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exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 15 erscheint im April 2018

Inhalt

  • Editoral
  • Handlungsmacht – und das konkret! Offener Brief an die Interessenten und Interessentinnen von exit! zum Jahreswechsel 2017/18
  • An unsere Abonnenten und Abonnentinnen und Käufer/-innen
  • Claus Peter Ortlieb: Mathematikwahn
  • Roswitha Scholz: Das Ende der Postmoderne und der Aufstieg »neuer« Pseudorealismen. Wert-abspaltungs-kritische Einwände gegenüber einem Neuen Realismus, einem Spekulativen Realismus und Akzeleration
  • Thomas Meyer: Big Data und die smarte neue Welt als höchstes Stadium des Positivismus
  • Robert Kurz: Null-Identität
  • Andreas Urban: Alter(n) und Wert-Abspaltung. Grundrisse einer kritischen Theorie des Alters und Alterns in der warenproduzierenden Gesellschaft
  • Thomas Meyer: Mann und Maschine – Reflexionen zum Androzentrismus in den Technikwissenschaften

Editorial

Mit fast 13 Prozent zog die AfD im Herbst 2017 in den Bundestag ein. Ein gar nicht so überraschendes Wahlergebnis.1 Der Rechtsruck und die Wahlerfolge rechtspopulistischer bzw. neofaschistischer Parteien schreiten unaufhaltsam voran. Zugleich ertönen die entsprechenden verlogenen bürgerlich-demokratischen Empörungen gegen diese. Diese Verlogenheit wird vor allem darin deutlich, dass jene strammen Demokraten sie nicht als ihre eigene Verwandtschaft begreifen können. Das ihnen Gemeinsame ist zweifellos die Unterwerfung unter die Verwertungsimperative des Kapitalismus. Die Demokratie ist daher kaum als ein positiver Gegenpol zum Rechtspopulismus zu betrachten, zumal der »Ausnahmezustand«, eine mögliche Krisendiktatur, in der »Herrschaftslogik der Demokratie« bereits enthalten ist.2 Die Frage ist nur, wer – wenn es drauf ankommt – dazu bereit ist, der Bluthund zu sein. Und die Bereitschaft, den Ausnahmezustand verhängen zu können, ist die unausgesprochene Voraussetzung für »Regierungsfähigkeit« überhaupt.3 Der Neofaschismus kann somit durchaus als Fortsetzung des Neoliberalismus bzw. der repressiven Krisenverwaltung, und damit der Demokratie, mit anderen (oder denselben) Mitteln – und zwar unter verschärften Krisenbedingungen – verstanden werden. Des Weiteren ist der Unterschied zwischen der AfD und den übrigen Parteien nur ein gradueller. Gerieren sich die »Altparteien« gerne als Bollwerk der Demokratie gegen Rassismus usw., bleibt einem dabei das Lachen regelrecht im Halse stecken. Finden sich die Positionen der AfD oder anderer Rechter doch auch problemlos bei Vertretern/innen der übrigen Parteien, seien es Boris Palmer (»Wir können nicht allen helfen«), die ordoliberale Sahra Wagenknecht mit ihren »national-sozialen« Positionen4, der Querfront-Agitator Oskar Lafontaine5 oder Christian Lindner, der im Wahlkampf 2017 auch mal Positionen der AfD übernahm. Letztendlich dürfte die AfD den Rechtsruck der übrigen Parteien, oder genauer formuliert: ihr repressives Zu-sich-kommen, nur beschleunigen.

