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Sandrine Aumercier/Clément Homs/Anselm Jappe/Gabriel Zacarias: Der Große Lockdown des Kapitalismus. Der Triumph des Staates über die Wirtschaft?


Der Große Lockdown des Kapitalismus

Der Triumph des Staates über die Wirtschaft?1

Sandrine Aumercier, Clément Homs, Anselm Jappe & Gabriel Zacarias

Staatliche Entscheidungen zur Abschaltung der Wirtschaft können anfangs verwirrend sein. Wie kann eine Pandemie solche Auswirkungen haben? Warum das Erstarken des Staates? Wie konnte es den Staaten gelingen, den von Millionen von Unternehmen auf dem Planeten durchgeführten Prozess der Verwertung des Wertes in wenigen Tagen in die Knie zu zwingen? Wie kam es, dass die Staaten plötzlich die Parolen der erstbesten Linken aufgriffen, »unser Leben ist mehr wert als ihre Profite«, »Stillstand der Wirtschaft«? Wie konnte die Gesundheit plötzlich wichtiger werden als das business as usual?

Unter den vielen Meinungen zu diesen Fragen hat Hartmut Rosa den Gedanken vorgebracht, dass, da mit Covid-19 die Ausübung unbegrenzter Herrschaft über die Welt ausgeschlossen sei, »wir es nicht ertragen, nicht vorhersehen zu können, was als nächstes passieren wird, und kein Gegenmittel zu haben. Dies erklärt den sinnlosen Erguss von Bemühungen, die Kontrolle wiederzuerlangen. Es macht uns verrückt, diese Machtlosigkeit.«2 Diese Art der Erklärung ist jedoch oberflächlich: Nicht nur ist seine Argumentation einseitig psychologisierend, sie bezieht sich gleichzeitig nur auf ein undifferenziertes menschliches Subjekt. Wie Jérôme Baschet hervorgehoben hat, findet sich die Quintessenz des vorherrschenden Diskurses, welcher die Abschaltung der Wirtschaft begleitet hat, gut in dem Artikel ausgedrückt, den die Chefin des IWF, Kristalina Georgieva und ihr WHO-Pendant, Tedros Adhnom Ghebreyesus am 3. April 2020 gemeinsam im Daily Telegraph veröffentlicht haben:3 »Alle Länder sind mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, auch auf Kosten der Lähmung ihrer Gesellschaften und Volkswirtschaften«, begannen sie, bevor sie dann bestritten, dass dies ein Dilemma sei: »Leben retten oder Lebensgrundlagen retten? Die Kontrolle des Virus ist in jedem Fall eine Voraussetzung für die Rettung von Existenzen«; »der Verlauf der globalen Gesundheitskrise und das Schicksal der Weltwirtschaft sind untrennbar miteinander verwoben. Die Bekämpfung der Pandemie ist eine Notwendigkeit, wenn sich die Wirtschaft erholen soll.« Bill Gates fügt hinzu: »Niemand kann mit business as usual weitermachen. Jede Unklarheit in diesem Punkt würde die wirtschaftliche Not nur noch vergrößern und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Virus zurückkehrt und weitere Todesfälle verursacht«; »wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen, die auf wissenschaftlichen Informationen, Daten und der Erfahrung von Gesundheitsexperten basieren, können wir Leben retten und das Land wieder arbeitsfähig machen.«4 Diese Argumentation, welche die widersprüchliche Einheit von gesundheitlicher Vernunft und wirtschaftlicher Vernunft zusammenhält, ist in der Tat das, was sich am Ende vielen Führungskräften aufdrängen wird. »Die Freiheit des einen kann nicht auf Kosten der Gesundheit des anderen ausgeübt werden«, sagte schließlich der niederländische Führer der Liberalen, Mark Rutte.5

Wir müssen diese herrschende Ideologie, die am Ende das Undenkbare tun wird —nämlich ganze Teile der Ausbeutungsmaschinerie zum Stillstand zu bringen—, jedoch weniger als ein einfaches soziologisches Bündnis verstehen, das auf gemeinsamen Interessen und subjektiven Strategien zwischen ökonomischen, politischen und gesundheitspolitischen Akteuren beruht, sondern als das Ergebnis komplexer objektiver Bestimmungen, die in sich widersprüchlich sind, die für kapitalistische Gesellschaftsformationen konstitutiv sind und die sich daher den Akteuren aufdrängen. Überrascht von einem Ereignis, das sich allen Vorhersagen widersetzte, trafen die Regierungen Notstandsentscheidungen; doch kaum hatten sie wieder mit der Öffnung begonnen, wurden auf allen Seiten Stimmen laut, die beteuerten, dass ein erneuter Lockdown um jeden Preis zu vermeiden sei.6 So konnte das Tragen der Maske, deren Wirksamkeit zunächst in Frankreich mangels ausreichender Bestände in Frage gestellt wurde und über die sich Donald Trump und Jair Bolsonaro öffentlich mokierten, von der amerikanischen Bank Goldman Sachs kurzerhand zur Rettung der Wirtschaft erklärt werden. Kurz darauf erklärte Trump sie schließlich für »patriotisch«! In seinem Bericht »Maske und BIP« prognostizierte der Ökonom Jan Hatzius, dass die obligatorische Maskierung »letztendlich die Beschränkungen ersetzen könnte, die ansonsten fast 5% des BIP abziehen würden«.7 Covid-19 weckt also die ganze Bandbreite der Vorstellungen vom Schlimmsten, das es zu vermeiden gilt, deren gemeinsamer Punkt der Zusammenbruch des Wachstums ist, welcher auf den allgemeinen Lockdown folgt und erst recht auf jeden weiteren Lockdown. Wir befinden uns also in einer Situation, in der sich Ökonomen die Freiheit nehmen, Gesundheitsempfehlungen zu geben, was nicht weniger surreal ist, als wenn ein Virologe einer Bank Anlageempfehlungen geben würde! In diesem Zusammenhang stecken Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Couleur, in unmöglichen Kompromissen fest, und die Pflicht zum Tragen einer Maske an öffentlichen Orten scheint eine Art »Mittelweg« zwischen widersprüchlichen Forderungen zu sein, welcher einen ziemlich breiten Konsens zusammenbringen könnte, Hauptsache, man vermeidet einen neuerlichen Lockdown.

