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EXIT – SEMINAR: 23.-25. September 2022 in Mainz. ENTFREMDUNG UND IDENTITÄT


EXIT – SEMINAR: 23.-25. September 2022 in Mainz

ENTFREMDUNG UND IDENTITÄT

In Neoliberalismus und Postmoderne waren Entfremdung/Verdinglichung kein Thema. Diskutiert und goutiert wurde weithin eine sozialstaatlich gesponserte und später kreditfinanzierte Individualisierung, die Chancen und Risiken beinhalte (Ulrich Beck). Dies hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten gründlich geändert. Chlada u.a. fassen zusammen: „Ein […] Bezugspunkt des neueren Entfremdungsdiskurses sind die individuellen Leidenserfahrungen, die den Alltag vieler Menschen bestimmen, verursacht durch Armut, Arbeitslosigkeit, prekäre Lebensverhältnisse, unsichere Lebensplanungen, zunehmende Arbeitshetze und -verdichtung und durch den immer stärker werdenden Konkurrenzdruck, emotionale Verunsicherung, Erschöpfung und Überforderungssymptome signalisieren die gesellschaftliche wie individuelle Problematik im Verhältnis von Arbeit, Gesundheit und Subjektivität im Kontext kapitalistischer Verhältnisse. Mit der neoliberalen Regulierung des Kapitalismus sind die erwähnten Leidenserfahrungen vieler Menschen intensiver geworden.“ (Chlada u. a.: Entfremdung Identität Utopie, 2020).

Im Gefolge des Finanzcrashs 2008, insbesondere jedoch im Kontext der Klimakrise, der Corona-Krise und zuletzt des Ukraine-Kriegs macht sich bei vielen (Linken) heute (wieder) ein Gefühl der Ohnmacht, Handlungsunfähigkeit und Resignation breit. Nach dem Bewegungshype der letzten Jahre wird die Gesellschaft – noch viel stärker als zuvor – als fix und fertiger Apparat erlebt, dem man/frau „entfremdet“ ist und den er/sie kaum beeinflussen kann. Manche Linke wenden sich in dieser Situation Verschwörungstheorien und einem Querdenkertum zu.

Derartige Veränderungen führen schon seit langem zu identitären Bestrebungen sowohl im rechten wie auch im linken Spektrum (z. B. AfD, identitäre Bewegung auf der rechten, Identitätspolitik gegen Sexismus, Rassismus, Homophobie, Transfeindlichkeit u. ä. auf der linken Seite). Gleichzeitig macht sich eine neue Klassenpolitik geltend, man/frau scheut sich nicht, alte, überholte Kategorien zur Interpretation der neuen Krisenqualität aus der Versenkung zu holen. Nach einer Ära des Dekonstruktivismus wird nach Halt gesucht. Identitätspolitik und Klassenpolitik stehen sich so als gesellschaftliche Widerspruchsstruktur gegenüber.

In unserem Seminar sollen nun einige Facetten dieses Syndroms untersucht werden.

Freitag 19.00 – 21.30

Helen Akin: Einige Bemerkungen zur Dialektik der Entfremdung bei Marx und Adorno

Helen Akin beschäftigt sich im Rahmen ihrer Promotion in der Philosophie seit einigen Jahren mit dem frühen Werk von Marx sowie der Marx-Rezeption des sogenannten westlichen Marxismus der Frankfurter Schule.

Ihrer Arbeit, die sie im Rahmen eines Vortrags vorstellen möchte, liegt die Annahme zugrunde, dass der „Kampfwert“ (Benjamin) der Marx’schen Entfremdungstheorie – die Provokation, die Marx mit ihr gegen seine liberalen und aufgeklärten ZeitgenossInnen richtete – maßgeblich in der in ihr enthaltenen Totalitätsbehauptung gründet; der Marx’sche Entfremdungsbegriff war von Anfang an nicht – bzw. nicht primär – auf subjektive Entfremdungserfahrungen ausgerichtet. Entfremdung geht nicht notwendig mit einem eindeutigen Leiden einher – sie kann dem Einzelnen im Gegenteil auch als Leid- und Gefühllosigkeit, als Wohlergehen oder Selbstbestätigung erscheinen. Das Kriterium der Entfremdung liegt auf der objektiven Seite: Es ist die kapitalistische Produktionsweise, welche die große Mehrheit der Menschen in Lohnarbeitsverhältnisse zwingt, eine Form des unfreien und einseitigen Tätigseins, das aufgrund von systemischen Wachstumszwängen notwendig die in ihr Befangenen in eine permanente Konkurrenz und zum Raubbau an natürlichen Lebensgrundlagen drängt.