Unter den Bedingungen der Krise, der zunehmenden Produktion von Überflüssigen, des Kollapses ganzer Weltregionen, ist es ganz folgerichtig, dass die demokratischen Parteien mit den rechtsradikalen zur gleichen braunen Soße konvergieren: »Querfront allerorten« (Daniel Späth) sozusagen. Stellt man die kapitalistischen Realkategorien nicht in Frage, beharrt man darauf, dass die Menschen sich als Arbeitskraftbehälter bewähren müssen; sie ihr Menschsein folglich verwirkt haben, wenn sie ihre Arbeitskraft nicht mehr rentabel verkaufen können, dann ist die Konsequenz folgerichtig eine menschenfeindliche. Parteiübergreifend ist dem bürgerlichen Bewusstsein demnach der Standpunkt eigen, sich dem Gegebenen zu unterwerfen: nicht der Kapitalismus wird Gegenstand der Kritik, sondern die zur Überflüssigkeit Erklärten werden zu »Störfaktoren« und zum »Sicherheitsproblem«. Eine Naturalisierung des Kapitalverhältnisses, der geschlechtlichen Abspaltung und der Arbeit ist da nicht weit und wird als Begründung immer dann gern mobilisiert, wenn die »zweite Natur« in die Krise gerät. Somit erscheinen die globalen Flüchtlingsströme häufig unverstanden als eine Art Naturkatastrophe.

Setzt man den Kapitalismus als »Naturtatsache« voraus, stimmt es ja in der Tat, dass »wir« nicht »allen« helfen können. Eine erfolgreiche Hilfe setzt unter den Bedingungen des Kapitalismus Finanzierbarkeit und erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt voraus. Und zweifellos sind dem – zumal in Zeiten des Zerfalls nationalstaatlicher Souveränität – immanente Grenzen gesetzt. »Naive Gutmenschenrhetorik« allein wird das wohl kaum ändern können. Aber diese Naivität hat ihren Ursprung nicht in dem Anspruch, kein rassistisches Arschloch zu sein, sondern in einer unzureichenden Kritik der diese Flüchtlingsströme verursachenden Verhältnisse.

Die neuen bzw. neusten Rechten dagegen unterwerfen sich dieser Realität und sind auch noch stolz darauf, dass sie die »Realität« auf ihrer Seite haben, als eine »Verbündete«, wie es Martin Sellner, der spiritus rector der Identitären Bewegung im deutschsprachigen Raum, betont.6 Der Gestus neuer Rechter besteht genau darin, sich auf die vermeintlichen Fakten zu besinnen, ohne dass diese Fakten (sofern es denn welche sind!) auf die kapitalistische Verwertungsdynamik bezogen werden. Die neuen Rechten mit ihrem Anspruch auf »neue Sachlichkeit«, als Antipoden zur postmodernen Beliebigkeit, sind gewissermaßen politisch und rassistisch agitierende Positivisten.7 Die Vorlage dazu gab bekanntermaßen vor einigen Jahren der »Tabu brechende« Thilo Sarrazin.

Nicht anders verlogen und menschenfeindlich als die bunt-braunen Demokraten sind jene, die den Stopp der ökologischen Zerstörung der Erde, die ja gerade zu einem immer größeren Anstieg von »Klimaflüchtlingen« führt, unter Finanzierungsvorbehalt setzen. Sicher wird die ökologische Zerstörung von diversen Ökosozialdemokraten beklagt: doch auch die Lösung der ökologischen Krise solle in der Marktwirtschaft selbst liegen; es müssten nur entsprechende Investitionen getätigt werden, sodass sich das wunderbare Bio- und Vollkorn-Deutschland schlussendlich zum »Exportweltmeister« von nachhaltigen Produkten aufschwingen könnte!

Es kann aber kein Faktum aufgeführt werden, wie neuerdings das Insektensterben, die Vermüllung der Meere usw., ohne dass diesen Fakten mit einem gewissen Achselzucken begegnet wird. Am Ende ist bei solchen Katastrophenthemen auch gerne von einer angeblichen linken Ökohysterie die Rede. Postfaktizität und die Ignoranz des Offensichtlichen sind das uneingestandene Credo der spätkapitalistischen Postdemokratien als solcher und keineswegs nur Sache Donald Trumps, der etwa meinte, der Klimawandel sei nur eine Erfindung Chinas!8 Es ist vor allem das Credo jener, die nach wie vor an ihre wunderbare Marktwirtschaft glauben wollen. Alles läuft darauf hinaus, dass man in der Ignoranz so tut, als ob die gewohnte »Normalität«, ein »Weiterso«, doch möglich wäre. Zudem verpuffen die Maßnahmen, die dem Artensterben usw. abhelfen sollen, in der Regel leer und wirkungslos, da sie, wie gehabt, Finanzierungsfähigkeit voraussetzen und daher keinesfalls die Profite und die geheiligten »Arbeitsplätze« gefährden dürfen.

