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Roswitha Scholz: Frauenkampf = Klassenkampf als Antwort auf die fundamentale Krise? Geschlecht wieder einmal als Nebenwiderspruch!? Eine Kritik des Manifests »Feminismus für die 99%«


Ursprünglich sollte dieser Text in der exit! Nr. 18 gedruckt erscheinen. Aus Platzgründen jedoch nur online

Frauenkampf = Klassenkampf als Antwort auf die fundamentale Krise? Geschlecht wieder einmal als Nebenwiderspruch!? Eine Kritik des Manifests »Feminismus für die 99%«

Roswitha Scholz

 

Nach der Zeit eines dekonstruktivistischen Feminismus bestimmen seit den Krisenschüben Ende der 1990er Jahre (Krise der Kleinen Tiger, Etablierung von Hartz-IV, Finanzmarktkrise 2008ff. u.a.) in den letzten Jahren marxistisch-materialistische Ansätze den feministischen Diskurs.1 Je mehr sich der »Kollaps der Modernisierung« (Robert Kurz) seither zeigt, desto mehr droht das Pendel gar völlig in eine vulgärmarxistische Richtung umzuschlagen. Zugespitzt wird das m.E. in dem Manifest: »Feminismus für die 99%« von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser (2019) deutlich, in dem etwa Rasse, Klasse, Geschlecht nur oberflächlich, vermeintlich gleichberechtigt, miteinander vermittelt werden. Die darin vertretene Position läuft so einfach auf einen androzentrischen Kapitalismus als Master-Komplex hinaus, ohne dem Anderem des Kapitalismus als solchem wirklich Rechnung zu tragen. Ebenso wird Naturbeherrschung nur einem allein auf das »Plusmachen« ausgerichteten Kapitalismus und seinen Agenten zugeschrieben. In diesem Sinne soll an diesem ›feministischen‹ Manifest nicht zuletzt kritisiert werden, dass das asymmetrische Geschlechterverhältnis, aber auch Rassismus, Homophobie usw. wieder einmal zu Nebenwidersprüchen gemacht werden, wie vormals schon in marxistisch-traditionellen Konzepten. Dies wird in der folgenden Kritik u. a. Thema sein.

Zum Schluss lege ich dabei die Sicht der Wert-Abspaltungs-Kritik dar, die sich gegen derartige primitive Materialismen, die sich in der Corona-Krise noch einmal zuspitzen, abgrenzt (vgl. Scholz 2011). Arruzza & Co stellen ihre Position in elf Thesen dar, ich fasse diese wiederum, unter Einbezug des Nachworts, in fünf Punkten zusammen.

1. Neoliberalismus und (Frauen-)Streik

Arruzza & Co wenden sich in ihrem Manifest gegen einen liberalen Feminismus, der für den Eintritt von Frauen in die Führungsetagen von Politik und Wirtschaft plädiert und nur an der Macht im Kapitalismus/Neoliberalismus partizipieren will. Neoliberal-kapitalistischer Macht werden die Frauenstreiks in verschiedenen Ländern gegenübergestellt. »Alles in allem antizipiert der Frauenstreik-Feminismus die Möglichkeit einer neuen, präzedenzlosen Phase des Klassenkampfes: feministisch, internationalistisch, ökologisch und antirassistisch« (ebd., 18).

Die Autorinnen des Manifests stellen diese neuen feministischen Bewegungen in die Tradition von »Kämpfen um Arbeitsrechte und soziale Gerechtigkeit« (ebd., 16). Dabei plädieren sie für eine neue Definition von Arbeit: »Die Frauenstreik-Militanz ist zu einem Zeitpunkt ausgebrochen, an dem einst mächtige Gewerkschaften, deren Schwerpunkt im fertigenden Gewerbe liegt, deutlich geschwächt worden sind. Um den Klassenkampf wiederzubeleben, haben sich Aktivistinnen einem anderen Schauplatz zugewandt: dem neoliberalen Angriff auf Gesundheitsversorgung, Rente und Wohnen« (ebd., 18). »Hier, im Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion, stoßen wir heute auf viele der militantesten Streiks und Widerstandshandlungen. Von der Streikwelle der Lehrer in den USA über den Kampf gegen die Wasserprivatisierung in Irland bis hin zu den Streiks der Dalit-Müllleute in Indien – allesamt von Frauen angeführt und vorangetrieben – widersetzen sich Arbeiterinnen dem kapitalistischen Angriff auf die gesellschaftliche Reproduktion. Diese Streiks sind zwar nicht offiziell mit der internationalen Frauenstreik-Bewegung verbunden, haben aber viel mit ihr gemeinsam. Sie betreiben ebenfalls eine Aufwertung der Arbeit, die notwendig ist, um unser Leben zu reproduzieren, und widersetzen sich zugleich der Ausbeutung dieser Arbeit« (ebd., 19).

Worauf sie hinauswollen ist Folgendes: »Der Feminismus, der uns vorschwebt, verzichtet auf halbherzige Maßnahmen und ist bestrebt, die kapitalistischen Ursachen einer metastasierenden Barbarei anzugehen […] Dieser Feminismus beschränkt sich auch nicht auf Frauenthemen […] Er vertritt die Sache aller, die ausgebeutet, beherrscht und unterdrückt werden, und hofft, eine Hoffnungsspirale für die ganze Menschheit zu sein. Deswegen sprechen wir von einem Feminismus der 99 Prozent« (ebd., 24, Hervorh. i. O.).

Die heutige Krise, die in verschiedenen Erscheinungsweisen sichtbar wird: sozial, ökologisch, Einbrüche bei den Sphären der Reproduktion/Dienstleistungen, ist für sie dabei vom Kapitalismus verursacht, »insbesondere jener grausam räuberischen Form des Kapitalismus, unter dem wir heute leben: globalisierend, finanzialisierend, neoliberal« (ebd., 27). Vor dem Hintergrund eines verkürzten Kapitalismusbegriffs und der damit verbundenen ›Versuchung‹ zu Personalisierungen öffnet sich hier m.E. ein Einfallstor für einen strukturellen Antisemitismus.