Das Wesen dieser staatlichen Entscheidungen lässt sich mit der Kurz’schen Theorie des polaren Verhältnisses von Staat und Wirtschaft erfassen. In Wirklichkeit wird der Kapitalismus nicht allein mit dem Markt (und seinem neoliberalen Primat) identifiziert, und die sogenannten ökonomischen Beziehungen sind nicht die Gesamtheit des kapitalistischen gesellschaftlichen Lebens, wie es sich der bürgerliche Ökonomismus und der traditionelle Marxismus vorstellen. Die gesellschaftliche Totalität wird nicht nur dadurch gebrochen, dass aus der durch die abstrakte Arbeit konstituierten »männlichen« Ökonomie eine ganze Reihe von minderwertigen Aufgaben, Dispositionen, Emotionen, Gefühlen usw. ausgeschlossen werden, die in dieser Sphäre der Betriebswirtschaft nicht funktional sind und generell den Frauen zugewiesen werden, sondern der Kapitalismus besteht jenseits von Markt und Produktion aus mehreren differenzierten Sphären, die ebenso viele funktionale Subsysteme sind, welche zur Gesamtreproduktion der konkreten kapitalistisch-patriarchalen Totalität notwendig sind. Neben der Sphäre der Betriebswirtschaft, in der die Verwertung durch die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Vermehrung des fiktiven Kapitals stattfindet, hat sich eine riesige Sphäre der sekundären und derivativen Reproduktion konstituiert, die im Wesentlichen aus den Sphären des politischen Staates, des Gesundheitswesens, der Bildung usw. besteht.

Die Linke, welche die Welt vom Staat aus verändern will, hat das Verhältnis der »feindlichen Komplementarität« (R. Kurz) zwischen Staat und Marktproduktion nicht besser verstanden als die liberale Bourgeoisie. Während die Bourgeoisie nur eine liberale Apologetik aus der Phase aufblies, als die Marktproduktion auf eigenen Beinen gehen konnte und der Staat im Hintergrund der Marktgesellschaft stand, zog die altkapitalistische Linke im 20. Jahrhundert den Fehlschluss, dass Staat und Kapitalismus ihrem Wesen nach gegensätzlich seien. In der Realität besteht ein polares Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen Sphäre und einer staatlich-politischen Sphäre, die lediglich ihr funktionales Subsystem ist. Der Kapitalismus ist nicht nur der Markt, er ist der Staat und die Marktproduktion (sowie andere abgeleitete Sphären). Wie mehrere marxistische Strömungen gezeigt haben (die marxistische Debatte über die Ableitung des Staates, John Holloway, Kurz usw.), haben viele revolutionäre Strömungen den Fehler begangen, eine instrumentelle Sichtweise des Wesens des Staates zu verteidigen, indem sie ihn als bloßes Instrument der Kapitalistenklasse, als Verdinglichung des Klassenverhältnisses betrachteten. Viele dieser Strömungen mussten schließlich die Positivität des Staates bekräftigen, manchmal mit katastrophalen Folgen, gerade weil sie glaubten, es sei möglich, ihn von seiner vermeintlichen Instrumentalisierung durch die Bourgeoisie zu befreien. Staaten sind viel stärker in die Welt des Kapitals eingetaucht, als es die fetischistische Vision eines einfachen Instruments vermuten lässt. Die politisch-staatliche und die ökonomische Sphäre sind in einem Verhältnis der Komplementarität gefangen, wobei jede sowohl das Ergebnis als auch die Voraussetzung der anderen ist. Einerseits hat der Staat nichts mit der aus sich selbst heraus handelnden, selbstbestimmten Gesellschaft zu tun, denn seine Existenzbedingungen und seine sozialen Kapazitäten hängen völlig von der Ableitung in Form von Steuern ab, die er auf die wirtschaftliche Sphäre betreibt. Ohne diese steuerliche Belastung der Wirtschaft, ohne die Verausgabung der erwarteten zukünftigen Wertproduktion (in Form von Staatsschulden), ist kein kollektives Handeln möglich. »Die Steuern«, schreibt Marx, »sind die wirtschaftliche Grundlage der Staatsmaschinerie und von sonst nichts. [...] Einkommensteuer setzt die verschiedenen Einkommensquellen der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft.«8 Die staatliche Form des kollektiven Handelns im Kapitalismus ist also notwendigerweise ein Anhängsel der Bewegung der Verwertung.

Auf der anderen Seite konstituieren sich die Staaten in ihrer historischen Genese und Funktionslogik in der Rolle des »idealen kollektiven Kapitalisten«. Was die staatliche Politik anstreben muss, ist nicht die Befriedigung der Interessen einzelner Fraktionen des Kapitals, sondern die langfristigen Interessen des Kapitals als Ganzes sowie die Integration der subalternen Klassen — sofern die Verwertungsbasis dies zulässt. Das heißt, die Staaten übernehmen die gesamten Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaften, welche die Wettbewerbslogik der betriebswirtschaftlichen Sphäre aus ihrer eigenen Logik heraus nicht übernehmen kann. Jede Regierung, ob links oder rechts, ist daher gezwungen, die systemischen Imperative der Wertproduktion zu berücksichtigen. Ohne diese Funktion des modernen Staates hätte der Kapitalismus nicht dauerhaft funktionieren können und wäre der »Anarchie des Marktes«, d.h. dem »eiskalten Wasser egoistischer Berechnung« konkurrierender Privatinteressen überlassen gewesen. Der Staat übernimmt daher eine Reihe von systemischen Funktionen: die Gewährleistung der allgemeinen rechtlichen Grundlagen des abstrakten Arbeitssystems, den Apparat der »Sicherheit« mit seinem auf den gewaltsamen Klassenkampf gerichteten Repressionsmechanismus, die Regulierung von Arbeitskonflikten innerhalb eines domestizierten Klassenkampfes, Militärausgaben, »öffentliche Dienstleistungen«, die Verwaltung der sanitären Bedingungen durch ein System der »öffentlichen Gesundheit«, ein System der »öffentlichen Bildung« usw. Ganz allgemein verkörpert der Staat die allgemeine Instanz, die den äußeren Rahmen der Kapitalverwertung bildet, indem er die Ressourcen und Infrastrukturen (Energie, Verkehr usw.) zur Verfügung stellt, welche die Plattform für jeden einzelnen Verwertungsprozess auf dem Territorium des betreffenden Staates bilden werden.

Dieses Verhältnis der Komplementarität zwischen der Sphäre der Betriebswirtschaft und des Staates erzeugt in ihm selbst aber auch die polare Konfrontation innerhalb derselben Gesellschaftsform, zwischen jener ökonomischen Vernunft und dieser Staatsvernunft, also zwischen dem Prozess der Verwertung und den Rahmenbedingungen desselben Prozesses. In der Form des »Widerstreit zwischen dem allgemeinen Interesse und dem Privatinteresse« (Marx, Zur Judenfrage) ist dieses Verhältnis der Komplementarität nun dasjenige, in dem sich das Politische und das Ökonomische als zwei polare Reflexe in einem identischen Bezugssystem gegenüberstehen. Das Verhältnis der Komplementarität zwischen dem Staat und der Sphäre der Betriebswirtschaft stellt gleichzeitig ein Verhältnis der Feindschaft dar, das sie bewegen und dazu bringen kann, sich gegeneinander zu stellen. Der Staat kann der Wirtschaft seine eigenen Regeln auferlegen und umgekehrt.

