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Translation [pt]: A liberdade da servidão

Thomas Meyer

Die Freiheit zur Knechtschaft

Der Anarchokapitalismus als Schmuddelkind des Anarchismus

Einleitung

Gerade in Krisenzeiten werden Positionen, die zuvor noch als minoritär oder als literarischer Exzess gelten konnten, vermehrt rezipiert. Dadurch droht die Möglichkeit einer ihnen zukommenden gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit. Das trifft meines Erachtens auch auf den „Anarchokapitalismus“ zu. Auf diesen beziehen sich nicht nur einschlägige neurechte Szenezeitschriften (wie eigentümlich frei), sondern dieser wird auch vertreten von mehr oder weniger illustren Personen, wie Oliver Janich, der die EU für eine sozialistische Diktatur hält, oder Hans-Hermann Hoppe, dem eine Monarchie das gegenüber der Demokratie kleinere Übel wäre.

Es könnte angenommen werden, dass der Linksanarchismus sich auf einer theoretischen Ebene mit dem Anarchokapitalismus (oder allgemeiner den Rechtslibertären überhaupt) auseinandersetzen würde. Davon kann aber kaum die Rede sein.1 Meines Erachtens liegt das vor allem daran, dass dieser, aufgrund seiner eigenen Theorie- und Begriffslosigkeit, dazu überhaupt nicht in der Lage wäre. Vielmehr lassen sich wechselseitige Anknüpfungsmöglichkeiten feststellen.

Um das zu zeigen, sollen im Folgenden zunächst anarchokapitalistische Positionen, exemplarisch jene Murray Rothbards, skizziert werden und es soll schlussendlich herausgestellt werden, was die entscheidenden theoretischen Defizite sind, die der Linksanarchismus mit dem Anarchokapitalismus gemeinsam hat.

Der Anarchokapitalismus Murray Rothbards

Murray Rothbard (1926-1995) gilt als ein einflussreicher Anarchokapitalist des 20. Jahrhunderts, auf den sich heutige Anarchokapitalisten gern beziehen.2 Selbst aus der wirtschaftstheoretischen Tradition der Österreichischen Schule Ludwig von Mises stammend (so wie auch Hoppe), radikalisierte er sein Denken dahingehend, dass er dem Staat jede Berechtigung und Notwendigkeit absprach, und anders als von Mises oder von Hayek, seine vollständige Abschaffung propagierte (Abschaffung in Form der Privatisierung aller staatlichen Aufgaben). Rothbard zufolge wäre eine freie Gesellschaft im Privateigentum und im freien Markt bereits verwirklicht. Der Staat ist dabei das Einzige, das dieser freien Gesellschaft im Wege steht.

Seine staatskritischen Ansichten ähneln denen vieler Linker. Rothbard beschreibt auf einer phänomenologischen Ebene die Knechtschaft durch den Staat, ähnlich wie es auch viele Linke tun würden, seien es Militarismus und Imperialismus, die staatliche Schulbildung (bei der es ihm zufolge nicht primär um Bildung gegangen wäre, sondern um Schaffung eines staatsloyalen Volkes), die Verfolgung homosexueller Beziehungsweisen, der Terror der Psychiatrie, Restriktionen gegen die Abtreibung oder eine Prohibitionspolitik gegenüber Drogen, Alkohol, Glücksspiel und Pornographie.

Rothbards argumentativer Ausgangspunkt ist axiomatischer Natur: nämlich, anschließend an John Locke und naturrechtliche Betrachtungen, dass jeder Mensch Eigentümer des eigenen Körpers sei, dass jeder über sein Eigentum und die Produkte seiner Arbeit (wie ein Farmer) frei verfügen könne und niemand das Recht habe jemanden und dessen Eigentum anzugreifen („Nichtaggressionsaxiom“3). Deswegen sei es prinzipiell abzulehnen, wenn irgend jemand, wie vor allem der Staat, die Zwangsnutzung eines Körpers beansprucht, wie es im Militär der Fall ist, ebenso, wenn der Staat den Bürgern Steuern auferlegt und sie damit buchstäblich ausraubt. Jeder hat Recht auf sein Eigentum, zu dem der eigene Körper zählt, und dieses Eigentumsrecht ist absolut. Absolut dahingehend, dass Rothbard aus diesem jedes andere Bürgerrecht und Menschenrecht ableitet bzw. sie alle auf Eigentumsrechte zurückführt. Die einzige Einschränkung ist, dass nur das als illegal, als ein Verbrechen angesehen werden kann, was die Eigentumsrechte anderer verletzt. Somit ist der klassisch liberale Standpunkt ausgesprochen, dass die eigenen Rechte in den Rechten der Anderen ihre Grenze finden. Daraus folgt, wie Rothbard es ausführt, dass „Verbrechen ohne Opfer“, wie homosexuelle Handlungen oder privater Drogenkonsum, keine sind.