Dies kommt auch in der Formulierung zum Ausdruck, dass »sich die Tentakeln des Finanzwesens um das soziale Gefüge legen« (ebd., 28, vgl. zur Kritik u.a. auch: Scholz 1995). Ansonsten wird an derartigen Stellen schon sichtbar, dass alle möglichen sozialen Disparitäten unter die Klassenkategorie gefasst werden sollen und der feministische ›Aspekt‹ dabei in den Klassen-Weiten des Kapitalismus nur einer von vielen innerhalb des ›Kapitalismus‹ ist und diesem identitätslogisch untergeordnet werden soll (vgl. zur Kritik derartiger Positionen: Scholz 2005) Aber Arruzza & Co stellen die Besonderheit der Reproduktionsarbeit innerhalb ihrer Besonderheit auch als Allgemeines dar, um sie aber sogleich wieder in anderen Reproduktionsinstanzen/Institutionalisierungen, ontologisierenden Annahmen verschwinden zu lassen, wie ich gleich zeigen werde.

2. Kapitalismus, Reproduktionsarbeit und Sexismus

Arruzza & Co sehen in weiblichen Reproduktionstätigkeiten ein wichtiges Moment in der Gesamtreproduktion des Kapitalismus (wenngleich sie auch in anderen Gesellschaften notwendig seien, erhielten sie im Kapitalismus einen anderen Charakter). Sie sehen den Sexismus in den Kapitalismus eingeschrieben. Dabei stellen sie dem »Menschenmachen«, das Frauen zugeschrieben wird, das höher bewertete »Plusmachen« gegenüber. Das »Menschenmachen« umfasst nicht nur die biologische Reproduktion von Menschen, sondern auch die Arbeitskraft, d.h. »Menschen mit den ›richtigen‹ Einstellungen, Neigungen und Werten […] Fähigkeiten, Kompetenzen und Fertigkeiten« müssen hergestellt werden. Dies sind »grundlegende – materielle, gesellschaftliche, kulturelle – Vorbedingungen für die menschliche Gesellschaft im Allgemeinen und die kapitalistische Produktion im Besonderen [...] Wir bezeichnen diesen umfänglichen Bereich lebenswichtiger Tätigkeiten als gesellschaftliche Reproduktion« (ebd., 33, Hervorh. i. O.). Diese Tätigkeiten werden im Kapitalismus nicht bezahlt, sie gelten als minderwertig und werden auch von den Arbeitern an Frauen delegiert. Jedoch sind diese reproduktiven Tätigkeiten bei Arruzza & Co letztlich – wie gesagt – nur ein Unterpunkt des Kapitalismus im Allgemeinen. Dies kommt etwa an folgender Stelle zum Ausdruck: »Als Feministinnen ist uns bewusst, dass der Kapitalismus nicht lediglich ein Wirtschaftssystem ist, sondern etwas Umfassenderes: eine institutionalisierte Gesellschaftsordnung, zu der auch jene scheinbar ›außerwirtschaftlichen‹ Verhältnisse und Praktiken gehören, von denen die offizielle Ökonomie getragen wird. Hinter den offiziellen kapitalistischen Institutionen der Lohnarbeit, der Produktion, des Handels und des Finanzwesens stehen deren unverzichtbare Stützpfeiler und Möglichkeitsbedingungen: Familien, Communitys, die Natur, Territorialstaaten, politische Organisationen und Zivilgesellschaften sowie nicht zuletzt enorme Volumina und zahlreiche Formen nicht entlohnter und enteigneter Arbeit. Darunter fällt ein Großteil der zur gesellschaftlichen Reproduktion erforderlichen Arbeit, die immer noch weitgehend von Frauen geleistet und häufig nicht entlohnt wird. Auch dies sind konstitutive Elemente der kapitalistischen Gesellschaft – und Kampfschauplätze innerhalb ihrer« (ebd., 82f.).

Vor diesem Hintergrund halten Arruzza & Co den Terminus »care-Krise« für verkürzt: »Die Krise ist eine strukturelle. Sie ist fester Bestandteil der umfassenderen, allgemeinen Krise des heutigen Kapitalismus. Angesichts der Ernsthaftigkeit dieser allgemeinen Krise verwundert es nicht, dass sich die Kämpfe um die gesellschaftliche Reproduktion in den letzten Jahren explosionsartig ausgeweitet haben. Feministinnen aus dem globalen Norden beschreiben ihr Hauptziel oft als ›ausgewogenes Verhältnis zwischen Beruf und Familie‹. Die Kämpfe um die gesellschaftliche Reproduktion umfassen jedoch weitaus mehr« (ebd., 101, Hervorh. i. O.) so etwa Proteste gegen Wohnraumkämpfe, Kämpfe um Nahrungsmittel, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen von sozialen Berufen und Rechte von Migranten u.ä. Reproduktion ist bei Arruzza & Co auch von Klasse, ›Rasse‹ und sexueller Orientierung bestimmt. Nicht-weiße Frauen wurden in der Vergangenheit und werden in der Gegenwart dazu gezwungen, unentgeltlich oder schlecht bezahlt Reproduktionstätigkeiten zu verrichten. Frauen sollen ihre Kinder zu bürgerlich-vergeschlechtlichten Identitäten erziehen. Bevölkerungspolitisch sollen sie dazu bewegt werden, die ›richtigen‹ Kinder der eigenen Nation zu bekommen und für eine untergeordnete Arbeiterklasse zu sorgen.

