Ignoranz oder Realität?Thomas MeyerDer Text Tabula Rasa der modernen Technik? (Meyer 2024), der sich kritisch mit dem Buch Die Energieschranke des Kapitals von Sandrine Aumercier (2023) auseinandergesetzt hat, provozierte recht aufgeregte Reaktionen.1 Der Hauptkritikpunkt gegen Meyer bestand darin, Aumerciers Ausführungen nicht verstanden zu haben, auf Grund von Ignoranz oder Dummheit oder gar wegen Boshaftigkeit. Die zentrale Aussage Aumerciers soll darin bestanden haben, dass der technologische Apparat, den eine antikapitalistische Bewegung gegebenenfalls beerben würde, nicht aufrechterhalten werden könnte, da erstens dieser einen Energie- und Materialverbrauch voraussetzen würde, welcher den Planeten trotz aller Nachhaltigkeitsverkündigungen ruinieren werde, sowie zweitens dieser notwendig kapitalistische Verhältnisse und Real-Kategorien zur essentiellen Voraussetzung habe. Der Kritikpunkt Meyers war, dass Aumercier die technischen Artefakte in der kapitalistischen Form und der kapitalistischen Weise der Arbeitsteilung bzw. Funktionsaufteilung aufgehen lässt (das heißt umgekehrt nicht, dass sie »auf wundersame Weise unversehrt von der Form« seien, was Aumercier anscheinend glaubt bei Meyer herauslesen zu können), so dass mit einer Überwindung des Kapitalismus die technischen Hinterlassenschaften des Kapitalismus aufgegeben werden müssten und die Menschheit sich fortan auf eine lokale Produktionsweise, »deren Größe für die fünf Sinne zugänglich bleibt« (Aumercier 2023, 203), beschränken müsse. Sie widerspricht sich zwar, wenn sie andererseits schreibt, in einer ausgedünnten Variante könnte doch das eine oder andere den Kapitalismus überleben. Wie man aber dazu käme, den technische Apparat soweit zu transformieren oder rückzubauen, dass dieser mit einer lokalen Beschränkung vereinbar wäre, thematisiert sie nicht: Im Gegenteil, derartige Debatten des Aussortierens usw. wären Aumercier zufolge unmöglich, angeblich auch deswegen, da menschliche Entscheidungen durch das Unbewusste determiniert seien2 und die Menschen meist sowieso nur argumentierten, um ihre eigenen Life-Styles zu rechtfertigen. Andreas Urban stimmt Meyers Ausführungen teilweise zu, formuliert Aumercier doch Punkte, die eine entsprechende Kritik provoziert haben. Urban kritisiert Aumercier ebenfalls darin – was auch ein zentraler Kritikpunkt Meyers an Aumercier ist –, dass sie sich keine Gedanken um die Reproduktion von 8 Milliarden Menschen macht, wie diese denn vonstatten gehen soll, wenn die technischen Hinterlassenschaften des Kapitalismus eingestampft werden. Meyer sowie Scholz sahen hierin mörderische Konsequenzen, wenn man sich nicht darum schert, was mit jenen Technologien und Infrastrukturen ist, auf die die Menschen existentiell angewiesen sind. Urban versteht immerhin, dass auch Kleinbauern Düngemittel benötigen. Selbst wenn man auf künstliche Düngemittel verzichten würde, wie Meyer unter Berufung auf den Umweltwissenschaftler Vaclav Smil (2023, 93ff.) anführte, so müsste man z.B. die Viehzucht ausdehnen, jedenfalls nicht zurückfahren, um genug tierische Exkremente für die Felddüngung (und Pferde für den Transport usw.) organisiert zu bekommen (und tierische Exkremente sind zu dem nicht so ergiebig wie industriell hergestellter Dünger, ganz abgesehen von der klimaschädlichen Methanausscheidung). Urban liest aus der Tatsache der Düngemittelnotwendigkeit für die Landwirtschaft eine Naturalisierung der industriellen Landwirtschaft Meyers heraus. Dass zahlreiche Kulturpflanzen nicht in der Lage sind, für sie lebenswichtige Stickstoffverbindungen selbst zu synthetisieren, ist aber einfach Fakt! Es wäre also genauso sinnvoll zu behaupten, es werde naturalisiert, wenn festgestellt wird, Häuser müssten so und so gebaut werden, da sie sonst aufgrund der Schwerkraft in