Rothbards Position lässt sich verstehen als ein zugespitzter Liberalismus eines absolut „mündigen Bürgers“. Er propagiert konsequenterweise eine absolute Vertragsfreiheit zwischen den Bürgern, daher ist jede Art einer staatlichen Intervention Unrecht. Seine Vorstellung ist die, dass auf einem totalen Markt dann alle in „Freiheit“ einander gegenübertreten und durch eine absolute Vertragsfreiheit freie Selbsteigentümer sind und von nichts und niemandem mehr bevormundet werden. Darüber hinaus wird von Rothbard die Vorstellung transportiert, die Welt würde aus miteinander tauschenden Kleinbürgern und Eigenheimbesitzern bestehen. Daher auch sein Eintreten für eine uneingeschränkte Vertragsfreiheit.4 Dieses kleinbürgerliche Moment findet sich auch problemlos im Linksanarchismus und seinen diversen Unterströmungen wie bei den Gesellianern oder dem Lifestyle-Anarchismus.

Seine Absolutsetzung von Eigentumsrechten veranschaulicht er in verschiedenen Zusammenhängen, so etwa auch in Bezug auf Kinderrechte und spricht in aller Nüchternheit folgendes aus:

Es ist in der Tat nicht unangebracht, Rothbard für eine derartige Offenheit regelrecht zu danken; wird doch durch diese Ungeheuerlichkeit deutlich, wohin seine „Ethik der Freiheit“ führt. Diese Offenheit erinnert auch an die Mandevilles in seiner famosen Bienenfabel; hat er in dieser doch allzu zynisch und ungeniert die Konsequenzen des Liberalismus, zum Unwohl seiner Zeitgenossen, offengelegt.

Für Rothbard ist alles sehr simpel: wenn es an Aufgaben und ihrer Durchführung, welche vom Staat besorgt werden, irgendetwas (zu recht) zu kritisieren gibt (wie problematische Entscheidungen von Jugendämtern), dann ist die Ursache schnell benannt. Weil der Staat es tut, folgen die Probleme. Ein freier Markt dagegen ist die Lösung für alles und die ist wohlgemerkt: die bestmögliche!

Wenn der Staat erst einmal abgeschafft ist, organisieren interessierte Bürger selbstständig alle ihre Belange und für die Einhaltung und Sicherung ihrer Eigentumsrechte sorgen sie selbst und das natürlich alles freiwillig, ohne dass ihnen jemand ihre Eigentumsrechte streitig machen will: Mit andren Worten, ist der Staat abgeschafft, garantieren interessierte Bürger, oder wie man die Leute eher nennen müsste: Privatmilizen, die Einhaltung der Rechtsordnung, die natürlich, je nach Region und Privatmiliz, eine andere sein kann.

Damit wird bereits deutlich, dass bereits aus logischen Gründen eine staatenlose Marktgesellschaft nicht geben kann, denn welche Funktion erfüllen sonst private Sicherheitsdienste, wenn nicht vor allem die, das Privateigentum zu schützen? Sie erfüllen also de facto staatliche Aufgaben. Wird der Staat privatisiert, so tauchen seine Funktionen als Outgesourcte, eben als Nichtabgeschaffte, in Surrogatsform wieder auf!6