Gewalt gegen Frauen erklären sich Arruzza & Co mit dem Kapitalismus folgendermaßen: »Weil der Kapitalismus die Reproduktionsarbeit überwiegend Frauen zuordnet, begrenzt er unsere Fähigkeit, uneingeschränkt als Gleiche an der Welt der ›produktiven Arbeit‹ teilzuhaben. Im Ergebnis landen die meisten von uns in perspektivlosen Arbeitsverhältnissen und verdienen zu wenig, um eine Familie zu finanzieren. Das wirkt auf das ›Privatleben‹ zurück, und zwar zu unserem Nachteil, denn unsere geringere Fähigkeit, Beziehungen zu beenden, führt dazu, dass wir innerhalb dieser Beziehungen vergleichsweise machtlos sind. Der Hauptnutznießer des gesamten Arrangements ist fraglos der Kapitalismus. Aber das Ergebnis ist, dass wir doppelter Gewalt ausgesetzt sind: der unserer Familienangehörigen und Intimpartner und der, die von den Durchsetzern und Ermöglichern des Kapitals ausgeübt wird« (ebd., 41f.). Nicht ein kapitalistisches Patriarchat ist somit strukturell für Gewaltverhältnisse zu veranschlagen, sondern im Grunde ein Kapitalismus, der auch verschiedene Ungleichheitsdimensionen (Rassismus und Sexismus) beinhaltet, die dann ihr Leben als gewissermaßen systemrelevante Nebenwidersprüche fristen dürfen. Ein ›systemisches‹ Verständnis des Kapitalismus, im Sinne eines kruden Relationalismus (s.o., was alles zur Reproduktion gezählt wird), schlägt so in eine primitive personalisierende Schuldzuschreibung an die Agenten des Kapitals, insbesondere des Finanzkapitals, um, wobei der sexistische männliche ›Genosse‹ kleingeschrieben wird und schon fast als Opfer daherkommt.

Arruzza & Co sprechen sich m.E. zu Recht gegen einen »Gefängnisfeminismus« aus, der den Justizapparat als geeignetes Mittel sieht, gegen (nicht nur) geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen (vgl. Urban 2018). Denn das Justizsystem sei selbst klassenspezifisch und rassistisch verfasst (vgl. Arruzza & Co 2019, 43). Zu einer Wert-Abspaltungs-Perspektive, aus der das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem bestimmt werden könnte, dringen sie nicht vor. Vielmehr ist bei ihnen ein Klassenkampf-Kapitalismus das Allgemeine, aus dem alles deduziert wird. Insofern sehen sie ebenso wenig marktförmige Maßnahmen, z.B. Mikrokredite, als geeignete Mittel zur Verbesserung der Lage der Frauen im Süden an, da diese nun der Herrschaft (also Gewalt) der Kreditgeber ausgesetzt seien, wobei Arruzza & Co wiederum bestrebt sind, aspekthaft das hierarchische Geschlechterverhältnis phänomenologisch als ein Moment des Kapitalismus herauszustellen. »Wir wissen, dass geschlechtsspezifische Gewalt im Kapitalismus keine Betriebsstörung darstellt, sondern einen systematischen Zustand. Sie ist tief in der Gesellschaftsordnung verwurzelt und kann weder verstanden noch abgemildert werden, wenn nicht der umfassendere Komplex kapitalistischer Gewalt miteinbezogen wird: die biopolitische Gewalt von Gesetzen, die reproduktive Freiheit verweigern, die wirtschaftliche Gewalt des Marktes, der Bank, des Vermieters und des Kredithais, die staatliche Gewalt der Polizei […] die transnationale Gewalt von Grenzbeamten, Migrationsregimes und imperialen Armeen« usw. (ebd., 44). Dabei waren in den USA vor allem nicht-weiße Frauen von der Hypothekenkrise betroffen (ebd., 45). »Arbeiterfeindliche« Gesetze etwa in den mexikanischen Maquiladores, die gewaltfördernd sind, Vergewaltigungen durch Chefs, Einschüchterungen und demütigende Körperkontrollen bei Frauen werden hier als Disziplinierungsmittel entgegengesetzt (ebd.: 46f.) – womit der hierarchische Geschlechtergegensatz bei Arruzza & Co wiederum zum Nebenwiderspruch verkommt. Er wird in einem Klassenkampf-Kontext verortet. Ob eine (patriarchale) Männlichkeit in die Krise gerät, diese Frage kann dabei – in welcher Form auch immer, ob von rechts oder links (vgl. Urban in diesem Heft) – gar nicht mehr gestellt werden. Diese Fragestellung geht bei Arruzza & Co völlig im ›Kapitalismus‹ auf.

3. Sexualität und Kapitalismus, koloniale und rassistische Gewalt

Sexualität sei im Kapitalismus von jeher zu regulieren versucht worden, so Arruzza & Co In der Phase, als er auf seinen eigenen Grundlagen zu prozessieren begann, geschah dies qua »bürgerlicher Normen« und heteronormativer und geschlechterdualistischer staatlicher »Regulationsformen«, die sich international und massenkulturell verbreiteten (vgl. ebd., 47ff.) In neuerer Zeit kamen dem Kapitalismus nun sexuelle Flexi-Identitäten zupass, die allgemeinen Flexibilisierungstendenzen entsprachen, wobei reaktionäre rechtspopulistische Bewegungen dem andererseits jedoch komplementär seien. »Im Ergebnis finden sich die heutigen Befreiungsbewegungen zwischen Pest und Cholera wieder: Eine Seite möchte Frauen und LGBTQ+-Menschen der religiösen oder patriarchalen Herrschaft ausliefern, die andere möchte uns dem Kapital auf einem Silbertablett zur Vernutzung überreichen. Feministinnen für die 99% weigern sich, dieses Spiel mitzuspielen. Wir weisen sowohl die neoliberale Kooperation als auch die neotraditionelle Homophobie und Frauenfeindlichkeit zurück. Wir wollen den radikalen Geist des Stonewall-Aufstands in New York 1969 wiederbeleben, aber auch den der sex-positiven feministischen Strömungen von Alexandra Kollontai bis Gayle Rubin, und den der Unterstützung des britischen Bergarbeiterstreiks von 1984 durch Schwule und Lesben« (ebd., 54f.). Abstrahiert wird hierbei davon, dass Zwangsheterosexualität sich aus der Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre im Sinne der Wert-Abspaltung als Zwangszusammenhang ergibt.