Die sozialen und ökologischen Verwerfungen und Katastrophen und die daraus folgenden Barbareien, werden also nicht abnehmen; die kapitalistische (und wohl auch ökologische) Reproduktionsfähigkeit immer weiterer Weltregionen wird aufhören. Es wird sich keine bürgerliche Normalität wiederherstellen, egal, wie sehr faschistische oder rechtspopulistische Parteien in ihrem Identitätswahn durch »Rettung« ihres jeweiligen Landes oder »Volkes« dafür auch eintreten mögen (wobei sie sicher »mit Erfolg« andere Leute «jagen« werden).9 Stattdessen wird es immer mehr »failed states« geben. Letztendlich läuft das Ganze auf einen Weltbürgerkrieg hinaus, der in vielen Weltregionen, wie wir in dieser Zeitschrift immer wieder betonen, längst Realität ist. Jene Regionen eines noch nicht kollabierten »Innen« werden dabei zunehmend rar; die kapitalistischen Zentren dürften sich der Peripherie immer weiter annähern. Nicht zuletzt zeigte der Ukraine-Konflikt, dass ein »failed state« eben nicht mehr tausende Kilometer entfernt sein muss, sondern sich in nächster Nachbarschaft befinden kann.

Die Gründe für eine Flucht werden ebenfalls nicht abnehmen. Jene Flüchtlingswelle, infolge des IS-Terrors und des Syrienkrieges, von 2015 ff. dürfte erst der Anfang sein. Abgesehen davon, dass auch in Zukunft es nicht an Kriegen als Fluchtgrund fehlen wird, werden große Menschenmassen durch ökologische Katastrophen oder Folgen des Klimawandels zur Flucht genötigt (werden).10 Beispielsweise wurde schon vor einigen Jahren geschrieben, dass der größte Binnensee Irans, der Urmia-See, im Austrocknen begriffen ist. Wieder einmal hängt auch diese ökologische Katastrophe (die ja nur eine von vielen ist) mit diversen Staudamm- und Bewässerungsprojekten, also mit der kapitalistischen Naturbeherrschung, zusammen. Verschwände der See zur Gänze, wären als Konsequenz etwa 5 Millionen Menschen auf der Flucht.11 Des Weiteren sollen weite Teile des nahen und mittleren Ostens aufgrund des Klimawandels unbewohnbar werden; Regionen, in denen Hunderte Millionen von Menschen leben!12 Ähnlich fatal wären die Konsequenzen des Meeresspiegelanstieges: So würden beispielsweise bedeutende Teile Bangladeschs im Meer versinken, ein Land, in dem immerhin mehr als 150 Millionen Menschen leben.13 Aber auch das dürfte weit in den Schatten gestellt werden, wenn wegen der Klimaveränderung die Gletscher des Himalayas schmelzen sollten und dadurch die Wasserversorgung von Milliarden Menschen gefährdet wäre!14

Ohne die Abschaffung des Kapitalismus wartet auf die Menschheit schlussendlich nur eine dystopische Zukunft. Doch diese Konsequenz wollen die wenigsten realisieren. Spätestens jetzt rächt sich die Schwerpunktsetzung der Linken, die ja Jahre lang genau darin bestand, sich auf »Diskurse«, »Narrative« und »Dekonstruktion« (und was noch zu ergänzen wäre, ihre szenischen Befindlichkeiten) zu konzentrieren, wobei der sozialen Realität kaum Beachtung geschenkt wurde; eine finale Krise, eine Innere Schranke durfte nicht sein; zu sehr wurde ein kategorialer Bruch als Verletzung und Zerstörung der eigenen linken, vor allem traditionsmarxistischen, Identität empfunden. Daher blieb auch eine ernsthafte Rezeption einer kapitalismuskritischen »Großtheorie«, wie sie etwa von exit! vertreten wird, minoritär. Jetzt, wo es offensichtlich ist, dass die lange geleugnete oder verharmloste Krise im »zivilisierten« Zentrum längst angekommen ist, wird insbesondere eine so schwache und diskursfixierte, poststrukturalistische Kritik von der Realität überrannt und verweilt in einer gewissen Rat- und Hilflosigkeit.

