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Herbert Böttcher: Ein neuer (Teil-)Lockdown und alte Ungereimtheiten - Eine Kurzintervention


Ein neuer (Teil-)Lockdown und alte Ungereimtheiten - Eine Kurzintervention

Herbert Böttcher

 

Gekommen ist, was abzusehen war: ein zweiter Lockdown, wenn auch ‚nur‘ als Teil-Lockdown. In den ihn begleitenden Diskussionen zeigen sich neben Gereiztheiten und Aufgeregtheiten vor allem Ungereimtheiten.

Es sprechen „Wissenschaft und Ärzteschaft“

Just kurz vor den Verhandlungen der Bundeskanzlerin mit den MinisterpräsidentInnen der Länder melden sich die Virologen Streeck und Schmidt-Chanasit sowie der Präsident der Kassenärztlichen Vereinigung, Gassen, zu Wort. Sie stellen ein Positionspapier vor. Es wird ebenso vollmundig wie unrichtig als „gemeinsame Position von Wissenschaft und Ärzteschaft“ präsentiert. So passt es zu dem Bedürfnis, jeweils eigene Vorlieben durch „die“ Wissenschaft zu legitimieren oder wenigstens formal relativierend sagen zu können: Da gibt es ja auch noch ‚andere‘ – ohne sich auf den Gegenstand des Streits beziehen zu müssen. Hinter dem Allgemeinplatz „von Wissenschaft und Ärzteschaft“ verschwindet, dass wissenschaftliche Einrichtungen wie Deutsche Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft oder die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Stellungnahmen ihrer Präsidenten zu völlig anderen Bewertungen kommen. Unter den Tisch fällt ebenso, dass weder Intensivmediziner noch die Deutsche Gesellschaft für Virologie das Papier von „Wissenschaft und Ärzteschaft“ unterschrieben haben.1

Von Betroffenheiten, Werten und Vermittlungen

Selbst bei unter dem Strich ausgesprochen ignoranten Positionen gegenüber dem, was Menschen erleiden, darf die Bekundung von Betroffenheit nicht fehlen. Selbstverständlich hat Herr Gassen, der, wie es in der „Zeit“ heißt, „den Ernst der Lage nicht sieht oder nicht sehen will“, „mit Erschütterung die Bilder von Bergamo gesehen“ und „jetzt“ natürlich wieder „mit Erschütterung die aus Neapel, wo Straßenblockaden brennen“. Das jedenfalls versichert er in der Pressekonferenz.

Und weiter geht es mit „ja, aber“-Rhetorik: die Pandemie sei ernst zu nehmen, falsch aber sei es,„apokalyptische Bedrohungsszenarien“ an die Wand zu malen. Dieses Schema zieht sich durch die Debatten: ernst nehmen ja, aber kein Alarmismus. Nun gehört es zu diesen Redensarten, dass sie an keinem Gegenstand ausgewiesen werden. Und so bleiben sie einerseits im Diffusen und Trüben, laufen aber real auf eine Rechtfertigung hinaus, die kapitalistische Normalität doch bitte nicht all zu sehr von Corona und steigenden Sterbezahlen, Belastungen für Pflegepersonal etc. unterbrechen zu lassen. Ähnlich ist es mit den Fallzahlen. Selbstverständlich ist ihr Rückgang politisch „eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis“ - so Gassen. Es geht um den Schutz von Risikogruppen, aber auch um Akzeptanz in der Bevölkerung. Aber wenn es in der Bevölkerung - wie in der Vereinigung von Lindner, Gauland und BILD - ganz im Einklang mit der in den letzten Jahrzehnten eingeübten neoliberalen Logik sozialdarwinistisch tickt? Gegen aufkommende Bedenken hilft dann vielleicht die Ethik weiter. Die allgemeine Wahrheit, dass das Leben nicht das ‚höchste Gut‘ ist, wusste ja schon beim ersten Lockdown der christliche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble unter dem Beifall von Philosophen und Theologen zur Debatte beizutragen. Es grüßt Kants Ethik. Das Allgemeine des Sollens, wie es auch im kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommt, muss unbeschmutzt vom Besonderen der gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben. Über den Verhältnissen schwebend kann es dann um so besser den ‚Schmutz‘ der Verhältnisse rechtfertigen.