Rothbard skizziert zwar die vielen Repressionen, wie sie vom Staat ausgehen (können), merkt aber an keiner Stelle, dass seine Vision von einem totalen Markt (mitsamt den tatsächlichen Staatssurrogaten) ebenso in die Knechtschaft führen würde, zumal er grundsätzlich nicht versteht, was ein Staat überhaupt ist und was seine Funktionen darstellen; für ihn ist ein Staat kaum mehr als eine sich hochgeputschte Räuberbande, die „freien Bürgern“ unsinnige Verbote auferlegt und sie ausplündert. Im Grunde genommen gibt es für Rothbard zwischen einer Gang oder einer Mafia und dem Staat nur einen quantitativen Unterschied. Nicht unähnlich sahen es auch viele Anarchisten/innen, so exemplarisch Bakunin: „Wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, daß sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können. In dem Sinne sind wir wirklich Anarchisten.“7

Auch wenn Rothbards Ambitionen einer Staatsabschaffung nicht den Erfahrungen erodierender Staatlichkeit entspringen, sondern einer ideologisch verzehrten Wahrnehmung des Staates und seiner Funktionen, ist der Gedanke eines „Staates als Räuberbande“ doch in Hinblick auf gegenwärtige Prozesse weiter zu verfolgen und zu entfalten.

Nun stimmt es zwar, dass, wenn von „failed states“ die Rede ist, diese in der Tat einem kaum als mehr erscheinen als Verbrecherbanden und als miteinander konkurrierende und sich bekämpfende Rackets, die den Staat und die Gesellschaft (oder was davon übrig ist) für ihre Clique und ihr Klientel ausplündern. Allerdings ist das eine sehr spezielle Situation und kaum gleichzusetzen mit Staatlichkeit als solcher, wie sie in Zeiten der Akkumulation und der Prosperität in Erscheinung tritt. Vielmehr ist ein Staat als Ansammlung von Privatmilizen, Rackets und Korruption als Normalmodus staatlichen Geschäftes, also das Regelwerden der Regelwidrigkeit, ein Zerfallsprodukt staatlicher Souveränität selbst. Ein zerfallender Staat, der seiner Souveränität verlustig geht, wird sich keineswegs dem angleichen, was Anarchokapitalisten gern verwirklicht hätten. Besteht der Staat nur noch aus seinen Surrogaten, kann in Konsequenz eben nicht mehr von einer funktionierenden „Marktwirtschaft“ die Rede sein. Ebenso wenig von einer „rechtlichen Ordnung“. Es mag zwar sein, dass private Sicherheitsdienste tatsächlich „effizienter“ und kostengünstiger“ sind, wie es im entsprechenden Jargon heißt; aber was bedeutet das konkret? Es kann bedeuten, dass, um der Kriminalität, dem Diebstahl oder ähnlichem Herr zu werden, jene Privatmilizen sich ein Anklage- und Gerichtsverfahren (und erst recht juristische Fakultäten) einfach sparen und mutmaßliche (!) Kriminelle an Ort und Stelle in Stücke hacken und anschließend mit Benzin übergießen, wie es etwa in Nigeria üblich ist.8 Das kostet so gut wie nichts und ist schnell erledigt.

So kann geschlussfolgert werden: „Je schwächer der Staat, je weiter der Staatszerfall in einer Region voranschreitet, desto ausgeprägter die Tendenz, staatliche Interessen unter Zuhilfenahme von Milizen, Rackets und sonstigen Banden durchzusetzen.“9 Wobei entsprechende Milizen sich natürlich auch selbstständig formieren können, ohne dass der Staat sie bewusst mobilisiert, zur „Unterstützung“ seines erodierenden Gewaltapparates. Und das Resultat ist eben die nackte Barbarei!

Auf gewisse Weise setzt sich der Anarchokapitalismus unter den Bedingungen der finalen Krise von ganz alleine um, was aber nicht in einer freien Gesellschaft endet, in der alle glücklich, friedlich und selbstbestimmt sich selbst und ihre Waren tauschen, sondern, es endet in Chaos und molekularem Bürgerkrieg.

Rothbards Staatsbegriff, wie auch der vieler Anarchisten/innen legt nahe, dass es sich beim Staat mehr oder weniger um eine personelle Herrschaftsclique handelt, deren Herrschafts- und Gewaltapparat, der Gesellschaft oder „den Bürgern“ äußerlich aufgedrängt ist. Mit diesem Irrtum kann Rothbard glauben, dass der Staat abgeschafft werden könnte, unter Beibehaltung all jener gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse, die sich mit „Marktwirtschaft“ zusammenfassen ließen; wobei die Staatsfunktionen de facto outgesourct würden; sie sind vielleicht erodiert oder verwildert, aber wohl kaum abgeschafft.