Dabei wissen Arruzza & Co, dass auch (weiße) Frauen an Kolonialismus und Rassismus Anteil haben. Weiterhin schreiben sie: »Uns ist […] ebenfalls bewusst, dass der Kapitalismus die Wurzel des Problems ist und dass Rassismus und Imperialismus wesentliche Bestandteile des Kapitalismus sind. Dieses Gesellschaftssystem […] konnte nur in Fahrt kommen dank gewaltsamen Kolonialraubs […] Sklaverei […] Enteignung […] Die Unterscheidung zwischen freien ausgebeuteten ›Arbeitern‹ und abhängigen enteigneten ›Anderen‹ hat im Laufe der Geschichte des Kapitalismus unterschiedliche Formen angenommen – in der Sklaverei, im Kolonialismus, unter dem Apartheid-System und in der internationalen Arbeitsteilung« (ebd., 58f.). Wieder einmal wird alles unter einen universalistischen Kapitalismus subsumiert, wirklich ›Andere‹, wie etwa Sklaven, Nicht-Weiße kommen nur in diesem Kontext vor, auch wenn festgestellt wird, dass schwarze Sklaven die Voraussetzung des ›freien Arbeiters‹ sind; diesen wird aber nicht in ihrer Eigenlogik als Anderes Rechnung getragen, sondern sie sollen von vornherein immanenter Bestandteil des Kapitalismus sein; nicht mitreflektiert wird hierbei, dass der Marxismus sie niemals als tatsächlich Andere miteinbezogen hat, sondern bloß im Hinblick eines Imperialismus-Konzepts im Zusammenhang mit einer selbst rassistischen Fortschrittsideologie.

Bis heute damit verbunden sei die Ausbeutung von Bodenschätzen, die Ausbeutung von Arbeitskraft in der ›Dritten Welt‹ u.ä., so Arruzza & Co: »Der Kapitalismus hat, aus systemischen Gründen, stets Klassen rassifizierter Mensch geschaffen« (ebd., 59). Alles muss bei Arruzza & Co. unter ›Klasse‹ subsumiert werden. Das wird hier wieder einmal deutlich. Heute treibe die Finanzialisierung und Schuldenpolitik als Landnahmepolitik im Süden indigene Völker fort. Sozialausgaben würden gekürzt, und es finde eine Verschuldung von Arbeitern über Generationen hinweg statt, um globale Kreditgeber auszuzahlen. »Der finanzialisierte Kapitalismus geht auf jeder Ebene und in jeder Region mit rassifizierter Enteignung einher« (ebd., 61). Arruzza & Co ziehen hieraus den Schluss: »Tatsächlich sind Rassismus, Imperialismus und Ethnonationalismus wesentliche Stützpfeiler einer verallgemeinerten Frauenfeindlichkeit sowie der Verfügung über alle Frauenkörper. Weil ihre Wirkungsweise uns allen schadet, sollten wir alle sie mit ganzer Kraft bekämpfen« (ebd., 62, Hervorh. i. O.), ohne in eine pauschale Schwesternschaft zu verfallen, die Unterschiede unterschlage. Gemeinsamkeiten müssten dabei Resultat einer politischen Praxis und Aushandlung sein (ebd); das alles – so versteht es sich von selbst – vor dem Hintergrund eines Klassengegensatzes, der allen anderen Diskriminierungen um mit Althusser zu sprechen, als »letzte Instanz« vorausgeht.

4. Kapitalismus, Ökologie und Feminismus

Arruzza & Co befürworten einen ökosozialistischen Feminismus. Dabei sehen sie wiederum »das Kapital« als verantwortlich für die ökologische Krise und den Klimawandel: »Der Klimawandel, der den Planeten heute bedroht, ist eine unmittelbare Folge davon, dass der Kapitalismus historisch auf fossile Energieträger zurückgegriffen hat, um die für ihn kennzeichnenden auf Massenproduktion ausgerichteten Fabriken zu betreiben. Es war nicht die Menschheit im Allgemeinen, die über Hunderte Millionen von Jahren unter der Erdkruste gebildeten Kohlevorkommnisse extrahiert hat, sondern das Kapital; und es war das Kapital, das diese Kohlevorkommnisse im Handumdrehen verbraucht hat, ohne sich auch nur im Geringsten um deren Wiederherstellung oder um die Auswirkungen von Luftverschmutzung und Treibhausgasemissionen zu kümmern« (ebd., 63f., Hervorh. i. O.). Die ökologische Krise betreffe Frauen im besonderen Maße. Diese stellten 80% der Klimaflüchtlinge, sie kämpften gegen Dürre, beschafften Lebensmittel usw., wobei nicht-weiße Frauen des Südens, die wesentlich ihre Communities stützten, durch Überschwemmungen, Bleivergiftung u.ä. besonders gefährdet seien. Ebenso stünden Frauen an der Spitze ökologischer Bewegungen, auch im Süden. »Anders als jene Projekte eines ›grünen Finanzwesens‹, die die Natur in einen Pesthauch quantitativer Abstraktion auflösen, richten die Kämpfe der Frauen sich auf die reale Welt, in der Gerechtigkeit, das Wohlergehen menschlicher Gemeinschaften und die Nachhaltigkeit der nichtmenschlichen Natur untrennbar miteinander verwoben sind« (ebd., 66).

Der Gesichtspunkt »Weiblichkeit und Naturbeherrschung« (u.a. Elvira Scheich) fehlt bei Arruzza & Co vollkommen. Ebenso kommt wieder ein vulgärmarxistischer und vulgärmaterialistischer Standpunkt bei ihnen zum Ausdruck: Einzig das Kapital beutet die Natur aus und macht sie kaputt. Eine Kritik an einer marxistischen Fortschrittsmetaphysik fehlt auch hier. Ebenso wird ignoriert, dass eine Integration der Arbeiterklasse im Fordismus mit der Befriedigung von Konsumbedürfnissen Hand in Hand ging und dies von der ›Arbeiterklasse‹ mehr als freudig angenommen wurde. Hier fehlt wieder einmal der systemische Blick im Sinne einer übergreifenden Fetischvergesellschaftung und zwar im Sinne der Kritik der Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung, die auch derartige Tendenzen infrage stellt. Damit verbunden ist der Affekt gegen die Abstraktion (»Pesthauch quantitativer Abstraktion« – s.o.), der wiederum strukturell antisemitisch aufladbar ist.

