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Kommentar von Herbert Böttcher und der Redaktion zur Corona-Debatte innerhalb von exit


Vorbemerkung:

Auf dem exit-Seminar 2021 fand eine Podiumsdiskussion zu Corona statt.1 Die Redaktion von exit hat damals schon betont, dass im exit-Umfeld bzw. -Zusammenhang nicht über jeden Punkt Einigkeit herrscht. Wir haben verschiedene Standpunkte auf der Homepage dokumentiert. Die Diskussion wurde fortgesetzt und weitergeführt.2 Allerdings haben wir nicht alle Beiträge veröffentlicht. Wir dokumentieren hiermit den (bisher internen) ‚Ablehnungsbescheid‘ zweier Texte (die der Redaktion im Winter 2021/22 zugesandt wurden), die uns teilweise hochproblematisch erschienen, die nun anderswo im Internet veröffentlicht wurden und nicht mit der Wert-Abspaltungskritik bzw. mit exit identifiziert werden sollten. Der Text von Andreas Urban und F. Alexander von Uhnrast ist dabei eine Ausformulierung und Konkretisierung des Beitrages auf der Podiumsdiskussion (dieser Podiumsbeitrag gab in Brasilien bei einigen Anlass, exit rechte Positionen vorzuwerfen).

Die Redaktion von exit hat die Texte „Corona als Krisensymptom?“ (Andreas Urban u. F. Alexander von Uhnrast) sowie „Haben Sie ‚Gesundheitsdiktatur‘ gesagt?“ (Anselm Jappe) auf der exit-Hompage nicht veröffentlicht. Die wesentlichen Gründe für diese Entscheidung seien kurz benannt:

1. Beide Texte kritisieren die Corona-Politik bzw. die Durchsetzung einer Impfpflicht, ohne dem Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Fetischverhältnisse bzw. der Verrücktheit der gesellschaftlichen Form und ihrer Bewegung in sich zuspitzenden Krisensituationen ebenso wie unterschiedlichen Ebenen der Vermittlung hinreichend Rechnung zu tragen. Der Text von Urban und Uhnrast betont zwar, dass hinter der Corona-Krise kein Masterplan stecke (S. 50). Der Duktus der Argumentation gegen die Corona-Politik läuft dennoch darauf hinaus, dass auf einen zielgerichteten Willen der politischen Akteure rekurriert und ihr Handeln aus Interessenkonstellationen (z.B. mit Blick auf die Pharmaindustrie, oder auch die gezielte Durchsetzung autoritärer Herrschaft) gedeutet wird. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass vermeintlicher politischer Wille und vermeintliche Interessenkonstellationen immer schon eingebunden sind in die Irrationalität der politischen Form und ihrer destruktiven Energie bzw. damit vermittelt. Hinter dem Rekurs auf politischen Willen und Interessenstandpunkt verschwindet die Konstitution der gesellschaftlichen Fetischverhältnisse als abstrakter Herrschaft bzw. es kommt, wenn sie angesprochen wird, zu einer unvermittelten Addition beider Ebenen. Dass Interessen eine Rolle spielen, ist damit natürlich nicht negiert. Sie können jedoch nicht zur Grundlage der Analyse gemacht werden. Sie müssen vielmehr im Zusammenhang des Ganzen der Fetischverhältnisse analysiert und darin deren Grenzen sichtbar gemacht werden. Ebenso wenig ist geleugnet, dass es gewisse Handlungsspielräume der Politik gibt. Ansonsten wären die Politik, aber auch Subjekt und Individuen strikt fetischdeterminiert. Handlungsspielräume gibt es, aber nur innerhalb der vom Fetischzusammenhang gesetzten Grenzen.

Weil die abstrakte Ebene der Fetischkonstitution samt der Irrationalität ihres abstrakten Selbstzwecks, die mit den sich zuspitzenden Krisen mehr und mehr ins Leere läuft, nur verbal oder additiv zur Geltung gebracht wird, erscheint das politische Agieren als zielgerichtet und kann nicht in seinen immer schnelleren Schwankungen, im Hinblick auf Corona in seinem wirren Hin und Her zwischen halbherzigem Lockdown und Lockerungen, gesehen werden, in denen sich gerade die Grenzen eines kohärenten politischen Agierens widerspiegeln. Ähnliches ist im Hinblick auf die Medien zu sagen. Hier ist keine manipulative Gleichschaltung zu registrieren, sondern eine Berichterstattung, in der unterschiedliche Postionen durchaus berücksichtigt werden – nicht aus ‚Liebe zur Wahrheit‘, sondern weil solche Unterschiedlichkeit zur Marktförmigkeit der Medien gehört. (Solche Schwankungen waren sogar bei der Bild-Zeitung zu erkennen, die sich ansonsten eindimensional als Stimme der „Freiheit“ inszenierte.) In Anselm Jappes Text wird die angesprochene Problematik auf die Impfpflicht fokussiert. Auch hier steht besagte Ziel- und Interssengeleitetheit im Vordergrund. Die Rede ist von Wissenschaft und Demokratie, die „fast immer im Dienst von Kapital und Staat“ standen (S. 2), von „Gehirnwäsche“ und „Dämonisierung aller abweichenden Stimmen“ (S. 4).