Nicht fehlen dürfen die ‚Vermittler‘. Auch ihnen geht es um Allgemeines: um Kommunikation als solche, d.h. unabhängig von Inhalten. Sie muss vor allem bei den Adressaten ‚ankommen‘. Deshalb heißt die allgemeine Parole „Ermutigung statt Moralpredigt“. Dies predigt der Psychologe Stephan Grünewald, Geschäftsführer des „rheingold“-Instituts, im Kölner Stadt-Anzeiger (28.10.20). Auch er im Ja-Aber-Modus: Ja, die Politik darf nicht tatenlos zusehen, wie sich das Virus bei privaten Feiern verbreitet. Sie muss „klar aufzeigen, wo die derzeitigen Gefahren liegen …, aber sachlich und ohne moralischen Druck“. Das ‚Was‘ verschwindet im ‚Wie‘ der Vermittlung. Die wirklich wichtige Vermittlungsfrage wird nicht gestellt, nämlich wie das ganze Corona-Zeug mit der Normalität der kapitalistischen Gesellschaft vermittelt ist. Die Frage nach der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem, von Gesellschaftsform und empirischer Erscheinung, die Frage nach ‚konkreter Totalität‘ stößt auf die scheinbar nicht zu überwindende Hürde theoretischer Anstrengung. Bevor die übersprungen wird, sollen die Dinge ihren in allgemeiner Phraseologie und besonderem Leiden derer, die es trifft, gespaltenen Lauf nehmen.

Von der Unverzichtbarkeit ‚der‘ Kultur

Besonders nachdrücklich meldet sich gegenwärtig die Kulturszene zu Wort. Das ist insofern berechtigt, als es um die Existenzgrundlagen von KünstlerInnen geht, die keine mächtige Lobby haben und die gerne als nicht so ‚systemrelevant‘ ignoriert werden. Dennoch fallen auch hier Ungereimtheiten auf. Die Kulturszene setzt sich plötzlich von der Unterhaltungsszene ab. Kultur will auf einmal wieder Inhalt, ‚gehobenes Kulturgut‘ sein, das mit der Event-, Unterhaltungs- und Freizeit-‘Industrie‘ nicht auf einer Stufe ‚gelockdownt‘ werden will. Einige Rückfragen seien erlaubt: Wie sieht es denn mit ‚der‘ Kultur in post- und ‚postpost‘-modernen Zeiten aus? Konnte sie nicht unterhaltsam, nicht erlebnisintensiv, nicht nahe genug an ‚den‘ Menschen, sprich am Publikumsgeschmack, sein bis hin zum postmodernen Kulturkarneval – auch dann, wenn dabei die Autonomie der Kunst gegenüber Trend und Geschmack und darin dem Erreichen des Publikums ins Hintertreffen geriet und geopfert wurde? Konnte sie nicht hoch genug die ‚Höhe‘ der postmodernen Zeiten mit ihrem unterhaltsamem ‚Alles geht‘ erklimmen? Alles sollte gehen, alle Virtualitäten möglich sein, während der Blick auf die Realitäten sozialer Wirklichkeiten und ihre uniformierenden gesellschaftlichen Krisenzusammenhänge als altbackenes Relikt von Vorgestrigen abgetan wurde. Und auch hier taucht eine verdrängte Vermittlungsfrage auf: die nach der Vermittlung von Kultur-, Erlebnis- und Event-‘Industrie‘ mit den gesellschaftlichen Krisenverhältnissen, also letztlich der Frage nach der kapitalistischen Normalität, die in der Kultur steckt und in der sie ihre Kunden sucht und bedient.

Politische Ungereimtheiten

FDP, AfD und BILD inszenieren sich als Verteidiger von Freiheit und Demokratie. Die FDP entdeckt sogar die soziale Benachteiligung von Kindern, wenn es darum geht, gegen Kita- und Schulschließungen und implizit für das Aufrechterhalten von Arbeit und Wirtschaft zu argumentieren. Wenn es gegen den ‚Lockdown‘ geht, funktioniert selbst das Abfeiern der Digitalisierung nicht mehr ungebrochen. Entdeckt wird die Unverzichtbarkeit der analogen Welten mit ihrer Begegnung ‚von Mensch zu Mensch‘, das nicht zu ersetzende ‚Live-Erlebnis‘ - was alles im ‚Lockdown‘ vor die Hunde zu gehen droht. Ganz der Logik der Eventindustrie folgend wird auf funktionierende Hygienekonzepte gepocht. Obwohl Fallzahlen schon längst nicht mehr nachverfolgt werden können, hindert das nicht an der steilen Behauptung, im eigenen Event-Laden könne sich wegen des sicheren Hygienekonzepts niemand angesteckt haben bzw. anstecken – so z.B. der Fußballfunktionär Watzke.

