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Dominic Kloos: Der Heilige Josef. Seine Verehrung und das arbeitsame Patriarchat der Neuzeit


Vorbemerkung

Exit und den Heiligen Josef zusammen zu bringen, mag auf den ersten Blick weit her geholt erscheinen. Es wird aber eine spannende Frage daraus, wenn seine sich herauskristallisierende und unterschiedlich profilierende Verehrung im Zusammenhang der Prozesse gesehen wird, in denen sich die Moderne durchsetzt. Dieser Zusammenhang ist eine mögliche Erklärung für die Karriere, die der Heilige Josef in diesen Zeiten gemacht hat. Fachmänner wie Rondet (1956, 22) wundern sich vor allem darüber, dass sie ab dem 15. Jh. „mit einem Schlag“ erfolgte.

Licht in dieses ‚Wunder‘ kommt, wenn der ‚Ausbruch‘ der Verehrung des Heiligen Josef aus der Perspektive der kulturell-symbolischen Ebene reflektiert wird, von der die Durchsetzung der Moderne begleitet ist. Dann werden Bilder des Heiligen Josef wie das des Arbeiters und des keuschen Familienvaters sowie die mit seiner Karriere verbundene Verdrängung der Heiligen Anna als begleitende Symbole in der Durchsetzung von Arbeit, Kleinfamilie und einem sich veränderndem Verhältnis der Geschlechter im Rahmen der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung erkennbar. Zugleich reflektiert sich in der Verehrung des Heiligen Josef die Rolle der Kirche in diesen Prozessen.


Zuerst erschienen in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hg.): Bruch mit der Form: Die Überwindung des Kapitalismus in Theorie und Praxis – Ein Dank an langjährige Vorstandsmitglieder und die Weiterführung des ‚Gesprächs‘ von Gesellschaftskritik und Theologie, Koblenz 2020, 384–422.

Der Heilige Josef

Seine Verehrung und das arbeitsame Patriarchat der Neuzeit

Dominic Kloos


„Ich kann in aller Ehrlichkeit sagen, dass ich es nicht verstehe, warum dass Institut für die Josephologie gegründet worden ist.“ (Karl Rahner: Im Gespräch, Bd. I: 1964-1977, hrsg. v. P. Imhof u. H. Biallowons, München, 1982, S. 44)

1. Einleitung

St. Josef in Koblenz ist ein prachtvoller neu-gotischer Bau aus den 1890er Jahren. Die Nähe zu meinem noch neuen Wohnort und ein Universitätsseminar zum Thema „Heilige“ sind die banalen Hintergründe, mich mit dem Patron dieser Kirche, dem Heiligen Josef, zu beschäftigen. Dass der Hl. Josef Patron dieser Kirche und Pfarrgemeinde wurde, ist dabei nicht zufällig, sondern hängt mit der Entstehungszeit des Kirchenbaus zusammen: In dieser Zeit wurden diesem Heiligen mehr Kirchen geweiht als irgendeinem anderen Heiligen (ausgenommen der Gottesmutter) und die ganze römisch-katholische Kirche unter seinen Schutz gestellt. Kein Wunder, mag man meinen, schließlich ist der Hl. Josef eine nicht gänzlich unbedeutende Person aus der Bibel.

Die Heiligenverehrungen gehen aber vermehrt erst ab dem 11. und 12. Jh. über die Apostel-, Märtyrer-, Bekenner- und Marienverehrung des ersten Jahrtausends hinaus. Bei dem Blick auf die Verehrung des Hl. Josef fällt auf, dass er sogar bis zum Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit eher im Hintergrund stand und lediglich im Zusammenhang mit der Heiligen Familie bzw. der Heiligen Sippe dargestellt wurde. Im Zusammenhang mit der Heiligen Familie und Sippe stehen dabei ab dem 13. Jh. zunächst vor allem Darstellungen der Anna Selbdritt mit der Hl. Anna, der jungen Gottesmutter Maria und dem Jesuskind im Zentrum: Josef tritt in dieser klassischen Darstellung gar nicht auf. Und auch in der Darstellung der Heiligen Sippe spielen die beiden Frauen mit dem Jesuskind die Hauptrollen, während die Männer – wie Josef, Joachim, Jakobus – im Hintergrund stehen (für Beispiele s. Anhang 1-3, online unter https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2020/06/Die-Verehrung-des-Heiligen-Josef-und-das-arbeitsame-Patriarchat-der-Neuzeit_final.pdf).

Dies irritiert insoweit als dass doch gemeinhin angenommen wird, dass Frauen – mit Ausnahme der jungfräulichen Maria – gerade im Mittelalter keine Rolle spielten und von männlicher Dominanz beherrscht wurden, während sie erst durch die und nach der Aufklärung, also in der Moderne, eine öffentliche und bedeutendere gesellschaftliche Rolle erhielten. Diese Irritation führte zur Fragestellung, wann die verstärkte Verehrung des Hl. Josefs die Hl. Anna ersetzte und warum? Damit stellt sich die Frage nach sozialhistorischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen: Was prägt Neuzeit und Moderne als Gesellschaftsform? Wie entstand historisch diese Prägung und wie ist die Verehrung des Hl. Josef damit verknüpft?

Ausgehend von der Frage nach Heiligkeit allgemein und nach der des Hl. Josefs im Besonderen, die sich in seiner biblisch-theologischen Bedeutung zeigt, soll die Josefsverehrung und ihre Ikonographie, skizziert und analysiert werden (primär auf Mitteleuropa bezogen). Dabei soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Verehrung des Hl. Josefs als Ziehvater Jesu und als Arbeiter als ein kulturell-symbolischer Ausdruck einer kritisch zu reflektierenden Moderne verstanden werden kann.

2. Der Hl. Josef und seine theologische Bedeutung

2.1 Was heißt heilig?

Im Blick auf die Verehrung von Heiligen stellt sich die Frage nach dem, was heilig bedeutet, was also einen Heiligen heilig macht. Die etymologische Herkunft des Wortes ist umstritten: Einerseits wird es mit dem englischen Wort „holy“, das von „whole“ und griechisch von „holos“ abstammen könnte und einen Bezug zum ‚Ganzen’ Gottes herstellt, der das Heil bringt, in Verbindung gebracht. Andererseits wird das hebräische Wort „kadosch“ und das griechische „hagios“ mit abgesondert/besonders und andersartig/ehrfüchtig übersetzt (vgl. Kutschera 2018; vgl. auch wikipedia 2020). Diese beiden etymologischen Grundlagen können mit Bezugnahme auf das Buch Levitikus zusammen gedacht werden. Darin heißt es: „Erweist euch als heilig und seid heilig, weil ich heilig bin“ (Lev 11,44). Im Zusammenhang mit dem sog. Heiligkeitsgesetz findet sich die Aufforderung: „Ihr sollt euch heiligen, um heilig zu sein; denn ich bin der Herr, euer Gott. Ihr sollt meine Satzungen bewahren und sie befolgen. Ich bin der Herr, der euch heiligt“ (Lev 20,7-8). Dass dies die Trennung von Götzen bedeutet, wird in Kapitel 26 deutlich: „Ihr sollt euch keine Götzen machen, euch weder ein Gottesbild noch ein Steinmal aufstellen [•], um euch vor ihnen niederzuwerfen; denn ich bin der Herr, euer Gott. Ihr sollt auf meine Sabbate achten und mein Heiligtum fürchten; ich bin der Herr“ (Lev 26,1-2).

Grundlage dafür ist die Befreiung aus Ägypten, in der Gott sich als Gott der Befreiung geoffenbart hat: „Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus dem Land der Ägypter herausgeführt hat, sodass ihr nicht mehr ihre Sklaven zu sein braucht. Ich habe eure Jochstangen zerbrochen und euch aufrecht gehen lassen“ (Lev 26, 13). Der heilige Gott und sein heiliges Volk gehören zusammen. Dies findet seinen Ausdruck in Weisungen, die darauf ausgerichtet sind, die Zusammengehörigkeit Gottes und seines Volkes zu schützen. Dies impliziert die Trennung von anderen Göttern bzw. Götzen sowie Lebensweisen im Umfeld des Volkes Israel. Weil Gott und sein Volk zusammen gehören, sollen alle Lebensbereiche, der Alltag sowie die Unterbrechung des Alltags am Sabbat geheiligt werden. Darin wird gesichert, dass Israel im Unterschied zu Völkern, die sich der Macht von Herrschaft und ihren Götzen unterwerfen, als durch Gott befreites und geheiligtes Volk leben kann. „Heiligkeit bedeutet also, ‚aufrecht zu gehen’, indem man vom Zwang befreit wird, fremden Göttern zu dienen“ (Kutschera 2018: 27). Auch das lateinische „sancire“ (Partizipialadjektiv „sanctus“) deutet darauf hin, dass heilig ist, was Gottes Gesetzen der Befreiung von Unterjochung entspricht, sie stärkt und gleichzeitig Götzen negiert, denn neben den bekannten Übersetzungen wie weihen und heiligen bedeutet es so viel wie bestätigen, bekräftigen, festsetzen, aber auch verbieten (vgl. Pons 1986: 924).

In der Teilhabe an der Heiligkeit Gottes ist die Heiligkeit der Kirche grundgelegt, die als ihr ältestes Attribut gilt. Das II. Vatikanische Konzil stellt sie mit der Dogmatischen Konstitution „Lumen Gentium“ (1964) in den Zusammenhang ihrer Beziehung zu Christus als ihrem Bräutigam: „Christus, der Sohn Gottes, der mit dem Vater und dem Geist als ‚allein Heiliger’ gepriesen wird, hat die Kirche als seine Braut geliebt und sich für sie hingegeben, um sie zu heiligen (vgl. Eph 5,25-26), er hat sie als seinen Leib mit sich verbunden und mit der Gabe des Heiligen Geistes reich beschenkt zur Ehre Gottes. Daher sind in der Kirche alle, mögen sie zur Hierarchie gehören oder von ihr geleitet werden, zur Heiligkeit berufen gemäß dem Apostelwort: ‚Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung’ (1 Thess 4,3; vgl. Eph 1,4). [Entsprechend] drückt sich [die Heiligkeit der Kirche, DK] vielgestaltig in den Einzelnen aus, die in ihrer Lebensgestaltung zur Vollkommenheit der Liebe in der Erbauung anderer streben“ (LG 39). Der Kirche als ganzer und all ihren Gliedern sollte also heilig sein, was Gott heilig ist. Sie steht für „die Berufung aller Menschen zur Teilnahme am Leben Gottes in Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Müller 2009: 1326). Das ‚Leben in Gerechtigkeit und Heiligkeit’ wäre biblisch wieder zurück zu beziehen auf die grundlegende Tat Gottes, die Befreiung seines Volkes aus der Knechtschaft Ägyptens und sein Versprechen, seinem befreiten Volk die Treue zu halten, das er mit seinem Namen gegeben hat. „Dann heißt den Namen Gottes heiligen: [•] insbesondere die Rechte der Schwächsten [•] erstreiten, festigen und erhalten. Heilig ist, ‚eine neue Erde, wo Gerechtigkeit wohnt’ (2 Petr 3,13) aufzubauen“ (Oosterhuis 2018: 166). Hierzu sind wir alle aufgerufen, wie Papst Franziskus, Lumen Gentium aktualisierend, in seinem Apostolischen Schreiben „Gaudete et Exsultate“ („Freut euch und jubelt. Über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute“) sehr deutlich formuliert: „Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe leben und im täglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an dem Platz, an dem er sich befindet“ (14).

Auf der Grundlage der Heiligkeit Gottes und der Teilhabe an ihr ist Heiligkeit an Gottes Transzendenz gebunden. Zum Ausdruck kommt sie im befreienden Überschreiten geschichtlicher Grenzen wie der Grenzen des Sklavenhauses in Ägypten ebenso wie im Überschreiten der Grenzen des Todes und damit von Raum und Zeit. Heiligkeit wäre also eine „doppelte Transzendierung“ (Herbert Böttcher). Sie verbindet sich mit einem kritischen Blick auf die Welt als Ganzes und will deren Grenzen des Unrechts und der Gewalt und darin ihre Götzen/Fetische von Herrschaft überschreiten. Dabei drückt sich die Hoffnung aus, dass Gott selbst am Ende die Geschichte als ganze überschreitet hin auf eine neue Schöpfung, in der die bereits Verstorbenen und die Lebenden, zunächst die Ärmsten und mit ihnen alle, von Unrecht und Gewalt, von Leid und Tod erlöst werden.

In diesen Zusammenhängen müsste auch die offizielle, kirchliche Heiligsprechung, die erstmals 993 stattfand und ab dem 12. Jh. nur noch von Päpsten vollzogen werden dürfte (vgl. Schmiedl 2018), gesehen werden. Dabei werden einzelne Mitglieder der Kirche heiliggesprochen, die in ihrem Leben exemplarisch bzw. in besonderer Weise die Heiligkeit gelebt haben, für die die Kirche als ganze steht und die sie nicht ihrer Selbstvollkommenheit, sondern der Gnade Gottes verdankt. Die Heiligkeit der Kirche hat ihren Grund in „Gottes Selbstmitteilung“ (Karl Rahner) an sein Volk, an Israel und die Kirche, die sich berufen weiß, den Weg des Messias Jesus aus Israel zu gehen. In ähnlicher Weise gilt das auch für die Heiligkeit Einzelner. Sie ist nicht Ergebnis moralischer Vollkommenheit, sondern Ausdruck der Gnade der Selbstmitteilung Gottes, die auch den Einzelnen als Gliedern des Volkes Gottes gilt und die in der Konkretheit ihres Lebens einen besonderen, von der Kirche als ganzer anerkannten Ausdruck findet.

