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Jan Luschach: Krisenmanagement fürs Volk – Eine Invektive gegen „Mr. DAX“


Jan Luschach

Krisenmanagement fürs Volk

Eine Invektive gegen „Mr. DAX“

Seit sich die Fundamentalkrise nicht mehr nur in der Peripherie, sondern ebenfalls in den westlichen Zentren unmittelbar niederschlägt und die hiesige Mittelschicht von der Angst vor dem nächsten Crash in Atem gehalten wird, drängen die gesellschaftlichen Verwerfungen zunehmend auf ihre ideologische Verarbeitung. Wer dabei noch nicht bereit ist, die ideologische Wut in körperliche Gewalt umzusetzen, gibt sich vorerst mit den Erzeugnissen der wie Pilze aus dem Boden sprießenden InvestigativjournalistInnen und unabhängigen MedienvertreterInnen zufrieden. Zu diesen rechnet auch der Börsenexperte Dirk Müller, besser bekannt als „Mr. DAX“. Der Spiegel-Bestseller-Autor und gern gesehene Talkshow-Gast ist eine peinlich exakte und so überzeichnete Infiguration spätpostmoderner Ideologiebildung, dass er beinahe als Karikatur seiner selbst erscheint. Allein dies schlaglichtartig darzustellen, ist Zweck der folgenden Zeilen.

Seine jahrzehntelange Tätigkeit an der Frankfurter Börse qualifiziert Dirk Müller nach Selbstaussage in besonderer Weise, über den Tellerrand hinaus aufs Ganze zu blicken und seinen LeserInnen und Fans eine gemeinverständliche Vorstellung dessen zu geben, was hinter den Kulissen der Finanzmärkte so ablaufen soll. Als „Insider“ weiß er Bescheid. Gegen die von sogenannten Machteliten lancierte Camouflage, „dass Wirtschaft und Demokratie völlig unbeeinflusst von größeren Interessen einflussreicher Personen und Organisationen ihren demokratischen Gang“ gingen, formuliert Müller den Wunsch, seine Leserschaft zu desillusionieren. Der aktuellste Versuch in dieser Hinsicht trägt den Titel „Machtbeben. Die Welt vor der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten. Hintergründe, Risiken, Chancen“1 , mit dem Müller eines jener Fabrikate vorlegt, denen gemeinhin das Attribut einer „schonungslosen Analyse“ zugesprochen wird. In seinem nunmehr vierten Buch stellt „Mr. DAX“ unter Beweis, dass er zu allem eine Meinung hat: von der geheimen Macht der Plutokraten über die globalen Krisenherde, die Zukunft der Elektromobilität, die Gefahren der Digitalisierung und das bedingungslose Grundeinkommen bis hin zu den Möglichkeiten, sich vor dem nächsten Crash zu schützen und aus ihm zu profitieren. Im Duktus des abgebrühten Kenners verkauft sich „Mr. DAX“ als ideologie- und moralisch einwandfreier Analyst, der sich anschickt, „wertneutral festzuhalten“, wie es sich mit Kapital und Krise (bei ihm: Plutokratie und Kalkül) denn ganz eigentlich verhält.

