Vorgetragen am 17. Juli 2022 im Café Plume in Berlin. Der Vortrag ist nicht ohne Zusammenhang mit dem zusammen mit Sandrine Aumercier initiierten Seminar »Psychoanalyse und Kapitalismus« und schließt inhaltlich auch an die gemeinsame Präsentation des »Manifests gegen die Arbeit« im April 2022 am gleichen Ort an.
»Keine Revolution, nirgends«?Zur Erinnerung an Robert Kurz, anlässlich seines zehnten TodestagesFrank Grohmann
1. Auf dem Feld der AuseinandersetzungDieser Satz hat heute, zehn Jahre später, nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil, denn: die eingeforderte theoretische Distanz hat immer längere Aussichten. Doch gerade deshalb stellt der Satz keine Empfehlung mehr dar, sondern benennt Notwendigkeiten: Auf dem Feld der Auseinandersetzung. Im Handgemenge. Als Konfliktformulierung. Robert Kurz habe ich nie kennengelernt. Dass ich jetzt hier vor Ihnen sitze, ist einzig dadurch begründet, dass ich ihn — so spät, habe ich mir schon manches Mal gesagt — zu lesen begonnen habe. Von dem Menschen Robert Kurz kann ich Ihnen also nicht erzählen. Wohl aber von dem Eindruck, den die Lektüre seiner Schriften bei mir hinterlässt. Sicher kann ich mir dessen aus dem eben genannten Grund nicht sein, — ich stelle mir aber vor, dass ihm das so nicht schlecht gefallen hätte. Von meinem Interesse an der von Robert Kurz mitbegründeten Wertabspaltungs-Kritik habe ich vor bald einem Jahr anlässlich eines Arbeitstreffens gesagt, dass es den Zuspitzungen der Krisenerscheinungen entsprungen ist, welche mit der Zerstörung der Grundlagen unseres Lebens einhergehen; und ebenso meinem davon nicht zu trennenden Perplex-sein, was den Zustand der Apathie, den Eindruck der Lähmung und die Haltung der Ignoranz betrifft, angesichts dieser Verhältnisse. Die unseren Alltag beherrschende warenproduzierende Moderne als eine Fetisch-Gesellschaft — und zwar erstmals eine »totalitäre«2 — zu begreifen, wie Kurz es vorgeschlagen hat, stellt für mich den ersten Schritt in Richtung einer Antwort auf die Frage dar, von woher jene Zerstörung und diese Apathie, Lähmung, Ignoranz sich begründen, — und zwar jenseits einem von allen Seiten (d.h.: auch in der Psychoanalyse) drohenden Psychologismus als Erklärungsansatz. Dreh- und Angelpunkt dieses ersten Schrittes ist die Marxsche Fetisch-Metapher3 für die kapitalistische Produktionsweise, — und damit die warenförmige Vergesellschaftung, »in der die Menschen die Regelung ihrer ureigensten Angelegenheiten bis hin zum eigenen Überleben einer äußeren, gleichwohl von ihnen selbst geschaffenen Instanz überantwortet haben, die hinfort die sozialen Beziehungen vermittelt und so ein Herrschaftsverhältnis konstituiert«4 — und zwar im Sinne einer subjektlosen Herrschaft. Bei der kapitalistischen Produktionsweise handelt es sich um »eine Erweiterung der Produktion um ihrer selbst willen«, d.h.: um »einen irrationalen Selbstzweck«. Mit der »paradoxen Metapher« des automatischen Subjekts benennt Marx diesen »eigentlichen Kern des paradoxen kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisses«: Das automatische Subjekt ist nicht zu verstehen als »aparte Wesenheit, die für sich irgendwo da draußen hockt, sondern es ist der gesellschaftliche Bann, unter dem die Menschen ihr eigenes Handeln dem Automatismus des kapitalisierten Geldes unterwerfen.