Die ungebrochene Notwendigkeit einer kategorialen Kritik wird auch in den zahlreichen Publikationen der letzten Jahre deutlich, die den Kapitalismus auf einer eher phänomenologischen Ebene kritisieren. Stellvertretend sei dies an Fabian Scheidler angedeutet. In seinem erfolgreichen Buch Das Ende der Megamaschine (mittlerweile 9. Auflage) trägt er allerhand von der umfangreichen Gewaltgeschichte des Kapitalismus zusammen (was durchaus anerkennenswert ist), aber doch teilweise zu regelrecht peinlichen praktischen Vorschlägen kommt, wie dem, dass es ein »gemeinwohlorientiertes Geldsystem« geben möge, das »das gegenwärtige Finanzcasino ersetzen« könnte.15 Des Weiteren schreibt Scheidler in seinem aktuellen Buch, die Krise der Arbeit skizzierend, »dass die Lohnarbeit nicht nur tendenziell schlechter bezahlt wird, sondern schlichtweg verschwindet. […] Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, dass weltweit menschliche Arbeit durch Technik ersetzt wird. Dieser Prozess ist schon lange in der Industrie und Landwirtschaft zu beobachten; durch die Digitalisierung greift er aber inzwischen auch auf den Dienstleistungssektor und damit auf die Mittelschicht über. […] Dieser Trend hat längst China erreicht, wo ebenfalls Millionen von Arbeitsplätzen durch Roboter und Computer ersetzt werden. Der Handyproduzent Foxconn etwa, der allein 1,3 Millionen Menschen beschäftigt, will in Zukunft weitgehend ohne Arbeiter in den Fabrikhallen auskommen.«16 Es mögen zwar einige Kritik- und Analysepunkte Scheidlers am Kapitalismus zutreffend sein, aber letztendlich kann er sich nicht von grundsätzlichen kapitalistischen Realkategorien lösen, so fragt er ernsthaft, »ob Geld nicht zumindest teilweise von seinen Herrschaftsfunktionen befreit werden kann. Ein Versuch, dem Geld andere Funktionen zu geben, sind Regionalwährungen (!).«17

Claus Peter Ortlieb greift mit dem Text »Mathematikwahn« Grundsätzliches zu einer Kritik an den mathematischen Naturwissenschaften wieder auf.20 So ist bekannt, dass insbesondere die Naturwissenschaften eine Objektivität für sich verbuchen, die mit den forschenden Subjekten und ihrem spezifisch gesellschaftlichen Erkenntnisinteresse, mit der gesellschaftlichen Form, nichts zu tun haben soll; unterstellt wird sozusagen ein »Blick von Nirgendwo« (Elisabeth Pernkopf).21 Ortlieb wendet sich gegen die in den exakten Wissenschaften weit verbreitete Vorstellung, die Wirklichkeit sei ihrem Wesen nach mathematischer Art, die Mathematik und die in ihrer Sprache formulierten Gesetzmäßigkeiten also eine von den Menschen und ihrem Blick auf die Welt unabhängige Natureigenschaft. Die genaue Analyse des tatsächlichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorgehens belegt, dass diese Vorstellung falsch ist. Es handelt sich bei ihr um einen Fetischismus, der die eigene, historisch spezifische Erkenntnisform und ihr Instrumentarium in den Erkenntnisgegenstand projiziert und zu dessen Eigenschaft macht. Der Zusammenhang zum Warenfetischismus liegt nahe, und ebenso lässt sich zeigen, dass die mathematische Naturerkenntnis die Abspaltung des Weiblichen zu ihrer Voraussetzung hat.