1. Cui bono?

2008 ist auch dem letzten Börsenheini aufgegangen, dass die vermeintliche Prosperität des Weltmarktes auf der prekären Grundlage von Defizitkonjunktur und kreditvermittelter Blasenbildung basiert, deren erneutes Platzen schon wieder allerorten prognostiziert wird. Weil ihnen allgemein, und „Mr. DAX“ im speziellen, jedoch jede Vorstellung gesellschaftlicher Formprinzipien abgeht, reicht das Spektrum der Ursachenanalyse von sprachloser Ratlosigkeit bis zur projektiven Markierung von Schuldigen. Letzteres ist die Sache Dirk Müllers, der zur Freude des Ottonormalbürgers und zum Leidwesen der Kritik sprachlos nicht bleiben konnte. Als einer der lautstärksten Krisenapostel lässt er allen, die es wissen wollen, sowie allen anderen, die er ungefragt mit seiner Pseudoexpertise penetriert, seine Ansichten zu den „Hintergründen“ globaler Vergesellschaftung zuteilwerden. Um Dirk Müller kommt nicht herum, wer im bürgerlichen Mainstream zur Lage der Finanzmärkte sich informiert. Zugleich wird Müller allerdings auch im neurechten Milieu gefeiert, was nur erneut auf die enge Verschränkung von sogenannter „Mitte der Gesellschaft“ und neofaschistischem Lager verweist. Zuletzt gab ihm der Antisemit Ken Jebsen in einem mehr als zweistündigen Interview2 die Gelegenheit, seine rechten Affinitäten zu beweisen. „Mr. DAX“, der auch heute noch als Börsenmakler tätig ist (und deshalb sich bemüßigt fühlt zu betonen, niemals jemanden über den Tisch gezogen zu haben) eignet sich als idealer Transmissionsriemen für all jene, die sich vom Neoliberalismus verabschieden und sich der neuen Rechten zuwenden. Als Neoliberaler, der seine antiliberale Meinung sagen will, drückt er den Zeitgeist dieser Tage aus wie kaum ein anderer. Das neoliberale Glücksversprechen, vermöge Globalisierung und Deregulierung ökonomische Prosperität zu generieren, hat sich spätestens seit dem Krisenschub 2008 desavouiert. Dass freilich das Elend in Dritter Welt und westlichen Unterschichten sich schon vorher verheerend auswirkte, kann fürs Mittelschichtsbewusstsein keine Geltung beanspruchen, für das so lange alles gut läuft, bis ihm selbst das Dach überm Kopf zusammenbricht. Nachdem dies jedoch geschehen war, ließen sich die neoliberalen Paradigmen nicht mehr glaubwürdig aufrechterhalten – sie waren von der Krise objektiv überholt worden, was den Zulauf zur Neuen Rechten verstärkte, die sich aus Neoliberalen rekrutiert, die keine mehr sein können.3

Das neue Krisenbewusstsein, das keines ist, verlangt nunmehr nach eindeutigen Konzepten und Lösungen, was nichts anderes als den Ruf nach fetischistischer Unmittelbarkeit bedeutet, an die im Angesicht der krisenhaften Verwerfungen sich klammern lässt. Dass „Mr. DAX“ nichts anderes tut, als eben dieses ideologische Bedürfnis zu befriedigen, erklärt seine Popularität. Die Sehnsucht nach Konkretion artikuliert sich bei Müller auf wenig originelle Weise: Die Fetischform samt ihrer realen Verkehrungen und Abstraktionen wird gemäß dem evergreen des falschen Bewusstseins auf das bloße Handeln weniger Akteure reduziert: „Es ging schon seit Jahrhunderten immer erst darum, was den jeweils Reichen und Mächtigen nutzt, um ihren Reichtum und ihre Macht zu erhalten und zu mehren.“4 Die „Masse“ dagegen – unschuldig wie immer – gilt ihm als bloß ausgebeutete und manipulierte. Nicht die antagonistische Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft von Antagonisten bildet das Grundkonzept der Müllerschen Ausführungen, das sich gleichsam als roter Faden durch sein ganzes Buch zieht.

In der Tradition rechter Manipulationstheorie spricht er von einer „Scheindemokratie“5 , die dem Volk gelassen werde, damit es nicht aufbegehre, hinter der sich in Wirklichkeit jedoch die Plutokraten verstecken würden, auf deren Interessen die gesamte Gesellschaft ausgelegt sei. Im Gegensatz zur Aristokratie, deren Herrschaftskonzept noch für alle einsichtig gewesen sei und deren Akteure offen in Erscheinung getreten wären, verhielte es sich mit der heute herrschenden Plutokratie anders: „In der Plutokratie dagegen bleiben die Herrscher weitgehend unbekannt. Kein Name, keine Adresse.“6 Politiker und Unternehmensvorstände betitelt er als bloße „Marionetten“, hinter denen sich die wirklich Mächtigen verbergen und die in brisanten Situationen leicht geopfert und durch neue Strohmänner ersetzt werden könnten.7