Einem Verständnis von Herrschaft, das diese als eine rein äußerliche begreift, wie es auch problemlos bei vielen Linken bzw. Linksanarchisten/innen zu finden ist, ist aber grundsätzlich zu widersprechen. Herrschaft ist dagegen in einem viel umfassenderen Sinne zu verstehen, nämlich im Sinne einer Fetisch-Konstitution, die jene der Herrschaft unterworfenen Subjekte mitkonstituiert:

Manchen Positionen Rothbards würden, oberflächlich betrachtet, viele linksorientierte oder liberal eingestellte Leute durchaus zustimmen: So etwa der Abschaffung einer repressiven Drogenpolitik, d. h. der Zurückweisung einer Haltung, die einem vorschreibt, welches Bewusstsein ein erwachsener Mensch zu haben hat (sofern dabei andere nicht zu Schaden kommen) und wer mit wem einvernehmlich ins Bett steigt; also allesamt Handlungen, die der Kategorie „Verbrechen ohne Opfer“ zugeordnet werden können. Ist der Mensch Selbsteigentümer seines Körpers, lässt sich dadurch, nach Rothbard, der Konsum von Drogen, Abtreibung, die Verweigerung von Kriegsdienst usw. begründen. Doch Rothbard macht die Rechnung ohne den Wirt: Würden diese Positionen im Zusammenhang mit der ihm vorschwebenden totalen Marktgesellschaft gesehen werden, dann würde ein positiver, zustimmender Eindruck sich wohl doch nicht einstellen. Dieser wunderbare Selbsteigentümer des eigenen Körpers ist unter kapitalistischen Bedingungen aber ein bürgerliches Subjekt, das seinen Körper zu Markte tragen und sich als verwertungsfähiges Material, als Arbeitskraftbehälter bewähren muss. Was wäre das auch für ein Skandal, um Rothbards Ausführungen weiter zu denken, Anderen ihr Eigentum zu „rauben“ (durch Steuern), um jemandes Unterhalt zu finanzieren (eines Arbeitslosen etwa), statt dass dieser als Unternehmer seines Körpers, für sich selbst Sorge trägt und in logischer Konsequenz Rothbards Ausführungen zufolge „selbstbestimmt“ dazu angehalten ist, ihn womöglich samt seinem Inhalt auf dem Organmarkt feilzubieten!

In der anarchokapitalistischen Vision mögen die sozial atomisierten Menschen zwar scheinbar frei vom Staat sein (scheinbar deswegen, weil die Staatfunktionen etwa in Privatmilizen widererscheinen), aber sie sind definitiv nicht frei vom Markt; frei vom Verwertungsimperativ und vom Finanzierungsvorbehalt der eigenen Existenz. Das einzelne ach so freie Individuum, auf das sich Rothbard beruft, ist vielmehr anzusehen als formbestimmt durch das fetischistische Ganze (obgleich es darin nicht aufgeht) und eben als keines, dessen freie Entscheidungen tatsächlich frei sind. Die von Rothbard propagierte Freiheit ist nichts anderes als jene „Freiheit“, wie sie auch vom Neoliberalismus und dessen Schergen propagiert wird, etwa dann, wenn vom Menschen „als Unternehmer seiner Arbeitskraft“ die Rede ist.11 Der Anarchokapitalismus ist daher in der Tat verstehbar als ein radikalisierter Neoliberalismus; als eine Zuspitzung neoliberal bezeichneter Ideologeme. Es ist also kein Zufall, dass anarchokapitalistische Positionen nach Ende des fordistischen Booms auftauchten (wie die Rothbards) und eine gewisse Resonanz erhielten (bis zur Gründung der Libertarian Party und des Cato Instituts in den 70er Jahren, in denen dieses Gedankengut m. E. Einzug erhielt).