Darüber hinaus kann jedes der Extreme des polaren Verhältnisses eine größere oder geringere Bedeutung bekommen, je nach den sukzessiven Konfigurationen, die der Kapitalismus im Laufe der Geschichte annimmt. Sie schließen sich nie gegenseitig aus und setzen sich selbst voraus: Etatismus oder Liberalismus, politische Diktatur oder die Diktatur des sich selbst regulierenden Marktes, — es ist immer Kapitalismus. Am Ende des 19. Jahrhunderts begann der liberale »Nachtwächterstaat« zurückzutreten und einem interventionistischen Staat Platz zu machen, vor allem mit der Übernahme der allgemeinen Kosten der kapitalistischen Reichtumsproduktion und dann mit der Konstituierung einer Kriegswirtschaft während der Weltkriege. Die Polarisierung des Staat-Markt-Verhältnisses zu Gunsten des Staates wird nach der »Großen Depression« der 1930er Jahre noch deutlicher, denn die »Verwertung des Kapitals« hätte sich wohl nicht von allein erholt (und wird es auch nur mit Hilfe des Krieges). Ab den 1980er Jahren verschob sich das polare Staat-Markt-Verhältnis aus verschiedenen Gründen in Richtung des »Primats des Marktes«, dies ist die Phase der neoliberalen Hegemonie. Aber die anti-neoliberale Kritik hat die Einheit dieses polaren Staat-Markt-Verhältnisses nie wahrgenommen und hat stattdessen innerhalb einer identischen Form des kapitalistischen Lebens weiterhin eine Phase des Kapitalismus, die auf den Staat zentriert ist (der Keynesianismus des Wohlfahrtsstaates), einer Phase des Kapitalismus, die allein auf den Markt zentriert ist (die neoliberale Ära), gegenübergestellt bzw. den öffentlichen Sektor dem privaten Sektor gegenübergestellt, welche allerdings nur zwei Seiten derselben kapitalistischen Gesellschaft sind. Die Entscheidungen der Staaten im Frühjahr 2020, die Wirtschaft stillzulegen und die Bevölkerung zu beschränken, sind nur vor dem Hintergrund dieses polaren, aus komplementärer Feindschaft bestehenden Verhältnisses zwischen Staat und Markt zu verstehen. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich selbst politisch vereinnahmt, um zu überleben.

Die sanitäre Rolle des modernen Staates bei der Regulierung der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft als Ganzes trat erstmals in Erscheinung, als sich der britische absolute Staat der Vormoderne in Korrelation mit dem radikalen Auftauchen einer (notwendigerweise kapitalistischen) ökonomischen Sphäre innerhalb der vormodernen sozialen Beziehungen im Prozess der Auflösung neu zu ordnen begann. Der moderne Staat nahm ab dem 17. und 18. Jahrhundert »entwicklungsfördernde«9 Funktionen an. Die berühmte Kontroverse zwischen Voltaire und Rousseau im Jahr 1755, die sich auf das Erdbeben von Lissabon bezog, war ein echter Durchbruch und sollte die Grundlage für die rationalistische Herangehensweise der Staaten an das Thema Gesundheit sein. Katastrophen und Epidemien, stellt Gaëlle Clavandier fest, wurden nicht mehr als göttliche Strafe in Verbindung mit menschlicher Schuld interpretiert, sondern als »Störungen der Natur. Voltaire und Rousseau sahen die Verantwortung der Menschen an ihrem eigenen Unglück aufgrund mangelnder Voraussicht. Diese von der Philosophie der Aufklärung inspirierte Lesart gilt für Naturkatastrophen ebenso wie für Epidemien: Die Vorstellung, dass die Wissenschaft das Böse bekämpfen kann, ist inzwischen etabliert.«10 »Neu ist die Überzeugung, dass der Tod rückgängig gemacht werden kann, sagt Françoise Hildesheimer. Krankheit wurde zu einem natürlichen Phänomen, das anders als durch die Inanspruchnahme der göttlichen Gnade bekämpft werden konnte — durch Hygiene, Isolation und die Verteilung von Nahrung und Heilmitteln.«11 Die gesundheitspolitische Rolle des modernen Staates entstand in dieser Bewusstseinsrevolution und im Schmelztiegel des Kampfes gegen Epidemien, welcher auch den Kontext der Entwicklung der Medizin darstellt, sowie ihrer Sorge um die »öffentliche Hygiene« im 18. Jahrhundert. In Frankreich lässt sich die Übernahme dieser sanitären Aufgabe durch den Staat auf das Jahr 1710 zurückdatieren, als Ludwig XIV. den Verwaltungen zum ersten Mal Kisten mit »Heilmitteln« zur kostenlosen Verteilung auf dem Lande schickte. Und im Jahr 1750 wurde in jeder Verwaltung ein Seuchenarzt ernannt. Aber vor allem im 19. Jahrhundert, nach den Cholera-Epidemien, kümmerten sich die Staaten um die gesundheitlichen Rahmenbedingungen der Wert-Abspaltung, d.h. um den Prozess der Verwertung und der den Frauen zugewiesenen Reproduktionsaufgaben. Dies wird in Form von Hygienismus, Stadtsanierung, Aufbau eines ersten staatlichen Sanitätsapparates, eines öffentlichen Krankenhausdienstes, eines öffentlichen Gesundheitsgesetzes, finanzierter medizinischer Forschung usw. geschehen. Es sind diese sanitären Bedingungen, die unter dem Begriff »Öffentliche Gesundheit« zusammengefasst werden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts setzten die Staaten diese verschiedenen »Gesundheitspolitiken« um. In Frankreich wurde ein »Gesundheitssystem« mit zwei Gesetzen zur Gesundheitspolitik in einem Jahrhundert eingeführt, 1902 für eine Impfpolitik und 2004 für fünf »strategische Pläne«. Nach und nach wurden eine ganze Reihe von Institutionen, Strukturen, Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen sowie Systeme zur Gesundheitsüberwachung und Sicherheit geschaffen. Es ist jedoch bekannt, dass diese Gesundheitspolitik in der Phase des neoliberalen Staates in vielen Ländern generell von Budgetkürzungen betroffen ist. Wir kennen die mangelnde Vorbereitung vieler Staaten, die sich in den fehlenden Ressourcen der FFP2-Masken, der Abnahme von Krankenhausbetten etc. zeigt. Präsident Trump hat das Budget der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) gekürzt, wo 700 Stellen unbesetzt geblieben sind, und die Pandemie-Einsatzgruppe innerhalb des Nationalen Sicherheitsrats aufgelöst. Dies ist jedoch nicht bei allen neoliberalen Staaten der Fall, da Staaten wie Deutschland, Südkorea usw. ein hohes Niveau öffentlicher Gesundheitseinrichtungen beibehalten haben.