Der Transparenz verpflichtet kann Müller freilich nicht umhin, zumindest einige der „unsichtbaren Mächtigen“ zu benennen: Zwar spricht „Mr. DAX“ allen möglichen Großunternehmen von der Pharma- bis zur Autoindustrie bedeutende Einflussnahme auf PolitikerInnen zu, aber in „die politische Entwicklung anderer Staaten und Gesellschaften rund um den Globus“ einzugreifen, das schaffe nur George Soros, der mit seinem Geld alles dafür tue, die westliche Plutokratie zu verbreiten. Wenn sich Soros´ „Open Society Foundation“ unter das Motto „Demokratische Praxis und Menschenrechte“ stellt, kann das freilich nur als fiese Finte gedeutet werden, hinterm propagandistischen Schutzschild der Scheindemokratie die Völker dieser Welt der eigenen Herrschaft zu unterwerfen. Geschickt agiert Müller mit den antisemitischen Codes, die es ihm ermöglichen, zwar von Soros zu sprechen, aber die Juden zu meinen. Dessen jüdische Herkunft muss deshalb auch mit keinem Wort benannt werden, weil sowieso alle darum wissen, dass der Name Soros sich zur neuen Chiffre fürs „Weltjudentum“ entwickelt hat und mittlerweile in Ungarn schon von Seiten des Staates medial verhetzt wird. So überrascht es auch kaum, dass einige Zeilen weiter der französische Präsident Macron zur Marionette der Rothschilds gestempelt wird. Dass dieser vor seiner politischen Karriere vier Jahre lang für die Investmentbank „Rothschild & Co.“ tätig war, genügt „Mr. DAX“ mit seinem obsessiven Blick, der sieht, was er sehen will, um aus Macron einen aus dem Nichts von den Rothschilds hochgezüchteten Politiker zu machen, der nun für diese die europäische Politik beeinflusse. Müller reiht sich damit in die Phalanx der Antisemiten ein, obgleich er eine solche Zuordnung vermutlich empört zurückweisen würde: „Mr. DAX“ will kein Ideologe sein, sondern nur „wertneutral festhalten“; und deshalb steht für ihn auch stets „die Frage ‚cui bono?‘ – wem nützt es? – über allen Themen.“8

2. Querfront der Achtsamkeit

Nach gelungener Feindbestimmung kann Müller daran gehen, das Subjekt für seine konformistische Revolte zu entwerfen. Wie jede/r KritikerIn des Establishments, der/die etwas auf sich hält, kommt er zuerst auf die in der Neuen Rechten beliebte Metapher der roten und der blauen Pille zu sprechen: „Damit sind wir schon fast in der ‚Matrix‘ angekommen. Wenn Sie den Science-Fiction-Film aus dem Jahr 1999 kennen, wissen Sie, dass es durchaus eine existenziell-philosophische Frage sein kann, ob man sein Leben mit Problemen und Sorgen, aber selbstbestimmt führt, oder ob man fremdgesteuert, aber sorgenfrei leben will. Im Film entscheidet die Einnahme einer blauen oder roten Pille darüber, zu welchem Leben man sich bereit erklärt. Wie sieht es bei Ihnen aus!? Welche Pille würden Sie wählen?“9 Der Protagonist des Films muss sich zu Beginn für die Einnahme einer der beiden Pillen entscheiden. Die blaue Pille lässt ihn weiter in einer künstlichen Scheinwelt leben, wohingegen die Einnahme der roten Pille ihm ermöglicht, die simulierte Illusion zu beenden und sich der Manipulation des Verstandes zu entledigen.

Der Reiz des Films, der ihn für die ExponentInnen der Neuen Rechten so attraktiv macht, besteht in der Reduktion fetischistischer Herrschaft und ihrer Bewusstseinsformen auf die schiere Manipulation durch die „Plutokraten“. Klarheit wird da suggeriert, wo Unklarheit vorherrscht: Gesellschaftliche Herrschaft tritt den Einzelnen nicht als Fremdes gegenüber, sondern präformiert ihr Dasein und Bewusstsein bis ins Innerste; ihr sich vermöge eines dezisionistischen Aktes zu entziehen ist schlicht nicht möglich. Formkritik ist einzig denkbar als Subjektkritik, welche die Nichtidentität zwischen Subjektform und leiblichem Individuum fruchtbar zu machen sucht, die sich – eingestandenermaßen oder uneingestanden – als Leidensdruck Geltung verschafft.