2. Problematisch ist zudem der eingenommene ‚Standpunkt‘ des bürgerlichen Subjekts in seiner durch die Corona-Maßnahmen bedrohten Freiheit. Auch hier wäre es wichtig, dieses Subjekt im Zusammenhang seiner Bindung an die ‚Normalität‘ und ‚Normativität‘ der Fetischverhältnisse sowie im Zusammenhang der Krisenverhältnisse samt der eskalierenden sozialen Disparitäten mit unterschiedlichem Schutz vor Corona-Risiken und mit den ‚Maßnahmen‘ sowie den damit verbundenen psycho-sozialen Dynamiken und Problemlagen zu sehen. Der unvermittelte Standpunkt des bürgerlichen Subjekts kann zudem den ‚Ausnahmezustand‘ (fast) nur in seiner repressiven Bedeutung für dieses Subjekt verstehen. Nicht in den Blick kommen der sich gerade in der Corona-Krise noch einmal verschärfte ‚Ausnahmezustand‘ gegenüber Fliehenden und anderen sog. Überflüssigen ebenso wenig wie die durchgesetzten Einschränkungen des Demonstrationsrechts. Anselm Jappe versteigt sich sogar in Formulierungen wie denen von der „schwerwiegendsten Einschränkung der Freiheiten seit 1945“ (S. 1).

3. Grundlage des Wiener Textes ist die Bewertung von Statistiken. Fast die Hälfte des Textes nimmt diese Auseinandersetzung ein. Zwar wird zugestanden, dass mit Statistiken die Gefahr verbunden sei, Menschen zu Nummern zu machen und ihr qualitatives Leiden gegenüber Quantifizierungen zum Verschwinden zu bringen. Dennoch bleibt die qualitative Dimension dessen, was Menschen unter Corona zu erleiden haben, eine vernachlässigbare Größe. Mehr noch, die Gefährlichkeit des Virus bis hin zur Tödlichkeit wird regelrecht klein gerechnet. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang auch der positive Bezug auf Ivan Illich und eine angebliche Verdrängung des Todes (S. 47f.). Dies kann durchaus sozialdarwinistisch gewendet werden, was auch getan wurde, da an manchen Stellen konstatiert wurde, dass an Corona meist ‚nur‘ alte Menschen starben, die ‚ohnehin bald gestorben wären‘. Hinsichtlich der Statistiken wird zwar eingeräumt, dass alle Statistiken in ihrer Aussagekraft problematisch sind. Gegenüber der Verwendung der eigenen Daten scheint es keine Zweifel zu geben. Sie gelten als ‚evidenzbasiert‘.

4. In der aktuellen Diskussion um Corona bringt der unvermittelte Rekurs auf Wille und Interesse eine offene Flanke zu Coronaleugnern und Verschwörungsphantasien mit sich. Die offene Flanke soll lediglich mit der Beteuerung abgesichert werden, man habe damit nichts zu tun. Diese Beteuerung wird zugleich mit dem allgemein und vage bleibenden Verdacht verbunden, die Rede von Verschwörungswahn diene der Abwehr unbequemer Kritik an autoritären Maßnahmen und sei Ausdruck des Konformismus mit dem angepassten gesellschaftlichen Mainstream. Dabei erinnern Beteuerungen, doch nicht zu den Verschwörungs‘theoretikern‘ zu gehören an Stereotype wie ‚Ich bin kein Rassist, Sexist, Antisemit…, aber...‘ In der offenen und zugleich geleugneten Flanke gegenüber Verschwörungsphantasien dürfte sich das Bedürfnis Ausdruck verschaffen, den eigenen kleinbürgerlichen Sehnsüchten nach Überschau- und Handhabbarkeit der sich chaotisierenden Krisenverhältnisse Raum zu geben.