«5 Ausgehend davon schließlich meine Hellhörigkeit für den mit dem Vorschlag von Robert Kurz Hand in Hand gehenden (wertabspaltungs-kritischen) Begriff der Krise, — nämlich verbunden mit der grundlegenden Annahme, dass diese Welt, in der wir leben, die Welt des Krisengeschehens eines »Totalitarismus der Wertvergesellschaftung«6 ist, — von welchem, eben weil die gesellschaftliche Voraussetzung auch der Psychoanalyse die warenproduzierende Moderne ist, selbstredend auch weder Diwan noch Sessel in meiner praktischen Tätigkeit als Psychoanalytiker ausgenommen sind, geschweige denn, was zwischen beiden vor sich geht. Dass, was angesichts solcher Verhältnisse notwendig wäre, nicht im Handumdrehen gemacht ist, — das deuten die Stichworte allein bereits an: denn wie aus der ur-eigenen Fetisch-Gesellschaft heraustreten, sich von einer subjektlosen Herrschaft befreien, dem automatischen Subjekt Wert entsagen? Nein sagen, sich der negativen Vergesellschaftung verweigern? Gleichzeitig versteht sich aber auch nicht von selbst, dass wir nicht schon längst dem Vorschlag aus der berühmten französischen Bildgeschichte von Anfang der 1970er Jahre L´an 01 gefolgt sind: Halten wir alles an! Fangen wir an nachzudenken! Und das ist keine traurige Sache!7 Warum also versteht sich die Kritik an solchen Verhältnissen keineswegs von selbst? Oder noch einmal anders gesagt: Warum läuft der Antrieb in Richtung einer kritischen Theorie dieser Krise immer wieder leer? Woher begründet sich »die heutige Paralyse radikaler Kritik«8? Robert Kurz hat vor nunmehr dreißig Jahren als Ansatz für die Ausarbeitung einer Antwort auf diese Frage darauf aufmerksam gemacht, dass »radikale Kritik [...] gegen die Schwerkraft des scheinbar übermächtigen Bestehenden zu kämpfen [hat].«9 Anders als die physikalische Schwerkraft, ist jene, von der hier die Rede ist, kein sogenanntes Naturgesetz, sondern von vorneherein, d.h. wesentlich gebunden an »das scheinbar übermächtige Bestehende«, — als Menschengemachtes. Aber auch die Schwerkraft in diesem Sinne ist nichts, was wir unmittelbar wahrnehmen, — es sei denn wir wandeln auf dem Mond oder, wie manche es wollen, bald auf dem Mars.10 Solange unsere beiden Füße aber noch auf diesem Boden hier stehen, haben wir es mit dem unsichtbaren und an und für sich nicht wahrnehmbaren Gegner des »scheinbar übermächtigen Bestehenden« zu tun, von dem wir selbst Teil sind — also mit etwas, das sozusagen an uns klebt, was wir aber nicht abschütteln können, weil es wie von innen an uns haftet, d.h.: uns eben gerade nicht äußerlich ist. Wie also bekämpfen was uns zwingt, die gängige Auffassung von der Unterscheidung zwischen Innen und Außen überhaupt in Frage zu stellen? Auch und gerade dazu hat die Psychoanalyse etwas zu sagen, — Robert Kurz hat dies, nebenbei bemerkt, sehr früh schon geahnt und anzuerkennen versucht.11 Dies also ist der Ausgangspunkt: Der ontologische Bruch mit der Geschichte von Fetischverhältnissen ist bodenlos,12 — und: das ontologische Bedürfnis ist unerfüllbar.13 Jener Bruch und dieses Bedürfnis sind also immer schon ineinander verwoben und müssen von daher auseinander vermittelt werden, — und zwar quer zu den gängigen Orientierungspunkten, — gegen den Strich sozusagen. Diese notwendige Vermittlung verläuft nicht zwischen äußeren Zwängen und deren subjektiver Verinnerlichung oder zwischen Subjekt und Objekt, sondern gibt sich zu erkennen als Vermittlungsproblem von Inhalt und Form.14 2. Krise und KritikVor nunmehr zehneinhalb Jahren schreibt Robert Kurz einen offenen Brief an die Interessentinnen und Interessenten der, nach der Abspaltung von Krisis gegründeten, Zeitschrift Exit! — Krise und Kritik der Warengesellschaft.15 Die Überschrift dieses Briefes habe ich als Titel meines heutigen Vortrags gewählt, — sie allerdings mit einem Fragezeichen versehen. Was ich Ihnen anlässlich des zehnten Todestages von Robert Kurz, morgen, am 18. Juli 2022, vortragen möchte, lässt sich als Entfaltung dieses Fragezeichens auffassen: Wie diese drei Worte »Keine Revolution, nirgends« verstehen? Kurz wendet sich zum Jahreswechsel 2011/12 mit der Aufforderung an die Leserschaft, die Zeitschrift »beim "Schwimmen gegen den Strom" zu unterstützen.