Wer stattdessen die herrschaftliche Disposition des eigenen Selbst verleugnet und sich davon im fremden Anderen verfolgt wähnt, ist ein Paranoiker, wie er (bei Freud) im Buche steht. Der nicht nur von der Neuen Rechten platzierte Manichäismus, welcher jedwede Idee von Vermittlung perhorresziert und der Ambivalenz nicht ertragen kann, transportiert eine Vorstellung von Dezision und Unmittelbarkeit, die jede inhaltliche oder politische Zuordnung als sekundär erscheinen lässt. Was zählt, ist allein die Entscheidung: dafür oder dagegen. Dieser falsche, weil unvermittelte, Rigorismus bildet auch die Grundlage für Dirk Müllers Bemühungen um die Querfront.

Solcherart jedwede inhaltliche Bestimmung eskamotierend, kann Dissens für „Mr. DAX“ nur noch als intendierter Spaltungsversuch durch „die da oben“ in künstliche Lager wie „Linke, Rechte, die neue Mitte und so weiter“ gelten.10 „Dieses Trennen der Menschen in sich bekämpfende Gruppen zieht sich wie ein Bauplan durch alle Ebenen der Gesellschaft. Diese Gruppen bekämpfen sich permanent auf allen Gebieten und kommen so gar nicht auf die Idee, dass ihr eigentlicher Gegner nicht neben ihnen auf der gleichen Ebene steht, sondern über ihnen allen und sie beherrscht. Solange wir uns als Gesellschaft auf horizontaler Ebene zwischen Linke, FDP, Grüne, AfD, SPD und CDU aufreiben, solange wird es kein Aufbegehren der Bürger gegen Plutokraten geben und solange wird sich nichts Grundlegendes ändern.“11 Eine Bürgerbewegung also, „völlig frei von politischen Glaubensfragen zwischen rechts und links“12 , beschreibt Müller als seinen politischen Wunschtraum. Auch Kommunisten (Danke!) und Rechtsradikale dürfen mitmischen – Müller will nicht in Abrede stellen, dass aus allen Ecken gute Vorschläge kommen können. „Was wäre denn an einem solchen Bürgerzusammenschluss verkehrt?“13

Basierend auf dieser Idee lud Müller 2017 zu einem spontanen Bürgertreff in einem Mannheimer Biergarten ein, der auch via livestream zu bewundern gewesen sein muss. Begeistert schildert er, wie sich in seiner Runde schließlich eine Person aus dem „linken Spektrum“ sowie ein „Vertreter der Mannheimer Hooliganszene, der sich offen und unmissverständlich der rechten Szene angehörig erklärte“, einfanden und ins Gespräch kamen. Nach anfänglicher Spannung stellte sich heraus, „dass man eigentlich in den grundlegenden Sichtweisen weitgehend übereinstimmte“.14 Angesichts der linken Sehnsucht nach Handlungsmacht, ihrer Bereitschaft zum Querfrontbündnis, die auf jeder neuen Großdemo bestaunt werden darf, sowie der theoretischen Verblödung großer Teile der Linken, die sich genau wie bei „Mr. DAX“ und Co. als manichäisches Weltbild artikuliert, dürfte Müllers Beschreibung sogar der Wahrheit entsprechen.

Sein Querfront-Geraune reflektiert eben auch die reale Melange von links und rechts. Eine Linke, die selten bereit war, die bürgerliche Politikform zu kritisieren, statt sich in ihr zu bewegen, und schon lange ihre Perspektive als politischer Fortschrittsmotor im Rahmen der Immanenz verloren hat, sieht sich heute den politischen Alternativen zweierlei Formen der Krisenverwaltung ausgesetzt. Gegen die eine Variante neoliberaler Globalisierungsaffinität erfreut sich die Sozialkritik heute wieder einiger Beliebtheit, nachdem sie seit dem Beginn der Postmoderne zugunsten einer „Künstlerkritik“15 (Selbstverwirklichung, Identitätskult etc.) vernachlässigt wurde. Auch diejenigen Teile der Linken, die pro forma auf Distanz zur Parteipolitik gehen, bewegen sich zumeist innerhalb der Polarität von Neoliberalismus und reaktionärer (Sozial)Kritik am Neoliberalismus, von Grüner Partei und „Aufstehen“.