2.2 Geschichte und theologisch-biblische Bedeutung des Hl. Josef

Der Begriff des Heiligen ist auch ‚Maßstab’ für Josef, den Ziehvater Jesu. In der Erläuterung der Geschichte und Bedeutung des Hl. Josef soll seine Heiligkeit deutlich werden.

Zum Leben des Hl. Josef begegnen lediglich ein paar Aspekte in den Evangelien. Bei Matthäus findet sich am meisten Material, vor allem die Träume des Josef im Zusammenhang der frühkindlichen Geschichte Jesu. Auch bei Lukas Kindheits- und Jugendgeschichte Jesu gibt es Anhaltspunkte. Markus und Johannes setzen mit ihren Jesusdarstellungen bei der Taufe an, sodass bei ihnen kaum Hinweise auf Josef vorkommen.

In den Evangelien nach Matthäus und Lukas wird Jesus über Genealogien in der Geschichte Israels sowie der Menschheit verortet. Das ‚Scharnier‘ dafür ist Josef, Jesu sog. Zieh- und Nährvater. Bei Matthäus wird seine Abstammung bis auf Abraham zurückgeführt. Zugleich gehört Josef zum Haus Davids (Mt 1,1-17). Lukas stellt in seinem Stammbaum Jesus als „Sohn Josefs“ (Lk 3,23) vor und reiht dessen Vorfahren auf, um sie schließlich auf Adam, den Stammvater der Menschheit, und darüber auf Gott zurückzuführen (Lk 3,23-38). Bei Lukas – der ja weder vom Traum des Josef vor Jesu Geburt einschließlich des Auftrags, dem Kind den Namen Jesus zu geben (Mt 1,18-24), noch von der unter Josefs Schutz nach Ägypten fliehenden Familie (Mt 2,13 ff.) erzählt – steht Maria als Bezugsperson Jesu im Vordergrund. Sie ist es auch, die dem Kind „den Namen Jesus geben“ (Lk 1,31) soll. Im Matthäusevangelium, dem ersten ‚Buch’ des Neuen Testaments, das nach Luise Schottroff (vgl. Schottroff 2019) und Frank Crüsemann (vgl. Crüsemann 2019) gewissermaßen als inhaltliches Vorzeichen des ganzen NT und als Bindeglied zwischen Altem und Neuem Testament fungiert, ist Jesu Stammbaum als Verwurzelung in der Befreiungsgeschichte Israels des AT zu lesen. Darin kommt Josef zumindest etwas stärker neben Maria zur Geltung. Dennoch macht Matthäus deutlich: Die biologische Nachkommenschaft, die „Linie des Blutes“ (Luise Schottroff) der biologischen Vaterschaft wird bei Jesu Genealogie gebrochen – durch Gottes Vaterschaft und seine Erwählung. Entscheidend ist Gottes Erwählung Israels wie sie sich in der Erwählung verschiedenster, auch ‚irregulärer’ Frauen und Männer (vgl. Schottroff 2019: 50-59) zeigt, mit deren Erwählung Israels Geschichte als Geschichte der Verheißung auf Befreiung und Gerechtigkeit hin immer wieder neu verbunden ist. „Während bei den vorher im Stammbaum erwähnten Erwählungen die Söhne immer noch leibliche Söhne, wenn auch oft nicht die Erstgeborenen waren, ist das bei Jesus anders. Sein leiblicher Vater ist nicht bekannt bzw. wird nicht genannt. Wenn es bei Jesus eine ‚Linie des Blutes’ gibt, dann nur über die Adoption eines unehelichen Kindes mit unklarer oder zweifelhafter Herkunft“ (Kessler 2019: 67). Hierin könnte auch ein Bruch mit der patriarchal-biologistischen Linie gesehen werden und von hierher auch der Name Josefs1 seine Bedeutung gewinnen: Jesus ist ihm hinzugefügt worden.

Die Geschichte des Hl. Josef beginnt bei Matthäus damit, dass er sich von Maria wegen ihrer Schwangerschaft („noch bevor sie zusammengekommen waren“, Mt 1,18) in aller Stille und ohne sie bloßzustellen trennen wollte. In dieser Situation nahm er im Traum die Weisung eines Engels an, Maria nicht zu verlassen. Josefs Bezeichnung als „Gerechter“ (Mt 1,19) und damit als toratreu ist entscheidend. Gerechtigkeit prägt seine soziale, nicht biologische, Vaterschaft. Dabei hätte Toratreue im gesetzlichen Sinne damals auch die Verstoßung Mariens – einhergehend mit Schande und Verarmung von Frau und Kind – bedeuten können. Josefs Gerechtigkeit ist aber nicht die eines patriarchalen Hausvaters. Die Auslegung der Tora ist eine (gesellschaftlich unangepasste und in klassisch jüdischer Tradition weiterentwickelte) Auslegung, die sich an Tamars und Davids Gerechtigkeit anlehnt (vgl. Voß 2019), die jeweils ‚gerechter’ waren als Juda (Gen 38,26) und Salomo (1 Sam 24,18). Die Interpretation der jeweiligen Situation und was die Erfüllung der Gesetze an Konsequenzen impliziert, ist entscheidend, nicht die unvermittelte Umsetzung einer abstrakten Norm. In diesem Sinne wird Josef als toratreu und damit als gerecht dargestellt.

Josefs Gerechtigkeit drückt sich aus im Gehorsam gegenüber Gott, der sich ihm durch Engel in Träumen offenbarte, und seinen Geboten, die in der agape, der Solidarität mit den Armen, Schwachen, Schutzbedürftigen und Marginalisierten, ihren Ausdruck finden. So gab auch Josef Maria, einer nicht von ihm schwangeren jungen Frau und ihrem Sohn Jesus ohne Murren Schutz und Solidarität. Bei Josef findet sich jenes Verständnis von Gerechtigkeit, das Matthäus in seinem Gerichtsgleichnis (Mt 25,31-40) – „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ – dargestellt hat (vgl. Langenfeld 1992).

Nach dem Lukasevangelium (Lk 2) ging Josef mit der schwangeren Maria wegen der Anordnung zur Volkszählung nach Bethlehem, wo Jesus geboren wurde. Über Josef, der „aus dem Haus und Geschlecht Davids“ (Lk 2,4) war, stellt auch Lukas die Beziehung Jesu zum Haus Davids her. Bei Matthäus wiederum muss Josef aktiv werden: Nachdem die drei „Magier“ aus dem Osten gegangen waren, hatte Josef erneut einen Traum (Mt 2,13): In diesem fordert ein Engel ihn auf, nach Ägypten zu fliehen. Diese Warnung des Engels vor dem herodianischen Kindermord von Bethlehem sollte Jesus das Leben retten. Nach Herodes’ Tod und einem letzten Traum des Josef (Mt 2,19-20) kehren Maria, Jesus und Josef nicht nach Judäa – weil sie Angst vor Archelaos hatten, dem Nachfolger des Herodes –, sondern nach Nazaret in Galiläa zurück, wo Jesus aufwächst.

Der Hinweis auf Ägypten kann in Analogie zur Josefsgeschichte (vgl. Langenfeld 1992; vgl. auch Wagner 2008) des AT verstanden werden (Gen 37ff.): Ohne Josef, Sohn des Jakob (auch der Vater des Hl. Josef hieß nach Matthäus (1,16) Jakob), der wegen seiner Träume, in denen er als ‚Herrscher’ erschien, von seinen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft wurde, hätte es kein Werden des Volkes Israel in Ägypten gegeben. Und so hätte es die Befreiung aus der Sklavenherrschaft, die Grunderfahrung des Volkes mit ihrem Befreiergott und den Weg durch die Wüste ins gelobte Land, nicht gegeben. In diesen Weg buchstabiert Matthäus den Weg des Messias Jesus als „Immanuel [•], das heißt übersetzt: Gott mit uns“ (Mt 1,23). Und so ist auch Josefs Weg mit Maria und Jesus nach und aus Ägypten zu deuten: Er skizziert den Weg der Befreiung nach, für die der Messias in seinem Leben einstehen wird. Es ist die Hoffnung auf Befreiung und Rettung durch den Messias, wie auch Gottvater sein Volk aus Ägyptens Gefangenschaft erlöst hatte. Unter dem Schutz Josefs wird Jesu Lebensweg eingewiesen in die Geschichte Israels mit seinem befreienden Gott: Den Weg, den auch Jesus bis ans Kreuz geht, der mit Befreiung vom Tod, Auferstehung und dem Leben in Fülle vollendet wird im Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit.

Matthäus spielt in 13,55 (par Mk 6,3, par Lk 4,22) noch einmal im Zusammenhang mit Jesu Ablehnung in seiner Heimatstadt Nazaret auf Josef als „Zimmermann“ an. Jesu Ablehnung wird mit dem Hinweis auf seine niedrige Herkunft (als „Sohn des Zimmermanns“) gerechtfertigt. Wenn Josef ‚Zimmermann’ (griech. tekton) genannt wird, entspricht das einer Art gelerntem Tagelöhner. Allerdings hat ein tekton damals nicht nur und auch nicht vornehmlich mit Holz, sondern mit mehreren Baumaterialien, vor allem Stein, auf den Baustellen der damaligen Zeit zu tun gehabt. Josefs harte Tätigkeit ging zudem nicht mit einer gesellschaftlichen Stellung einher wie sie heutigen Handwerker_innen entspräche, sondern bewegte sich am unteren Rand der damaligen Gesellschaftshierarchie. Deshalb konnte Jesus mit der Bemerkung ‚Sohn des Zimmermanns’ ja auch diskreditiert werden. Josef war Teil dessen, was Luise Schottroff als ‚geschundenes Volk’ (vgl. Schottroff 1983) bezeichnet hat. Dies legen die sozialgeschichtlichen Hinweise (vgl. Schottroff 1983; vgl. auch dies. 2019; vgl. auch Stegemann/Stegemann 1995) nahe, etwa die Geburt in der Krippe zu Bethlehem (statt in einer Herberge, Lk 2,7) oder (in Mt 13,54) die „Herkunft als Argument gegen [•] [Jesu] Weisheit und seine Krafttaten“ (Schottroff 1983: 177).

Im Lukas-Evangelium (Lk 2,41 ff.) wird Josef schließlich im Zusammenhang mit der Begegnung des jugendlichen Jesus mit den Schriftgelehrten im Tempel erwähnt. Josefs Gerechtigkeit als Gehorsam gegenüber Gott zeigt sich im bescheidenen ‚Rückzug’ Josefs wie er in der Szene von Jesu Diskussion mit den Schriftgelehrten im Tempel bei Lukas deutlich wird (vgl. Langenfeld 1992): Josef ist klar, dass es nur einen Vater, besser gesagt eine einzige Autorität im Leben Jesu geben kann, nämlich Gott – dies hat Jesus aber vielleicht auch von seinem Ziehvater gelernt: Den Willen Gottes erkennen und danach handeln.

Josef steht biblisch also für Gerechtigkeit und demütigen, auf Gott hörenden Glauben, sodass sich seine Heiligkeit vor allem durch seine Lebenspraxis äußert, die sich insbesondere darin zeigt, dass er Gottes Gerechtigkeit versuchte zu leben: Er konnte, verwurzelt in der Befreiungstradition Israels, die Geister unterscheiden – also welcher Verfügung er sich beugen muss und welcher widerstehen. Seine besondere Nähe zu Maria und Jesus ist dabei selbstverständlich bedeutsam, auch wenn dies an zahlreichen Stellen im Vergleich zur Gerechtigkeit der Toratreue überbetont wird (vgl. Schumacher 2001, Stramare 2005/2001, Redemptoris Custos 1989, Quamquam Pluries 1889)2.

Neben Gerechtigkeit, Glauben und Demut (vgl. zum demütigen Glauben auch Stramare 2005 und Beck 2014) wird in nachbiblischer Zeit bei Josef das Attribut der Reinheit besonders hervorgehoben – sowie damit verbunden Josef als Zeuge und Garant für Mariens Jungfräulichkeit (vgl. Stramare 2005: 67-71). Dies war zunächst ein Produkt volksfrömmiger Verehrung, die auf die apokryphe Schrift des sog. Jakobus-Evangeliums (2. Jh.) zurückgeht und im Mittelalter starke Ausbreitung u.a. durch die Legenda Aurea des Jacobus a Voragine (13. Jh.) fand. Darin wird geschildert, wie Josef bei der Brautwerbung um Maria seinen Stab neben den Stäben anderer ‚Bewerber’ auf den Altar legte. Josefs Stab ergrünte und eine Taube als Zeichen göttlicher Bestätigung landete auf seinem Kopf, sodass die beiden heiraten konnten. Maria wird als Tempeljungfrau in Jerusalem dargestellt, die auch in der Ehe unberührt bleiben soll (der Bilderzyklus auf einem Wandteppich im Chor der Kirche Notre Dame in Beaune/Burgund ist ein eindrückliches ikonographisches Beispiel für diese Legende, er entstand 1500). Unter anderem in Bezug zu dieser Geschichte entstand der Begriff der Josefs-Ehe, einer Ehe, in der beide Ehepartner auf Geschlechtsverkehr aus Glaubensgründen verzichten. Allerdings kam es laut Jakobus dann doch zur Schwangerschaft, weshalb die Enthaltsamkeit bezweifelt wurde. Deshalb mussten Maria und Josef giftiges Fruchtwasser trinken, um ihre Unschuld zu beweisen. Sie blieben gesund, sodass das Gottesurteil gesprochen war (vgl. Schäfer 2020; vgl. auch ders. 2015).