Vom neoliberalen Marktradikalismus zum Staat als Start-Up-Unternehmen

Über einen neoliberalen Marktradikalismus hinausgehend, der die Rolle des Staates minimieren wollte, jedenfalls der Intention nach (!), lässt sich der Anarchokapitalismus, wie schon angedeutet, als seine Radikalisierung oder als seine konsequente Zuspitzung verstehen. Da sich die Heilsversprechungen des Neoliberalismus offensichtlich nicht erfüllt haben, oder da die tatsächlich durchgeführten Maßnahmen ihnen nicht weit genug gingen bzw. nicht der Lehre entsprechend genug umgesetzt worden seien, reagierten seine Adepten mit noch mehr Realitätsverleugnung und suchten die Ursache allen Übels im Staat: In dem Sinne, dass unterstellt wird, der Staat würde alle seine Aufgaben „ineffizient“ und mit „zu hohen Kosten“ bewerkstelligen und die Lösung für alle Probleme wären mehr oder weniger Privatisierungen und ein (weiterer) Rückzug des Staates. Die Grundproblematik positivistischer bzw. oberflächlicher Staats- oder Marktkritik ist die, dass die Polarität beider und fetischistische Bezogenheit aufeinander nicht zur Kenntnis genommen wird. So wird jeweils der andere Pol in der Kritik positiv besetzt und beide Pole werden in ihrer Logik und ihrer Verbundenheit nicht wirklich verstanden.

Diese Radikalisierung lässt sich exemplarisch an den Friedmans verdeutlichen. Milton Friedman konnte noch als ein „Nachtwächterstaatsliberaler“ gelten (genauer gesagt, war er ein Vertreter des Monetarismus12) und wird neben Hayek als einer der „Chef-Ideologen“ des Neoliberalismus angesehen. Dieser schrieb erfreulich offen, dass die einzige soziale Verantwortung, die die Unternehmen haben, genau darin bestehe, einen möglichst großen Gewinn zu erwirtschaften.13 Das ist zwar nicht der eigentliche Skandal, wie viele folgern würden, sondern der, dass so ein Verhalten immanent in der Tat sehr rational ist und nicht aus einer unsozialen Ader folgt, sondern der absurden Verwertungslogik des Kapitalismus entspringt.

Sein Sohn David Friedman dagegen galt bereits als ein Anarchokapitalist, der meinte, alle Aufgaben des Staates ließen sich in zwei Kategorien einteilen: nämlich jene, die heute schon privatisiert und jene, von denen gehofft werden kann, dass sie morgen privatisiert werden könnten, darunter natürlich explizit alle „Nachtwächterstaataufgaben“ (Polizei und Justiz). Es gebe nach Friedman keine dem Staat angemessene Funktion, die seine Existenz rechtfertigen könnte. Der Staat sei letztendlich überflüssig und der Markt sei sowieso effizienter und kostengünstiger. Damit begründet David Friedman seinen Anarchismus.14

Gesetze, Recht und Justizwesen sind für ihn demnach nichts anderes als Waren, wie jede andere auch: „Wer würde in einer solchen anarchistischen Gesellschaft die Gesetze machen? Auf welcher Grundlage würde der private Schlichter entscheiden, welche Handlungen kriminell sind und mit welchen Strafen sie bedroht werden? Die Antwort ist, dass Gesetzessysteme produziert würden für den Gewinn am Markt, wie heute Bücher und BHs produziert werden. Es könnte einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Marken von Gesetzen geben, so wie es heute Wettbewerb zwischen verschiedenen Automarken gibt.“15

Dass David Friedman Kategorien wie Recht und Justizwesen thematisiert, zeigt aber, dass er als Anarchist bzw. Anarchokapitalist von staatlichen Funktionen dennoch nicht absehen kann. Somit ergibt sich die Situation, entgegen dem Anspruch Friedmans, den Staat und seine Funktionen nicht negieren zu können, weil zugleich der Markt, die Warenform usw. affirmiert werden. Wie beide, der Markt und der Staat, funktional aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind, kommt ihm daher nicht in den Blick.