Die sich der Spaltung erwehrende Gemeinschaft ruft Müller allerdings nicht zum kollektiven Widerstand gegen die „Plutokraten“ auf, was ihm als unrealistisches Unterfangen erscheint. Stattdessen bedient er sich der postmodernen Lebenslüge, im Kleinen die Welt zu verändern: Es „bleibt uns nur die Summe unzähliger Kleinigkeiten, die nachhaltig das Wesen einer Gesellschaft verändern kann, die die entmachtende Teilung der Menschen Stück für Stück im Kleinen und unbemerkt (!) aufhebt und die Gesellschaft so automatisch immer stärker macht.“16 „Was heißt das ganz konkret? Interessieren Sie sich noch mehr für Ihre Mitmenschen. Verstärken Sie wieder die Vereinsarbeit [d.h. die Arbeit im traditionellen Hort der Reaktion, JL]. Nehmen Sie sich Zeit füreinander und vor allem üben Sie Achtsamkeit.“17

Seinen Mitmenschen nicht wie das letzte Stück Vieh zu behandeln, darauf muss nur von demjenigen hingewiesen werden, der ihn ohnehin schon als solches betrachtet. Der um sich greifende Kult der Achtsamkeit und der lautstarke Ruf nach Friedfertigkeit (etwa auf den sogenannten „Mahnwachen für den Frieden“) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um den prekären Versuch handelt, die eigene überbordende Aggression noch im Zaum zu halten. Anschaulich ist das zu beobachten bei jeder beliebigen „Mahnwache“, deren Redner in kaum zu überbietender Raserei den nicht weniger rasenden Mob zur Friedfertigkeit aufrufen. Dem ostentativen Zur-Schau-Stellen der eigenen Achtsamkeit ist ein exorzistischer Zug eigen: Indem jede Negativität am eigenen Selbst verleugnet, ja ausgetrieben wird, kann umso überzeugender gegen jene gehetzt werden, die sich der Eingemeindung ins aggressiv-achtsame Kollektiv verweigern oder ohnehin nie dazugehört hätten. Als tickende Bombe muss gelten, wer sich seiner Achtsamkeit so mantrahaft zu versichern genötigt sieht.

3. Antizipation des Zerfalls

Die Krise des Kapitals kann auch die staatliche Souveränität nicht unbeeinflusst lassen, die selbst am Tropf funktionierender Wertverwertung hängt. Besonders in den peripheren Weltregionen hat der Staatszerfall verheerende Züge angenommen; Warlords, Terrorbanden und andere Rackets treten an die Stelle des sich auflösenden Gewaltmonopols. Die Sezessionsbewegungen im Westen deuten darauf hin, dass sich auch hier der „molekulare Bürgerkrieg“ (Enzensberger) auszubreiten im Begriff ist. Der cui-bono-verdummte Müller kann jedoch nicht anders, als den subjektlosen Zerfall des Staates, seiner Institutionen und seiner Gewaltpotenz als einen bewussten Akt von Kapitalakteuren zu deuten.

Gemeinsam arbeiten Macron (d.h. Rothschild), Merkel, die deutsche Bank und natürlich das „Rockefeller-Imperium“ – weiteres Synonym fürs ‚ideelle Gesamtjudentum‘ – an der Abschaffung des Nationalstaates. Nationale Grenzen seien für die Interessen der Kapitalmagnaten hinderlich, weshalb sie alles dafür täten, diese zu schleifen. Nun stimmt es zwar, dass sich die Produktions- und Verwertungsketten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von internationalen zu transnationalen entwickelt haben, wobei sich diese Entwicklung im Etablieren von Freihandelszonen wie etwa der EU Ausdruck verschaffte. Der sonst doch so über die Maßen scharfsichtige Analyst Müller übersieht aber völlig, dass es sich beim Abschmelzen der Staatssubstanz nicht um eine Installation der Verwertung auf einer höheren Verwaltungsebene handelt, sondern um den Zusammenbruch kapitalistischer Synthesis. Wenn es im Blick auf den Nahen Osten ein Kapitalinteresse gibt, dürfte es vermutlich im Wunsch nach stabilen, also zuverlässigen, Staatsstrukturen bestehen. Dass Müller den Staatszerfall höchstens als Nebenprodukt einer durchgreifenden Kapitalisierung deutet, zeugt von seiner Unfähigkeit, trotz allen Krisengeredes die Krise da zu sehen, wo sie sich manifestiert.