In einer Welt, in der Demokratie zu einem Wort geworden ist, das ihren Zweck nicht mehr beschreibt, müssen wir erwarten, dass ein Gesundheitsnotstand überall den Ausnahmezustand auslöst und dem, was von der scheinbaren Demokratie noch übrig ist, den endgültigen Schlag versetzt. In einigen Ländern, wie Ungarn und Israel, haben die Machthaber die Situation tatsächlich ausgenutzt, um ihre Rechte zu erweitern oder die Militarisierung des öffentlichen Lebens zu vertiefen, wie in Chile, das bereits von sozialen Bewegungen erschüttert wurde. Selbst in »demokratischeren« Ländern, wie z.B. in Kontinentaleuropa, wurden Maßnahmen, die sonst von den Wählern als inakzeptabel angesehen würden, über Nacht ohne Widerstand durchgesetzt. Es ist jedoch zu beachten, dass auch das Gegenteil der Fall war. Viele Führungskräfte entschieden sich, zunächst nichts zu tun und hofften, dass sich die Dinge von selbst regeln würden. Das Risiko von Kontrollmaßnahmen, die sich auf die Wirtschaft auswirken, ließ sie angesichts der Sicherheitsbedürfnisse zögern. Es ist wichtig, diese beiden Arten gegensätzlicher Reaktionen im Auge zu behalten, da die meisten Kommentatoren gewöhnlich nur eine berücksichtigen. Entweder wird der rasante Wandel zum Autoritarismus betont, oder die Unterordnung des Staates unter die Wirtschaft wird angeprangert. In der Realität erleben wir das permanente Schwanken zwischen diesen beiden Polen, sogar von Seiten ein und desselben Führers. Etwa das Beispiel von Donald Trump, dessen Entscheidungen und öffentliche Positionen in »Briefings« im Weißen Haus, die wegen der Krise täglich geworden sind, von einem ununterbrochenen Hin und Her zeugten. Zeitweise beharrte der amerikanische Präsident auf der Ernsthaftigkeit der Krise, sprach von einem »Krieg« gegen den »unsichtbaren Feind« und wollte zeigen, dass er mehr tue als jeder andere Führer der Welt. Zu anderen Zeiten spielte er die Bedeutung der Krankheit herunter und versuchte, auf die Wiederöffnung des Landes zu drängen, um die Wirtschaft zu retten, während er gleichzeitig den Hinweisen der Ärzte und Experten seiner Task Force widersprach, zu denen er stets ein Verhältnis von teilweiser Feindseligkeit pflegte (man denke an die Figur des Anthony Fauci, des »Epidemiologen, der sich gegen Trump stellt«). Jetzt auf die Präsidentschaftswahlen im November 2020 fokussiert, hat er endgültig das Interesse an der Gesundheitssituation verloren, um sich wieder auf die Wirtschaft und deren Erholung zu konzentrieren, und versuchte im Juli 2020, »die Gouverneure unter Druck zu setzen«, um die öffentlichen Schulen wieder »wunderschön« zu öffnen: notfalls durch Haushaltskürzungen.12

Trumps Fall ist keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Erinnern wir uns an das Zögern der chinesischen Behörden im Januar 2020, das anfängliche Dementi der italienischen Regierung, dem ersten Epizentrum in Europa, gefolgt von einer ähnlichen Reaktion der französischen Regierung. In Brasilien bezeichnete Jair Bolsonaro Covid-19 immer wieder als »eine kleine Grippe«, und seine Feindseligkeit gegenüber Wissenschaftlern ging so weit, dass das brasilianische Gesundheitsministerium im schlimmsten Moment der Krise niemanden mehr an seiner Spitze hatte, nachdem zwei Minister nacheinander zurückgetreten waren, die sich weigerten, »Hydroxychloroquin« als Zaubermittel durchzusetzen. Mit mehr oder weniger extremen Abweichungen haben sich einige Staaten bei der Umsetzung der Lockdown-Strategie querköpfig gezeigt. In Japan hat die Regierung von Shinzo Abe die gesundheitlichen Risiken de facto verharmlost, indem sie die Olympischen Spiele stattfinden lassen wollte oder bis Anfang Februar 2020 zehntausende chinesische Touristen kommen ließ, aus Sorge um die Wahrung wirtschaftlicher Interessen, um die Produktion nicht zu beeinträchtigen, oder aus politischem Kalkül — um den politischen Nutzen der Spiele zu sichern oder die Politik der Annäherung an China nicht zu gefährden.13 Die Olympischen Spiele gingen vor die Gesundheit der Japaner, wie 2013, als Abe ebenfalls die Wahrheit unterdrückte, um die Olympischen Spiele in sein Land zu holen, indem er verkündete, dass die Nuklearkatastrophe in Fukushima »unter Kontrolle« sei — auch wenn sie es bis heute noch nicht ist. Die Wirtschaft oder Menschenleben? Das seit jeher für kapitalistische Gesellschaften konstitutive polare Verhältnis komplementärer Feindschaft zwischen dem Staat und der Sphäre der unternehmerischen Wirtschaft hat sich überall im Konflikt zwischen gesundheitlicher und wirtschaftlicher Vernunft ausgedrückt. Diese widersprüchliche Einheit manifestiert sich in Form des Zögerns, das auch heute noch die Staaten, die Verantwortlichen und die öffentliche Meinung bei der Abwägung zwischen wirtschaftlichen oder sozialen Schäden auf der einen Seite und vermeidbaren Todesfällen auf der anderen Seite zerreißt. Die gleichen Fragen stellen sich wieder, wenn es um die Möglichkeit einer zweiten Welle geht.