In neueren soziologischen wie philosophischen Beiträgen zur Theorie der Entfremdung hingegen wird meist von dieser Totalitätsbehauptung abgesehen – stattdessen vollzieht man qua Theorie und Methode eine Praxis der Individualisierung und empfiehlt ‚von der Beletage herab‘, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, ohne überhaupt noch einen Blick auf die materiellen und klassenspezifischen Bedingungen zu werfen, die dies verwehren.

Wer den Begriff der Entfremdung gesellschaftstheoretisch fundieren und ihm einen allgemeinen, normativen wie analytischen Stellenwert einräumen möchte, muss – hierin liegt das wahre Moment der Kritik am Essentialismus – auf irgendeine Weise das »Wovon« der Entfremdung bestimmen. Das in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) entworfene Ideal freier und universeller, gegenständlicher Gattungstätigkeit deutet den Maßstab an, den Marx in seiner Kritik der entfremdeten Arbeit ansetzt. Dieses Konzept des Tätigseins scheint zwar in einer bestimmten Auffassung menschlicher Möglichkeiten fundiert zu sein, zugleich aber weder einen ursprünglichen, natürlichen Zustand der Menschheit zu markieren, zu dem es zurückzukehren gelte, noch überhaupt in irgendetwas »Statischem« zu bestehen – im Sinne eines zum Ausdruck zu bringenden (humanen oder personalen) Wesenskerns. Unter Rückgriff auf Aristoteles, Hegel und Feuerbach wird Akin im ersten Teil des Vortrags die wesentlichen Momente dieses Konzepts entfalten, um anschließend im zweiten Teil darzulegen, warum ich der Auffassung bin, dass Adornos Analyse des Spätkapitalismus als Korrektiv zeitgenössischer Entfremdungstheorien fungieren kann.

Samstag 10.00 – 12.30

Roswitha Scholz: Zur Kritik der Entfremdungstheorien von Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks war Marx bekanntlich mega out. Der Neoliberalismus und der Casino-Kapitalismus bestimmten den Zeitgeist. Individualisierungstendenzen und auch ein Single-Dasein wurden abgefeiert. Man tat so, als habe man traditionelle Zwänge hinter sich gelassen. Die Themen Entfremdung und negative Empfindungen hatten in dieser Atmosphäre keinen Platz. Der Kapitalismus galt als ewig und Fukujama fabulierte vom „Ende der Geschichte“. Dementsprechend waren postmoderne Theorien „in“.

Längst haben sich die Zeiten geändert: nach diversen Krisen, insbesondere dem Crash 2008, der Flüchtlingskrise 2015/16, der Corona-Krise und schließlich dem Ukraine-Krieg, verbunden mit einem unsicher Werden nicht nur der materiellen, sondern auch der mentalen und gefühlsmäßigen Lage, bläst der Zeitgeist aus einer anderen Richtung. Nun steht auch „Entfremdung“ längst wieder im Fokus linker Theoriebildung.

Das Referat wird den aktuellen Entfremdungsdiskurs, der vor allem von Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa geprägt ist, von der Warte der Wert-Abspaltungs-Kritik aus in den Blick nehmen. Die Diskurse um das Verhältnis Mensch-Natur bleiben weithin außer Betracht, da dies den Rahmen sprengen würde.

Samstag: 15.30 – 18.00

Johanna Berger: Robert Kurz: Nullidentität

Robert Kurz hat schon in den 90er Jahren den Aufsatz Nullidentität geschrieben, der heute angesichts neuer rechtspopulistischer bzw. neofaschistischer Bewegungen und eines erstarkenden Identitätswahns ungebrochene Aktualität besitzt. In diesem Text, der in seinen Essentials vorgetragen werden soll, skizziert Kurz die Gründe dafür, warum in der Moderne überhaupt so etwas wie »Identität«, wie die nationale oder kulturelle, entsteht und den Menschen aufgenötigt wird. Dass bestimmte Traditionen und Praktiken zur Identität aufgeblasen werden, hängt vor allem mit der alles umstürzenden kapitalistischen Verwertungsdynamik und der inhaltlichen Leere der Wertabstraktion zusammen. Identität bedient sozusagen ein nicht einlösbares Bedürfnis nach Stabilität. Auch skizziert Kurz den schon von Sohn-Rethel angedeuteten Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Denkform und Geldform. Das wissenschaftliche Denken, oder genauer das mathematische Denken, unterwirft auch Kurz zufolge »die vielfältige Eigenheit« der Welt »einer fremden und äußerlichen Abstraktion«. Schlussendlich konstatiert Kurz, dass die Postmoderne keineswegs eine konsequente Kritik der Identität und des Identitätszwanges formuliert, sondern die vielen Identitäten im Kapitalismus in ihrer Differenz anzuerkennen sucht. Kurz zufolge ist mit diesen »Postidentitäten« die Grundlage für einen »molekularen Bürgerkrieg« gelegt.