sich zusammenfallen würden. Zudem pöbelt Urban, Meyer hätte Aumercier nicht verstanden, wollte sie nicht verstehen und sein Text sei nicht mehr als eine haltlose Denunziation, die an ihrer Argumentation vorbeigehe. So auch Aumercier. Sie begründet in ihrer Replik auf Meyers Artikel ihre Naturalisierungsvorwürfe an ihn u.a. damit, dass er die Geltung der Thermodynamik nicht auf den Kapitalismus beschränkt sieht. Aber auch eine nicht-kapitalistische Gesellschaft wäre mit gewissen Randbedingungen der Natur und ihres Stoffwechsels konfrontiert, die man nicht einfach wegdiskutieren kann (im betriebswirtschaftlichen Denken/Handeln tauchen diese bekanntlich nicht auf oder werden ignoriert). An Aumerciers Position wäre zu kritisieren, dass Energie nicht der gleiche ›kategorialen Status‹ zukommen kann wie dem Wert oder der abstrakten Arbeit (was im Text Meyers tatsächlich so nicht expliziert wurde). Das wäre nur dann plausibel, wenn abstrakte Arbeit tatsächlich das Gleiche wie physikalische Arbeit oder Energie wäre (eine Sonde, die am Jupiter vorbeiflöge, um Schwung zu holen, würde demnach abstrakte Arbeit verrichten bzw. an ihr würde abstrakte Arbeit vom Jupiter verrichtet werden; die durch Photosynthese betriebene Produktion von Glucose und Sauerstoff mit den damit einhergehenden Energieumwandlungen wäre abstrakte Arbeit usw.). Wie Robert Kurz betonte, realisiert sich die Abstraktion Arbeit, d.h. die abstrakte Arbeit (zu unterscheiden von einer Nominalabstraktion Arbeit: was oft, gerade beim Thema Arbeitsteilung, nicht bedacht wird), durch den Handlungsvollzug bürgerlicher Subjekte in betriebswirtschaftlichen Räumen, die selbst wiederum durch die Verwertungsbewegung des Kapitals geformt wurden.3 Wenn man Aumerciers Prämissen (die sie durch die Beschäftigung mit der Geschichte der Thermodynamik und mit Marx u.a. zuvor hergeleitet hat) nicht teilt, kommt man folgerichtig auch zu anderen Schlussfolgerungen: Wenn man die im Kapitalismus erfundene und entwickelte Technik an die kapitalistische Fetisch-Konstitution ein für allemal gebunden sieht, dann ist ihre Abschaffung in der Tat die logische Konsequenz, wenn der Kapitalismus überwunden werden soll. Eine logische Argumentation, die Aumercier beansprucht, kann man diesbzgl. aber nicht als valide Beweisführung ansehen, wenn die zugrundeliegenden Argumente mindestens fragwürdig sind, etwa die Gleichsetzung von moderner Technik mit Kapital und ihre quasi ausschließliche Gebundenheit an Akkumulation und bürgerliche Verkehrsformen. Das hat nichts mit Ignoranz oder mit irgendwelchen »Spitzfindigkeiten« Meyers zu tun, wie Aumercier nicht müde wird zu behaupten. Weder Meyer noch Scholz noch irgendwer aus wertkritischen und wert-abspaltungs-kritischen Kreisen hat jemals gefordert, der technologische Apparat des Kapitalismus sei neutral und müsse unverändert in eine postkapitalistische Welt übernommen werden (auch nicht die Gentechnik). Niemand hat auch je behauptet, die Slums der Städte müssten beibehalten oder die Verstädterung dürfe nicht kritisiert werden, was ja ein geradezu groteskes ›Argument‹ gegen die Notwendigkeit der Versorgung der Städter mit Nahrung und Wasser darstellt. Was sollte eine gangbare Alternative sein? Die Städte räumen? Damit alle sich der Subsistenzwirtschaft widmen können? Wir reden hier übrigens nicht von ein paar ›Dörfern‹ (oder wie man lokale ›Produktionseinheiten‹ auch immer nennen soll), sondern von Millionen, deren Anzahl noch wesentlich höher ausfallen dürfte, wenn man die großen Städte räumen sollte (und diese ›Dörfer‹ müssten dann auch oft erst gebaut werden – wahrscheinlich ist das wieder so eine »Spitzfindigkeit« Meyers). Nach Aumcercier lassen sich auch in wertkritischen Kreisen gewisse Automatisierungs- oder Digitalisierungsphantasien finden, die sich darin äußern