Roswitha Scholz setzt sich in ihrem Artikel »Das Ende der Postmoderne und der Aufstieg neuer Pseudorealismen« mit den viel diskutierten Denkrichtungen eines neuen Realismus, eines spekulativen Realismus und Akzelerationismus auseinander. Zwar rücken in ihnen im Gegensatz zum bis vor einiger Zeit vorherrschenden Dekonstruktivismus Begriffe wie Wahrheit, Realismus, Materialismus und »Ding an sich« (Kant) in den Mittelpunkt, die bezeichnenderweise jedoch gleichzeitig wieder zurückgenommen werden, wie zu sehen sein wird. Die fetischistische Verfasstheit der kapitalistisch-patriarchalen Vergesellschaftung, worauf es gerade ankäme, bleibt dabei ausgeklammert. Stattdessen fallen sie in unterschiedlicher Weise in Positivismus, Rationalität, Fortschrittsdenken und/oder auch einen Irrationalismus zurück, also in Urformen eines bürgerlich-patriarchalen Denkens, das sich weitgehend aus einer Abspaltung des Weiblichen speist. Sie erweisen sich so als völlig unfähig, zur Transzendierung der kapitalistisch-patriarchalen Katastrophen-Vergesellschaftung etwas beizutragen. Derartige Denkbewegungen sind deshalb eher eine Flucht aus der entsprechenden Realität anstatt eine (kritisch) transzendierende Beschäftigung mit ihr.22

Thomas Meyer widmet sich in seinem Beitrag »Big Data und die smarte neue Welt als höchstes Stadium des Positivismus« einem neueren Trend in der Wissenschaftslandschaft, der »social physics« und dem Big Data, welche nahezu überall Anwendungen finden. Die Apologeten der »Big Data Sciences« und ihren Anwendungen versprechen sich damit die Lösung aller erdenklichen Probleme. Insofern werden bei diesen Apologeten ein sehr starker technokratischer Impetus und ein vollständiges Unverständnis von Gesellschaft und Geschichte deutlich. So skizziert Meyer den Eigenanspruch der Sozialphysik, wie er vor allem durch den Computerwissenschaftlicher Alex Pentland formuliert wird. Des Weiteren werden diverse Anwendungsmöglichkeiten von Big Data aufgesammelt, wie sie etwa in zahlreichen Algorithmen Realisierung finden. Diese finden sich beispielsweise in der (präventiven) Verbrechensbekämpfung und der Prognose von möglichen »Rückfalltätern«. Anschließend werden diverse links(liberale) Kritiken gegen Big Data aufgeführt, wie jene Cathy O’Neils, die einem im öffentlichen Diskurs immer wieder begegnen können. Durch die enorme Verbilligung von Sensoren, Kameras usw. können alle erdenklichen Gerätschaften mit diesen ausgerüstet und mit dem Internet verbunden werden. Auf diese Weise bildet sich das »Internet der Dinge«. In diesem kommt die digitale Welt sozusagen zu sich, mit zahlreichen Heilsversprechungen: So etwa, dass mit »smarten Gerätschaften« z.B. Strom gespart werden kann und dem Menschen dabei helfen kann, »umweltfreundlich« und »nachhaltig« zu konsumieren. Auch zum Internet der Dinge, »der smarten neuen Welt«, werden links(liberale) Kritiken aufgesammelt, vorwiegend Evgeny Morozovs, und es wird gezeigt, woran diese kranken. In der Regel wird auf das bürgerliche Individuum gepocht, auf dessen Mündigkeit und Entscheidungsfreiheit, die durch Big Data und einer zunehmend »smarten« Infrastruktur, gefährdet ist. Die Digitalisierung wird von diesen Kritiken aber nicht im Zusammenhang der Krise gesehen, der damit einhergehenden sozialen Repression und der kapitalistischen Verwertungsdynamik im Allgemeinen. Im Prinzip wird das kapitalistische Schreckensregime digital aufgerüstet. Zum Schluss werden von Meyer noch einige Verlautbarungen des Wissenschaftsbetriebes skizziert, der meint, im Zuge von Big Data sich von der Notwendigkeit von Theorie- und Begriffsbildung überhaupt verabschieden zu können. Zwar bleibt dieser Anspruch vom Wissenschaftsbetrieb nicht unwidersprochen, aber nichtsdestotrotz kann hierbei in der Tat, frei nach Lenin, vom höchsten und letzten Stadium des Positivismus gesprochen werden. Noch leerer kann eine akademische Hohlbirne nicht werden.