Politische Strömungen verschwimmen noch mehr zu ‚Querfronten‘ als das schon vor Corona der Fall war. In Italien fanden sich neofaschistische Gruppen, Linke, gewaltbereite Fußballultras, in Süditalien sogar Mafiasympathisanten bei Protesten und Gewaltaktionen gegen die neuen ‚Lockdown‘-Maßnahmen der Regierung zusammen.2

Sowohl in chaotischen Formen des Protests wie in der diffusen Verteidigung der Freiheit kapitalistischer Normalität zeigt sich, wie sehr ein durch das Einbrechen der Arbeitsgesellschaft substanzlos gewordenes Selbst abhängig geworden ist von der kapitalistischen Event-, Freizeit und Unterhaltungsindustrie. Und die Zurichtung auf ein individualistisch-narzisstisches, auf die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen und die Abfuhr von Affekten zugerichtetes Selbst treibt an die Seite derer, von denen individuelle Freiheiten und Demokratie verteidigt werden gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur mit Kontrollen, die „schärfer sind als Terrorismusabwehr“ (so Lindner gegen Lauterbachs Forderung, dass auch in NRW wie in anderen Bundesländern Beschränkungen privater Feiern durchgesetzt werden sollen).

Das darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Lauterbachs Forderung, die Unverletzlichkeit der Wohnung dürfe „kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein“, den Weg in autoritär repressive Staatlichkeit legitimiert und verschärft. Sie bedient autoritäre Sehnsüchte, die darauf gerichtet sind, mit ‚guten Gründen‘ und ‚gutem Gewissen‘ und vor allem im Einklang mit dem ‚gesunden Menschenverstand‘ jetzt schon einmal ordentlich ‚durchregieren‘ und ‚Abweichler‘ denunzieren zu können. Vor allem aber kann in den staatlichen Maßnahmen, die zwischen der „Rettung der Wirtschaft“, dem Schutz der Bevölkerung und des kollabierenden, kaputt gesparten und ökonomisierten Gesundheitssystems changieren, schon einmal an Repression eingeübt werden, was vollends durchgesetzt werden könnte, wenn ‚nach Corona‘ der Krisenkapitalismus wieder in Gang gebracht werden soll.

Kritik und Widerstand gegen real sich verschärfende autoritär-repressive Tendenzen in der kapitalistischen Krisengesellschaft sind also mehr als angebracht, agieren sich aber in den unmittelbaren Protesten gegen die Corana-Maßnahmen am falschen Objekt aus – erst recht, wenn sie sich mit rechten Verteidigern von Freiheit und Demokratie gemein machen, die gegen den ‚Ausnahmezustand‘ von Corona protestieren, aber gegen den zur kapitalistischen Normalität gehörenden Ausnahmezustand gegen ‚Überflüssige‘ nichts einzuwenden haben und ihn - ganz demokratisch - für MigrantInnen immer weiter durchsetzen und verschärfen helfen. Gegenüber den vollmundigen Forderungen nach Demokratie gerade aus den rechten und von links nicht selten unterstützten Ecken muss darauf hingewiesen werden, dass Ausnahmezustand und die Verschärfung autoritärer Repressionen der Demokratie inhärent sind - wie eindrücklich nachgelesen werden kann in Texten von Robert Kurz3 und Roswitha Scholz.4


  1. Vgl. dazu u.a. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/covid-19-sars-cov-2-streeck-positionspapier-lockdown-shutdown-1.5098484. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Papier lässt sich nachlesen in der Analyse von Florian Schumann und Jakob Simmank „Lockdwn in Deutschland. Ein Gegenplan, der keiner ist“ bei Zeit-Online (vgl. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-10/lockdown-coronavirus-strategie-aerzteverband-hendrik-streeck-andreas-gassen), die Erklärung der Präsidenten der genannten wissenschaftlichen Gesellschaften unter https://www.leopoldina.org/presse-1/nachrichten/wissenschaftsorganisationen-zur-coronavirus-pandemie/. ^

  2. Vgl. Dominik Straub, Widerstand gegen Minilockdown, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 28.10.2020. ^

  3. „Die Demokratie frißt ihre Kinder“, vgl. https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=29&posnr=49&backtext1=text1.php. ^

  4. „Die Demokratie frisst ihre Kinder – heute erst recht!“, in: Exit!, Heft 16/2019, S.30 ff.. ^




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