« Er tut dies allerdings nicht, ohne sich zuvor kritisch gegen die damalige »plötzliche Inflation des Revolutionsbegriffs« zu stellen, wie sie sich unter dem Eindruck des sogenannten arabischen Frühlings, der gewaltsamen Riots von Jugendlichen der hoffnungslosen Unterschicht in Großbritannien, den sozialen Bewegungen in den Ländern der südeuropäischen Schuldenkrise, den Massendemonstrationen gegen die Politik der Netanjahu-Regierung in Israel, der Rebellion der Studenten in Chile gegen die neokonservative Ausrichtung des Bildungssystems und dem Protest der Occupy-Bewegung in den USA gegen wachsende Ungleichheit und gegen die Macht der Banken ergeben hatte. Kurz hält unmissverständlich dagegen: Nirgendwo kann von einer Revolution gesprochen werden. Aber überall verweisen die schweren sozialen Verwerfungen auf übergreifende Strukturen des globalen Kapitalismus, — Verweise, die allerdings gerade nicht oder nur ungenügend aufgegriffen und weiterverfolgt werden.16 Die Deutung von Kurz? »Wer die kapitalistische Totalität nicht erfassen und bekämpfen will, hat schon verloren.« Und seine Schlussfolgerung? »Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung«! Mit Marx unterstreicht er deshalb den »Stellenwert der theoretischen Reflexion«: »Marx hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eine wirkliche revolutionäre Umwälzung nur in dem Maße vorankommt, wie ihre Anfänge und Durchgangsstadien kritisiert werden, und zwar unbarmherzig, um sie zu überwinden und über ihre Halbheiten, Fehlschlüsse und Verirrungen hinauszutreiben.«17 Entscheidend ist dabei, dass diese theoretische Reflexion gerade anderes sein muss, als bloße rationalistische Stilübung nach akademischer Art, sondern in einer Untersuchung der eigenen geschichtlichen Bedingungen besteht. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Kurz den früher schon herausgearbeiteten Bedingungszusammenhang von (bodenlosem) ontologischem Bruch, der notwendig wäre, und (unerfüllbarem) ontologischem Bedürfnis, welches dem Bruch mit den bestehenden Verhältnissen entgegensteht, noch einmal aufgegriffen. Jener Bruch hätte die Anerkennung der Krise ebenso zur Voraussetzung, wie der Mangel an der Kritik und Kompromissbildungen diesbezüglich die Folge dieses Bedürfnisses sind. Es geht darum, die Umkehrung dessen möglich zu machen: »Kategoriale Kritik ohne ontologische Rückversicherung und kategoriale Krise als strikt objektive innere Schranke der Mehrwertproduktion bedingen sich wechselseitig;« d.h. entweder rühren Krise und Kritik an ihren gemeinsamen kategorialen Kern oder Krise und Kritik fallen beide miteinander — und: auseinander —; in diesem letzteren Fall will »eine verkürzte, nicht auf die Grundlagen zielende« — also: immanente — Kritik von der Krise nichts wissen und stützt so »das Postulat, dass die Mehrwertproduktion aus sich heraus ewig regenerationsfähig sein soll.«18 Ein Jahr nach dem Beginn der sogenannten Finanzkrise von 2008 unterstreicht Kurz hier noch einmal die von der Wertabspaltungskritik herausgearbeitete kategoriale Ebene der Krise, nämlich: einer absoluten inneren Schranke der Verwertung, die zwangsläufig zum Kollaps der kapitalistischen Vergesellschaftung führt; allerdings benennt er im gleichen Atemzug auch das »Zurückschrecken vor den Konsequenzen der kategorialen Krise, das jedes Reflexionsvermögen betäubt.