Der Bezug zur Reinheit, der immer mit Maria zusammen zu bedenken ist, ging dabei von der Hl. Anna auf Josef über. Nachdem die Darstellung der Hl. Anna als erste ‚irdische Trias’ (Anna, Maria, Jesuskind) – analog zur himmlischen Trias, die vor allem im Gnadenstuhl dargestellt wurde – von der Heiligen Kleinfamilie mit Josef, Maria und Jesuskind abgelöst wurde (vgl. Zeller 2003), ist Josef im Zusammenhang mit der unbefleckten Empfängnis zum „reinen und wahren Gemahl der Unbefleckten Jungfrau Maria“ geworden (Inclytum Patriarcham 1871, zit. nach Stramare 2005: 30). Ab dem 15./16. Jh. steht auch er für Jungfräulichkeit und damit für die reinste Art von Liebe. Seine „’Mitwirkung am Heilsplan [•] wie kein anderes menschliches Geschöpf, ausgenommen Maria“ (Redemptoris Custos 1989: 1), bestand in seiner Hingabe in die jungfräuliche Ehe mit Maria sowie im Schutz und der Erziehung Jesu. Hierin sahen zahlreiche theologische Auslegungen (insbes. Augustinus aufgreifend) ähnlich wie Johannes Paul II. (vgl. Stramare 2005) ein Sich-Verschenken in vollkommener Freiheit („Freiheit vor allem als Herrschaft über sich selbst“, Stramare 2005: 26), das nicht per se leibfeindlich, aber im Bezug auf die Heilige Familie, die sozusagen die Erbsünde Adams und Evas wettmachte, frei von Sünde und sexuellen Begierden sein musste. So wurde die Einmaligkeit der Hl. Familie trotz oder wegen der Jungfräulichkeit (verstanden als „Uneigennützigkeit der Selbsthingabe“, Stramare 2005: 58) zum Ideal der reinen Selbsthingabe im ehelichen und familiären Zusammenleben, zum „’Sakrament’ der ursprünglichen Liebe“ (Stramare 2005: 45).

3. Verehrung des Hl. Josef in Neuzeit und Moderne

3.1 Kurze Ikonographie

Die Geschichte des Hl. Josef und seine theologischen Bedeutungen sind mit ikonographischen Darstellungen verbunden, in denen seine Attribute und Zusammenhänge deutlich werden: Mit dem Jesuskind auf dem Arm, mit Lilie/Tuberose (Zeichen für Reinheit), Taube, Winkelmaß, blühendem Stab, Krippe/Hl. Familie. Exemplarische Abbildungen sind im Anhang (online: https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2020/06/Die-Verehrung-des-Heiligen-Josef-und-das-arbeitsame-Patriarchat-der-Neuzeit_final.pdf) aufgelistet. Die Verehrung, die in Kapitel 4 ausführlicher beschrieben wird, zeigt sich ikonographisch in Skulpturen und Gemälden, was hier sehr kurz skizziert sei: Eine der vermutlich ältesten Darstellungen neben der im Weltenburger Martyrologium (vgl. Kaster 1974: 213) ist im Perikopenbuch Heinrichs II. zu finden, wo Josef träumend abgebildet ist (s. Anhang 4, online). Josef wird ab dem 15./16. Jh. vor allem im Rahmen der Hl. Sippe (eher am Rande; s. Anhang 3, online) und wichtiger noch der Hl. Familie (zunächst auch eher am Rande, aber im Laufe der Zeit immer mehr im Zentrum; s. Anhänge 5 und 6, online) sowie als Beschützer bei der Flucht nach Ägypten darstellt (viele berühmte Künstler haben sich dieses Porträts angenommen: Dürer, Rembrandt, Tintoretto•). Als Teil der ‚irdischen Dreifaltigkeit’ der Sacra Familia erlangt er gegenüber Maria mehr ‚Gleichberechtigung’ und wird seit dem 16./17. Jh. auch einzeln dargestellt, sowohl mit dem Jesusknaben (praktisch immer mit Lilie oder Stab als Zeichen der Jungfräulichkeit/Reinheit, s. Anhang 7, online) als auch oftmals mit den Attributen eines Handwerkers (s. Anhang 8, online). Als Patron eines guten Todes wird er schließlich seit dem 17. Jh. in zahlreichen barocken Werken sterbend abgebildet (s. Anhang 9, online).

Die ‚Karriere’ des Hl. Josef in Verehrung und Ikonographie steht im Zusammenhang mit der sich herauskristallisierenden Neuzeit, die hier – im Anschluss an Robert Kurz’ und Roswitha Scholz’ Theorie der als Wert-Abspaltung3 – als Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus verstanden wird. Bevor die Frage nach der Vermittlung der Verehrung des Hl. Josef mit dieser geschichtlichen Entwicklung und damit ihrer kulturell-symbolischen Bedeutung ins Zentrum rückt, seien die wesentlichen Punkte der entstehenden Moderne beschrieben.

3.2 Faktoren der entstehenden Moderne

Die Epoche des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ab der zweiten Hälfte des 14. Jh.) – in den Geschichtswissenschaften werden das 14. und 15. Jh. als ‚Krise des Spätmittelalters’ bezeichnet – hat Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse sowie der Denkform (insbes. durch den Nominalismus, vgl. Hirschberger 1980/1948: 560-569) angestoßen, die sich von der vorherigen Epoche des Mittelalters zunehmend stärker unterschieden haben. Die Faktoren, die die entstehende Neuzeit (von der man gemeinhin erst ab dem 16. Jahrhundert spricht) sowie Moderne prägten und bis heute Bedeutung haben, versuche ich in aller gebührenden Kürze und im Blick auf die Frage nach der Verehrung des Hl. Josef darzustellen.

Dabei handelt es um historische Prozesse von gut 400 Jahren. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts war der „Inkorporationsprozess der kapitalistischen Weltwirtschaft“ (Immanuel Wallerstein, zitiert nach Kleinschmidt 2017: 12) abgeschlossen, sodass erst ab diesem Zeitpunkt von einer kapitalistischen Gesellschaftsform die Rede sein kann. In der Retrospektive können aber die Faktoren einer zunächst kontingenten Konstitutionsgeschichte zusammen genommen als Proto-Kapitalismus bezeichnet werden, da sie auf sozial-ökonomischer, politischer, ideologisch-religiöser und kulturell-symbolischer Ebene zur kapitalistischen Gesellschaft geführt haben.

3.2.1 Sukzessive Genese der Arbeit als ‚Substanz des Kapitals’

Wenn der Hl. Josef als Patron der Arbeit und der Arbeiter sich durchsetzte, dürfte dies mit der Bedeutung der Arbeit in der Konstitution der kapitalistischen Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft zusammenhängen. Diese Bedeutung liegt darin begründet, dass sie die Quelle von Wert und Mehrwert und damit die notwendige Voraussetzung für die Akkumulation von Kapital ist. Ohne hinreichende Verausgabung menschlicher Arbeitskraft läuft der abstrakte Selbstzweck der kapitalistischen Gesellschaftsform aus Wert Mehr-Wert, aus Geld mehr Geld zu machen, ins Leere. Für das Entstehen dieser Gesellschaft war zunächst der Zusammenhang von Kanoneproduktion, Geldbeschaffung und die Bildung von Nationalstaaten wesentlich, in dessen Rahmen die Anfänge bzw. Vorformen von moderner Lohnarbeit entstehen konnten.

a) Kanonenproduktion – Geld und die Anfänge von Lohnarbeit

Mit dem „Knall der Moderne“ bezeichnete der Gesellschaftstheoretiker Robert Kurz (vgl. Kurz 2013) die ganz und gar nicht friedliche – vermeintlich über gewaltfreien Handel sich ausbreitende – Entstehungszeit der frühen Moderne (vgl. auch Parker 1990; zusammenfassend vgl. Böttcher/Kloos 2014). Er meint damit die Entstehung der Feuerwaffen bzw. der Kanonen als „Archetypus der Moderne [•]. Es entstand eine neuartige Rüstungsindustrie, die das Urbild oder die Matrix der späteren Industrialisierung bildete und deren Leichengeruch die modernen Gesellschaften einschließlich der Weltmarktdemokratien unserer Tage nie mehr losgeworden sind“ (Kurz 2013: 95). Diese Zeit geht einher mit einem gewaltsamen Prozess, in dem sich die neuzeitlichen Staaten bildeten (vgl. Kurz 1999; vgl. auch Wallerstein 2004/1974).

Feuerwaffen wurden im Zusammenhang des Ausbaus von Bergbau und Einsenverhüttung im frühmodernen Europa erstmals proto-industriell produziert. Dies ging mit wachsendem finanziellem Bedarf einher, denn immer mehr stehende Heere waren mit Feuerwaffen auszurüsten. Kanonen und ihr Bedarf konnten im Gegensatz zu Schwertern, Helmen etc. nicht mehr vom Dorfschmied hergestellt werden und die vormals dezentralen, agrarischen Gesellschaften wurden immer mehr zentralisiert. Die Armee wurde eine ständige Einrichtung und das Soldatentum ein spezialisierter Berufsstand (soz. die ersten Jobs). Die Armeen wurden größer und teurer. Die Kosten für Waffen und Armeen stiegen ebenso wie für die Schäden, die sie anrichteten. Dies führte dazu, dass die Finanzierbarkeit der gesellschaftlichen Reproduktion über die Grenzen der agrarischen Naturalwirtschaft hinauswuchs. Und damit wuchs der Bedarf an Geld. So ging die Ausdehnung des Militärapparates mit der Ausdehnung der Vermittlung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Geld einher: mit der Verwandlung der Naturalabgaben in Geldsteuern und deren Eintreibung durch Steuerpächter sowie vor der von den regierenden Fürsten in die Hand genommenen Bildung von Produktionsunternehmen außerhalb der – noch mittelalterlich geprägten – Gilden und Zünfte. Produktion diente immer weniger dem Zweck der Bedürfnisbefriedigung, sondern zielte auf Geldbeschaffung durch Produktion für einen anonymen Markt, die noch lange Zeit – da es noch zu wenig billige Lohnarbeiter für moderne Lohnarbeit gab – von Sträflingen, Sklaven und ‚Geisteskranken’ als Zwangsarbeiter_innen vollzogen werden musste4.

Unter dem Druck, Geld für die Produktion von Feuerwaffen zu beschaffen, wurde der Haushalt der Fürsten zu einem Haushalt notwendiger Geldvermehrung einhergehend mit der Entstehung moderner – zunächst vor allem staatlicher – Konkurrenzverhältnisse. Aus privater Haushaltsführung (oikos/oikonomia = Haus/Haushalt) wird nun „politische Ökonomie“ (Antoine de Montchrétien). Die fürstlichen Staaten sind also nicht einfach Gegenpol zur Ökonomie, sondern Politik und Ökonomie gehören konstitutiv als zwei Seiten der selben Medaille zusammen.5

Im Wettbewerb des europäischen Nationbuildung, dessen ‚Kriegsökonomie’ noch vom interkontinentalen, kolonialen Eroberungswettlaufs forciert wurde, war – trotz aller Bedeutung technischer Neuerungen (Schiffbau, Nautik, (Festungs-)Bauwesen•) und neuer Institutionen, die nicht einfach unschuldig von ihrem Entstehungszusammenhang abgelöst werden können (vgl. Kleinschmidt 2017) – vor allem der Einsatz von Feuerwaffen die wesentliche Grundlage für Erfolge. Zugleich beförderten sie den Geldhunger, denn der Transit – insbes. mit Gold und Silber – über den Atlantik verschlang ebenso wie der Bau und Schutz riesiger Flotten Unsummen von Geld.

b) Einhegung der Commons: Ursprüngliche Akkumulation

Die Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen hin auf eine durch Arbeit und Geld bestimmte Formation, hängen neben der Feuerwaffenproduktion und ihrer Nutzung in „Staatsbildungskriegen“ (Johannes Burkhardt) sowie Kolonialismus, der wiederum mit Sklaverei und Rassismus einherging (vgl. Scholz 2005; vgl. auch Geulen 2007), mit dem zusammen, was Karl Marx „ursprüngliche Akkumulation“ (ein Begriff, den er von Adam Smith übernahm) genannt und im ersten Band seines Werks „Das Kapital“ ausführlich beschrieben hat (vgl. Marx 2013/1867: 741-791). Auf den ‚flandrischen Wolleboom’ reagierte der englische Landadel mit der Ausweitung der Schafzucht. Dies wiederum erforderte die Ausweitung der Weideplätze. Sie ging einher mit der Vertreibung der feudalistisch-abhängigen sowie der freien Bauern von ihrem Land bzw. der gemeinschaftlich genutzten Allmende. Bei allen aufgezwungenen Abgaben wurde den Bauern und Bäuerinnen mit der ‚Einhegung der Commons’, also dem Verlust des Weide- und Ackerlandes, und der Zerstörung einer auf Subsistenz ausgerichteten Naturalwirtschaft die Grundlagen für die Reproduktion des Lebens entzogen. Dies wurde staatlich abgesegnet, d.h. in Rechtsform gegossen. Aus den vom Land Vertriebenen wurden entwurzelte Paupers. Aus ihnen entstanden die dann zuerst in Manufakturen und später in der Industrie eingesetzten ‚freien’ Lohnarbeiter_innen. Ihre ‚Freiheit’ von Land ist die Grundlage der ‚Freiheit’, ihre Arbeitskraft an Unternehmer zu verkaufen. „Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel“ (Marx 2013/1867: 742). Aus diesem ‚Scheidungsprozess’ entstand die ‚freie’ – nur allzu oft in Armen-, Arbeits- und Irrenhäusern (vgl. Salz 2013; vgl. auch Wissen 2020) eingeprügelte – Lohnarbeit, deren Arbeitskraft nun frei war, um Waren zu dem Zweck zu produzieren, aus dem Wert der Arbeitskraft Mehr-Wert zu produzieren und so aus Geld mehr Geld zu machen, was Marx als Gesetz der Akkumulation von Kapital bzw. als Wertgesetz in die Formel G-W-G’ zusammenfasste: Geld wird als Kapital eingesetzt, um mittels der Produktion von Waren mehr Geld zu machen, das dann als Kapital immer wieder neu in die Warenproduktion fließen muss, um sich ständig zu vermehren. Grundlage bzw. Substanz dieses Prozesses ist die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft.