Des Weiteren erfolgt in dieser exit! ein Neuabdruck eines Textes von Robert Kurz, der zwar schon in den 90er Jahren erschienen ist23, aber heute, im Angesicht neuer rechtspopulistischer bzw. neofaschistischer Bewegungen und einem erstarkenden Identitätswahn, ungebrochene Aktualität besitzt. In seinem Text »Nullidentität« skizziert Kurz die Gründe dafür, warum in der Moderne überhaupt so etwas wie »Identität«, wie die nationale oder kulturelle, entsteht und den Menschen aufgenötigt wird. Dass bestimmte Traditionen und Praktiken zur Identität aufgeblasen werden, hängt vor allem mit der alles umstürzenden kapitalistischen Verwertungsdynamik und der inhaltlichen Leere der Wertabstraktion zusammen. Identität bedient sozusagen ein nicht einlösbares Bedürfnis nach Stabilität. Auch skizziert Kurz den schon von Sohn-Rethel angedeuteten Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Denkform und Geldform. Das wissenschaftliche Denken, oder genauer das mathematische Denken, unterwirft auch Kurz zufolge »die vielfältige Eigenheit« der Welt »einer fremden und äußerlichen Abstraktion«. Schlussendlich konstatiert Kurz, dass die Postmoderne keineswegs eine konsequente Kritik der Identität und des Identitätszwanges formuliert, sondern die vielen Identitäten im Kapitalismus in ihrer Differenz anzuerkennen sucht. Kurz zufolge ist mit diesen »Postidentitäten« die Grundlage für einen »molekularen Bürgerkrieg« gelegt.

Der Beitrag »Alter(n) und Wert-Abspaltung – Grundrisse einer kritischen Theorie des Alters in der warenproduzierenden Gesellschaft« von Andreas Urban beschäftigt sich mit einem bislang im wert-abspaltungskritischen Zusammenhang noch eher selten gestreiften Lebensbereich wie auch sozialem Ungleichheits- und Ausgrenzungsverhältnis: dem Alter(n). Er versucht zu zeigen, dass auch das Alter(n) im Kontext der Wert-Abspaltung analysiert werden und die Wert-Abspaltungstheorie Entscheidendes zum besseren Verständnis von Phänomenen wie Altersfeindlichkeit, Altersdiskriminierung, Anti-Ageing usw. beitragen kann, wie sie in kapitalistischen Gesellschaften weit verbreitet sind und den gesellschaftlichen wie individuellen Umgang mit dem Alter(n), als einem wesentlichen Bestandteil der menschlichen Existenz, maßgeblich prägen. Seine These ist, dass das Alter(n) aus dem Verwertungsprozess herausfällt, wobei sich dieses Herausfallen des Alters primär durch die Ausgliederung alter Menschen aus der abstrakten Arbeit konstituiert, wie sie im entwickelten Kapitalismus in der Institution des Altersruhestands Gestalt angenommen hat. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer spezifisch kapitalistischen »Dissoziation des Alters« als einem tief in der Struktur warenproduzierender Gesellschaften verwurzelten Prinzip, aus der letztendlich ein grundsätzlich altersfeindlicher und alte Menschen systematisch ausgrenzender und diskriminierender sozialer Strukturzusammenhang hervorgehe. Dieser Begriff einer für kapitalistische Gesellschaften charakteristischen Dissoziation des Alters wird in seinen materiell-strukturellen, kulturell-symbolischen und sozialpsychologischen Dimensionen entfaltet. Des Weiteren beleuchtet Urban in einem zweiten größeren Abschnitt auch aktuelle, postmoderne Tendenzen einer gesellschaftspolitischen »Aktivierung des Alters« vor dem Hintergrund von Globalisierung, Neoliberalismus und demographischem Wandel. Er verdeutlicht, dass es sich bei diesen Prozessen, die auf der Erscheinungsebene auch mit einer oberflächlichen Positivierung des gesellschaftlichen Altersdiskurses einhergehen (so ist etwa in Wissenschaft und Gesellschaft seit Jahren die Rede von einem »aktiven«, »kompetenten« oder »produktiven Alter«, von »Alterspotenzialen«, von den »jungen Alten« usw.), primär um einen immanenten Formwandel der modernen »Dissoziation des Alters« handelt, durch den es zu einer erheblichen Zuspitzung und Verschärfung der kapitalistischen Altersfeindlichkeit in einer postmodernen »Anti-Ageing-Kultur« kommt. Diese manifestiere sich insbesondere in einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz zur »Alterslosigkeit« sowie in der Herausbildung einer immer größere Dimensionen annehmenden Anti-Ageing-Industrie.