«19 Von daher ist zu verstehen, warum es in seinem erwähnten Brief zwei Jahre später heißt, dass die »überfällige theoretische Erneuerung nur negativ essentialistisch« sein kann und »anti-relativistisch auf das falsche Ganze zielen« muss.20 Im gleichen Jahr gibt Kurz einen Abriss des inneren historischen Zusammenhangs kapitalistischer Entwicklung, und unterstreicht dabei einmal mehr, dass diese Entwicklung nichts anderem als einer Dynamik der Krise gehorcht. Die Frage, warum der Kapitalismus jede Krise überlebt, ist deshalb schon falsch gestellt. Besser ist es zu sagen, dass er von der Krise lebt. Oder noch präziser, und gleichsam schon als Antwort: Kapitalismus ist Krise. Was also hat es mit diesem Krisen-Kapitalismus auf sich? Obwohl er augenzwinkernd daran erinnert, dass Marx »leider keine handliche Krisentheorie im Merve-Bändchen-Format hinterlassen« hat, findet Kurz den Ansatzpunkt der Antwort auf diese Frage dennoch bei dem Begründer der Kritik der politischen Ökonomie — und zwar im Zuge einer eingehenden kritischen Lektüre von Marx mit Marx über Marx hinaus,21 die bis zum, elf Jahre nach dessen Tod veröffentlichten, dritten Band des Kapital reicht, in welchem Marx die Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate formuliert.22 Kurz folgert aus seiner Lektüre: »Danach ist langfristig nicht die periodisch mangelnde Realisierung des Mehrwerts auf dem Markt das Problem, sondern viel grundsätzlicher seine mangelnde Produktion selbst.«23 Das heißt, mit anderen Worten, »dass die Grundlage und Voraussetzung der Marxschen Krisentheorie jene Argumentation ist, die das Verschwinden der Arbeit selber darstellt«. Krise ist, aus dieser Perspektive gesehen, »nichts anderes als der objektivierte Substanzverlust des Kapitals durch seinen eigenen inneren Mechanismus«. Die Arbeit, so Kurz, »läuft aus wie Sand aus einem Loch im Sack oder Wasser aus einem Leck im Tank«. Hören wir ausführlich, was dabei geschieht:
Zweierlei müssen wir, davon ausgehend, anerkennen: zum einen, »dass sich die Krise nicht linear, sondern progressiv entwickelt«, also »eine ansteigende historische Tendenz aufweist«; und zum anderen und gleichzeitig, dass diese Sätze nicht eine Situation irgendwann in der Zukunft, sondern bereits unsere heutige beschreiben,25 — dies allerdings schon seit einem halben Jahrhundert.26 3. Vermittlung des WiderspruchsEs ist zweifellos eine der großen Stärken der von Robert Kurz bereits in den 1980er Jahren mitbegründeten »Wertkritik«, dass sie »aus der kapitalistischen Immanenz heraus« entfaltet worden ist. Das lässt sich selbstverständlich hier nur anzeigen; nachvollzogen werden kann es nur entlang unserer eigenen Lektüre der Arbeiten von Robert Kurz, wie sie aufeinander gefolgt sind: vom Kollaps der Modernisierung (1991), Honeckers Rache, Potemkins Rückkehr und der Krise von Demokratie und Marktwirtschaft (1991-1993) zum Schwarzbuch Kapitalismus (1999), weiter zuWeltordnungskrieg (2003) und Weltkapital (2005), bis zum Geld ohne Wert (2012).27 Die Konsequenz, die diese immanente Entfaltung mit sich gebracht hat, nämlich: dass die Wertabspaltungskritik im Zuge dessen »keinen ontologischen Identitäts- und positiven Interessenstandpunkt mehr einnehmen« kann, ist ihr von verschiedener Seite immer wieder zum Vorwurf gemacht worden. In dieser Haltung eine Schwäche der Kritik zu sehen, ist allerdings verfehlt. Tatsächlich dürfen wir darin, ganz im Gegenteil, ihre eigentliche Stärke erblicken, — welche sie aber im Gegenzug mit einer unaufhörlichen Herausforderung konfrontiert. Denn mit dem »prozessierenden Widerspruch« (Marx) des kapitalistischen Systems der warenproduzierenden Moderne geht die affirmative »Widerspruchsbearbeitung«28 innerhalb des Systems Hand in Hand, welche der notwendigen kritischen »Vermittlung des Widerspruchs« (Kurz) entgegenarbeitet — etwa indem diese »Widerspruchsbearbeitung« Formen immanenter »Gegenpraxis« hervorbringt, die allerdings, »trotz ihres äußeren Gegensatzes zur Menschen- und Krisenverwaltung, integraler Bestandteil der kapitalistischen Reproduktion selbst« sind und daher »aus ihrer Entstehung heraus zwangsläufig partikular« bleiben: »sie sind kritisch nur in Bezug auf einzelne Erscheinungen des Kapitalismus und beziehen sich [lediglich und ausschließlich] auf die vorgegebenen gesellschaftlichen Formen.