Weil „Mr. DAX“ irgendwie doch ein Fatalist ist – wie könnte es anders sein bei jemandem, der „Freundlichkeit, Respekt und Gemeinschaftssinn“ für „unsere besten Waffen“ hält18 –, erachtet er den von den Plutokraten forcierten Staatsabbau für unvermeidlich. Ihm ist es lediglich darum zu tun, auf diesen Prozess positiv gestaltend, also durch Achtsamkeit, einzuwirken. Mitmischen ist alles. Seine Antizipation des Zerfalls nennt sich das „Europa der Regionen“, das er in seiner Authentizität gegen ein artifizielles Europa der Nationen abgrenzt. „Viele Spannungen in Nationalstaaten rund um die Welt haben ihre Ursache darin, dass meist durch kriegerische Eroberung Bevölkerungsgruppen unter ein willkürlich gespanntes Staatsdach gezwungen wurden, die viele Dinge lieber für sich selbst entscheiden wollten, nun aber innerhalb dieses Zwangsverbundes von anderen Volksgruppen dominiert und – so haben sie es empfunden – fremdbestimmt wurden.“19 Der Nationalstaat, den Müller einzig als ein „Instrument unserer Machtstrategen“ begreift, hätte im 21. Jahrhundert ausgedient und auch die Bevölkerung suche ihre Identität wieder vermehrt in kleinen Einheiten, in ihren Dörfern und Ortschaften.

An einer solchen Einschätzung des Nationalstaates als einem künstlichen Gebilde zeigt sich auch die Differenz der Neuen Rechten zum Faschismus des 20. Jahrhunderts. Die objektive Antiquiertheit des Nationalstaates verdoppelt sich im Kopfe eines „Mr. DAX“ zur Mimesis an den Zerfallsprozess, zur Vorwegnahme des nächsten Krisenschubs. „Wäre es nicht der nächste logische Schritt innerhalb Europas, über ein Ende der Nationalstaaten nachzudenken, die selbst nur Kunstprodukte früherer Kriegsherren sind, und stattdessen ein Europa der Regionen, der natürlich gewachsenen (!) Cluster zu schaffen?“20 Als Vorbild für eine solche Entwicklung dient Müller wie auch anderen Neofaschisten der Nahe Osten mit seiner „Föderation der Stämme“: Dort werde seit Jahren ein „jahrhunderte altes Stammesgebiet“ restituiert, das „möglicherweise tatsächlich die Basis für eine dauerhafte Befriedung (!) dieser Region“ garantieren könnte.21 Schon denkwürdig, wie hier die Herrschaft von Terrorbanden und anderer Clans im „Ethno-Zoo“ (Robert Kurz) zur eigentlichen, naturhaften Basis umgelogen wird, die durch den Nationalstaat bloß verdeckt gewesen wäre und heute wieder an die Oberfläche träte. Ein derartiges Optieren für naturhafte Cluster macht aus Müller einen Antagonisten emanzipatorischer Kritik, der den Nationalstaat allein im Namen der nächsten Barbarei für überholt hält.

4. Dirks „ganz persönliche Arche“

Weil auch das Engagement im örtlichen Sportverein keine Garantie bietet, im nächsten Crash verschont zu bleiben, weiß Müller seinen LeserInnen ein solides Finanzmanagement an die Hand zu geben, womit sich die Krise nicht nur durchstehen lasse, sondern sogar darüber hinaus sich die Möglichkeit ergebe, den großen Reibach zu machen. Ein von Müller entworfener „Schlachtplan“ enthält Vorsorge-Tipps für Unternehmer und Privatpersonen mit Vorschlägen wie diesem: „Klassifizieren Sie Ihren Mitarbeiterstamm. Wen kann ich in einer Krise am ehesten entbehren?“22 Wer sich bei der Lektüre solch wenig innovativer Geheimtipps fragt, wo denn nun die Achtsamkeit geblieben ist, der wird von Müller in einem seiner dämlichen Gleichnisse belehrt, vor denen sein Buch nur so übergeht: „Sicher sind Sie schon öfter geflogen. Erinnern Sie sich an die Anweisung der Crew vor dem Start: ‚Im Falle eines Druckabfalls fallen automatisch Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke. Ziehen Sie die Maske ganz zu sich heran und drücken Sie sie fest auf Mund und Nase. Helfen Sie DANACH Kindern und hilfsbedürftigen Menschen.‘ Wer selbst ohnmächtig ist, kann anderen nicht mehr helfen.“23 Achtsamkeit konstituiert sich demnach wesentlich als Selbsthilfe des vereinzelten Konkurrenzsubjekts: Nur wer gnadenlos wirtschaftet, kann auch nach der Krise schnell wieder Mitarbeiter anstellen. Die unbestechliche Logik eines Philanthropen.