3.2.2 Abspaltung der Reproduktion vom Produktionsprozess

Die Konstitution der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft war verbunden mit der Trennung von Produzent und Produktionsmittel. Damit fand zugleich eine Verlagerung der Produktion von einem familiären Zusammenhang und Ort auf die Fabrik als Produktionsort statt. Während in familiären Zusammenhängen Produktion und Reproduktion miteinander verzahnt waren, brechen sie nun auseinander. Dennoch bleibt die nun von der Produktion abgespaltene Reproduktion die stumme Voraussetzung für die Produktion von Wert und Mehr-Wert. Denn schließlich müssen weiterhin Kinder geboren und erzogen, Wäsche gewaschen, Häuser geputzt, Alte umsorgt und Beziehungen gepflegt werden. Diese Momente wurden aber im kapitalistischen Entstehungsprozess immer mehr Frauen zugeordnet sowie minderbewertet. Beide Seiten, Produktion wie die davon abgespaltene Reproduktion, bilden gleichursprünglich die Grundlage der kapitalistischen Vergesellschaftung. Mit der Trennung von Produktion und Reproduktion konstituiert sich das Verhältnis der Geschlechter neu. Männer sind nun vorrangig für die Produktion und den öffentlich-politischen Bereich zuständig, Frauen wird die Reproduktion als Bereich der Sorge um den Nachwuchs, der Sorge um Pflegebedürftige bis hin zur emotionalen ‚Grundversorgung’ zugewiesen. Männer gehen in die Fabrik oder Politik, während Frauen auf den privaten Bereich von Haus und Familie reduziert bleiben. Darin kommt ein patriarchales Verhältnis der Geschlechter zum Ausdruck, in dem Frauen gegenüber Männern inferiorisiert werden (vgl. Scholz 2011/2000).

a) Hexenverfolgung

Für die Etablierung eines in Produktion und Reproduktion gespaltenen Geschlechterverhältnisses spielte die Hexenverfolgung (vgl. Federici 2012; vgl. dies. 2019) eine wichtige Rolle. Sie war der entscheidende Prozess für die Transformierung hin zum „warenproduzierenden Patriarchat“ (Roswitha Scholz) der Moderne.6

Die Hexenprozesse waren vor allem in den reformatorischen bzw. katholisch-protestantisch umkämpften Gebieten am stärksten ausgeprägt (vgl. Leeson/Russ 2017) und gingen gleichzeitig mit den zunächst in England stattfindenden ‚Einhegungen’ (s.o.) einher. An den Protesten von Bauern und Armen (Vagabunden, Bettlern) gegen die ‚ursprüngliche Akkumulation’, nahmen oft Frauen teil, weil sie Teil der kollektiven Formen von Landwirtschaft waren und genauso wie die Männer ihre Verelendung fürchteten. Gerade ältere Frauen, „die oft gegen ihre Verarmung und gesellschaftliche Ausgrenzung rebellierten“ (Federici 2019: 40), machten den größten Teil der wegen Hexerei Angeklagten aus. Ihr Aufbegehren gegen die Zerstörung ihrer Existenzgrundlage wurde gewaltsam unterdrückt – und das in einer Zeit, in der Betteln seinen ‚Stand’ verlor (vgl. Salz 2013; vgl. auch Wissen 2020) und sogar unter Strafe gestellt wurde. Hinzu kamen frauenfeindliche Stimmungen gegen weibliche Autonomie, die in Zünften und Gilden mit dem Bestreben verbunden waren, dass aus diesen reine Männerdomäne werden sollte und Frauen immer mehr aus ihnen ausgeschlossen wurden. Der Ausschluss von Frauen aus handwerklichen und kauf-‚männischen’ Bereichen, ihre Vertreibung vom Land und aus der Landwirtschaft ging einher mit der zunehmenden Kontrolle des reproduktiven Bereichs. Die patriarchale Autorität zeigte sich politisch, ökonomisch, kirchlich und familiär.

Die Hexenjagden dienten nach Silvia Federici gerade auch dazu, Frauen ihrer medizinischen Praktiken zu berauben und ein „Naturkonzept zu zerstören, das der Ausbeutung des weiblichen Körpers bis zur Renaissance Grenzen gesetzt hatte“ (Federici 2019: 23). Die Stellung von Frauen in der agrarischen Gesellschaft, die mit ihrem Einfluss und Wissen im Gesundheitsbereich (Kräuterkunde, Verhütung, Abtreibung, Geburt, Aphrodisiaka) zusammenhing und für einige Frauen auch mit einer gewisse Eigenständigkeit einherging (vgl. dazu auch Laqueur 1996: 80ff.), sollte gewaltsam verändert werden. Eine (klein-)familiäre Neuordnung sollte dieses ‚frauenspezifische’ Wissen und damit auch alleinstehende Frauen, uneheliche Kinder und unkontrollierte Sexualität unter patriarchale Kontrolle bringen. Die Bereiche Fortpflanzung und Ehe sollten, insbes. im Zuge der Reformation (vgl. auch Angenendt 2015: 160 ff.) und später der Aufklärung (vgl. Angenendt 2015: 185), durch die neu entstandene Staatlichkeit beaufsichtigt werden.

Frauen sollten von nun an eine passivere Rolle einnehmen: „Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit toleriert oder als normal angesehen wurden“ (Federici 2019: 35), wurden nun verteufelt, damit sie für alle anderen als verachtenswert und beängstigend galten. „[D]er Tod der Hexe (sollte) als Lektion dienen [•], um aufzuzeigen, was ihnen widerfährt, sollten sie ihrem Beispiel [des Heilens sowie Aufbegehrens, DK] folgen“ (ebd.: 35). Das neue gesellschaftliche Ethos, in dem die „Fähigkeit zur Disziplin und Kanalisierung der eigenen instinktiven Triebe in Arbeitskraft hochgeschätzt wurde“ (ebd.: 37), sollte Frauen ihren Platz in der neu geformten Gesellschaft zuweisen – bei Strafe von Folter und Tod im Falle der Nicht-Akzeptanz. „Die Hexenverfolgung diente dazu, die Frauen in Europa über ihre neuen gesellschaftlichen Aufgaben zu belehren“ (ebd.: 49). Aus dieser „Schreckensherrschaft [ging] ein neue[s] Modell der Weiblichkeit hervor [•]: unerotisch, hörig, unterwürfig, der männlichen Welt ohne Widerstand untergeben, einverstanden mit der eigenen Beschränkung auf eine Reihe von Aktivitäten, die im Kapitalismus komplett entwertet wurden“ (ebd.: 48).

b) Geschlechterverhältnis

Die Reproduktion, die durch die Hexenverfolgung als ein weiblich konnotierter, fast ausschließlich auf Frauen bezogener, Bereich vom männlich konnotierten Wirtschafts- und Politikbetrieb abgespalten wurde, hat den Bereich dessen, was Öffentlichkeit heißt, die Reproduktion des Lebens (in das die Produktion eingeschlossen war), Sexualität, Familie und damit auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander tiefgreifend verändert. Weibliche Sexualität, die zwar in der Geschichte einer männlichen Sexualität nur selten gleichgestellt war (vgl. Laqueur 1996; vgl. auch Angenendt 2015), wurde regelrecht ‚passiviert’ und tabuisiert. Gleichzeitig wurden Frauen auf den Bereich des Hauses reduziert, was seit dem 18. Jh. geradezu eine naturgemäße Logik zu besitzen schien. Eine Geschlechterdifferenzierung als soziales Geschlecht (gender) ist nach Thomas Laqueur über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg zu verzeichnen, mit der Aufklärung gab es zusätzlich die Unterscheidung des biologischen Geschlechts (sex) und ein Zwei-Geschlechter-Modell. 7

Vor der Aufklärung war der Leib ein Epiphänomen, „während das soziale Geschlecht [•] primär oder ‚real’ war“ (ebd.: 20). Mit der Aufklärung, mit der gleichzeitig ein „Aussparen der weiblichen Lust aus medizinischen Darstellungen der Empfängnis“ (ebd.: 10; vgl. ebd.: 58 ff.) einherging, die vorher als völlig ‚natürlich’ erschien, „trat eine Anatomie und Physiologie der Unvergleichlichkeit an die Stelle einer Metaphysik der Hierarchie“ (ebd.: 18). Der Unterschied der Geschlechter war nunmehr nicht mehr bloß graduell, sondern grundsätzlich und in der Natur verankert. „Seit dem 17. Jh. betrachtete man den Körper nicht mehr durchweg als Mirkokosmos einer größeren Weltordnung, innerhalb derer jegliches Stückchen Natur seinen Platz in einem Schichtenwerk des Bedeutens hat. [•] Erst als Folge dieses erkenntnistheoretischen Wandels wurde es möglich, das Geschlecht so zu sehen, wie man es seit der Aufklärung sieht – nämlich als biologische Grundlage dessen, was es heißt, Mann oder Frau zu sein“ (ebd.: 23-24)

Auch wenn der Dimorphismus (i.e. ‚zwei Körper’) den Isomorphismus (i.e. ‚gleiche Körperlichkeit’) nicht gänzlich verdrängte und beide Modelle jeweils für völlig gegensätzliche ideologische Argumentationen genutzt wurden, kann tendenziell behauptet werden, dass die Biologie zweier Körper in der entstehenden Moderne als Erkenntnisgrundlage und Postulat gesellschaftlicher Ordnung herangezogen wurde – statt die gesellschaftliche Kontextabhängigkeit von Biologie zu begreifen. „Was in der Welt reduktionistischer Erklärungen interessierte, war die platte, horizontale, unveränderliche Grundlegung im physikalischen Faktum: das biologische Geschlecht“ (ebd.: 174).

Frauen wurden durch den Uterus bestimmt, woraus ‚ihre Häuslichkeit’ abgeleitet wurde. Sogar auf die Zellbiologie wurde zurückgegriffen, um die Passivität von Frauen und männliche Aktivität und damit ihre gesellschaftlichen Rollen zu rechtfertigen (vgl. ebd.: 18). „Die neue Biologie mit ihrem Suchen nach fundamentalen Unterschieden zwischen den Geschlechtern – und die verquere Frage, ob es denn weibliche Lust überhaupt gebe, gehörte dazu – entwickelte sich genau zu jener Zeit, als die Grundlagen der alten Gesellschaftsordnung ein für alle mal ins Wanken gerieten“ (ebd.: 24)

Der biologische Kurs ging mit politisch-rechtlichen Folgen einher, die Frauen Männern strukturell unterordneten und sie auf ‚ihre Sphäre’ des Hauses beschränken sollten: So wurden Frauen etwa bei Vertragsschließung, ökonomischen Tätigkeiten und politischer Repräsentation ‚zurückgesetzt’, was bei Hobbes, Locke, den Enzyklopädisten und – ganz anders und im Widerspruch zu Hobbes begründet – bei Rousseau nachlesbar ist. Die männliche Dominanz ist dabei nicht mehr auf einer „teleologisch männlichen Leiter markiert“ (ebd.: 181), sondern liegt in der Natur, nach der dann doch – trotz aller enzyklopädisch-aufklärerischen Betonung abstrakter Gleichheit, die ganz ‚widernatürlich’ gleichzeitig von Somatischem und ‚Libido’ abstrahiert – ‚der Mann’ fähiger, stärker und weniger durch reproduktive Funktionen behindert ist als ‚die Frau’. Der Platz der Frau ist vom Leib bestimmt und damit zu Hause, wo „männlich-bourgeoise Wünsche nach einem ‚Zufluchtsort in einer herzlosen Welt’ [•] [in] ‚separaten Sphären’“ ihre Erfüllung finden (ebd.: 222). Das vermeintlich „sozialgeschlechtlich unspezifische rationale Subjekt [‚schuf’] einander entgegengesetzte, stark mit Sozialem aufgeladene Geschlechter“ (ebd.: 224), die ganz und gar nicht gleichgestellt waren, sondern die bis heute vorhandenen Geschlechtsunterschiede des ‚warenproduzierenden Patriarchats’ etablierten, die empirisch etwa bei Gehaltsunterschieden, Sexualverhalten und Haushaltstätigkeiten wahrnehmbar sind.

3.2.3 Kirchliche Zusammenhänge
a) Der ‚schwarze Tod’ und das ‚Avignonesische Exil’

Im 14. Jh. – kurz nachdem die ersten Kanonen hergestellt und genutzt wurden (1334 zur Verteidigung von Meersburg) – hatte die Pest, die zwischen 1347 und 1351 in Europa wütete (30-50% der europäischen Gesamtbevölkerung starb) und später in immer wieder einsetzenden Wellen Millionen dahin raffte, gewichtige Folgen.