Ähnlich verhält es sich auch bei Patri Friedman, Milton Friedmans Enkel, wobei er noch weiter geht als David Friedman, indem er die Gründung von künstlichen Inselstaaten propagiert. Diese Inselstaaten sollen als experimentelle Start-Up-Unternehmen (!) fungieren: „Das Staatssystem ist eine Technologie – und es gibt in diesem Sektor überhaupt keine Start-Ups. Wir möchten den Menschen ermöglichen, mit Staatsformen zu experimentieren und so Fortschritt ermöglichen.“16

Bestehenden Gesellschaften gesteht Patri Friedman aber keine Veränderungsmöglichkeiten zu, da zwischen den Staaten kaum Wettbewerb herrsche. Patri Friedman möchte dem abhelfen durch den Bau von Inselstaaten, die am Ende so groß wie Hong Kong sein sollen. Diese experimentellen Inselstaaten können inhaltlich und recht beliebig verfasst sein, solange die Menschen auf der jeweiligen Insel damit einverstanden sind; so sollte es unbedingt auch Inseln für Faschisten geben! Auch Kannibalismusinseln (!) sind für ihn kein Problem: „Wenn es unter Erwachsenen aus freier Übereinstimmung zum Kannibalismus kommt, habe ich überhaupt kein Problem damit.“ Darüber hinaus sollten diese Schwimmgesellschaften selber entscheiden, welche Menschenrechte in ihnen gelten sollen, denn „[w]enn wir den Staaten vorschreiben würden, an welche Menschenrechte sie sich zu halten haben, wäre das Experiment sinnlos.“17

Patri Friedman kann sich also jede erdenkliche Gesellschaft vorstellen, selbst mit kannibalistischen hat er keine Probleme, sofern alles nur in „Selbstbestimmung“ geschehe; nur eine, die nicht mehr auf Geld, Waren, Arbeit, Staatsform usw. basiert, liegt außerhalb seines Horizonts.

Was ist also davon zu halten? Ist es mehr eine Art literarischer Exzess, wie die Schriften eines Marquis de Sade oder doch ideologischer Ausdruck anstehender Staatszerfallsprozesse in den kapitalistischen Kernstaaten selbst?

Die anarchokapitalistischen Thesen lassen sich meines Erachtens nach durchaus dahingehend begreifen, dass diese einen Staatszerfall „theoretisch“ legitimieren (auch wenn es ihren Vertretern nicht klar sein mag) und in aller Ignoranz eine (angeblich) staatsfreie Marktgesellschaft als eine freie imaginieren. Allerdings ist eine solche schon logisch nicht möglich und wird wohl eher auf Bandenherrschaft und molekularen Bürgerkrieg hinauslaufen (das schließt Bandenherrschaft „höherer Ordnung“, wie der von Drogenkartellen nicht aus), als dass sich damit irgendetwas Erstrebenswertes verwirklichen ließe. So sind verschiedene mögliche Verlaufsformen eines Staatszerfalls möglich. Eine davon bestände beispielweise darin, dass wohlhabende Regionen sich vom meist maroden Rest des Landes abkoppeln würden, z. B. durch das Ausrufen von „privaten Städten“. Diese Idee einer Schaffung von solchen „freien Privatstädten“, von der an verschiedenen Stellen bereits die Rede ist, ähnelt Patri Friedmans Konzept von schwimmenden Kleinstaaten und wird in der Tat von verschiedenen Rechtslibertären mit Deutlichkeit vertreten.18 Eine geringfügig andere Möglichkeit besteht darin, dass bestimmte Regionen gewissermaßen zu Sonderwirtschaftszonen des Staates erklärt werden, mit eigener Rechtsprechung und eigenen Sicherheitskräften. So erlaubte beispielsweise Honduras privaten Investoren die Gründung und den Bau von privaten Stadtstaaten, also den Bau von komplett neuen Städten, weil der Staat in seinen eigenen Städten der Kriminalität nicht mehr Herr wird (!), wohl in der naiven Annahme, die Kriminalität und Korruption würde nicht folgen (diese Hoffnung hat sich natürlich nicht erfüllt). Das klingt in der Tat nach einem letzten Versuch der Regierung, „Normalität und Sicherheit zu schaffen“, sowie nach einer „Kapitulation vor dem eigenen Gesetz.“19 Dankt der Staat ab, aufgrund seiner faktischen Ohnmacht, für „Sicherheit“ sorgen zu können, zieht sich der Staat zurück, bleibt eben nicht eine freie Gesellschaft freier Menschen zurück, sondern die gesellschaftlichen Formen überleben in zombieartigen Surrogaten und das Resultat ist eben nichts Anderes als Barbarei!