Dieses Zögern auf der politischen Ebene mag umso überraschender erscheinen, wenn es sich um Länder handelt, in denen in den letzten Jahren eine Verschiebung in das ideologische Feld der extremen Rechten stattgefunden hat (wie z.B. Italien oder Brasilien). Man kann sich schon darüber wundern, dass diese Führer, die ausgrenzenden Ideologien und autoritären Tendenzen anhängen, so zögerlich waren, strenge Maßnahmen zur Kontrolle der Bevölkerung zu ergreifen. Es ist jedoch weniger überraschend, wenn man die gesellschaftliche Totalität versteht, von welcher die politische Sphäre ein Teil ist, die feindliche Komplementarität zwischen Staat und Markt und vor allem die Besonderheit des Kapitalismus als eine Form der Herrschaft ohne Subjekt.14 Die logische Folge dieser Form von Herrschaft kann schlicht und einfach Anomie sein. Nicht der autoritäre Herrscher, sondern der faule, dumme und gleichgültige Herrscher, der eher bereit ist, die Bevölkerung dem Tod auszuliefern, als eine minimale Reduzierung des BIP zu riskieren. Der brasilianische Fall ist sehr überzeugend. Nachdem er oft die diktatorische Vergangenheit Brasiliens und die Praxis der Folterung von Gegnern gelobt hat, hätte man erwarten können, dass Bolsonaro die erste Gelegenheit ergreifen würde, ein neues diktatorisches Regime einzuführen und der Bevölkerung mehr staatliche Kontrolle aufzuerlegen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der brasilianische Präsident hat alles getan, um die Pandemie zu ignorieren und stattdessen darauf bestanden, dass die Menschen nicht aufhören sollten zu arbeiten. Indem er den Menschen sagt, sie sollen mit ihrem Leben weitermachen, wie sie wollen, hat er einen Popularitätsverlust erlitten und starke Kritik erhalten. Manche erwarteten seinen Untergang, andere eine autoritäre Wende. Aber bis eine autoritärere Organisation des Staates —im Sinne von »Politik«— für die Bewältigung der Krise notwendig wird, ist es da nicht offensichtlich, dass die adäquate Form für die Krise des Wertes einfach eine Verringerung der Kontrolle ist, die es erlaubt, dem Problem des Überflüssigen nicht mit einer Tötung, sondern einfach mit einem »Sterbenlassen« zu begegnen? Außerdem, und darauf werden wir noch zurückkommen, bringt die Krise der Verwertung auch die Krise der Legitimität des Staates mit sich und untergräbt dessen Fähigkeit zu intervenieren, was den Prozess der generalisierten Korruption vertieft. Der Zusammenbruch des Staates kann durchaus zu Militärputschen führen, aber auch zum Mafia-Staat. Im Falle Brasiliens sollte man Bolsonaro nicht einfach für einen »reformierten Armee-Hauptmann« halten, sondern sich an ihn als den Abgeordneten erinnern, der die Legalisierung der »milícias« vorschlug und eine intime Beziehung zu dieser Form der Parallelmacht hatte.15

Während die Führer, von denen man annimmt, dass sie autoritären Ideologien verpflichtet sind —oder besser gesagt, die selbst behaupten, autoritär zu sein—, zögerten, restriktive Maßnahmen zu ergreifen, haben sich die »progressiven« und »liberalen« Sektoren als begierig nach mehr Kontrolle, mehr Staat, mehr Autorität gezeigt. Die berühmteste amerikanische Zeitung, die New York Times, die gerade wegen ihrer Verachtung des Präsidenten neues Ansehen erlangt hat, zögerte nicht, dazu aufzurufen, demselben Präsidenten mehr Macht zu geben: »Mr. Trump hat sich selbst zum ›Kriegspräsidenten‹ ausgerufen. Warum konnte er dann nicht die Amerikaner für diese Sache gewinnen? [...] Diese Redaktion strebt nicht danach, dem Weißen Haus mehr Exekutivgewalt zuzugestehen, schon gar nicht dem aktuellen, angesichts dessen, was schon angezettelt wurde. Aber in diesem Fall gibt es niemanden, der die Koordination auf nationaler Ebene übernimmt.«16 Die Argumentation des Artikels ist bemerkenswert. Wenn wir wissen, dass jemand ein Gauner ist, sollten wir ihm dann in einem Moment der Krise vertrauen, nur weil »es sonst niemanden gibt, an den wir uns wenden können«? Sollten wir nicht stattdessen den Schwachkopf feuern und ohne ihn auskommen? Wenn Trump nicht die Gelegenheit ergreifen wollte, eine Art Diktator zu werden —und damit auch die Träume hartnäckiger Antifaschisten zu vereiteln—, dann deshalb, weil er seinerseits die Komplementarität zwischen Staat und Markt vielleicht besser verstanden hat als jeder seiner Kritiker. Die milliardenschweren Staatshilfen, die seine Regierung in der Krise bewilligt hat, werden seinen eigenen Unternehmen sicher guttun.

Über die alleinige Frage der Abwesenheit von Masken, Screening-Tests usw. hinaus ist das polare Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft auch eine der Determinanten der Schlichtung zwischen den verschiedenen sanitären Strategien und dann der Umkehrung der Strategien, wenn es darum geht, aus der Enge herauszukommen und die Ausbeutungsmaschinerie so schnell wie möglich wieder in Gang zu setzen. Als Garanten der Grundrechte moderner Subjekte, die aus gesundheitlichen Gründen weitgehend außer Kraft gesetzt sind, dürfen die Staaten, entgegen aller ökonomischer Vernunft, nicht den Tod der Menschen in Kauf nehmen. Hier finden wir einen Anker des möglichen feindlichen Verhältnisses zwischen dem Staat und der Sphäre der Betriebswirtschaft. Und wir können überall sehen, dass ein Teil der öffentlichen Meinung die Führer nach dieser Fähigkeit, die Zahl der Toten zu begrenzen, beurteilen wird.

Auf der anderen Seite sind die Staaten aber nicht nur die Garanten für die Rahmenbedingungen, insbesondere die gesundheitlichen Bedingungen, des Verwertungsprozesses. Gefangen in ihrem wechselseitigen Bestimmungsverhältnis mit der Wirtschaft, sehen die Staaten ihre Existenzbedingung, die der fiskalische Abfluss eines effektiven Verwertungsprozesses ist, jeden Tag ein wenig mehr schwinden. In der Krise kämpfen auch die Staaten um ihr Überleben. Und die Verschlimmerung der Bedingungen ihrer Verschuldung hängt von der Dauer dieser Beschränkung der Wirtschaft ab. Im Laufe der Zeit werden die Staaten immer mehr an diesem inneren Widerspruch scheitern: das Überleben des Staates oder das seines Volkes? Auch hier kann die Flucht in die Krisenbewältigung auf der unveränderten Basis des Lebens im Kapitalismus »nur zu einer Komplizenschaft mit Menschenopfern führen« (Kurz).