«29 Gerade hier zeigt sich eine große Nähe zur psychoanalytischen Vorgehensweise, welche das Symptom nicht als abgesonderte, »einzelne Erscheinung« behandelt, — im Gegensatz zu mannigfaltigen Therapieansätzen. Noch einmal: Ausgangspunkt ist die Anerkennung des Widerspruchs: »Das Kapital ist prozessierender Selbstwiderspruch dadurch, dass es einerseits die unaufhörliche Anhäufung von Wert oder "abstraktem Reichtum" (Marx) als einzigen Zweck hat, andererseits aber die Konkurrenz dazu zwingt, menschliche Arbeitskraft als ausschließliche Quelle dieses Werts durch Produktivkraftentwicklung zunehmend überflüssig zu machen und durch wissenschaftlich-technische Apparate zu ersetzen. Die Produktivkraftentwicklung aber ist keine ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern ein irreversibler historischer Prozess.«30 Dieser Widerspruch wird nun allerdings immanent und affirmativ immer schon bearbeitet, — etwa indem sich »das kapitalistische Daseinsinteresse an die ontologisierten, sozial übergreifenden Fetischkategorien bindet und diese einer Interpretation bzw. Realinterpretation unterzieht bis hin zu den mörderischen Inhalten von Sexismus, Rassismus und Antisemitismus.«31 Es gilt nun gerade, diese — das kapitalistische Prozessieren bewahrende — Bearbeitung zu brechen und der Vermittlung des Widerspruchs den Weg zu eröffnen: als seine gleichzeitige Überwindung. Ein grundlegender Gedanke der Wertabspaltungskritik ist es, dass der »prozessierende Widerspruch« sowie die ihm auf den Fuß folgende »Widerspruchsbearbeitung« sich in alle Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems frisst. Sein Aufspüren muss demnach entlang jeder einzelnen dieser Kategorien stattfinden; weshalb die »Vermittlung« dieses Widerspruchs also alle Kategorien auf einmal angehen muss. Dass es in diesem Zusammenhang durchaus berechtigt ist, von der Totalität der negativen Wertvergesellschaftung zu sprechen, zeigt der folgende Überblick über die elementaren kapitalistischen Kategorien:32
Formgebend für diesen kategorialen Zusammenhang ist letztlich, also von Anfang an, der Marxsche Begriff des Werts. Robert Kurz hat nicht nur herausarbeiten können, dass der »Formzusammenhang« dieser Grundkategorien moderner kapitalistischer Vergesellschaftung, »einerseits durch blinde historische Prozesse hindurch herausgebildet«, »den Menschen andererseits in einem mehrhundertjährigen Prozess der Pädagogisierung, Gewöhnung und Verinnerlichung von den jeweiligen (selber in Bezug auf das Ganze bewusstlosen) Protagonisten und Machthabern aufoktroyiert [wurde]«, — »mit dem Ergebnis, dass diese Kategorien schon bald geradezu als unüberwindbare anthropologische Konstanten erschienen, die jeder Kritik spotten.«33 Robert Kurz hat daraus auch und gerade gefolgert, dass derart die »erste Hürde einer kategorischen Kritik des Kapitalismus« nur darin bestehen kann, »diese Kategorien aus dem Status stummer Selbstverständlichkeit herauszulösen, sie explizit und damit überhaupt erst kritisierbar zu machen.«34 4. Kritik der ArbeitAuch wenn aus dem soeben Gesagten folgt, dass es im Sinne der radikalen Kritik nicht angeht, auch nur eine Kategorie aus ihrem Formzusammenhang mit den anderen zu lösen, um sie einzeln zu kritisieren, ist die »Wertabspaltungs-Kritik« doch von Anfang an vor allem »Arbeitskritik«, also Kritik der Arbeit gewesen.35 Davon zeugt wie kein zweiter, jener Satz, mit dem Robert Kurz, fünf Jahre nach der Veröffentlichung des noch im Rahmen der Gruppe Krisis veröffentlichten Aufrufs aus dem Jahr 1999 — »Proletarier aller Länder, macht Schluss!