Zum Schluss noch ein Rezensionsessay von Thomas Meyer eines Buches von Tanja Paulitz (»Mann und Maschine«) u. a. über den Androzentrismus der Ingenieur- und Technikwissenschaften.

Thomas Meyer und Patrice Schlauch sind vor einiger Zeit zur Redaktion hinzugestoßen. Die Fortsetzung von Daniel Späths Querfronttext und die von Richard Aabromeits Geldtext erscheint voraussichtlich in der nächsten Ausgabe von exit!, wobei der Querfronttext, aufgrund des Umfangs, eventuell stattdessen als Buch verlegt wird.

Von Robert Kurz ist der Kollaps der Modernisierung auf Italienisch erschienen: Il collasso della modernizzazione, Mimesis Edizioni, Mailand 2017; des Weiteren zwei Bücher von Anselm Jappe: La Société autophage – Capitalisme, démesure et autodestruction, La Découverte, Paris 2017 und The Writing on the Wall – On the Decomposition of Capitalism and Its Critics, Zero Books, London 2017. Letzteres ist eine Übersetzung seines zuerst auf Französisch erschienenden Buches Crédit à mort.

Thomas Meyer für die exit!-Redaktion im Dezember 2017


1 So wie auch die Wahl Trumps, vgl. Gerd Bedszent: Von der Obamania hin zum letzten Gefecht – Bemerkungen zu einem nicht ganz so überraschenden Wahlsieg (2016), auf www.exit-online.org.

2 Robert Kurz: Die Demokratie frisst ihre Kinder – Bemerkungen zum neuen Rechtsradikalismus, in: Edition Krisis (Hg.): Rosemaries Babies – Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, 11–87.

3 Ders. Es rettet euch kein Leviathan – Thesen zu einer kritischen Staatstheorie – Zweiter Teil, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.8, Berlin 2011, 140f.

4 Vgl. Tomasz Konicz: Nationalsozial in den Wahlkampf?, Telepolis vom 22.12.2016.

5 Vgl. Rede Lafontaines bei Stopp Air Base Ramstein am 9.09.2017.

6 Martin Sellner: Warum die AfD schon gewonnen hat, youtube.com vom 19.09.2017, ab ca. 5 Min, www.youtube.com/watch?v=z8TcgzeTH8E.

7 So gründete u. a. Karlheinz Weißmann vor kurzem die neurechte Zeitschrift: Cato – Magazin für neue Sachlichkeit, mit einer Startauflage von 50.000!

8 Vgl. Daniel Späth: »Postfaktizität« und das letzte Rückzugsgefecht der neoliberalen Postmoderne – Anmerkungen zur historischen Spezifität ideologischer Konjunkturen (2017), auf exit-online.org.