können, dass man nicht die infrastrukturellen Voraussetzungen jener Techniken bzw. Technologien und die ökologischen Schäden im Blick hat, die diese mit sich bringen oder mit sich bringen können. Dagegen hält Aumercier die Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß zu verringern und die Biodiversität zu bewahren usw., für ein »neoliberales Mantra«. Selbstverständlich müsste die Überwindung des Kapitalismus eine Reduktion des Energie- und Materialverbrauchs als solche beinhalten; ›technologische Innovationen‹ allein sind da ziemlich nutzlos, was zahlreiche Publizisten aus dem ökosozialistischen und Degrowth-Spektrum wiederholt betont haben.4 Es bleibt die Notwendigkeit eines nachhaltigen Stoffwechselprozesses mit der Natur. Jedoch erscheint es zweifelhaft, ob dieser wegen der fortschreitenden Klimakatastrophe überhaupt noch realisierbar ist. Dennoch wäre zu analysieren, inwiefern der gegebene deformierte kapitalistische Stoffwechsel mit der Natur technisch oder (auch) betriebswirtschaftlich bedingt ist (Umweltschäden werden aus Konkurrenz- und Kostenreduktionsgründen oft in Kauf genommen, obwohl sie technisch nicht unbedingt unumgänglich sind). Beides nicht zu unterscheiden führt bei Aumercier etwa zu einer pauschalen Ablehnung des Bergbaus. Woher aber die Instrumente für das Handwerk kommen sollen, das Metall der Bratpfanne, wie der Baum zum Holzlöffel werden soll, wie also grundlegende Bedürfnisse von Milliarden Menschen befriedigt werden sollten, wird nicht einmal ansatzweise beantwortet. Irgendwie scheint das Problem auch Anselm Jappe zu ahnen, auch wenn Industrie für ihn doch prinzipiell etwas Unangenehmes zu sein scheint: »In dem Maße, in dem industrielle Produktionsweisen weiterhin nötig sein werden, sollten diese prioritär für die Befriedigung der Grundbedürfnisse in Landwirtschaft und Handwerk eingesetzt werden, also z.B. Energie für ein notwendiges Minimum an Elektrizität. Inwieweit auch dieses Minimum bereits mehr industrielle Strukturen verlangt, als in der hier beschriebenen Perspektive wünschenswert erscheint, ist eine unangenehme Frage, die ebenfalls diskutiert werden muss und eine sachlich fundierte Auseinandersetzung erfordert. An entweder der Knappheit oder der Schädlichkeit der Ressourcen und Energiequellen kann aber auch die Abschaffung des Kapitalismus nichts ändern«. An der Möglichkeit einer sachlichen Auseinandersetzung hat Jappe wie Aumercier prinzipielle Zweifel, so schreibt er andererseits im Widerspruch zum Vorherigen: »Es ist also eine große Naivität zu glauben, man könne sich eines Tages einfach hinsetzen wie die Kinder vor einen Berg Spielzeug, jede Technik in die Hand nehmen, abwägen, ausdiskutieren und schließlich, wie Aschenputtel, die guten ins Töpfchen und die schlechten ins Kröpfchen werfen, um dann am Ende nur noch mit den ›guten Techniken‹ zu verbleiben«. Dieses Statement ist mindestens so ›hilfreich‹ wie Aumerciers ›psychoanalytischer Ausflug‹ (2023, 194). Selbstverständlich würde eine ›Transformation‹ ein Programm der Abschaffungen beinhalten, das alles andere als trivial ist, zumal die Änderung und Transformation der Lebens- und Produktionsweise nicht in der Reichweite der angeblich autonomen Individuen liegt (vgl. Meyer 2023). Urban spricht sich dagegen nicht nur für einen Rückbau des technologischen Apparats aus, um den Kapitalismus zu überwinden, sondern auch für eine Reduktion der Bevölkerung (wie dies auch malthusianisch argumentierende Ökosozialisten, wie z.B. Saral Sakar5, tun): »Wir kommen hier [aus dem Kapitalismus, TM] womöglich nicht mehr raus – jedenfalls nicht so leicht und möglicherweise, wenn überhaupt, nur mit einer langen, über mehrere Generationen angelegten Übergangszeit, in der die technischen Großsysteme, soweit dies möglich und zweckmäßig ist, sukzessive rückgebaut