« — die achtzehn Punkte dieses »Manifests gegen die Arbeit« bündelt: »Konkrete Arbeit und abstrakte Arbeit sind ein und dieselbe Arbeit, zusammengeschlossen in der Abstraktion "Arbeit" als Realabstraktion.«36 Die Kategorie der abstrakten Arbeit37 meint zwar »nichts Überhistorisches«,38 kommt aber dennoch wie »eine metaphysische Verrücktheit«39 daher; sie betrifft zwar »eine Bewusstseinsfrage«,40 stellt aber gleichzeitig nicht nur eine »Verkehrung des Konkreten und des Abstrakten«41 dar, sondern auch »das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen auf den Kopf«;42 und so zeugt die abstrakte Arbeit von »einem gespenstischen System«, welches sie hervorgebracht hat, — und innerhalb dessen sie »in der Welt, aber nicht von der Welt«43 ist. So wie der Wert als Realabstraktion dem Zusammenhang der Kategorien seine Form gibt und der Ware vom Fetischverhältnis ihr Charakter verliehen wird, — so liefert die Arbeit dem Kapital seine unheimliche Substanz. Die abstrakte Arbeit bildet also »die Art und Weise, wie das nicht-materielle gesellschaftliche Wesensprinzip auf die materielle Welt gespenstisch zugreift«.44 Die daraus entstehende Vergesellschaftung ist eine negative zu nennen, — weil durch sie auch die Menschen zwar in der Welt, gleichzeitig aber nicht von der Welt sind. 5. Gegen den Strom, gegen den Strich, gegen die SchwerkraftDamit ist nun wirklich »keine Revolution« zu machen, »nirgends«! Wenn es also stimmt, wie Robert Kurz es einmal formuliert hat, nämlich, dass je mehr die Welt ökonomisiert wird, sie umso krisenhafter wird, und je krisenhafter die Welt wird, desto ökonomischer das Bewusstsein wird, »aber in einer völlig untheoretischen und unkritischen Form«45 — welche Chancen lässt diese Situation dann noch für die Veränderung gesellschaftlicher Zustände bzw. Verhältnisse? »Keine Revolution, nirgends« kann aber auch anders verstanden werden, nämlich im Sinne von Robert Kurz´ Einleitung zu seinem letzten Buch, welche er mit »Die unvollendete theoretische Revolution« überschrieben hat. Gemeint ist die Revolution, die Karl Marx angezettelt hat. Unvollendet wird diese genannt, weil, um sie zu voranzutreiben, das Marxsche Werk eine neue, eine andere Lektüre nötig hat. Der Entfaltung dieser neuen, anderen Lektüre hat Robert Kurz sein Leben gewidmet. Im Sinne dieser Lektüre gilt es nach wie vor, sich gegen Strom, gegen Strich und gegen Schwerkraft »erneut einer theoretischen Kultur der Kritik der politischen Ökonomie zu bemächtigen.«46 Und in demselben Sinne ist heute, zehn Jahre nach seinem Tod, auch das Lebenswerk von Robert Kurz noch lange nicht vollendet. Ich habe mit einem Zitat begonnen. Ich möchte mit einem Zitat enden. Und zwar mit drei Sätzen von den Anfängen, d.h. aus einer Arbeit aus dem Jahr 1987, auf welche immer wieder im Sinne eines der Gründungstexte der Wertabspaltungskritik referiert wird. Fünfunddreißig Jahre später sind diese Worte noch immer nicht alt geworden, ja im Gegenteil ganz frisch geblieben und zeugen nach wie vor davon, welches Feuer in Robert Kurz brannte: »Die historisch aktuelle Aufgabe ist die theoretische und praktische Vorbereitung einer Revolution, die den Wert und damit das Geld liquidiert. Alles andere ist nur noch theoretischer und ideologischer Schrott. Die eigentliche Bombe als Kern des Marxschen Werkes, sein brisantes Vermächtnis an die Zukunft, muss erst noch gezündet werden.«47 Frank Grohmann, 17. Juli 2022
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