9 Der Neonazi Alexander Gauland von der AfD sagte in seiner Rede am Tage der Wahl 24.09.2017: »Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer (!) jagen und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.«

10 Beides, Krieg und Klimawandel, kann aber auch zusammenkommen, so wie es im Vorfeld des Syrienkrieges bereits der Fall war, vgl. etwa Daniel Lingenhöhl: Wie der syrische Bürgerkrieg mit dem Klimawandel zusammenhängt, Spektrum.de vom 2.03.2015.

11 Ali Akbar Dareini & Alexandra Rehn: Irans größter Binnensee wird zur Salzwüste, welt.de vom 22.02.2014.

12 J. Lelieveld, Y. Proestos, P. Hadjinicolaou, M. Tanarhte, E. Tyrlis & G. Zittis: Strongly increasing heat extremes in the Middle East and North Africa (MENA) in the 21st century, in: Climate Change, Vol.137, 245260, Juli 2016, sowie: Jeremy S. Pal & Elfaith A. B. Eltahir: Future temperature in southwest Asia projected to exceed a threshold for human adaptability, in: Nature Climate Change 6, 197200, 2016, online: eltahir.mit.edu/wp-content/uploads/2015/10/Supplementary.pdf.

13 Shakeel Ahmed Ibne Mahmood: Impact of Climate Change in Bangladesh: The Role of Public Administration and Government’s Integrity, in: Journal of Ecology and the Natural Environment, Vol. 4(8), 223240, Mai 2012, www.gci.org.uk/Documents/Mahmood.pdf.

14 Vgl. Gunther Jauk: Gletscherschwund im Himalaya, in: Spektrum der Wissenschaft 8/2003; P.D.A. Kraaijenbrink, M.F.P. Bierkens, A.F. Lutz & W.W. Immerzeel.: Impact of a global temperature rise of 1.5 degrees Celsius on Asia’s glaciers, in: Nature 549, 257260 (14.09.2017).

15 Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine – Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Wien 2015, 4. unveränderte Auflage, 7.

16 Ders.: Chaos – Das neue Zeitalter der Revolutionen, Wien 2017, 53f.

17 Ebd. 141.

18 Wobei das transhumanistische Gedankengut auch nicht unbedingt so neu ist, vgl. Christopher Coenen, Stefan Gammel, Reinhard Heil, Andreas Woyke (Hg.): Die Debatte über »Human Enhancement« – Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen, Bielefeld 2010.

19 Vgl. dazu: Richard Aabromeit: Emotionale Empörung und Ethische Entzauberung oder Ernsthafte Erklärung? – Philipp von Becker: »Der neue Glaube an die Unsterblichkeit« – Eine Buchbesprechung (2017), auf exit-online.org.

20 Vgl. auch: Claus Peter Ortlieb: Bewusstlose Objektivität – Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft (1998), auf www.exit-online.org.

21 Vgl. Elisabeth Pernkopf: Unerwartetes erwarten – Zur Rolle des Experimentierens in naturwissenschaftlicher Forschung, Würzburg 2006, 94ff.

22 Vgl. dazu die Kritik am »new materialism« von Fabian Hennig: Materialismus ist kein Synonym für Kritik – Thesen zu New Materialism, Posthumanismus und Feminismus, in: Outside the Box – Zeitschrift für Feministische Gesellschaftskritik, Nr. 6, Leipzig 2016, 67–73. Seine Kritik weist viele Überschneidungen mit der von Roswitha Scholz auf, vgl. auch den Vortrag Hennings auf dem exit!-Seminar in Mainz 2017: Konjunkturen des Materialismus, Elend der Kritik – Zu den affirmativen Tendenzen neuer materialistischer Ontologien, siehe: exit-lesekreis-hh.de/2017/10/28/exit-seminar-2017-tonaufnahmen/.

23 Zuerst erschienen in: Klaus Bittermann (Hrsg.): Identität und Wahn – Über einen nationalen Minderwertigkeitskomplex, Berlin 1994, 42–62.




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