Thilo Esser (vgl. Esser 1999) hat dargelegt, wie nach diesem historischen Einschnitt religiöse Lebensformen gesteigert wurden – gerade die (Schutz-)Heiligenverehrung nahm stark zu, aber auch eine Sündenbocksuche in Form von Judenpogromen (‚Brunnenvergifter’). Mit der Pest ist aber zudem das gleichzeitige ‚Avignonesische Exil’ zu bedenken, um ein sich neu formierendes Verhältnis von Kirche und Gesellschaft zu verstehen: Neben dem Ausbau eines mit Ämterkauf (‚Simonie’) und dem Auspressen der ‚Steuerzahler’ einhergehenden ‚Fiskalismus’ (vgl. Hausberger 1984; vgl. auch Türcke 2015), der wiederum zunächst mit ‚politischen’ Unternehmungen (Rückeroberung des ‚Kirchenstaats’, Abwehr der ‚Türkenangriffe’•) und ab Mitte des Jahrhunderts mit dem brachliegenden Land aufgrund der vielen Toten (inkl. Bauernaufstände) zusammenhing, steht Avignon dafür, dass die Kirche ihre universale, überparteiische Autorität einbüßte (vgl. Franzen 2000). Der mit französischem Einfluss einhergehende Verlust der päpstlichen Autorität in einer Zeit, in der statt weiteren ‚Auspressens’ Unterstützung und Trost vonnöten gewesen wären, trug zum einen zu einem Zerfall gültiger sozialer, politischer und ökonomischer Normen des Lehensverhältnisses sowie zu einer religiösen Glaubenskrise bei. Letztere fand etwa in der Aufkündigung der päpstlichen Lehenshoheit (1357) und der faktischen Gründung einer ersten ‚nationalen’ Kirche in England ihren Ausdruck, die Vorläufer der englischen Staatskirche (1531/34) und der kommenden Reformation und ihren Nationalkirchen war. Als Folge von Avignon (1309-1378) war zudem während des ‚Großen Schismas’ (1378-1417) quasi die ganze westliche Christenheit von Papst und Gegenpapst gebannt (oder vom Bann bedroht) und die Bedeutung des Papstes, der immer mehr zu einem profan-regionalen Fürsten unter dem Einfluss unterschiedlicher politischer Konstellationen mutierte, durch den ‚Konziliarismus’ zunehmend in Frage gestellt.

Bereits in der papstkritischen Streitschrift „Defensor pacis“ (1326) von Marsilius von Padua und Johannes von Jandun wurde mit der mittelalterlichen Gedankenwelt – von ‚Treue’, ‚Glaube’ und ‚Ehre’ gegenüber dem König als ‚character angelicus’ (vgl. Kantorowicz 1992/1957) – gebrochen und eine neue Staats- und Kirchentheorie aufs Tableau gehoben. Hiernach ruht alle politische Gewalt „auf dem souveränen Volk und seinen gewählten Vertretern, alle Kirchengewalt auf der christlichen Gemeinde und ihrer obersten Instanz, dem von den Fürsten zu berufenden allgemeinen Konzil“ (Hausberger 1984: 264). Jean Bodins (1529/30-1596) Begriff der Souveränität, nach dem ein Staat absolute und andauernde Gewalt innehat, die nur Gott und dem Naturrecht unterworfen ist, schaut schon hervor – und der Weg von einer theologisch zu einer politisch-ökonomisch bestimmten europäischen Welt war geebnet.

b) Reformation

Durch das Zusammentreffen von Pest und Avignon trat an die Stelle eines immer mehr in Frage gestellten kosmologisch-theologischen Denkens peu à peu ein (territorial-)politisch-ökonomisches – und individuumsbasiertes8 – Denken. Dieses wurde noch einmal von der Reformation vorangetrieben. Luthers Ausrichtung auf das Individuum wird in seiner Frage nach der Rechtfertigung des Sünders deutlich. Sie zielt auf den Sünder, der als Individuum vor dem Gericht Gottes steht und als Individuum durch die Gnade Gottes gerechtfertigt wird. Von Bedeutung ist zudem Luthers Aufwertung von Arbeit. Sie wird als individuelle Berufung geadelt. Mit der Übertragung des Begriffs Berufung, der ursprünglich die Berufung zu einem geistlichen ‚Beruf’ meinte, auf säkulare Bereiche, wurden diese mit einer quasi-religiösen Aura aufgeladen. Wer arbeitet, folgt dem Ruf Gottes und seine Arbeit wird zum Gehorsam gegenüber Gott und zum Gottes-Dienst. Dabei wird das zum Dienst an Gott verklärt, was Grundlage der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft werden sollte: die Arbeit als Quelle von Wert und Mehr-Wert. Um der Berufung zur Arbeit Folge zu leisten, sind Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit, Disziplin und Freude an der Arbeit wesentlich – das, was Max Weber ‚protestantische Ethik’ nennen sollte. Vor dem Hintergrund seiner Aufwertung der Arbeit muss auch Luthers Zins- und Geldkritik verstanden werden. Arbeit schafft und verdient die Lebensgrundlage, während Zins und Geld Ausdruck einer Raffgier sind, die auch ohne Arbeit zu Reichtum kommt. So ist das antisemitische Klischee vom raffenden und schaffenden Kapital bereits bei Luther erkennbar (vgl. Böttcher 2019).

Mit der Überhöhung notwendiger Tätigkeiten zur Arbeit als Berufung und der mit ihr verbundenen Werte und Tugenden ging die Abwertung von Nicht-Arbeit einher. Das wurde nicht nur in Luthers Kritik von Zins und Geld deutlich, sondern auch – und zuerst – in der Diskriminierung von ‚Zigeunern’, so dass sich Antisemitismus und Antiziganismus verbinden. Das zu Beginn des 15. Jahrhundert erstmals erwähnte ‚fahrende Volk’ von Sinti und Roma, umherziehende und bettelnde Pilger, wurden noch im gleichen Jahrhundert (1498) für vogelfrei erklärt, diskriminiert und verfolgt (vgl. Scholz 2007). Sie waren die ersten der Armen – die noch im Mittelalter ihren ‚Stand’ hatten und deren Versorgung mit Almosen (mehr schlecht als recht) als Pflicht galt (vgl. Salz 2013) –, die nun zunehmend als Nichtsnutze oder Müßiggänger angesehen wurden. Bei Luther bezog sich die Abwertung im 16. Jahrhundert vor allem auf Juden, die als Müßiggänger das Geld für sich ‚arbeiten’ lassen und Gott die Zeit stehlen. „Die Reformation ächtete endgültig alles, was ihr als ‚Nicht-Arbeit’ erschien. Durch eine Erziehung zur Arbeit sollte ‚die Verheißung’ der Bevölkerung stattfinden. Wenngleich auch zuerst Zwang nötig wäre, sollte letztendlich durch eine ‚dauernde Betätigung’ Arbeit zur Gewohnheit werden, bis sie derart selbstverständlich sei, dass sie als das einzig Richtige und Sinnvolle erscheine“ (Schatz/Woeldike 2001: 19).

Die Reformation und der Puritanismus lieferten die ideologische Begleitmusik9 dazu, dass Arbeit als „Substanz des Kapitals“ (Karl Marx) immer mehr zur „gesellschaftlichen Synthesis“ (Alfred Sohn-Rethel) wurde.

4. Der Hl. Josef als Teil von Patriarchat und Arbeitsapologetik?

Die Verehrung des Hl. Josefs ist im Rahmen der aufgezeigten politisch-ökonomischen, ideologischen und geschlechterdifferenten Veränderungen seit der Neuzeit zu verstehen. Sie bewegt sich auf einer nicht-materiellen kulturell-symbolischen Ebene, die nicht einfaches Spiegelbild der materiellen Verhältnisse, aber dennoch mit ihnen vermittelt ist. Sie ist nicht unabhängig davon, kann aber auch nicht daraus abgeleitet werden. Insofern haben Aussagen dazu einen gewissen ‚spekulativen’ Charakter.

Zunächst ist die Zunahme der Verehrung des Hl. Josef festzustellen (vgl. zu den Aussagen bzgl. der Verehrung in diesem Kapitel Rondet 1956, Kaster 1974, Schumacher 2001, Mühleisen et al. 2008, Hollenbach 2016), am stärksten seit dem 15. und 16. Jh. Im Osten wurde der Hl. Josef auch im ersten Jahrtausend (schon ab dem 4./5. Jh.) verehrt. In Märtyrerverzeichnissen im Westen tauchte sein Name seit dem 9. Jh. auf. Spätestens im 12. Jh. ist das Fest des Hl. Josef für den 19.3. bezeugt, dem Tag des früheren Fests der Minerva, die die römische Göttin u.a. der Handwerker war. Ab dem Ende des 12. Jh. tritt der Taufname Josef (auch in weiblicher Form) im Westen auf, wenn auch extrem selten im Mittealter. Seine Verehrung wird vor allem durch Orden im 13. und 14. Jh. verbreitet (Serviten und Franziskaner). Im Zuge der Pest wurde – neben der Schutzmantelmadonna und den Pestheiligen Rochus und Sebastian – gerade stärker die Hl. Anna angerufen, kaum Josef (vgl. Zeller 2003).

Ab dem 15. Jh. wurde die Verehrung des Hl. Josef als Ziehvater Christi und Ehemann Mariens, als Beschützer der Hl. Familie, als Verteidiger der Jungfräulichkeit10 durch Bernhardin von Siena und Gerson d’Ailly, später durch die Hl. Teresa und Franz von Sales (16. Jh.) ‚vorangetrieben’, was von vielen Autor_innen als „plötzlicher Aufschwung“ (Kaster 1974: 212), der „mit einem Schlag“ (Rondet 1956: 22) daher kam, beschrieben wird. Die Franziskaner zielten inhaltlich vor allem auf den Bezug zu Demut und Armut, was sich bei ihnen vor allem in Hilfe für andere und der Erkenntnis Gottes in unmittelbarer Solidarität ausdrückt (weniger im intellectus fidei). Ebenso machten sie wie die anderen genannten ‚Förderer’ Josef im Sinne der Kontemplation stark: Sie sahen ihn als schweigenden, kontemplativen, in sich gekehrten Menschen sowie als Hausherr der Hl. Familie. Bis heute ist die Spiritualität des Karmeliterordens (Teresa v. Ávila) durch die Verehrung des Hl. Josef geprägt. Was manchen Autoren als ‚plötzlicher Aufschwung’ erscheinen mag, dürfte am ehesten im Zusammenhang der beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen sein. Dies wird auch im Aufgreifen des augustinischen Denkens im 15. und 16. Jh. deutlich.

Augustinus steht für die Suche nach objektiver (ontologischer) Wahrheit und damit auch für eine objektive (Offenbarungs-)Theologie, in der die Hl. Schrift als wesentliche Grundlage des Glaubens angesehen wird, die aber nicht ohne subjektive Offenbarung in Form einer Erleuchtung (beeinflusst durch die Lichtanalogien des Neuplatonismus), die von außerhalb initiiert sein muss, erkannt werden kann. Damit bewegt sich Augustinus in der Nähe von Platons Verständnis von Erkenntnis, nach der Erkennen ein Wiedererkennen durch die Seele ist, die vor der Geburt die reinen Ideen geschaut hat (vgl. u.a. Hirschberger 1980/1948: 345-354). Dies verweist auf die Bedeutung der Innerlichkeit im Denken Augustinus.

Diese Innerlichkeit wird im 15. und 16. Jh. vielfach von Theologen, der Mystikerin Teresa sowie von Luther aufgegriffen. Bei Luther verbindet sie sich mit einem Denken, das nach Rechtfertigung für den individuellen Sünder fragt. Dies verschafft zwar Freiraum gegenüber dem feudal-kirchlichen Ordo, bereitet aber in seiner Affirmation und theologischen Überhöhung der Arbeit (s.o.) und der religionspolitisch motivierten Nähe zur Obrigkeit die Unterwerfung unter die entstehende Arbeits- und Geldgesellschaft als einer neuen Herrschaftsform den Weg. Diese entwickelt sich immer mehr von einer personal vermittelten Herrschaft zur ‚abstrakten Herrschaft’, die auf dem Weg der Identifikation innerlich affirmiert wird.

Dem entspricht ein weiterer von Augustinus ausgehender Impuls, dem zu Reinheit, Keuschheit und Jungfräulichkeit: „Je stärker die Leidenschaft [•] unterdrückt wird, um so stärker [•] wird die eheliche Liebe“ (Augustinus, zitiert nach Stramare 2005: 47) – dieses paradigmatische Zitat macht eine Überhöhung von (körperlicher) Selbstkontrolle deutlich, die für ‚wahre Freiheit’ steht, für „Freiheit vor allem als Herrschaft über sich selbst“ (Stramare 2005: 46). Diese Art der Selbstkontrolle ist vor dem Hintergrund von Augustinus Biographie und der spätrömischen Zeit zu verstehen. Das Aufgreifen im 15. und 16. Jh. im Bezug auf den Hl. Josef und in einer Zeit, in der die Arbeit als ‚gesellschaftliche Synthesis’ zumindest in ihrem anfänglichen Entstehen begriffen ist, sowie eine zumindest ‚relative’ Freiheit einiger (‚verruchter’) Frauen unter Kontrolle gebracht wird (16./17. Jh.), deutet möglicherweise schon auf die mit Arbeit zusammenhängende Selbstdisziplinierung sowie – über die Disziplinierung von Frauen – auf erste Elemente einer entstehenden Abspaltung von männlich konnotierter Produktion und weiblich konnotierter Reproduktion hin.

Die Keuschheit Josefs als Ideal ist im Zuge der stärkeren Beschäftigung mit der Unbefleckten Empfängnis im Spätmittealter entstanden und sozusagen als Ergänzung der Verehrung der Muttergottes (vgl. Schumacher 2013) zu verstehen und dabei möglicherweise ein männliches Gegengewicht zu Maria, um deutlich zu machen, dass auch Männer zu solcher Reinheit fähig sind. Zudem könnte das idealisierte Bild von Familie und Ehe in der Hl. Familie und der Josefsehe – als unschuldige und uneigennützige Selbsthingabe – auch im Gegensatz zur realen Promiskuität der Päpste und Kardinäle der damaligen Zeit verstanden werden. In jedem Falle scheinen Josefs Reinheit und Gerechtigkeit mit einer Quasi-Unfehlbarkeit Josefs (und Marias sowieso) gleichgesetzt zu sein – spätestens seit dem 17. Jh. Das Bild der Heiligkeit, das hier wirksam wird, scheint sich von einem Gerechtigkeitsbegriff im Sinne der Suche nach Befreiung wie es uns in den biblischen Traditionen begegnet zu entfernen. Das Bild ist auf individuelle Tugendhaftigkeit ausgerichtet, die sich in einem reinen (gerade auch im sexuellen Sinne), liebevollen, karitativen und schützenden Verhalten zeigt (vgl. Stramare 2005; vgl. auch Rovira 2018: 310-346). Dieses Bild des Hl. Josef soll die katholischen Männer als liebevolle Familienbeschützer, die ‚reinen Herzens’ sind, stützen.