Schnell wurde klar: Mit der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs wuchs auch der Druck auf die staatlichen Sanierungsmaßnahmen. In Deutschland, das am 2. April 2020 seine Grenzen für Arbeitsmigranten aus Osteuropa wieder öffnete; im Iran, der anschließend am 10. April ganze Teile seiner Wirtschaft wieder ankurbelte; in den USA, wo Trump einen schnellen Aufschwung will; und überall sonst dachten die Staaten unter dem wachsenden Druck der Arbeitgeber und der Gefahr einer langen weltweiten Rezession darüber nach, den Lockdown so schnell wie möglich wieder aufzuheben und die »satanischen Mühlen« des Kapitalismus sich wieder drehen zu lassen. »Wir brauchen wirtschaftliche Kontinuität. [...] Wir brauchen eine Wirtschaft unter Covid«, hämmert Patrick Martin, CEO der Martin Belaysoud Expansion Group und Vizepräsident des MEDEF in Frankreich, bereits ein. Wenn die sanitäre Krise durch einen Lockdown von ein oder zwei Monaten weitgehend gelöst ist, dann können die Staaten die widersprüchliche Einheit von sanitärer Vernunft und wirtschaftlicher Vernunft durch diese momentane Versöhnung weiter zusammenhalten.

Wenn sich jedoch die gesundheitliche Situation nicht drastisch verbessert, oder wenn nach der Aufhebung des Lockdowns die Mittel nicht zur Verfügung stehen, um zu Strategie 1 überzugehen, oder wenn nach sechs Monaten der angekündigte Impfstoff immer noch nicht verfügbar ist, dann wird die widersprüchliche Einheit implodieren, und die wirtschaftliche Opferlogik, welche die primäre Reproduktion der Gesellschaft objektiv einschließt, wird sich mit gefletschten Zähnen der gesundheitlichen Vernunft aufdrängen. Der Prozess der Verwertung wurde inmitten einer unkontrollierten sanitären Situation in vielen Ländern reaktiviert, und diese verfrühte Reaktivierung stellt bereits die Bedingungen für eine zweite epidemische Welle oder ein Wiederaufleben der ersten Welle dar, wie es in den Vereinigten Staaten, Europa, Indien usw. ab Juni und Juli beobachtet wurde. In dieser möglichen Situation, in der die widersprüchliche Einheit von ökonomischer Vernunft und sanitärer Vernunft nicht mehr gehalten werden könnte, wie im Frühjahr 2020 —eine Situation, die von einem Teil der herrschenden verdinglichten Ideologie bereits vorweggenommen wird, was bereits etwas über die objektive Realität des realen Funktionierens des Wahnsinns des Selbstzweckes der Verwertung aussagt—, wird nichts mehr kontrollierbar sein und der reine Kern des Funktionierens der Fetisch-Reproduktion des menschlichen Lebens durch die alleinige Umwandlung von 100€ in 110€, wird seinen Mund weit öffnen, um die Menschheit zu verschlingen. Blut für den Gott des Blutes, das ist jetzt die Botschaft der Opferwirtschaft. Die Krise hat gerade erst begonnen, und der autophagische Charakter der kapitalistischen Gesellschaft wird immer deutlicher werden. In dieser zukünftigen Situation könnte der durch die Coronavirus-Krise beschleunigte Zusammenbruch der Modernisierung durchaus neue und erschreckende Gesichter annehmen, wenn die Finanzindustrie in der anhaltenden Abwesenheit jeglicher Hoffnung in der Realwirtschaft oder eines neuen fiebrigen Ausbruchs auf dem Gebiet der »Staatsschulden« Gefahr läuft, in noch nie dagewesenen Ausmaßen zusammenzubrechen und mit sich zu nehmen, was von einem Kapitalismus ohne wirkliche Akkumulation von Mehrwert übrig geblieben ist.

Mittlerweile hat das Virus fast überall zugeschlagen: Seit Ende Dezember 2019 sind nach einer Zählung Mitte Juli 2020 weltweit mehr als 610.000 Menschen gestorben und haben sich 14,5 Millionen infiziert. Die Zahl der infizierten Menschen hat im Juli 2020 2,2 Millionen überschritten, die Hälfte davon in Brasilien17. Lateinamerika hat es hart getroffen. Mehrere Länder, wie Indien, die USA und der Irak, haben Schwierigkeiten, die erste Welle einzudämmen, aber es ist Südasien, wo ein Viertel der Weltbevölkerung lebt, welches in diesem Sommer zum neuen Epizentrum der Pandemie wird. Im Mai und Juni haben die meisten Länder ihre Lockdown-Maßnahmen gelockert oder schrittweise ausgesetzt. Doch das Virus ist noch lange nicht Geschichte. In anderen Ländern ist es die Heraufkunft einer zweiten Welle, welche die Maßnahmen im Hinblick auf einen neuerlichen Lockdown motiviert, wie in Peking Mitte Juni 2020, in Europa Ende Juli 2020 und insbesondere in Spanien oder in Tokio, Tanger, Melbourne usw. Mehr als 350 Millionen Menschen auf der Welt sind Mitte Juli 2020 immer noch auf verschiedene Art und Weise zuhause eingeschlossen. In Indien dürfen in den Regionen Bihar, Westbengalen, Assam, Goa und in der Stadt Bangalore ab dem 16. Juli 2020 wieder 200 Millionen Menschen nicht ihre Wohnstätte verlassen.18 Die am stärksten betroffenen indischen Bundesstaaten Maharashtra und Tamil Nadu, bleiben weiterhin im Lockdown. Die Situation in den Vereinigten Staaten —mit täglichen Rekorden, die zwischen 55.000 und 65.000 Neuinfektionen schwanken— oder in Mitteleuropa, das in den ersten Monaten relativ verschont blieb, ist die eines sommerlichen Aufschwungs ab Juni 2020. In diesen Ländern kann man nicht von einer zweiten Welle sprechen, sondern eher von einer ersten Welle, die sich fortsetzt, weil, vor allem ab Mai 2020, in vielen südlichen US-Staaten —Arizona, Texas, Florida, usw.— die wirtschaftliche Vernunft gesiegt hat, — insofern man sich dort, gemessen an Trumps Öffnungsplan, der am 16. April 2020 angekündigt wurde, zu früh für die Lockerungen entschieden hat.