5. Feministischer Internationalismus

»Politische Krisen sind in der institutionellen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft angelegt. Dieses System trennt Politik und Wirtschaft, die ›legitime Gewalt‹ und den ›stummen Zwang‹ des Marktes. Im Ergebnis werden riesige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der demokratischen Kontrolle enthoben und unmittelbar der Herrschaft der Konzerne ausgeliefert« (ebd., 67). Dabei beuteten die Staaten des Nordens die des Südens durch eine unfaire Handelspolitik, Schulden, militärische Eingriffe u.ä. aus. »Es scheint, als seien die demokratischen Ansprüche von Milliarden Menschen im globalen Süden noch nicht einmal als Gegenstand der Kooptierung interessant« (ebd., 68). Weiterhin heißt es: »Führende kapitalistische Interessen (die Obst-, Pharma-, Öl- und Waffenindustrien […]) haben in aller Welt systematisch Autoritarismus und Repression, Putsche und imperiale Kriege befördert« (ebd., 69). »Tatsächlich sind Frauen in aller Welt die ersten Opfer von kolonialen Besatzungen und Kriegen. Sie sehen sich systematischer Belästigung, politisch motivierter Vergewaltigung und Versklavung ausgesetzt […] Wir erklären uns mit diesen Frauen solidarisch – nicht mit den Rock tragenden Kriegshetzerinnen, die die Geschlechter- und die sexuelle Befreiung nur für ihresgleichen fordern« (ebd., 71, Hervorh. i. O).

Arruzza & Co. treten so für eine Bündnispolitik mit allen ein, die für die 99% sind, mit dem Ziel eines weltweiten Aufstands: »Umweltbewegungen, antirassistischen und antiimperialistischen Bewegungen, mit LGBTQ+-Bewegungen und Gewerkschaften« (ebd., 72). Dabei sind sie gegen einen Neoliberalismus wie auch gegen einen »reaktionären Populismus«. »Was den reaktionären Populismus angeht, wollen wir Arbeiterklassen-Communitys von den Kräften ablösen, die Militarismus, Fremdenfeindlichkeit und Ethnonationalismus befördern und die sich auf irreführende Weise als Vertreter des ›gemeinen Mannes‹ präsentieren, wo sie doch insgeheim die Plutokratie voranbringen. Unsere Strategie besteht darin, die Arbeiterklassen-Anteile beider prokapitalistischen Blocks für uns zu gewinnen« (ebd., 73). Der Feind sei das System des Kapitalismus (ebd., 74).

Es geht ihnen nicht darum, Unterschiede abzustreiten: »Tatsächlich lässt sich Klassensolidarität am besten befördern durch wechselseitige Anerkennung unserer relevanten Unterschiede, der Divergenz unserer strukturellen Lagen, Erfahrungen und Leiden, unserer spezifischen Bedürfnisse, Wünsche und Forderungen, aber auch der Vielfalt der Organisationsformen, durch die wir unsere Forderungen umsetzen können. So versucht der Feminismus der 99% den bekannten, sterilen Gegensatz von Identitätspolitik und Klassenpolitik zu überwinden« (ebd., 74f.). Aber trotz des Betonens der Unterschiede gehen diese letztlich doch wieder im Klassengegensatz auf oder unter. Damit hätte die Betonung der Unterschiede einen eher strategischen Charakter. Es ginge darum, an Leute zu kommen, um sie für den Klassenkampf zu mobilisieren.

6. Der »Feminismus für die 99%« und die Wert-Abspaltungs-Kritik

6.1 Feminismus für die 99%: Fazit

Der Klassenkampf beinhaltet bei Arruzza & Co eigentlich schon alles. Sexismus, das Ressentiment gegenüber verschiedenen Sexualitäten, Rassismus, Krieg und Kolonialismus wirken hierbei eher äußerlich angeklebt, wodurch sich auch der Nebenwiderspruchscharakter des hierarchischen Geschlechterverhältnisses bei Arruzza & Co zeigt. Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt, der sich wie ein Faden durch das ganze Manifest zieht.

Arruzza & Co wollen Feministinnen auf die Leimrute eines alten klassenkämpferischen Marxismus locken, angereichert durch Rassismus, Sexismus, Ökologie, die Reproduktion in verschiedenster Hinsicht. In der Not, die sich aus der gegenwärtigen geschichtlichen Situation dadurch ergibt, dass der ›produktive‹ Proletarier weithin verloren gegangen ist, werden nun auch (soziale) Dienstleistungen kurzerhand zu proletarischen Tätigkeiten umdefiniert, wie auch prekär Beschäftigte, Solo-Unternehmer/-innen auf einem Elendsniveau u.ä. zu Proletariern werden. Der historischen Entwicklung von der Klassengesellschaft zur Mittelschichtsgesellschaft und wiederum zum Verfall dieser heute, nicht zuletzt vermittelt über die Produktivkraftentwicklung, wird nicht Rechnung getragen. Anstatt Deklassierung, Ausgrenzung und Überflüssigsein zum Skandalon zu machen (der Begriff der Klassengesellschaft ist dabei weit untertrieben!), kommt es zu einem inflationären Gebrauch des Begriffs »Arbeiterklasse«. Fast gewaltsam soll so ein alter, anachronistisch gewordener Arbeiterstandpunkt gerettet werden, über den die Zeit längst hinweggerollt ist (siehe Kurz 2004 sowie Scholz 2020). Ein Absturz der Mittelschichten wird dabei im Gefolge der Corona-Krise erst recht wahrscheinlicher.

Ausgerechnet unter dem Begriff der Arbeiterklasse sollen sich aber bei Arruzza & Co die Verschiedenen wieder unter einem Dach einfinden, indem ihrer Eigenlogik scheinbar Rechnung getragen wird, während sie in Wirklichkeit nur als Nebenwidersprüche existieren. Antisemitismus und Antiziganismus spielen dabei in dem Manifest übrigens gar keine Rolle (vgl. dazu etwa Scholz 2007). Dass das Kapital seit langem anonym wird etwa in Form von Aktiengesellschaften, auch in Verbindung mit staatlichen Infrastrukturen, aber auch, dass das Arbeitnehmer-Kapital-Verhältnis im Selbstunternehmertum durch die Einzelnen hindurch geht, liegt ihnen völlig fern.