Ein Licht auf diese Entwicklung wirft auch die Tatsache, dass die Verehrung der Hl. Anna immer mehr hinter die des Hl. Josef zurücktritt (vgl. Zeller 2003). Die Hl. Anna wurde zwischen Mitte des 13. und Mitte des 16. Jh. (ca. 1260-1560) – als Anna Selbdritt oder in der Hl. Sippe – sehr viel häufiger dargestellt als der Hl. Josef. Anna als Familienoberhaupt mit Maria, deren Verehrung ebenfalls ab dem 13. Jh. und noch mehr ab dem 14. Jh. (Stichwort Pest) zunahm, standen zusammen mit dem Jesuskind in verschiedenen Darstellungsvariationen im Zentrum. Im 15. Jh. wurde das Fest der Hl. Anna (26. Juli) in den Römischen Festkalender aufgenommen, sodass trotz der Zunahme der Verehrung des Hl. Josef Anna noch im Zentrum der Hl. Sippe und Familie verblieb, allerdings nicht mehr lange. Von einer mächtigen Mutterfigur, die laut Jakobus-Evangelium dreimal heiratete (Trinubium), was bis ins 14. Jh. positiv angesehen wurde (in der Analogiekette: Mutter-Materie-Erde, dabei aber nicht frei von heidnischen Einflüssen), wurde Anna zunächst mehr mit der unbefleckten Empfängnis zusammen gedacht (vgl. Zeller 2003: 7-17) und schließlich von Josef regelrecht aus der Hl. Familie verdrängt. „Nun überragt und hinterfängt Joseph die Gruppe [bei „Tondo Doni“ von Michealangelo, 1504, DK]. Er ersetzte in der Folge die Großmutter als Familienoberhaupt und die Kleinfamilie verdrängte die Generationenfolge“ (Zeller 2003: 22). Die Skepsis gegenüber den legendenhaften Ausschmückungen des Jakobus-Evangeliums wurde zunächst von den Dominikanern stark gemacht – die im Gegensatz zu Legenden die verstandesmäßige Durchdringung des Glaubens (intellectus fidei) als theologisch-kirchlichen Fokus verstanden. Im Zuge der Bedeutungszunahme der Verehrung der jungfräulichen Maria und ihres keuschen Gatten (der bis zum 15. Jh. auch nicht als keusch angesehen wurde) – einhergehend mit dem berühmten Disput von Franziskanern und Dominikanern – traten die Hl. Anna und das Trinubium auch bei allen anderen Orden sowie der Gesamtkirche in den Hintergrund.

Hinter dem Ersetzen von Anna durch Josef könnte sich ein sich wandelndes Familienbild verbergen, das langsam aufscheint. Dieses enthält immer mehr die neuzeitlich-moderne Form des patriarchalen Familienoberhaupts mit klareren Geschlechterrollen für Mann und Frau (wenn auch nach Laqueur bis ins 18. Jh. noch im Ein-Geschlecht-Modell) und tendiert immer mehr zum Bild einer Kleinfamilie – ein anscheinend anderes ‚Patriarchat’ als das des Spätmittelalters mit der Hl. Anna als ‚Stammmutter’. Außerdem übernahm Josef auch noch Patronate der Hl. Anna, was die Bedeutungsverschiebung illustriert: Nicht nur Beschützer von Gottesmutter und Gottessohn, sondern auch die Aufgabe, für einen guten Tod zu sorgen, ging von Anna auf Josef über. An dieser Entwicklung könnte auch der Protestantismus einen Anteil haben, denn das reformatorische Schriftprinzip ‚sola scriptura’ und damit ein Ausschließen apokrypher Legenden (wie etwa des Trinubiums) wirkte sich auch im Reformkatholizismus der Gegenreformation mit seiner inhaltlichen Begründung im Trienter Konzil (1545-63) aus, was sich deutlich auch in den religiös geprägten künstlerischen Darstellungsformen widerspiegelte.

Ab 1479 wird der 19. März als offizieller Festtag gefeiert und 1621 zum Feiertag erhoben. Seit 1714 ist er als Fest des Bräutigams der Gottesmutter Maria für die ganze Kirche vorgeschrieben. Mit der Gegenreformation und Barockzeit verstärkte sich die Verehrung des Hl. Josef weiter. Seit dem 30-jährigen Krieg war der Taufname Josef einer der häufigsten. In der Kunst wurde der ‚Hl. Wandel’ (Kleinfamilie gehend, aus Ägypten heimkehrend) immer häufiger dargestellt. Es gab dieses Motiv schon im Mittelalter, aber mit und in der Gegenreformation wurde es besonders häufig dargestellt. Das Bild stand für christlichen Gehorsam, denn Josef hört auf das, was ihm in seinen Träumen von Gott, vermittelt über die Engel, gesagt wird, nämlich aus Ägypten heimzukehren und weiter das Jesuskind zu beschützen: Dieser Gehorsam gegenüber Gott, jetzt vermittelt über die katholische Kirche, muss nun im Kontext der neu entstehenden Staaten (cuius regio, eius religio) und ihrer kriegerischen Konkurrenz gelebt werden. Zudem scheint in der Darstellung das Bild der Kleinfamilie auf: Das behütete Kind zwischen Vater und Mutter.

Die möglicherweise noch mit Anna Selbdritt sich symbolisch zeigende (relative) ‚Macht’ von – zumindest einigen – Frauen in der Landwirtschaft und besonders im Reproduktions- und Gesundheitsbereich (Geburtenregelung, Heilkünste) ging mit ihrer Stellung in der Familie und im Dorfleben im Rahmen einer Feudalgesellschaft einher, der durch die Hexenerfolgungen (gerade im Zusammenhang mit den ‚Einhegungen’ auf dem Land) ein Riegel vorgeschoben wurde. Zugespitzt formuliert: Wenn nicht die Ehe Frauen regulierte und ihren Stand unter den Männern deutlich machte, wurden sie verfolgt, gefoltert und/oder ermordet. Ob dabei die Ablehnung der Annenlegende durch die Dominikaner einen Einfluss auf deren inquisitorischen Tätigkeiten hatte sei dahingestellt, aber deutlich ist: Die Verschiebung von Anna zu Josef in der Darstellung der Hl. Familie und die aufgezeigte Intensivierung der Verehrung des Hl. Josefs, immer mehr auf Augenhöhe mit Maria, scheinen ein Teil des kulturell-symbolischen (in der Kunst) und religiösen (in Theologie und Kirche) ‚Begleitprogramms’ zu Protestantismus, Humanismus, Hexenverfolgung und Gegenreformation gewesen zu sein – bei aller Unterschied- und Gegensätzlichkeit von Motiven und Zielen. Hierzu gehört auch die Entwicklung, nach der Josef ab dem 15. Jh. nicht mehr mit jüdischen Attributen (im Mittealter oft als Patriarch und jüdischer Vorfahre Jesu dargestellt; vgl. Kaster 1974: 213) dargestellt wurde: Auch der Antijudaismus, der in der Neuzeit aus den Gottesmördern und Brunnenvergiftern des Mittelalters die Geldmonster macht und so zum Antisemitismus wird – und in Luther einen ersten großen, aber zu dieser Zeit nicht den einzigen Protagonisten hat (vgl. Creasman 2002) – scheint sich auf kulturell-symbolsicher Ebene auszudrücken.

In der Zeit des Barock, sprich der Gegenreformation, der blutrünstigen staatenbildenden Kriege des 17. Jh. und der Kolonialzeit, nahm die politische Bedeutung der Josefsverehrung zu. Sein Ge- und Missbrauch in und für die Politik der neuen Territorialstaaten deutete auf eine fortbestehende ideologische Bedeutung der Kirche(n) hin, die sich in den Patronaten als ‚religiöse Inszenierung’ auf kulturell-symbolischer Ebene ebenso wie in Kunstwerken ausdrückte. Im 17. Jh. wurde der Hl. Josef Hausheiliger der Habsburger, zunächst für Böhmen, später für das ganze Römische Reich deutscher Nation. 1620 zog Kaiser Ferdinand II. mit einem Bild Josefs in die Schlacht gegen die pfälzisch-böhmische Armee bei Prag und siegte. Nach der Befreiung vom ‚Türkenangriff’ 1683 wurden Josef und Maria (Mariä Namen ist seitdem Gedenktag) besonders gedankt. Im 17. Jh. wurde Josef Schutzpatron der Spanischen Niederlande, Kanadas und Frankreichs, bereits im 16. Jh. von Mexiko. Die ‚besonders katholischen’ Staaten übernahmen diesen Patron, womit zugleich seiner neuen Stellung, gleich hinter Maria und noch vor den Aposteln und Märtyrern, sowie der Wichtigkeit der (neuen, modernen) Staaten Ausdruck verliehen wurde.

Bei der Verbreitung des Josefkults waren die Jesuiten sehr wichtige Akteure. Sie waren die Hauptprotagonisten der Gegenreformation und für die Bildungseinrichtungen in den katholischen Gebieten über zwei Jahrhunderte – bis nach Lateinamerika – verantwortlich. In ihren Kirchen sind Marien- und Josefsverehrung fast auf Augenhöhe. Damit wurde auch das Bild des Josefs als keuscher Mann einer keuschen Frau und zugleich starker und gehorsamer Beschützer sehr weit verbreitet.

Nach der Gegenreformation und den Revolutionen des 18. und 19. Jh. wuchs ab dem 19. Jh. die Verehrung erneut massiv an – trotz Aufklärung. Ab dem 17. und vor allem 18. Jh. wurde Josef auch immer häufiger ohne Maria, sondern allein mit Jesuskind (seltener ganz alleine) dargestellt. Darin könnte sich die Bedeutung des Mannes im sich nun weithin durchgesetzten patriarchalen Kapitalismus widerspiegeln. Sie wurde dargestellt im Bild Josefs als des Nährvaters des Gottessohnes, als Familienoberhaut einer entstehenden bürgerlichen Kleinfamilie. Damit zeigte sich die Bedeutung des Mannes als Familienoberhaupt und als des Teils der Familie, der für den öffentlichen Bereich (von Wirtschaft und Politik) allein zuständig wurde, auch in der Verehrung von Marias Mann. So äußerten sich in der sich verändernden Darstellung des Hl. Josef die Anzeichen eines Wandels in den Geschlechterverhältnissen.

Dem könnte entgegenstehen – und müsste eigens untersucht werden –, dass gleichzeitig die Marienverehrung ja nicht verschwand: Die Gottesmutter ist und bleibt unter Orthodoxen und Katholiken die am meisten verehrte rein irdische Person. Sie wird seit dem 14. Jh. stark in einer Beschützerinnenrolle, insbes. gegen die Pest, als Schutzmantelmadonna verehrt, seit der Gegenreformation vor allem als Königin und Immaculata. Seit dem 17./18.Jh. wurden Maria und Josef häufig alleine mit dem Jesuskind dargestellt und so einzeln hervorgehoben. Dem gegenüber steht wiederum die im 19. Jh. wieder neu entstandene und von Kanada aus, mit Unterstützung Leo XIII., sich weltweit ausbreitende Darstellung der Hl. Familie (vgl. Uder o.J.), wodurch die Hl. Familie als Ur- und Vorbild jeder christlichen Familie fungieren soll und in dem das gesellschaftlich sich tendenziell durchgesetzte Zwei-Geschlechter-Modell mit den Zuständigkeitsbereichen für Mann (öffentlich) und Frau (privat) zumindest unbewusst zum Ausdruck kommt.

Nachdem die Bedeutung der Kirche(n) in den Jahrhunderten der entstehenden Moderne bis ins 18. und 19. Jh. gewährleistet war und sich auch in der Verehrung des Hl. Josef ausdrückte, bekam diese Verehrung nach Abschluss des „Inkorporationsprozess der kapitalistischen Weltwirtschaft“ (Immanuel Wallerstein) und ihrer ideologischen Durchsetzung in der Aufklärung (s. FN 9) eine kaum noch übersehbar anti-modernistische Schlagseite:

Die Angst vor dem Ende des Kirchenstaats und später vor allem vor Liberalismus und noch mehr vor dem gottlosen Sozialismus als Massenphänomen – inkl. der proles der Arbeiterschaft als Gegenbild zur ‚zivilisierten’ Kleinfamilie – sowie einem auch mit Frauenbewegungen verbundenen vermeintlichen Familienzerfall prägte das theologische Denken im 19. Jh. bis weit ins 20. Jh. unter dem Schlagwort des Integralismus. Durch diese Phänomene – so die integralistischen Päpste – geriete ein christliches Familienbild in Gefahr, zerstört zu werden. So musste auch hierfür der Hl. Josef als Schutzschild herhalten: Im Mittelalter noch als eine Art erster ‚Hausmann’ im Hintergrund dezent verehrt, wurde er nun als arbeitendes Familienoberhaupt der bürgerlichen Kleinfamilie gepriesen. Auch die anti-biologistische Konnotation Josefs als nicht-biologischer Ziehvater in einer Zeit des naturalistischen Zwei-Geschlechter-Modells schützte nicht vor der Affirmation der bürgerlichen (Klein-)Familie mit dem Vater als arbeitendes Oberhaupt und einer in Häuslichkeit zu verbleibenden und für Kindererziehung zuständigen Ehefrau. Die Verehrung Josefs in diesem Sinne wurde durch die Päpste Pius IX. (1846-78) und Leo XIII. (1878-1903) stark angetrieben. Neben der Angst vor dem Familienzerfall war die Angst vor dem Kommunismus und des Verlusts der christlichen Arbeiter an die linken Gewerkschaftsbewegungen besonders ausgeprägt, was sich auch in der ersten Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ (1891) zeigte.