Die mittel- oder osteuropäischen Länder hatten sich seit den ersten Fällen im Westen regelrecht hinter ihren Grenzen verbarrikadiert. Aber mit dem Sommer und der Wiederöffnung der Grenzen kehren Arbeiter, die in den Westen gegangen sind, für die Ferien zurück und bringen das Virus mit sich. Anders sieht es noch in einigen Schwellenländern aus, die sich schon sehr früh, nämlich schon im März, als noch wenige Fälle von Covid-19 gemeldet wurden, zurückgehalten haben. Der Fall Indien ist typisch für viele Schwellenländer, die keine ausreichend effektive Phase des Lockdowns hatten. Das Land schloss seine Grenzen am 22. März 2020 und sperrte die Bevölkerung am darauffolgenden 25. März ein. Doch diese von Premierminister Narendra Modi frühzeitig beschlossenen drastischen Beschränkungen haben die Epidemie aus mindestens zwei Gründen nicht stabilisiert. Nachdem die Regierung zu Beginn der Beschränkungen Millionen von Wanderarbeitern daran gehindert hatte, nach Hause zurückzukehren, ließ sie sie im weiteren Verlauf der Epidemie nach Hause gehen und ermöglichte so, dass sich das Virus im ganzen Land ausbreiten konnte, auch in den Dörfern, in denen die älteren Mitglieder der Familien dieser Arbeiter leben. Als die Beschränkungen die Kurve der Epidemie nicht abgeflacht hatten, begannen die Behörden im Juni 2020 mit einer Öffnung, um zu versuchen, den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Die Wirtschaft zog an, als die Epidemie aufflammte.19

Obwohl fast alle Staaten, selbst die querköpfigsten, einen Teil der Wirtschaft stillgelegt haben, entkräftet diese außergewöhnliche Tatsache nicht die These von der strukturellen Überlegenheit des ökonomischen Pols in der Warenfetischgesellschaft. In der Moderne ist die politisch-staatliche Sphäre immer eine abgeleitete und sekundäre Sphäre im Verhältnis zur Ökonomie. Dass die Produktion und selbst die Finanzindustrie einer übergreifenden (»systemischen«) Reproduktion untergeordnet sind, die in schweren Krisenzeiten Vorrang hat und von den Staaten gesteuert wird, ist also nur eine Frage der Zeit. Ein Beweis für den derivativen und sekundären Charakter der politisch-staatlichen Sphäre ist die Vervielfachung der »gescheiterten Staaten« ab den 1980er Jahren, nachdem nachholende Modernisierungen gescheitert waren. Wenn weniger abstrakte Arbeit eingesetzt wird, weil sie durch einen neuen Rationalisierungsschub ersetzt wird (dritte und vierte industrielle Revolution), oder wenn das Geldkapital einfach aus den Zonen flieht, in denen unrentable Individuen zu finden sind, dann gerät die Gesamtheit der abgeleiteten und sekundären Funktionssphären —insbesondere die politisch-staatliche Sphäre—, welche die Gesamtreproduktion des kapitalistischen Verhältnisses berühren, in Schwierigkeiten. Wir werden keine Umstrukturierung des Kapitalismus in einen neuen Staatskapitalismus erleben, wie es ab den 1930er Jahren und während der Zeit des »fordistischen Booms« der Fall war. Wichtig ist zu sehen, dass wir uns bereits voll in der größten Krise befinden, die der Kapitalismus seit mehr als 80 Jahren gesehen hat, dass die »Weltbourgeoisie« sich anschickt, den Staatskapitalismus als die verallgemeinerte Rettung des Herrschaftssystems zu rehabilitieren, und dass es heute mehr denn je notwendig ist, Argumente zu liefern, um die Vergeblichkeit dieser Bemühungen und ihr unwiderrufliches katastrophales Schicksal für die Menschheit nachzuweisen.

Wenn der Verwertungsprozess von seiner absoluten inneren Schranke aufgefressen wird, sobald die Wirtschaft zusammenbricht, verringert sich die Möglichkeit, auf den Verwertungsprozess zurückzugreifen und die Möglichkeit, sich auf dem Anleihemarkt zu finanzieren, schrumpft. Die Krise der Verwertung zerstört das Fundament und die Legitimität der politischen Institutionen, produziert die Aushöhlung der Politik, indem sie die Grundlagen der Interventionsfähigkeit des Staates untergräbt, und verwandelt diese Sphäre in einen Neo-Ausnahmezustand, der die Krise verwaltet. Die staatlich-politische Sphäre wird dysfunktional, und dieser Prozess nimmt die vielfältigen und manchmal kombinierten Formen der Korruption des Staatsapparats, der Machtspiele von Staatsclans und Militärputschen, und in Grenzfällen den gescheiterten Staat an. So stürzt der haitianische Staat, der seit dem Februar 2020 eine Beschleunigung des für eine kapitalisierte Gesellschaft charakteristischen Zerfallsprozesses erlebt, in einen Bürgerkrieg, in dem kriminelle bewaffnete Banden, Mafias und der in rivalisierende Milizen umgewandelte Staatsapparat (Polizei und Armee) aufeinandertreffen.

Es ist kein Zufall, dass, unabhängig von den Nuancen der tapferen Köpfe, die uns führen, die Verschärfung der Krise dazu geführt hat, dass überall ein mehr oder weniger gesetzlich forcierter Ausnahmezustand verhängt wurde, wobei ähnliche restriktive Maßnahmen auf den globalen Maßstab ausgedehnt wurden. Und dies jenseits der offensichtlichen ideologischen Unterschiede, die von den verschiedenen Akteuren im politischen Bereich zum Ausdruck gebracht werden. Falls jemand noch geglaubt hat, dass die Wahl von Macron, Mélenchon oder Le Pen einen Unterschied macht, ist es an der Zeit, sich dieser Illusion zu entledigen. Die Krisenmomente schränken den Handlungsspielraum des Staates noch deutlicher ein.

Trotz dieser Anzeichen wird die Krise von Covid-19 im Allgemeinen eher einen Prozess der paradoxen Affirmation des »Primats des Politischen« beschleunigen, in dem sich der Staat als Verwalter der Katastrophe präsentiert und in dem er in immer zahlreicheren Regionen die Aufhebung des kapitalistisch-demokratischen »Normalzustands« zugunsten eines permanenten Ausnahmezustands durchsetzt. Wenn das Subjekt der Ware zusammenbricht, wird die gesamte damit verbundene Rechtsprechung, die öffentlichen und privaten Freiheiten außer Kraft gesetzt. In vielen Staaten ist die Polizeigewalt ungebremst. In Nigeria töteten Sicherheitskräfte nach einer Zählung der Menschenrechtskommission 18 Menschen, die beschuldigt wurden, sich nicht an die Sicherheitsmaßnahmen gehalten zu haben. Mitte April 2020 »verursachte die Unterdrückung mehr Todesfälle als das Virus, an dem 12 Menschen starben.«20 In Algerien nutzte die Regierung den von der Hirak-Bewegung, die das Land seit Februar 2019 erschüttert, ausgerufenen »Waffenstillstand«, um die elektronischen Medien der Opposition zu zensieren und zentrale Figuren der Bewegung im Schnellverfahren vor Gericht zu stellen. Auf den Philippinen droht Präsident Rodrigo Duterte mit dem Kriegsrecht in Manila, wo es wenig Respekt vor den Beschränkungen gibt. »Ich bitte nur um ein wenig Disziplin. Wenn nicht, wenn Sie mir nicht glauben, dann werden die Armee und die Polizei übernehmen«, erklärte er in einer im Fernsehen übertragenen Rede. »Die Armee und die Polizei werden die soziale Distanzierung zur Zeit der Ausgangssperre durchsetzen ... Es ist wie Kriegsrecht. Sie haben die Wahl.«21