Mit dem „Schlachtplan“ in der Tasche lässt sich munter auf die Krise zuleben. Ist es dann so weit, kommt alles darauf an, sein Geld richtig zu investieren. Aus der Krise könne man nämlich bei gewieftem Finanzmanagement als Profiteur hervorgehen, denn „wo Verlierer sind, gibt es auch immer Gewinner.“24 Wer die Krise als eine bewusst verursachte halluziniert, der kann sie sich freilich nicht als eine denken, die nur Verlierer kennt. Kapitalgläubig gilt Müller die Krise als ein reinigendes Intermezzo im ewigen Hoch und Runter der Konjunktur. Dass es ein Runter geben könnte, auf das kein Hoch mehr folgt, kann gar nicht sein: dann würde ja gar niemand profitieren. „Die eigentlichen Machtstrukturen unserer oft benannten Machteliten und ihrer Netzwerke“ gelten Müller als ewige Konstante. „So wenig befriedigend es uns vorkommen mag, sie werden es daher sein, die aus purem Eigeninteresse dafür sorgen werden, dass schnellstmöglich wieder funktionierende und prosperierende Strukturen entstehen, sobald sie ihre jeweiligen Ziele erreicht haben.“25 In diesem Glauben plädiert „Mr. DAX“ dafür, in der Krise am Tiefpunkt der Börsenkurse in Schlüsselindustrien zu investieren, die immer gebraucht werden würden und damit den großen Coup zu landen. Müller will nicht lange auf den Krisengewinnern rumhacken – und schon gar keinen Einspruch gegen die fatale Krisendynamik erheben – sondern selbst dazugehören.

Die Paradoxie der Müllerschen Ausführungen – einerseits den „Plutokraten“ und ihrer destruktiven Geldvermittlung das gesellschaftliche Übel anzulasten und andererseits selbst den Aufstieg in die Plutokratie vermittels geschickter Finanzgeschäfte meistern zu wollen – emaniert aus der Dialektik des antisemitischen Unbewussten, das imaginierte Glück von Wohlstand ohne Arbeit – verdrängte Sehnsucht des Subjekts – am Objekt der Projektion zu verfolgen und schlussendlich dessen fantasierte Allmachtsposition selbst zu besetzen, sich selbst zum Herrn über Kapital und Krise aufzuschwingen. Die eigenen Sehnsüchte und Triebwünsche am Juden verfolgend, konstituiert sich der Antisemitismus, dessen Kryptovariante die Müllersche Plutokratenkritik darstellt – nur an ausgewählten Stellen ihr wahres Hassobjekt identifizierend – stets auch als die mörderische Wiederkehr des Verdrängten, als Bekämpfung eigener Anteile im Anderen. Wie der Antisemit den Juden neidet, was er ihnen im Wahn prädiziert, so trachtet auch „Mr. DAX“ nach der Macht, die er den „Plutokraten“ beimisst. Nicht die Abschaffung der Verheerung und Elend generierenden gesellschaftlichen Herrschaft, sondern die Übernahme ihrer personifiziert gedachten Verwaltung ist Fluchtpunkt der Ideologie Dirk Müllers. Völlig ungeniert fabuliert er deshalb von einer erstrebenswerten „Aristokratie der Edelsten“, die er der heute herrschenden Plutokratie kontrastiert. Auf seinen Kronzeugen in Sachen Plutokratiekritik Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi rekurrierend schreibt „Mr. DAX“: „Er sieht in einer fernen Zukunft eine Regierungsform, die er die Aristokratie der Edelsten nennt – nicht der Edelsten des Blutes, sondern der Edelsten des Geistes und der Ethik. Eine Zeit, in der die Klügsten, Weisesten und ethisch Untadeligsten die Entscheidungen nicht mehr zugunsten kleiner Eliten, sondern für die Gesamtheit der Gesellschaft treffen – ein Idealbild, das ich teile.“26 Obschon Müller keinen dezidierten Anspruch darauf erhebt, kann doch davon ausgegangen werden, dass ihm beim Selbstermächtigungsakt der ethischen Aristokratie ein Stuhl im Kleinen Rat zuzukommen habe. Die Müllersche Identität von Kritik der Herrschenden und Apologie von Herrschaft als Beerbung der Herrschenden und Aneignung der Verfügungsgewalt durch die „Weisen“ demonstriert den neidhaften Charakter seiner Phantasmen. Als edler Aristokrat ethischer Herrlichkeit glaubt Müller besser durchregieren zu können als die etablierten Plutokraten – und volksnäher allemal.