Im 19. Jh. wurden viele Bruderschaften und Orden unter Josefs Namen und Vereine zu seiner Verehrung gegründet sowie zahlreiche Kirchen auf seinen Namen geweiht. Besonders das I. Vatikanum von 1869/70, in dessen Rahmen der Hl. Josef mit dem Dekret „Quemadmodum Deus“ zum Patron der ganzen katholischen Kirche gemacht wurde (und der 19.3. zum Hochfest), veranschaulichte in besonderer Weise den Rang, den Josef inzwischen erlangt hat. Im Fahrwasser dieses Konzils zeigte sich auch in Koblenz (vgl. Pfarramt St. Josef 1982) mit der Gründung von St. Josef in der südlichen Vorstadt (Grundsteinlegung 1895, Konsekration 1898) die über innerkirchliche Dimensionen hinausreichende Bedeutung des Hl. Josef. Die Entscheidung für den Namen St. Josef war auch als politisches Statement mit kritischem Einschlag gegen die preußisch-protestantisch geprägte Reichsregierung zu verstehen, auch wenn der Kulturkampf (1870/80er) offiziell beendet war. Es ist also kein Zufall, dass zu jener Zeit des Milieukatholizismus Josef mehr Kirchen geweiht wurden als jedem anderen Heiligen. In Koblenz kommt noch der Umstand hinzu, dass ab 1814/15 (Wiener Kongress) die vornehmlich katholischen Rheinlanden von den protestantischen Preußen regiert wurden und zudem nach dem Reichdeputationshauptschluss Anfang des 19. Jh. drei katholische Kirchen und fünf Kapellen in Koblenz abgeschafft wurden. Die Kirche St. Josef – auch in ihren Ausmaßen und Architektur (französische Neu-Gotik) – war eine Art symbolische Retourkutsche gegen die in Koblenz ansässige Regierung der preußischen Rheinprovinz.

Die Moderne und ihre Entwicklung bis in ihren Zerfall, den wir gegenwärtig erleben, gab und gibt Grund zur Kritik. Leo XIII. hat sie als Kritik an Rationalismus, Naturalismus, Atheismus, Nihilismus sowie Sozialismus und Kommunismus durchaus geübt. Sie blieb letztlich jedoch auf die alten feudal geprägten Verhältnisse und die Sorge um die bedrohte Rolle der Kirche zentriert. Damit aber war der Sorge um die Menschen, vor allem um die Arbeiterschaft, die Opfer der modernen Verhältnisse wurden, eine Handbremse angelegt. Die kirchliche Kritik an der Moderne ist nicht vom kirchlichen-integralistischen Antimodernismus zu trennen, dem es darum geht, für die Kirche an die moderne Gesellschaft verlorenes Terrain zurückzugewinnen und auch profane Bereiche des Lebens kirchlicher Kontrolle zu unterstellen. Mit Oswald von Nell-Breuning kann man von einem „religiösen Totalitarismus“ sprechen (vgl. Stegemann 2009). Auch für diese Entwicklung wird der Hl. Josef vereinnahmt: Leo XIII. veröffentlichte 1889 die Enzyklika „Quamquam Pluries“ und nahm insgesamt in 10 apostolischen Schreiben Bezug auf Josef. In der genannten Enzyklika wurde geradezu eine Josephologie ausgearbeitet: Die Hl. Familie als Keimzelle der Kirche sowie Josef als Vorsteher des Gründers der Kirche wurden eine kaum zu überbietende Bedeutung zugeschrieben. Gleichzeitig wurde Josef als Arbeiter immer stärker verehrt, der mit Bezug zum Buch Genesis als mitschöpfender Bebauer der Erde seine Aufgaben zu leisten habe und dabei als leuchtendes Vorbild für alle arbeitenden Familienoberhäupter dienen sollte. So sollte Josef als katholisches Gegenbild zu den gottlosen ‚Helden der Arbeit’ des Kommunismus seit dem 19. Jh. stark gemacht werden. Von Pius XI. wurde der Hl. Josef 1937 zum Schutzpatron gegen den Kommunismus ernannt und Pius XII. verankerte den 1. Mai ab 1955 als zweiten Joseftag im Heiligenkalender, an dem er als Arbeiter gefeiert werden sollte. Damit war der christliche Arbeiter gegen den sozialistischen und kommunistischen Arbeiter aufgewertet und ein christlicher Arbeiterfeiertag neben oder auch gegen den seit 1886 als Kampftag der Arbeiter von Sozialisten/Kommunisten gefeierten Tag gesetzt.

Die vorkonziliar-integralistisch orientierte Epoche der Verehrung des Hl. Josef ist in einem Zitat aus einem Heiligenbuch (Hümmeler 1954: 143-144), das den Hl. Josef als „Adel der Arbeit“ (ebd.: 142) und Vertreter ‚männlicher Frömmigkeit’ (anstelle „süßer Andächtelei“, ebd.: 143) darstellt, prägnant und vor allem mit seinen problematischen Aspekten zusammengefasst: „Bei Lebzeiten ein kleiner Handwerker, so arm und verachtet, dass selbst dem Menschensohn gelegentlich die anscheinend niedrige Abstammung zum Vorwurf gemacht wurde, ist Joseph von der Kirche den großen Kirchenlehrern und Patriarchen beigestellt worden, und mit Recht! Sie hüteten den Glauben vor inneren und äußeren Feinden; er aber hat den Urheber des Glaubens vor einem Herodes gerettet. Sie haben ihren Gott und Herrn in der Hülle des Brotes durch die sündige Welt getragen; er aber durfte den lebendigen Gott leibhaftig umarmen. Schutzpatron der Kirche, Schutzpatron der Familie, Schutzpatron der Sterbenden – mit diesen überirdisch hohen Ehrentiteln lohnte die Kirche ein männlich opferbereites Herz, eine männlich reine Liebe.“

Das II. Vatikanische Konzil hat mit dem kirchlichen Antimodernismus und Integralismus gebrochen und ein positives – und leider zu unkritisches (vgl. Böttcher 2013) – Verhältnis zur Moderne entwickelt. Der Verehrung des Hl. Josef tat dies keinen Abbruch: Er wurde kurz vor dem Konzil 1962 durch Johannes XXIII. sogar in den Kanon der Hl. Messe aufgenommen und als „Haupt der Hl. Familie“ zum Patron des II. Vatikanums gemacht. Ob damit bewusst-unbewusst noch einmal das Nachkriegsfamilienbild gestärkt werden sollte?

Schließlich ist noch einmal 1989, 100 Jahre nach Quamquam Pluries, durch das Lehrschreiben „Redemptoris Custos“ von Johannes Paul II. Josef in den kirchlichen Fokus gerückt. Im Bezug zu diesem Apostolischen Schreiben scheint als Vermutung nicht ganz abwegig: In der Zeit der Postmoderne mit Individualisierung und zunehmenden Familien-‚Zerfall’ macht der Papst Josef als Hüter Christi und die Kombination des kontemplativ-stillen Lebens mit Arbeitsamkeit stark. Er adelt die Arbeit und betont ihren Vorrang vor dem Kapital – in einer Zeit zunehmender, struktureller Arbeitslosigkeit, des Verschwindens der Arbeit als Quelle von Wert und Mehr-Wert – sowie den väterlichen Schutz in Zeiten zunehmend alleinerziehender Mütter. Die Frage nach der Moderne stellt sich in ihrem Zerfall noch einmal neu und mit ihr vielleicht auch die Frage nach der Bedeutung des Hl. Josef.

5. Schlussbemerkungen

Die ‚Karriere’, die der Hl. Josef hinsichtlich seiner Bedeutung und Verehrung in Neuzeit und Moderne gemacht hat, verlief in jahrhundertelangen Veränderungsprozessen, in denen sich politisch, ökonomisch, sozial und kulturell eine neue, die kapitalistische Gesellschaft gebildet hat. Im Eingebundensein in diese Geschichte gewinnt die Verehrung des Hl. Josef ihre Bedeutung. Sie kann nicht davon abstrahiert werden. Zugleich aber ist es wichtig zu sehen, dass der Bedeutungszuwachs, den der Hl. Josef erfährt, sich auf einer kulturell-symbolischen Ebene abspielt, die zwar nicht ohne die materielle – vor allem politisch-ökonomische – Ebene verstanden werden kann, aber auch nicht nach dem marxistischen Schema von Basis-Überbau einfach daraus abgeleitet werden kann oder gar darin aufgeht. Denn: Die kulturell-symbolische Ebene, wie sie sich in der Kunst ebenso wie in Liturgie und Verehrung darstellt, entfaltet in ihrer Bindung an inhaltliche wie symbolische Traditionen durch die Vermittlung in geschichtlichen Prozessen eine Eigendynamik.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Bedeutungsgewinn für den Hl. Josef auch nicht eindeutig dem einen oder anderen Aspekt der immer auch widersprüchlichen Prozesse zuordnen, in denen sich die moderne kapitalistische Gesellschaft herauskristallisierte. Auf der Grundlage des in diesem Text Dargestellten können jedoch folgende unterschiedliche Aspekte genannt werden:

Das Bild des Hl. Josef als Arbeiter entspricht dem Gefüge, in dem sich die kapitalistische Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft herausbildete und in der Arbeit als Quelle von Wert und Mehr-Wert die ‚Substanz des Kapitals’ darstellt. Mit den politisch-ökonomischen Prozessen gewinnen zugleich Werte an Bedeutung wie sie sich im Zusammenhang mit Luthers Aufwertung der Arbeit und darüber hinaus in dem zeigen, was Max Weber die „protestantische Ethik“ genannt hat. Solche Werte spiegeln sich katholischerseits im Bild des Hl. Josef als eines fleißigen und arbeitsamen Mannes, der seine Pflichten gehorsam erfüllt und darin seiner Berufung nachkommt. Zu dieser Ebene gehört auch der Hl. Josef als Schutzpatron von sich aus feudalen Zusammenhängen herausbildenden Nationalstaaten. Sie haben die Prozesse vorangetrieben, die schließlich in die Formierung von modernen kapitalistischen Gesellschaften einmündeten.

Zum „Urbild eines christlichen Mannes“ (Schumacher 2013: 4), das der Hl. Josef darstellen soll, gehört nicht nur die Arbeit, sondern wesentlich auch seine väterliche Rolle als Oberhaupt und Beschützer der sich in Neuzeit und Moderne bildenden Kleinfamilie, die mit der Abspaltung weiblich konnotierter und minderbewerteter Reproduktion und der Entwicklung eines „androzentrisch Unbewussten“ (Roswitha Scholz) einhergeht. In seiner Vaterrolle wird er zugleich mit Maria zum Träger des Reinheits- und Keuschheitsideals, das damit von der Jungfrau auf den ‚christlichen Mann’ und so auf die ‚christliche Familie’ ausgeweitet wird.

In all dem sind biblische und kirchliche Traditionen wirksam, die nicht aus der Moderne hervorgehen, die aber in ihr neu aktualisiert und wirksam werden. Dass es dabei nicht primär oder selten um eine unmittelbare Legitimation moderner Prozesse durch eine religiöse Aura geht, wird darin deutlich, dass die wachsende Bedeutung des Hl. Josef nicht nur in die (Entstehungs-)Geschichte der Moderne, sondern zugleich in die der kirchlichen Antimoderne und des Integralismus eingebettet ist. In diesen Zusammenhängen wird er zum Bild dessen, was die Kirche gegenüber der Moderne als bedrohlich empfindet. Angesichts des Zerfalls kirchlicher Macht wird er zum Schutzpatron der gesamten Kirche und zum Patron vieler Kirchen. Als Ideal des fürsorglichen Familienoberhaupts steht er gegen Bedrohungen, denen die christliche Familie dadurch ausgesetzt ist, dass sich auch in ihrem Raum die gesellschaftlichen Prozesse von Verarmung, Verrohung und moralischem Zerfall wiederfinden. Bedroht ist nicht zuletzt der Glaube durch einen sich vor allem unter Arbeitern ausbreitenden Atheismus, der von sozialistischen Arbeiterbewegungen befeuert wird. Inmitten von Zerfall und Bedrohung erstrahlt das Bild des Hl. Josef, der die Familie als ‚Kirche im Kleinen’ vor sexueller Unreinheit und ideologisch-atheistischem ‚Unrat’ bewahrt und als Patron der gesamtkirchlichen Familie, die Kirche angesichts ihrer Bedrohungen und ihres Machtverlusts väterlich-fürsorglich begleitet und ihr Sicherheit im Hinblick auf die Verunsicherungen durch die Moderne gewährt.

Nun bewegen wir uns aktuell auf einen zunehmenden „Kollaps der Modernisierung“ (Robert Kurz) zu, auf einen Zerfall des Kapitalismus. Dieser Kollaps hängt wesentlich mit dem Zerfall der Arbeit zusammen. Mit den technologischen Möglichkeiten, die den konkurrierenden Unternehmen und Staaten mit der mikroelektronischen Revolution geboten werden, kann mehr Arbeit durch Technologie ersetzt werden als sich durch Steigerung der Warenmenge und ihres Verkaufs kompensieren lässt. Dies markiert die Grenze der kapitalistischen Entwicklung, die auf der Verausgabung von Arbeit beruht. Mit der Arbeit schwindet die für den Kapitalismus unverzichtbare Quelle von Wert und Mehr-Wert und bedroht so die Akkumulationsfähigkeit des Kapitals. Dieser Prozess macht die Arbeit von immer mehr Menschen überflüssig. Die damit Ausgeschlossenen sind nicht einmal durch Arbeit Ausgebeutete, sondern ‚Müll und Abfall’, wie Papst Franziskus es in Evangelii Gaudium (vgl. EG 53) formuliert hat. Und die sich in der Krise verschärfende Konkurrenz treibt immer mehr zu einer ‚Wirtschaft, die tötet’ (vgl. ebd.). und droht mit der Schöpfung die Grundlagen des Lebens zu zerstören.