Es handelt sich darum, dass ein Prozess, der bereits im Gang ist, sich beschleunigt. Seit Anfang der 2000er Jahre, mit der Krise der New Economy und dann mit der globalen Krise von 2008, sind wir Zeugen einer hysterischen leeren Affirmation des »Primats der Politik« in allen kapitalistischen Gesellschaften. Eine leere Affirmation, denn die fundamentale Krise der Verwertung entleert auch den Inhalt der staatlichen Souveränität und markiert ein latentes Ende der Politik. Dieses Phänomen der Verlagerung eines Teils der kapitalistischen Staaten begann in den 1980er Jahren in vielen kollabierten Peripherien. Doch dieses Primat der Politik als Verwalterin der Katastrophe und Betreiberin eines zunehmend permanenten Ausnahmezustands —auch in den Zentren und nicht nur in den kollabierten Peripherien— ist eine haltlose Behauptung, denn die Staaten selbst können sich nur mittels verallgemeinerter Verschuldung als Krisenmanager behaupten. Die weit verbreitete Korruption in so vielen Randstaaten verdeutlicht dies. Das »Primat der Politik« ist daher in sich paradox, denn es ist eine Auswirkung der Krise der Verwertung, während eben diese Krise das Fundament und die Legitimität der politischen Institutionen zerstört, indem sie die Grundlage der Interventionsfähigkeit der Staaten untergräbt.


  1. Auszug aus dem dritten Kapitel des Buches von Sandrine Aumercier, Clément Homs, Anselm Jappe, Gabriel Zacarias, De virus illustribus. Crise du coronavirus et épuisement structurel du capitalisme, Crise & Critique, Albi, août 2020. Übersetzt von Frank Grohmann (Mai 2021).^

  2. Hartmut Rosa, « Nous sommes prêts à ralentir pour récupérer la maîtrise du cours des événements », Philosophie magazine, no 138, April 2020.^

  3. Jérôme Baschet, « Qu’est-ce qu’il nous arrive ? »; online: https://lundi.am/Qu-est-ce-qu-il-nous-arrive-par-Jerome-Baschet^

  4. Zitiert bei Jérôme Baschet, ebd.^

  5. Jean-Pierre Stroobants, « Mark Rutte prône la prudence avant de déconfiner les Pays-Bas », Le Monde, 23. April 2020.^

  6. Voir par exemple Le Monde, 9 juillet 2020.^

  7. Siehe Washington Post, 1. Juli 2020.^

  8. Karl Marx, »Kritik des Gothaer Programms«, 1875. MEW, Band 19, S. 30.^

  9. Siehe den Artikel von Steve Pincus und James Robinson, « Faire la guerre et faire l’État. Nouvelles perspectives sur l’essor de l’État développementaliste », in : Annales HSS, Paris, Armand Colin, Januar-März 2016, S. 7-35.^

  10. Gaëlle Clavandier, La Mort collective. Pour une sociologie des catastrophes, Paris, CNRS éditions, 2004, zitiert bei: Anne Chemin, « Épidémies. Une anthropologie des grandes peurs collectives », Le Monde, 18. April 2020.^

  11. Françoise Hildesheimer, Fléaux et Société, de la Grande Peste au choléra, XIVe-XIXe siècle (Paris, Hachette Education, 1993), zitiert bei: Anne Chemin, a.a.O.^

  12. Corinne Lesnes, « Les États-Unis, débordés mais dans le déni », Le Monde, 10. Juli 2020.^

  13. Le Monde, 19.-20. April 2020.^

  14. Robert Kurz, »Subjektlose Herrschaft. Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik« (1993), erschienen in: Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer weltlichen Werte, Horlemann, 2004. À paraître en français, R. Kurz, Raison sanglante. Essais sur la critique émancipatrice de la modernité capitaliste et de ses valeurs occidentales, Albi, Crise & Critique, 2021.^

  15. Über die »milicias«, siehe die Anmerkung oben. Es ist auch erwähnenswert, dass ein großer Teil der brasilianischen Linken während der Pandemie ein mangelndes Verständnis für die Prozesse zeigte, die der rein politischen Ordnung zugrunde liegen. Linke Wähler träumen von der Amtsenthebung des Präsidenten, die sie als Rache für die Ungerechtigkeit der Wahlurne empfinden, ohne sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, was dies nach sich zieht: die Übergabe des Staffelstabes an den Vizepräsidenten, einen Armeegeneral, ebenso autoritär, wenn auch diskreter. Die Linken ihrerseits verbringen ihre Zeit damit, sich einen neuen Militärputsch auszumalen (wenn in der Praxis das Militär bereits an der Macht ist) und lassen sich eine Verschwörungsschräge hinuntergleiten, einfach weil sie sich nicht mit der quälenden Abwesenheit eines Subjekts abfinden können, gegen das sie kämpfen können. Der Militärputsch ist ein beruhigender Alptraum, der eine bereits bekannte und personifizierte Bedrohung bietet, viel leichter zu verdauen als Herrschaft ohne Subjekt und sogar weniger beunruhigend als der Mafia-Staat, der in Krisenzeiten entsteht. Aber die Ära des Militärs, das alles kontrollierte, von der Politik bis zur Wirtschaft, das auf Kosten des Lebens von Tausenden von Arbeitern pharaonische Konstruktionen von elektrischen Fabriken und Autobahnen, die den Wald durchschnitten, durchführte, ist vorbei. Dies war Teil eines nachholenden Modernisierungsprozesses, dessen letzter Akt von der linksgerichteten Präsidentin Dilma Roussef, der wohl wichtigsten Erbin der entwicklungspolitischen Ideale des Militärregimes, post-festum vollzogen wurde. Aber ihr Entwicklungsprojekt wurde mit ihrer Regierung weggefegt, nachdem die Rohstoffblase geplatzt war.^

  16. Siehe: https://www.nytimes.com/2020/03/24/opinion/coronavirus-trump-lockdown.html^

  17. Die aktuellen Zahlen belaufen sich auf über 4 Millionen Tote und fast 200 Millionen Infizierte weltweit (Juli 2021). (A.d.Ü.)^

  18. Les Échos, 17.-18. Juli 2020.^

  19. Sophie Landrin, « Inde : Modi optimiste, les experts dans le doute », Le Monde, 10. Juli 2020.

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  20. Libération, 17. April 2020.^

  21. « Coronavirus : le président philippin menace de loi martiale », Le Figaro, 17. April 2020.

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