werden; was jedoch auch einhergehen müsste mit einer entsprechenden Reduktion der Bevölkerungsgröße auf ein mit diesem energetischen Niveau zu vereinbarendes Maß, ggf. durch ›biopolitische‹ Maßnahmen der Geburtenkontrolle. Dies wäre übrigens nur ein weiteres Beispiel dafür, dass manche gesellschaftliche Organisations- und Vermittlungsformen, die uns der Kapitalismus während seiner, historisch gesehen, relativ kurzen Existenz mit umso größerer Wirkmacht, u.a. in Gestalt biopolitischer Zugriffe auf jeden einzelnen Körper als Rädchen im Getriebe der ›schönen Maschine‹, beschert hat, auch im Falle einer postkapitalistischen Transformation womöglich nicht ansatzlos im Orkus der Geschichte verschwinden würden [...]. Wiederum auf einem ganz anderen Blatt steht dabei, ob eine derart lange Übergangsfrist mit Blick auf die ökologischen Gestehungskosten des heutigen Energieregimes nicht möglicherweise schon ein zu langer Zeithorizont sein könnte, um seine destruktiven Effekte überhaupt noch auf ein einigermaßen bewältigbares Maß zu beschränken.« Auch wenn Urban im nächsten Satz zu relativieren scheint – »Auch das kann also eine erhellende und in intensiven Diskussionen weiter zu erörternde (und ggf. auch wieder zu revidierende) kritische Einsicht sein, die sich aus Aumerciers Buch ergibt.«) –, ist der Gedanke einer Bevölkerungsreduktion hochproblematisch. Wenn hier jemand sozialdarwinistische Tendenzen herausläse, würde für Urban, Aumercier und Jappe diese Feststellung vermutlich nur als wilde Denunziation erscheinen. Dass so etwas noch unter dem Label ›Wertkritik‹ läuft, ist wirklich eine Schande. Im Angesicht von Querfront und neofaschistischer Reaktion dieser Tage sollten alle Linken, die sich nicht von Menschlichkeit und der Kritik und Emanzipation von Herrschafts- und Fetischverhältnissen verabschiedet haben, solchen reaktionären Dreck weiterhin gnadenlos kritisieren (vgl. Bierl 2022). Literatur Aumercier, Sandrine: Die Energieschranke des Kapitals – Technikkritik als Kapitalismuskritik, Zürich 2023, zuerst Albi 2022. Aumercier, Sandrine: Hightech-Kommunismus oder Ökofaschismus? – Entgegnung auf Roswitha Scholz und Thomas Meyer, 2024, auf grundrissedotblog.wordpress.com. Bierl, Peter: Klassenkampf für gutes Klima, jungle.world vom 19.11.2020. Bierl, Peter: Unmenschlichkeit als Programm, Berlin 2022. Dahmer, Helmut: Divergenzen – Holocaust, Psychoanalyse, Utopia, Münster 2009. Grünbaum, Adolf: Die Grundlagen der Psychoanalyse – Eine philosophische Kritik, Stuttgart 1988, zuerst Berkeley/Los Angeles/London 1984. Jappe, Anselm: Von Mixern und Sozialdarwinisten – Ein Kommentar zu Andreas Urbans Bemerkungen anlässlich der Exit-Kritik an Sandrine Aumercier, 2024, auf wertkritik.org. Kurz, Robert: Die Substanz des Kapitals I, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 1, Bad Honnef 2004, 44–129. Meyer, Thomas: Alternativen zum Kapitalismus – Im Check: Ökosozialismus in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 19, Springe 2022, 15–66. Meyer, Thomas: Klimakatastrophe und ›Konsumfreiheit‹ – Über das Elend spätbürgerlicher ›Freiheitsdiskurse‹, 2023, auf exit-online.org. Meyer, Thomas: Tabula Rasa der modernen Technik – Nachtrag und Ergänzung zu den »Artefakten der Geschichte« und der »Energieschranke des Kapitals«, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 21, Springe 2024, 193–221. Peglau, Andreas (Hg.): Reich, Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus, Gießen 2020, zuerst 1933. Smil, Vaclav: Wie die Welt wirklich funktioniert – Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit, München 2023. Urban, Andreas: Wie weit darf »tabula rasa« gehen? – Anmerkungen zur Diskussion um Sandrine Aumerciers Die Energieschranke des Kapitals, 2024, auf wertkritik.org.
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