Anarchismus als Anachronismus

Linksanarchistische Kreise würden es in der Regel vehement zurückweisen in einer Reihe mit dem Anarchokapitalismus genannt zu werden. Nun mag eine unmittelbare Gleichsetzung in der Tat nicht gerechtfertigt zu sein, lehnen erstere doch einen Radikalkapitalismus ihrem eigenen Anspruch nach ab. Das betrifft vor allem jene Agitierenden, die sich im „gewaltfreien Widerstand“ gegen Atomkraft, gegen Militarismus usw. engagieren (wobei sie sich in ihrer Agitation problemlos auch auf Rothbard berufen könnten). Weiterhin haben linksanarchistische Kreise immerhin einen Anspruch an Solidarität (jedenfalls wird das immer gern behauptet), was vom Anarchokapitalismus und seinen Adepten, für die das famose Privateigentum einen gottgleichen Status hat, kaum behauptet werden kann.

Das Entscheidende ist allerdings, ob diese Zurückweisung und eine Abgrenzung vom Anarchokapitalismus20 auch theoretisch begründet werden kann.

Mit einem solchen Begründungsanspruch ist es aber schon schwierig, da einigen Kritiken zufolge, meines Erachtens nach zurecht, der Anarchismus schwerwiegende theoretische Defizite aufweist.21 Insbesondere beharren große Teile der Anarchisten/innen nach wie vor auf ihrer Kerninkompetenz, nämlich von Ökonomiekritik im marxschen Sinne keinen blassen Schimmer zu haben. Das zeigt sich u. a. daran, dass Marx in der Regel mit Marxismus gleichgesetzt wird, was darin seine Ursache hat, dass die Ergebnisse der Neuen Marxlektüre und der Wertkritik etwa nicht zur Kenntnis genommen werden. Der „esoterische“ Marx bleibt folglich den Linksanarchisten/innen ein Buch mit sieben Siegeln (bzw. ein Buch, von dessen Existenz sie nicht einmal etwas ahnen). Eine fundamentale Infragestellung des Kapitalismus, die über eine androzentrische Wertkritik hinausgeht, wie sie die Wert-Abspaltungskritik vertritt, wird von linksanarchistischen Kreisen erst recht nicht rezipiert.22

Meist haben Linksanarchisten/innen auch keine Berührungsängste mit Gesellianern und Zinskritikern (wie mit Gerhard Senft), was über das Verständnis anarchistischer „Ökonomiekritik“ einiges aussagt.

Ein begriffsloses Nichtverständnis von Ökonomie ist aber nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen Linksanarchismus und Anarchokapitalismus. So beruft sich der sog. Individualanarchismus gerne auf Max Stirner. Rothbard wurde neben der Österreichischen Schule auch u. a. von Benjamin Tucker geprägt, der wiederum ein Anhänger Stirners war. Somit ist es nicht verwunderlich, aufgrund gemeinsamer historischer Wurzeln, dass beide, der Linksanarchismus (jedenfalls Teile davon) und der Anarchokapitalismus, sich emphatisch auf das bürgerliche (Markt)subjekt beziehen können. Schon erklärungsbedürftig, warum dieser Spur nicht systematisch nachgegangen wird. Es reicht eben nicht zu behaupten, der Anarchokapitalismus habe mit dem klassischen Anarchismus nicht das Geringste zu tun, wie Senft es anführt (vgl. Fußnote 20). Von einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kann in linksanarchistischen Kreisen daher kaum die Rede sein.23 Sofern sich entsprechende Szeneblätter mit anarchistischer Geschichte befassen, dann mehr im Sinne einer Nostalgie, einer Komplettierung einer anarchistischen Hagiographie. Die Folge ist eine gewisse inhaltliche Beliebigkeit.24 Anarchismus ist halt für viele mehr ein „Lebensgefühl“ als ein theoretisch begründeter Standpunkt.