Dies hat seinen Grund nicht nur darin, dass bei ihnen ein problematischer alter antiimperialistischer Ansatz federführend ist, sondern dass ihnen grundsätzlich eine Arbeitskritik völlig fremd ist. Stattdessen ist Arbeit ihr ureigenstes ontologisches Fundament. Schon der ganzen Sprache nach fühlt man sich häufig an einen Sowjet-Marxismus und eine K-Gruppen-Rhetorik aus den 1970er Jahren erinnert. Eine Abspaltung des Weiblichen als Voraussetzung für die Naturwissenschaften und die Entwicklung der Produktivkräfte, auch im Hinblick auf deren Anwendung in der Arbeitsorganisation, ist Arruzza & Co, wie schon gesagt, äußerlich. Eine destruktive Naturbeherrschung geht bei ihnen allein auf das Konto eines Kapitalismus, verstanden als personifizierte Herrschaft des Kapitals.

War es in der Vergangenheit vor allem die Sache marxistischer männlicher Theoretiker, das hierarchische Geschlechterverhältnis zum Nebenwiderspruch zu erklären, so tun dies heute feministische Theoretiker/-innen à la Arruzza & Co rhetorisch versteckt nun ganz allein von sich aus. Und nur vor diesem Hintergrund konstatieren sie: »Was als Emanzipation (aus neoliberal-feministischer Perspektive, RS) präsentiert wird, ist tatsächlich ein System verschärfter Ausbeutung und Aneignung – und zugleich die Triebkraft einer sich zuspitzenden Krise der gesellschaftlichen Reproduktion« (ebd., 94). Dabei sind Hillary Clinton und Sheryl Sandberg als ›Spitzenfrauen‹, die sie anprangern, auch tatsächliche Opfer kapitalistisch-patriarchaler Ideologie. Sexismus geht durch verschiedene (ökonomische) Stratifikationen hindurch, ob dies Arruzza & Co nun gefällt oder nicht. Noch wenn sie den Kapitalismus verbessern sollten, wären diese ›Spitzenfrauen‹ faktisch bloß Krisenverwalterinnen des kapitalistischen Patriarchats (siehe Urban in diesem Heft). Entsprechenden (kapitalistisch-)patriarchalen Strukturen ist somit Rechnung zu tragen, auch wenn dies Arruzza & Co gegen den Strich geht.

6.2 Die Wert-Abspaltungs-Kritik und der »Feminismus für die 99%

Einen gänzlich anderen Weg schlägt die Wert-Abspaltungs-Theorie und -Kritik ein. Sie geht davon aus, dass der (Mehr-)Wert – sowohl im Sinne der Umverteilung als auch der abstrakten Arbeit als dessen Entsprechung – obsolet ist. Die abstrakte mehrwertschöpfende Arbeit ist auf – auch kategorial gesehen – Reproduktionsarbeiten angewiesen, die minderbewertet an ›die Frau‹ delegiert werden. Damit einher geht die Zuweisung von bestimmten Eigenschaften an Frauen (Fürsorglichkeit, Liebe, Emotionalität u.ä.) und an Männer (Rationalität, Konkurrenz, Sachlichkeit usw.). Beides steht in einem dialektischen Verhältnis zueinander, wobei die Individuen nicht in stereotypen Kulturmustern aufgehen, sich ihnen aber auch nicht entziehen können. Dies meint auch, dass der Wert nicht einfach dominiert, sondern diese Abspaltung des Weiblichen zur Voraussetzung hat, um als er selbst überhaupt existieren zu können. Damit hat die Wert-Abspaltung als weltgesellschaftlicher Basiszusammenhang auch eine kulturell-symbolische Dimension. In der Postmoderne nehmen diese Verhältnisse ein anderes Gesicht an: Die Hausfrau und der männliche Familienernährer wurden obsolet, ohne dass geschlechtsspezifische Ungleichheiten in einer zunehmend prekären Lage ausgehebelt sind. Das Patriarchat verwildert so nur, was sich in der Zunahme männlicher Gewalt zeigt. Dabei geht die Wert-Abspaltungs-Kritik davon aus, dass das Geschlechterverhältnis sowohl in der Vormoderne als auch in anderen Kulturen früher anders ausgesehen hat (vgl. Scholz 2011).

Arruzza & Co dringen nicht zu einer Kritik des kapitalistischen Patriarchats vor, was eine Kritik der abstrakten Arbeit mitumfassen würde – und nicht nur die Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital skandalisiert; vor diesem Hintergrund sehen sie auch nicht, dass eine Abspaltung des Weiblichen und bestimmter Tätigkeiten stattfindet. Sie gehen von einer Arbeitsontologie aus, wobei sie ein personalisierendes Kapitalverständnis haben, das vor allem in der Anklage des Finanzkapitals, von Konzernen, Chefs usw. aufgeht, und nur in diesem Kontext findet sodann eine Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre statt.

Dabei ist eine vermehrt auftretende Gewalt gegen Frauen nicht zuletzt im Kontext des Zerfalls der Familie und einer Verwilderung des Patriarchats zu sehen. Die Krise der Arbeit geht mit einer Krise der Abspaltung einher, damit verbunden sind auch eine Krise des Staates, die Herrschaft von poststaatlichen Banden u.ä., die eine erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen mit sich bringen.