Samstag 19.00

Mitgliederversammlung

Sonntag 10.00 – 12.30

Roswitha Scholz & Leni Wissen: Identitätspolitik und Klassenpolitik. Einige gesellschaftskritische und sozialpsychologische Anmerkungen zum linken Abstraktionsverbot

Nicht nur im linken Diskurs nimmt heute das Spannungsverhältnis zwischen Identitätspolitik und Klassenpolitik einen breiten Raum ein. Vergessen wird dabei das Problem der gesellschaftlichen Formbestimmtheit, um sich von hier aus mit der konkreten Totalität zu vermitteln und über sie hinauszukommen. Es herrscht ein Abstraktionsverbot.

Es kann also nicht angehen, wie es heute gang und gäbe ist, Gruppenidentitäten (und sei es auch in Bezug auf eine imaginäre Arbeiterklasse, die es nicht mehr gibt) und die Betroffenheit als Wahrheitskriterium geltend zu machen. Kritische Theorie braucht reflexive Distanz, gerade um die Kritik letztlich nicht einer falschen Unmittelbarkeit anheimfallen zu lassen und den schlechten Zerfalls-Verhältnissen auf den barbarischen Leim zu gehen. Das tut auch einem praktischen Engagement nicht gut. Partikulare Interessen und Bauchgefühle können nicht primärer Ausgangspunkt sein. Auf die sozialpsychologische Dimension dieses Problems wird im zweiten Teil des Referates eingegangen.

Tagungsort

Jugendherberge Mainz, Otto-Brunfels-Schneise 4, 55130 Mainz

Anreise

Mit der Bahn: Vom Hauptbahnhof Buslinien 62 und 63 in Richtung Weisenau-Laubenheim, Haltestelle „Am Viktorstift/Jugendherberge“. Mit dem Pkw: Über Autobahnring A60 Mainz-Darmstadt, Abfahrt Weisenau/Großberg in Richtung Innenstadt/Volkspark.

Teilnahmekosten pro Person mit Übernachtung und Verpflegung

Freitag bis Sonntag: 4/3-Bettzimmer Du/WC: (16 Plätze) 75 € pro Person 2-Bettzimmer Du/WC: (13 Plätze) 90 € pro Person 1-Bettzimmer Du/WC: (5 Plätze) 110 € pro Person.

Es stehen 34 Plätze zur Verfügung.

Teilnahme nur am Seminar, Tagungsbeitrag: 20 €. Teilnahme nur am Seminar, inkl. Vollpension: 40 €. Bitte entsprechend Bescheid geben!

Teilnahmebeiträge bitte nicht vorher überweisen, sondern in bar mitbringen.

Wer nicht im Haus übernachtet, aber bestimmte Mahlzeiten dort einnehmen will, gebe bitte bei der Anmeldung an, welche (Frühstück, Mittagessen, Nachmittagskaffee, Abendessen).

Teilnehmer/-innen, die nicht in der Jugendherberge übernachten wollen, bitten wir, sich selbst um eine externe Übernachtungsmöglichkeit zu kümmern. Die Jugendherbergsleitung hat uns das Hotel Stiftswingert (Am Stiftswingert 4; Tel. 06131-982640) und das Ibis-Hotel (direkt am Südbahnhof; Holzhofstr. 2, Tel. 06131-2470) empfohlen; von beiden ist das Tagungshaus gut zu Fuß zu erreichen.

Ermäßigung

Wer sich den TN-Beitrag nicht leisten kann, muss deswegen nicht auf das Seminar verzichten: Bitte sprecht uns in diesem Fall bei eurer Anmeldung wegen einer Ermäßigung an!

Anmeldung

Bitte bei der Anmeldung angeben, falls vegetarisches Essen gewünscht wird. Ansonsten gehen wir von nicht-vegetarisch aus. Per Email: seminar@exit-online.org.




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