Nicht nur die vollkommen unbrauchbare Ökonomiekritik ist ein entscheidendes Hindernis für einen theoretischen Anspruch, der diesen Namen verdienen würde, sondern ebenso eine „begriffslose Staatskritik“ (Robert Kurz), die in anarchistischen Kreisen gang und gäbe ist, die der anarchokapitalistischen gar nicht so unähnlich ist.25 Eine Kritik der fetischistischen Prozessdynamik, ein theoretisches Erfassen der gesellschaftlichen Synthesis, eine grundsätzliche Infragestellung der bürgerlichen Subjektform, ist mit dem Anarchismus daher grundsätzlich nicht zu haben. Das ist die theoretische Schnittmenge und gegenseitige Anschlussfähigkeit zwischen Linksanarchismus und Anarchokapitalismus.26

Würden Linksanarchisten/innen, allerdings unter den Bedingungen der Krise und inneren Schranke, Gelegenheit bekommen ihre üblichen genossenschaftlichen Konzepte Wirklichkeit werden zu lassen, würde wohl kaum mehr dabei herauskommen als kleinbürgerlicher lokaler Tauschhandel mit entsprechender Lokalwährung. Das betrifft vor allem die Anteile des Anarchismus, die sich auf Silvio Gesell beziehen. Zwar sind es nicht viele, die organisiert auftreten, aber ihre Wirkung und die Rezeption ihres Gedankengutes reicht weit über ihre Kreise hinaus. So findet es sich etwa bei Attac, der „Postwachstumsbewegung“ u. a.28 Die Brutalität solcher Entwürfe würde dann deutlich werden, wenn solche angeblich „selbstbestimmten“ und „herrschafts- und hierarchiefreien“ Lokalzusammenhänge in Zeiten von Staatskrise und Inflation angegangen würden. Lokalgeld, wie es von den Gesellianern angestrebt wird, hätte den Effekt „Nachfrage von entfernten Anbietern zu örtlichen umzulenken.“ Daraus folgt, „[e]ine generelle Einführung von Lokalgeldern (wie es manche Fraktionen der ‚Geldkritiker’ fordern) liefe deshalb auf ein Zurückdrehen des Vergesellschaftungsprozesses hinaus, was seit jeher eine heimliche Sehnsucht vieler vom Kapitalismus gebeutelter Kleinbürger ist.“29 (Hervorheb. TM). Ein Zurückdrehen des Vergesellschaftungsprozesses würde auch das praktische Resultat sein, würde eine Verwirklichung des Anarchokapitalismus angegangen werden; insbesondere, was die vollständige Privatisierung von Polizei und Justiz betrifft.

Unter den Bedingungen der Krise wäre Gesellianismus oder Vergleichbares ein möglicher Modus der Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln (und eben kein Weg aus dem Kapitalismus hinaus) und, wie es nicht anders zu erwarten wäre, von einem krisengeschüttelten kleinbürgerlichen Standpunkt, anknüpfungsfähig an antisemitische Argumentationsmuster.30

Des Weiteren könnte sich aus informellen Herrschaftsstrukturen, wie sie heute in linken (oder anarchistischen) Zusammenhängen durchaus existieren, wie sie in einer „political correctness“ und in so genannten „Awareness-Teams“ usw. sichtbar werden können, etwas entwickeln, das sich von privaten Sicherheitsdiensten, anarchokapitalistischen Milizen o. ä. wohl kaum unterscheiden ließe (wenn auch nicht unbedingt im Sinne von nigerianischen Machetenmilizen, s. o., aber wer weiß-).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Linksanarchismus auf einer theoretischen Ebene mit dem Anarchokapitalismus doch mehr gemeinsam hat, als es ihm lieb ist. Aus dieser Gemeinsamkeit könnte sich unter den Bedingungen der Krise, mehr oder weniger, eine praktische Konvergenz ergeben. Warum auch nicht?! Schließlich haben Antiimperialisten auch kein Problem damit, mit Islamisten und anderen Antisemiten mit den entsprechenden Parolen gegen Israel zu marschieren (so wie bei den „Pro-Gaza-Demos“ 2014). Natürlich muss es nicht dazu kommen, nur müssten sich Linksanarchisten/innen dann aber radikal infrage stellen, anstatt gleich rumzuheulen, wenn ihnen gegenüber Kritik formuliert wird (vgl. Fußnote 1 und 24).





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