Allerdings geht dieses wert-abspaltungs-theoretisch bestimmte hierarchische Geschlechterverhältnis nicht im Geschlechterverhältnis im engeren Sinne auf, sondern ist, um sich selbst behaupten zu können, gezwungen, sich selbst zu relativieren, da ihm eine grundsätzliche Subjektkritik inhärent ist, die sich aus der Kritik des männlich autonomen Subjekts ergibt. Es geht ihr – von sich selbst als Grundprinzip ausgehend – notgedrungen um die gesamte Gesellschaft. Aus derartigen Widersprüchen gewinnt die Wert-Abspaltungs-Kritik ihre Kraft und ihr paradoxes Vermögen, auf sich selbst als widersprüchlichem Absolutum beharren zu können, das dazu in der Lage ist, sich selbst einzuschränken; auch rassistischen, ökonomischen und bildungsbedingten Disparitäten, sexuellen Diskriminierungen, Homophobien u.ä. kann so in ihrer Eigenlogik und in ihren Interferenzen stattgegeben werden, da sie nicht im Sinne eines hermetischen Totalitätsverständnisses, sei es im Sinne eines Traditionsmarxismus, wie bei Arruzza & Co, sei es im Sinne einer androzentrischen Wertkritik, behandelt werden können (siehe dazu ausführlich: Scholz 2005).

Stattdessen nehmen Arruzza & Co einfach im Sinne eines modifizierten Traditionsmarxismus eine Umdefinition des Proletariatsbegriffs vor: Dieser umfasst nun die ganze Menschheit (bis auf das eine Prozent), wobei Differenzen und verschiedenen Ungleichheiten in diesem Sinne noch in ihrer Unterschiedlichkeit angeblich größter Respekt gezollt werden soll! Zudem unterstellen Arruzza & Co diesen 99%, dass sie prinzipiell emanzipatorisch orientiert sind und auf eine nichtkapitalistische Gesellschaft hinauswollen, eine klassisch-linke Agit-Prop-Position, die sich in der Vergangenheit schön häufig blamiert hat. Deshalb wohl auch die Form des Manifests ...

In diesem Zusammenhang wird auch ein schiefer Zusammenhang von Produktions- und Reproduktionsverhältnis in Bezug auf Frauen ausgemacht: Die Frauenstreiks im professionalisierten Reproduktionsbereich folgen den Streiks in der Produktionssphäre der früheren Jahrzehnte. Es ist nicht zu erwarten, dass entsprechenden Reproduktionstätigkeiten jemals eine ähnliche Bedeutung und ein Stellenwert zugeschrieben werden, wie dies im fordistischen System bei Produktionstätigkeiten der Fall war. Sie kosten Geld und werden in der Krise vermutlich wieder für Gotteslohn nicht zuletzt in Frauenhände gelegt.

Denn trotz Rettungspaketen in der Corona-Krise kann der Staat nicht beliebig Schulden machen und Geld drucken. Das Spardiktat ist keineswegs vorbei. In den Rang produktiver Arbeit können Care-Arbeiten nach dem »Ende der Arbeit« und dem Niedergang des kapitalistischen Patriarchats/des »Kollaps der Modernisierung« (Kurz bereits 1991) nie wieder treten. So ist es eher unwahrscheinlich, dass in Nach-Corona-Zeiten (sofern sie eintreten sollten) eine materiell und ideell nennenswerte Aufwertung von Care-Tätigkeiten erfolgt, allerdings sind vermehrt symbolische Gratifikationen zu erwarten (dies würde sich mit den Traditionen des kapitalistischen Patriarchats auch gut vertragen). Eher gleichen sich womöglich die Löhne in anderen Sparten denen im Care-Sektor an.

Arruzza & Co wollen aber nur in einer falschen Selbstrelativierung des hierarchischen Geschlechterverhältnisses vor dem Hintergrund eines Proletarierkults eine solche Höherbewertung weiblicher Reproduktionstätigkeiten: »Das wahre Ziel der Kämpfe um die gesellschaftliche Reproduktion besteht darin, das Primat des Menschenmachens gegenüber dem Plusmachen durchzusetzen« (ebd., 92). Das wahre Ziel müsste m.E. jedoch sein, das ›Menschenmachen‹ und das ›Plusmachen‹ gleichermaßen abzuschaffen; denn beides gehört zusammen, wobei allerdings ceterum censeo zu beachten ist, dass bei Arruzza & Co ohnehin auch das ›Menschenmachen‹ letztlich unter die Klassenrubrik fällt. Dabei verbuchen sie auch den Klimawandel und die Naturbeherrschung in einem prinzipiell geschlechtsneutral veranschlagten Kapitalismus.

In dem Bestreben – so hat man dem Eindruck –, dem rechten Populismus und neoliberaler Propaganda etwas entgegenzusetzen, werden Arruzza & Co selbst schamlos populistisch und versuchen einfach, altmarxistische Traditionsgewissheiten auf die neue Realität zu applizieren. Dass es überhaupt ein hierarchisches Geschlechterverhältnis gibt, soll auch bei Arruzza & Co, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, in die zweite Reihe verwiesen werden im Sinne eines Klassenmarxismus. Genauso wenig haben andere Disparitäten Bestand; sie gehen de facto in einem Klassenmarxismus unter.

Das alles kann nur schiefgehen und hat mit einer tatsächlichen emanzipatorischen Theorie und Praxis heute, die stets bereit sein müssen, sich selbst zu reflektieren, nichts zu tun. Stattdessen suchen Arruzza & Co in einem linken Konservativismus ihr Heil, der bloß auf dem anderen Pol rechten Rückwärtsgewandtheiten entspricht. Das Corona-Virus hat gezeigt, dass eine Normalität aus den Latschen kippen kann, auch wenn es nicht die Ursache, sondern nur der Auslöser war, der den Niedergang des kapitalistischen Patriarchats beschleunigt. Im immer sichtbarer werdenden Zerfall der Modernisierung stellt das Manifest für einen »Feminismus der 99%« – wie gezeigt – einen Holzweg dar. Das Geschlechterverhältnis, als hinterstes/verborgenstes soziales Verhältnis innerhalb einer Stratifikations-Gesellschaft wird wieder einmal zum Nebenwiderspruch. Ein nostalgisches politisches Subjekt Frau, wie es etwa Koschka Linkerhand (2018) einfordert, ist so schon längst wieder in einem anachronistischen Klassenkampfsubjekt ertränkt, wenn Politik und Subjektivität selbst an ihr Ende kommen. »Frauen sind systemrelevant, aber das System ist kaputt«, schrieb Margarete Stokowki letztens einmal treffend. Diese Einsicht müsste jedoch in den Kontext der Wert-Abspaltungs-Kritik gestellt werden.