Über eine solch offene Flanke hinaus wird behauptet, es gebe durchaus sachliche Überschneidungen zur Querderkerszenerie und etwas Richtiges könne doch nicht dadurch falsch sein, dass es zufällige Übereinstimmungen mit ‚Querdenkern‘ gebe. Auch hier zeigt sich wieder das Problem der Abstraktion von der Ebene der Fetischverhältnisse und die Regression in die falsche Unmittelbarkeit von Willen, Interesse, Praxis... Für die Frage nach der Wahrheit einer Aussage ist aber ihr Zusammenhang mit der Gesamtheit eines Denkens konstitutiv. Falsche Unmittelbarkeit und die Ignoranz gegenüber der Notwendigkeit, auf das Ganze der Fetischverhältnisse auszugreifen, bereitet zudem ‚recht unmittelbar‘ den Weg für Antisemitismus. Im Blick auf die ‚Denke‘ von exit! jedenfalls ist die Markierung der Grenze zu Querdenkertum, Verschwörungswahn und den darin implizierten Antisemitismus unverzichtbar. Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen blieb er nicht mehr implizit, sondern trat offen zu Tage. Der antisemitische Topos der Weltverschwörung wurde auf die Corona-Situation hin reaktiviert. Er konnte an der Vorstellung anknüpfen, dass eine geheime Elite das Virus in die Welt gesetzt habe. Die Darstellung von Juden als Tätern hindert GegnerInnen der Corona-Politik freilich nicht daran, sich auf perverse Weise mit Juden als Opfern zu identifizieren, was zugleich das verharmlost, was Juden an Repression und Vernichtung zu erleiden hatten. Im Hinblick auf die ‚Denke‘ von exit! kann dies nicht gleichsam als Betriebsunfall abgetan, still schweigend ignoriert oder nur am Rande vermerkt werden. Für exit! ist die Markierung der Grenze zu Querdenkertum, Verschwörungswahn und dem darin implizierten und manifesten Antisemitismus unverzichtbar.

5. Damit ist die Corona-Diskussion keineswegs abgeschlossen. Zu beenden ist sie aber in der Art und Weise, in der sie sich in den für die Veröffentlichung abgelehnten Texten darstellt. Dass sie uns weiter begleiten wird, ist schon der Tatsache geschuldet, dass die politisch-ökonomischen Auswirkungen von Corona selbst dann nicht verschwunden wären, wenn es gelänge, das Virus zu bändigen. Und zudem: Unabhängig davon, ob Corona sich von einem Labor oder aus einer Zoonose verbreitet hat, wäre der Zusammenhang zwischen dem Ausbruch von Viren und agrarindustrieller Produktion von Nahrungsmitteln mit extensiver Tierhaltung ein Thema, dem Aufmerksamkeit zu widmen wäre – auch mit Blick auf künftige Impfstrategien, autoritäre Gesundheitspolitik und allgemein repressive Maßnahmen zur Stärkung von ‚Resilienz‘ als Vorsorge dafür, dass alles so weitergehen kann, dass also alles so „normal“ bleibe bzw. wieder ‚normal‘ werde, wie es der ‚bürgerliche Spießer‘ gewohnt ist. Zur weiteren Auseinandersetzung mit Corona und seinen Zusammenhängen gehört auch eine Kritik der verrohenden Mittelschichten3, d. h. des Extremismus der Mitte, der sich nicht allein bei Verschwörungsideologen findet, sondern auch bei Befürwortern einer autoritären Gesundheitspolitik worauf im Übrigen in auf der Homepage veröffentlichten Texten hingewiesen wird.

Entscheidend in all dem ist es, die Kritik der Wert-Abspaltung nicht der Regression in die in der Krise immer wieder neu ‚aufblühenden‘ Paradigmata von ‚Klasse‘, ‚Wille‘, ‚Interesse‘, ‚Handlungsfähigkeit‘, ‚Vermittlung‘ zwecks Wahrnehmbarkeit... zu opfern. Gegenüber solchen Regressionen kommt es darauf an, „sich dem Grundprinzip der Wert-Abspaltung in all seiner Komplexität als einem historisch-dynamischen Prozess seit der frühen Neuzeit zu stellen, statt diese Komplexität in reduktionistischen Vereinfachungen und Verallgemeinerungen zu ersäufen, aus denen keine wirklich emanzipatorische ‚Praxisfähigkeit‘ resultieren kann“ (Roswitha Scholz, Die Rückkehr des Jorge, in: exit Nr. 3/2006, 157 – 175, 172).


Herbert Böttcher und die exit-Redaktion


  1. Vgl. https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=22&posnr=791.^

  2. Vgl. dazu: Herbert Böttcher: Vom Lockdown-Light über Impfung zum rechtssicheren Sterben in Freiheit – Beobachtungen zu Corona aus wertabspaltungskritischer Perspektive: https://exit-online.org/pdf/Corona%20%20Exit-Seminar_Netzversammlung_%20Heri_final.pdf sowie die Beiträge von Sandrine Aumercier, Frank Grohmann & der Gruppe Fetischkritik Karlsruhe: https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=17&posnr=796. Vgl. auch: Sandrine Aumercier, Clément Homs, Anselm Jappe & Gabriel Zacarias: Der große Lockdown des Kapitalismus – Der Triumph des Staates über die Wirtschaft? https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=38&posnr=638.^

  3. Vgl. dazu: Wilhelm Heitmeyer: Signaturen der Bedrohung I/II, Frankfurt 2018/20.^




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