Für langfristige Geldanlagen hat „Mr. DAX“ einen Aktienfonds kreiert, den er als seine „ganz persönliche Arche“27 bezeichnet. Der Fonds hält nur Aktien der „solidesten Unternehmen der Welt“ und ist nicht aus der Sicht des Fondsmanagers, sondern aus der Perspektive der Anleger konzipiert, wie ein Werbevideo betont. „Dabei ist uns Ethik besonders wichtig.“28 . Müller will nicht als mieser Spekulant gelten, der seine Anleger ausbeutet, sondern als ehrlicher Vertreter ihrer Interessen – er treibt Krisenmanagement fürs Volk. Deshalb soll auch nur „an Bord gehen“, wer den Fonds verstanden und für solide erachtet hat. Mit dem Bild der Sintflut stellt sich Müller in die Tradition der Wirtschaftswissenschaften und ihrer Verklärung der Krisen zu Naturkatastrophen, die schon Marx idiosynkratisch verspottete. Obgleich dem selbsterklärten Noah des 21. Jahrhunderts seine handwerklichen Fähigkeiten keineswegs abgesprochen werden sollen, darf doch füglich bezweifelt werden, ob seine Arche die Wirren der Zeit so überstehen wird wie diejenige des Originals.

Als Grenzgänger zwischen bürgerlichen Medien und der Neuen Rechten, als schillernde Figur, die gemeinhin als salonfähig gilt und zugleich antisemitische Ideologie im Gewande der Achtsamkeit verkauft, kann „Mr. DAX“ als besonders fieses Exemplar spätpostmoderner Zerfallssubjektivität und ihrer Ausbünde gelten. Bleibt nur zu hoffen, dass der Kritik schärfere Waffen eignen als die von „Freundlichkeit, Respekt und Gemeinschaftssinn“.


1 Müller, Dirk: Machtbeben. Die Welt vor der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten. Hintergründe, Risiken, Chancen, München 2018.

2 https://kenfm.de/dirk-mueller/.

3 Ausführlich dazu: Späth, Daniel: Querfront allerorten! Oder die „Neueste Rechte, die „neueste Linke“ und das Ende gesellschaftskritischer Transzendenz, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 14, Berlin 2017, S.95-212.

4 Müller, S. 23.

5 Ebd., S. 49.

6 Ebd., S. 74.

7 Ebd.

8 Ebd., S. 220.

9 Ebd., S. 72.

10 Ebd., S. 76.

11 Ebd.

12 Ebd., S. 77.

13 Ebd.

14 Ebd., S. 77f.

15 Vgl. Boltanski, Luc, Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006.

16 Müller, S. 91.

17 Ebd., S. 89.

18 Ebd., S. 325.

19 Ebd., S. 104.

20 Ebd., S. 107.

21 Ebd., S. 111.

22 Ebd., S. 247.

23 Ebd., S. 249f.

24 Ebd., S. 248.

25 Ebd., S. 260.

26 Ebd., S. 47.

27 Ebd., S. 265.

28 https://www.dirk-mueller-fonds.de




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