Ließe sich in dieser Situation der Hl. Josef noch einmal neu entdecken? Er hätte gute Chancen, wenn es gelänge, an die biblischen Traditionen anzuknüpfen, die sich mit ihm verbinden. Da wäre zunächst die Tradition der Gerechtigkeit, die sich nach dem Matthäusevangelium an dem orientiert, was Menschen zum Leben brauchen (Mt 25). In dieser Tradition beschützt der Hl. Josef zunächst die schwangere Maria und später das Leben seiner Familie, die er im Gehorsam gegenüber Gott vor der Bedrohung durch Herodes als Handlanger römischer Machtausübung rettet. Der Gehorsam des Hl. Josef wäre als Gehorsam gegenüber Gott zu verstehen, der widerständig macht – gegen Ägypten, gegen Rom und gegen heutige Herrschafts- und Machtverhältnisse. Es ist ein Hören auf Gott, von dem die Bibel erzählt, er höre die Schreie der Armen und Unterdrückten (Ex 3), das sich mit dem Hören auf die Schreie der Armen (EG, 187-193) sowie auf den Schrei der Erde (vgl. Laudato Si’) verbindet. Und schließlich wäre die biblisch mit Gerechtigkeit verbundene Heiligkeit in der Trennung von Ägypten zu sehen, worauf die Gebote des Heiligkeitsgesetzes (Lev 18 ff.) zielen. Heiligkeit als Zugehörigkeit zur Heiligkeit Gottes zeigt sich im Gehorsam gegenüber dem, was Gott heilig ist, und im Ungehorsam gegenüber dem, was Systeme von Unrecht und Gewalt – gleichsam als Götzen/Fetische – fordern. In solcher Trennung zwischen Gott und Götzen zeigt sich die ‚Reinheit’ der Heiligen. Sie sind ‚keusch’ gegenüber den Versuchungen von Herrschaft und Macht sowie ‚unbefleckt(er)’ vom damit einhergehenden Unrecht.

Könnte der Hl. Josef in Aufnahme dieser biblischen Traditionen in der aktuellen geschichtlichen Situation zu einem Schutzpatron derer werden, die bedrohte Menschen und die bedrohte Schöpfung durch ihren Gehorsam gegenüber Gott, durch das Hören auf Gottes Wort in der Geschichte Israels und seines Messias und zugleich im Hören auf die Schreie der Armen und der zerstörten Erde zu schützen versuchen? Könnte der Hl. Josef zum Patron derer werden, die in der Kritik der Wert-Abspaltung und ihrer Inferiorisierung von Frauen „traditionelle Männlichkeit transformier[en]“ (Anderson 2020: 125)? Und könnte somit der Hl. Josef schließlich zum Patron derer werden, die sich kritisch mit einem Gesellschaftssystem, das tötet, auseinandersetzen, und danach streben, sich von einer solchen Gesellschaft zu ‚trennen’?

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  1. Der Name Josef wird von der Wurzel יסף jsp ‚hinzufügen/fortfahren’ (3. Sg. Impf. Hif.) abgeleitet. Nach Gen 30,24 („JHWH möge mir (noch) einen anderen Sohn hinzufügen“) deutet dies auf einen Namen hin, in dem sich das Ideal zahlreicher (oder später) Nachkommenschaft Ausdruck verschaffte, wie es an vielen Stellen vorkommt, etwa in Gen 15,5, Gen 17,6, Gen 24,60, Gen 28,14, Jer 33,22, Ps 127,4f. usw. Der Name Josef gehört zu den theophoren Satznamen, die sich aus der Nennung Gottes als Subjekt und einem Prädikat zusammensetzen: „theos pherein“ bedeutet Gott tragen. In der Kurzform, die auch bei dem Namen Josef (=‚er möge hinzufügen’) vorliegt, kann die Nennung der Gottheit als Subjekt auch wegfallen. In seiner Langform Josifja (יוֹסִפְיָה = ‚JH[WH] möge hinzufügen’) begegnet der Name in Esr 8,10 oder als auch Eljasaf (אֶלְיָסָף = „El/Gott hat hinzugefügt“) in Num 1,14 oder Num 2,14 (vgl. Lux 2013).^

  2. Josef wird meist als bedeutend angesehen, weil er durch seine Nähe zum Erlöser eine Sonderstellung und diesem väterlichen Schutz gewährt hat – trotz Vorranges der Gottesmutter. Hierbei wird wie folgt unterschieden: cultus hyperduliae (Kult der ‚übermäßigen’ Verehrung, Maria), cultus duliae (Heilige und Engel) und cultus protoduliae (Josef) – im Gegensatz zum cultus latriae (Gott/Anbetung).^

  3. Der Kapitalismus als ‚konkrete Totalität’ (verstanden als Gesellschaftsform sind alle Ebenen des menschlichen Lebens impliziert: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur, Psychologie, Geschlechterverhältnisse•) wird zum einen als Prozess der Kapitalakkumulation bestimmt, der in der Verausgabung von Arbeit in der Produktion sowie in der Zirkulation von Waren auf dem Markt besteht: Ziel dabei ist die Geldvermehrung (G-W-G’). Der Kapitalismus umfasst zum anderen neben der männlich konnotierten Warenproduktion die gleichursprüngliche weiblich konnotierte Reproduktion. Er ist somit die Gesellschaftsform des (real-)abstrakten, irrationalen Selbstzwecks der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen und seiner abgespaltenen Momente. Diesen historisch-dynamischen, krisenhaften Verwertungsprozess der Kapitalakkumulation sichert der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Friedrich Engels). Gleichzeitig ist er abhängig von diesem Prozess, genauer gesagt von dessen ‚Abfallprodukt’, den Steuern, mit denen er die dafür notwendigen Voraussetzungen (Soziales, Wissenschaft, Infrastruktur, Gesetze etc.) schafft und politisch steuert. Da der Verwertungsprozess auf der Verausgabung von Arbeit zur Wertproduktion beruht, die gleichzeitig aufgrund der Konkurrenz zu teuer geworden ist und damit als variabler Teil des Kapitals zu reduzieren ist, gräbt er sich schleichend – in einem „prozessierenden Widerspruch“ (Karl Marx) – sein eigenes Grab und reißt den Globus, inkl. der abgespaltenen Momente, in den Abgrund. Vgl. hierzu die zahlreichen Publikationen von Robert Kurz, Roswitha Scholz und der Gruppe Exit (sowie vor 2004 Krisis), die diese Krisengesellschaft theoretisch zu fassen versuchen (vgl. Exit!). In einem Text größtenteils zusammengefasst können die Inhalte bei Böttcher 2012 nachgelesen werden.^

  4. Durch die kolonialen Eroberungen in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten wurde die Zwangsarbeit noch ausgeweitet, bevor peu à peu durch die Einhegung der Gemeingüter (s.u.) und das Verbot der Sklaverei (weil diese ökonomisch immer ineffizienter wurde) die ‚freie Lohnarbeit’ zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert entstand.^

  5. Die moderne Ökonomie ist durch die Politik konstituiert und kann auch in der weiteren Entwicklung nicht ohne ihren polaren Partner, den „Leviathan“ (Thomas Hobbes), existieren. Mit der ‚politischen Ökonomie’ etablieren sich absolutistische Staatsapparate, die bis ins 19. Jh. einen protektionistischen Merkantilismus betreiben. In den frühmodernen Kriegen um die Bildung staatlicher Territorien prallen sie gewaltsam aufeinander. „Die absolutistischen Territorialstaaten, die sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert in Europa bildeten, standen und fielen mit hochgerüsteten Söldnerheeren, und die wiederum ließen sich ohne tiefe Verschuldung des jeweiligen Herrscherhauses weder zusammenstellen noch halten“ (Türcke 2015: 231). Hier drückt sich bereits die bis heute gültige polare, gegenseitige Abhängigkeit von Ökonomie und Politik aus. Auf Seite des ökonomischen Unternehmertums, staatlich protegiert, waren vor allem Handelskompagnien und Banken – zunächst vor allem in Oberitalien, ‚Oberdeutschland’, den Niederlanden und später in England – die Hauptakteure. Als solche waren sie für die Vergabe von Krediten, die gewaltsame Ausweitung des globaler werdenden Handels, Neuerungen wie die doppelte Buchführung, Versicherungen oder die Einführung von Wechseln und später von Papiergeld und Aktien verantwortlich.^

  6. Dass es in Antike und Mittelalter Unterdrückung von Frauen gab, soll hier keinesfalls negiert werden, ist aber nicht das Thema. Diese Unterdrückung sah auf jeden Fall aus verschiedenen Gründen anders aus als in der Moderne, was hier zumindest angedeutet werden soll.^

  7. Ich greife hier in erster Linie auf Laqueurs ‚Geschlechter-Geschichte’ zurück (vgl. Laqueur 1996/1990), in der er durch die Untersuchung philosophischer, medizinischer und literarischer Werke sowie anatomischer Darstellungen die Bedeutung der ‚Kategorie’ Geschlecht nachvollziehbar macht. Dabei stellt Laqueur ein bis ins 18. Jh. gedachtes Ein-Geschlecht-Modell einem mit der Aufklärung sich durchsetzenden Zwei-Geschlechter-Modell gegenüber. Er macht deutlich, dass Geschlecht nicht rein biologisch oder sonst wie isoliert wahrnehmbar, sondern immer kontextabhängig ist. „Sowohl in der Welt, die das leibliche Geschlecht als ein einziges versteht, als auch in der, die von zwei Geschlechtern ausgeht, ist Geschlecht eine Sache der Umstände; erklärbar wird es erst im Kontext der Auseinandersetzungen über Geschlechterrollen (gender) und Macht“ (ebd.: 25). Biologische Aspekte können dabei nicht negiert werden, aber Laqueur zeigt, wie ein sich durchsetzender Empirismus aus dem einen Geschlecht zwei gänzlich zu unterscheidende, ‚inkommensurable’ Geschlechter machte.

    Dem Ein-Geschlecht-Modell/Isomorphismus zufolge – in ganz unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Ausprägungen von Aristoteles, über Hippokrates, Augustinus, Galen, Avicenna bis zur Renaissance – konnten Männlichkeit oder Weiblichkeit zugeschrieben werden (wenn auch nicht frei und individuell entscheidbar), d.h. dass es keinen grundsätzlichen, sondern einen graduellen Unterschied zwischen den Geschlechtern gab – allerdings mit dem Männlichen als Telos, das aber auch von Frauen (wenn auch selten) erreicht werden konnte. Der Unterschied von Mann und Frau war von Anfang klar: Frauen können Nachkommen zur Welt bringen, Männer nicht. Aber: Die Ähnlichkeit war das Hervorstechende, nicht die Verschiedenheit – was wiederum durch eine Art gebrochene männliche Dominanz von ‚Macht und Ehre’ konterkariert wurde, sodass von einer vermutlich ziemlich ungleichen Gleichheit gesprochen werden kann.^

  8. In der Kunst drückte sich dies etwa in der Renaissance aus, schon im Trecento (14. Jh.) und Quattrocento in Italien – klassisch ausgedrückt bei den Künstlern wie Giotto und Masolino (Brancacci-Kapelle) und ihren vielen noch berühmteren Nachfolgern von da Vinci bis Raffael. Die Darstellungen (später auch bei Dürer) waren realistischer, individueller, oft reale Personen abbildend. In der Philosophie wurden griechisch-antike Philosophien wieder rezipiert – Aristoteles im 13. Jahrhundert von Albertus Magnus und Thomas von Aquin (‚conversio ad phantasmata’), in der Renaissance-Philosophie stark platonisches Denken. Bereits durch den Nominalismus, seine Negation von Universalbegriffen und die Hervorhebung des Partikularen soz. denkerisch ‚vorbereitet’ mündete in der Reformation das stärker individuell ausgerichtete Denken in den ‚allein’ vor Gott stehenden und auf seine Gnade hoffenden Menschen ebenso wie in den Humanismus eines Erasmus v. Rotterdam.^

  9. Die ideologische Durchsetzung der gesellschaftlichen Formprinzipien von Arbeit, Geld und Staat wurde, zunächst in Europa und Nordamerika, – als mit der Moderne ab dem 18. Jahrhundert der „Inkorporationsprozess der kapitalistischen Weltwirtschaft“ (Immanuel Wallerstein) größtenteils abgeschlossen und der „Gang in sich“ (Karl Marx) des Kapitals als selbstreferentieller Prozess begann – in der Aufklärung ‚vollendet’ (vgl. Kurz 1999; vgl. auch ders. 2004; vgl. zusammenfassend Böttcher/Kloos 2015). Da die Verehrung des Hl. Josef in dieser Zeit aber – zumindest nach Aussage der hier verwendeten Literatur – keine Veränderungen bzw. auffälligen Ausformungen annahm, bleibt diese Epoche außen vor.^

  10. Vor dem 15. Jh. haben sich nur vereinzelt Kirchenväter, Bernhard von Clairvaux und nur wenig Thomas v. Aquin mit Josef beschäftigt, da sein Ehestatus mit Maria, insbes. wegen der Erwähnung von Jesu Brüdern im NT, im Mittelalter als schwierig und unklar angesehen wurde.^




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