohnarbeits-Immanenz an, sondern im Gegenteil bloß den Rückzug der linken akademischen Intelligenz aus dem Kontinuum gesamtgesellschaftlich bezogener revolutionärer Theoriebildung hin zur bornierten Ideologisierung eines immanenten, korporativen Interessenstandpunkts. Aus der stolzen Deklaration der wissenschaftlichen Theorie ohne Rücksicht auf die Polizeiwidrigkeit ihrer Ergebnisse ist das Heulen mit den Wölfen geworden und das Schnappen nach dem "angemessenen" Wertbrocken. Und je bornierter und unwissenschaftlicher, je ideologischer und angepaßter die Haltung wurde, desto moralischer und tränenseliger mußte sie zum "Menschheitsstandpunkt" stilisiert werden, der "weder rechts noch links, sondern vorn" sei usw. Die revolutionäre Aufhebung der Wert-Ökonomie, die hier nur angedeutet werden konnte, kann nur das Ergebnis gesellschaftlicher Praxis und eines darauf bezogenen weitreichenden "gesellschaftlichen Diskurses" sein. Aber in ihrem regressiven Zustand muß heute die linke akademische Intelligenz diesen Diskurs total verweigern und alle Ansätze in diese Richtung ausgrenzen und totschweigen oder als "Rückfall in den Dogmatismus" denunzieren. Die Krise freilich, an die sie nicht mehr glauben möchte, wird sie mit derselben Wucht treffen wie alle anderen gesellschaftlichen Korporationen und die Irrationalität und Haltlosigkeit ihrer reformistischen Konzepte handgreiflich deutlich machen.