P.S. Die Kritik an dem Manifest »Feminismus für die 99%« wurde noch vor dem Mord an George Floyd durch einen US-amerikanischen Polizisten geschrieben. Nicht erst die Kommentare von Linken hierzu zeigen, dass auch Rassismus nicht nur in diesem Manifest unter den Klassenstandpunkt subsumiert wird und ihm keine Eigenlogik als Diskriminierungsdimension zuerkannt wird (die dann freilich mit anderen Diskriminierungsformen, z. B. Sexismus, ökonomischen Disparitäten usw. interferieren können). Hierzu exemplarisch folgende linke Kommentare: »Die Beschäftigung mit dem Tod von Oury Jalloh legt aber auch offen, dass neben Rassismus die Verachtung von einkommensschwachen Menschen ebenso das Problem ist. Bereits vor dem Tod von Oury Jalloh starben in der Dessauer Polizeiwache zwei Männer mit weißer Hautfarbe« (Nowak 2020a).

Da die »Gefahr« besteht, dass eine »transnationale soziale Protestbewegung […] von Liberalen gekapert wird« (ebd.), andererseits aber die »größte Sackgasse [...] ein Schwarzer Nationalismus [wäre] «, fehle eine Linie im »Kampf gegen Rassismus und Kapitalismus« (Nowak 2020b). Und weiter: »Es gibt aber auch in der aktuellen Bewegung einige Lichtblicke. Dass sich Busfahrer unterschiedlicher Hautfarben in den USA geweigert haben, Polizisten und von diesen verhaftete Protestierer zu transportieren, ist ein solcher emanzipatorischer Moment. Hier wird die Organisierung von Menschen unabhängig von der Hautfarbe und Herkunft in den Mittelpunkt gestellt […] die reale kapitalistische Ausbeutung wird zur Grundlage von Organisierung gemacht […] So wird ein Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Kapitalismus hergestellt, der in dem aktuellen Diskurs weitgehend ausgeblendet wird. Dadurch entsteht der Eindruck, Kolonialismus und Rassismus wären eine individuelle Schuld von bösen, weißen Menschen«. (ebd.). Sondern nur der ›Kapitalisten‹?

Ins gleiche Horn bläst Anton Stortchilov in seinem Artikel »Solidarität statt Mitleid«: »Will man Bündnisse schaffen, die dieses Land verändern können, dann muss man unabhängig von der Hautfarbe sagen können: George Floyd war einer von uns. Ein Prolet, der von den Vertretern einer freidrehenden Staatsmacht erwürgt wurde, weil sie es konnten und wollten. Irgendein Mirko aus Delmenhorst hätte genauso grundlos draufgehen können, weil auch sein Leben im Zweifel nichts wert ist, wenn er keinen Rechtsanwalt zum Onkel hat. Nur wenn man diesen Gedanken zulässt, wird es wirkliche Solidarität geben. Wir sind alle mitgeschlagen, wenn die Polizei auf Migrant*innen einprügelt. Sagen die Linksintellektuellen den Proletarier*innen, das sei nur ein Problem im schlimmen Amerika, das zudem nur Schwarze wirklich betrifft, dann verstehen Proletarier*innen es als ein ›Das geht euch nichts an. Eure Erfahrungen interessieren uns nicht. Wir sind hier, um uns um Minderheiten zu kümmern‹, woraufhin die Proletarier*innen mit den Schultern zucken, ihre Solidarität wieder einstecken und sich ein wenig fragen, wozu sie solche Linksintellektuellen brauchen, die auf ihre Probleme keinen Pfifferling geben« (Stortchilov 2020). Da kann man den schwarzen Erniedrigten und Beleidigten bloß raten, sich in die Obhut einer solidarischen Klassenkampflinken zu begeben!

Literatur

Arruzza, Cinzzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser Nancy: Feminismus für die 99% – Ein Manifest, Berlin 2019.

Kurz, Robert: Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt1991.

Kurz, Robert: Das letzte Stadium der Mittelklasse. Vom klassischen Kleinbürgertum zum universellen Humankapital 2004, auf exit-online.org.

Linkerhand, Koschka: Das politische Subjekt Frau – Rehabilitierung eines Kampfbegriffs, in: Linkerhand, Koschka (Hg.): Feministisch streiten – Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen, Berlin 2018.

Nowak, Peter: George Floyd: Nicht nur Rassismus ist das Problem, freitag.de vom 5.6.2020a.

Nowak, Peter: Clash der Kulturen oder Aufhebungsbewegung von Unterdrückung, freitag.de vom 14.6.2020b.

Scholz, Roswitha: Die Metamorphosen des teutonischen Yuppie. Wohlstandschauvinismus, 90er Jahre-Linke und kasinokapitalistischer Antisemitismus, in: Krisis Nr. 16/17 1995, auf exit-online.org.

Scholz, Roswitha: Differenzen der Krise – Krise der Differenzen. Die neue Gesellschaftskritik im globalen Zeitalter und der Zusammenhang von »Rasse«, Klasse, Geschlecht und postmoderner Individualisierung, Bad Honnef, 2005.

Scholz, Roswitha: Homo Sacer und »die Zigeuner«. Antiziganismus – Überlegungen zu einer wesentlichen und deshalb »vergessenen« Variante des modernen Rassismus, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 4, Bad Honnef 2007, auf exit-online.org.

Scholz, Roswitha: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2011 zuerst 2000.

Scholz, Roswitha: It’s the class, stupid!? – Degradierung und Deklassierung und die Renaissance des Klassenbegriffs, 2020, auf: www.exit-online.org.

Stortchilov, Anton: Solidarität statt Mitleid, freitag.de vom 13.6.2020.

Urban, Andreas: Es muss wieder gestraft werden – Zur Rückkehr des repressiven Strafrechts in der Krise der Arbeitsgesellschaft, 2018, auf exit-online.org.


  1. Dem kann hier nicht nachgegangen werden. Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen marxistisch-feministischen Konzepten findet in einem anderen Aufsatz statt. ^




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