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Herbert Böttcher: „Das rationale Denken setzt ein Stück weit aus“


„Das rationale Denken setzt ein Stück weit aus“

Herbert Böttcher

 

So formuliert es der Psychotherapeut Peter Wehr in einem Interview mit dem ‚Kölner Stadt-Anzeiger‘ in der Ausgabe vom 11./12. Juni 2020. Während die Pandemie weltweit immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, in Brasilien katastrophale Zustände sich ausbreiten und auch in China das Virus wieder aufgetaucht ist, machen sich viele Deutsche Sorgen um ihren Urlaub und den grundrechtlich garantierten ‚freien Flug für freie Bürger‘. Die Regierungen geben ihre Verantwortung an die ‚Eigenverantwortung‘ ihrer mündigen Bürger_innen weiter. Nachdem inzwischen die Reisewarnung für zahlreiche europäische Länder aufgehoben worden ist, sind die ersten Ferienflieger mit Urlauber_innen – begleitet von medialem Eventspektakel – auf Mallorca angekommen.

Der Begriff ‚Verantwortung‘ lässt an Moral denken. Das Problem ist aber nicht die Moral, sondern das Denken. Und das ist schon vor Corona weithin ausgefallen. Erinnert sei an den Text von Robert Kurz „Das Ende der Theorie“1, womit der Weg in eine reflexionslose Gesellschaft freie Fahrt aufnehmen konnte. „Das Ende der Theorie ist dadurch gekennzeichnet, dass „das Ganze der Gesellschaft“ nicht mehr gesehen wird, „um es sich stattdessen in der theoretischen ‚Unbestimmtheit‘ gemütlich zu machen“2. Nun ist es seit Corona mit der Gemütlichkeit dahin. Selbst die Lockerungen scheinen kein Gefühl von Entspannung zu verschaffen. Auch diejenigen, die möglichst schnell zur kapitalistischen Normalität zurück kehren wollen, werden ein ‚ungemütliches‘ Bauchgefühl vielleicht verdrängen, aber nicht einfach hinter sich lassen können. Aber auch die Ungemütlichkeit von Corona – von manchen ja schon als Kairos auf dem Weg in eine ‚bessere Welt‘ gepriesen – hat keine Nachdenklichkeit ausgelöst, die auf „das Ganze der Gesellschaft“ ausgriffe.

Im Gegenteil, die Reflexionslosigkeit, die sich in der Gemütlichkeit vor Corona viele meinten leisten zu können, scheint sich unter dem ungemütlichen Druck von Corona zu verschärfen. „Es ist anstrengend, die Belastungen von Corona auszuhalten, sich mit immer komplexer werdenden neuen Informationen zu beschäftigen… Das geht so weit, dass manche sagen: ‚Für mich gibt es Corona nicht mehr.‘ … Und es gibt andere, die sagen: Ich kenne niemanden, der an Covid-19 erkrankt oder gar gestorben ist.‘ Einfach den Schalter umlegen und nicht mehr daran glauben.“3

In Haltungen, wie sie hier zum Ausdruck kommen, drückt sich jene Reflexionslosigkeit aus, die über die Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrung oder des eigenen Bauchgefühls nicht hinaus kommt. Entsprechend neigen „immer mehr Menschen … dazu, die Situation zu verdrängen, weil sie den Bedürfnissen nach Sonne, Kontakten oder einer Urlaubsreise im Weg steht. Wenn die Sehnsucht nach Normalität so groß wird, entsteht mehr und mehr die Tendenz, nicht mehr so genau hinzuschauen, weniger nach New York oder Brasilien, sondern lieber nach Schweden, wo es kaum Einschränkungen gab. Dabei wird gleichzeitig ausgeblendet, dass die Zahlen auch dort sehr besorgniserregend sind.“4

Und selbst Lockerungen ohne neue Corona-Welle würden keine Rückkehr zur vertrauten kapitalistischen Normalität bedeuten. Es wäre eine Illusion zu glauben, die Zeit ‚nach Corona‘ wäre wie die Zeit ‚vor Corona‘. Weil aufgrund der Einschränkungen befürchtete Katastrophen wie sie unter den Bildern aus Italien und Spanien denkbar schienen, in Deutschland nicht eingetreten sind, ist das Virus weder verschwunden noch ungefährlich geworden. Und vor allem: die Rechnung für die Schulden, die die Staaten als Vorgriff auf künftige Produktion aufgenommen haben, um die Corona-Krise abzufedern, werden zu bezahlen sein – und das von einem Verwertungsprozess, dem schon vor Corona immer mehr die Puste ausgegangen war. Gewohnte kapitalistische Normalität wird auch dann nicht zurückkehren, wenn ein Impfstoff gegen Corona immunisieren könnte. Weiterer Sozialabbau, wirtschaftliche Zusammenbrüche, rassistische, antisemitische, sexistische und antiziganistische Entlastungsversuche drohen auch dann das Zusammenleben zu bestimmen. Je länger Überforderungen andauern und Belastungen größer werden, desto mehr steigen auch die inneren Spannungspotentiale und mit ihnen sinken Aggressionshemmungen. Denken, das auf das Ganze der kapitalistischen Verhältnisse ausgreift, könnte helfen. Aber dagegen scheint mit der „Einheit von Krisenignoranz und Theorieverweigerung“5 die Immunisierung bereits erfolgreich gelungen.

Wenn es Ansätze einer Nachdenklichkeit gegeben haben sollte, war mit Beginn bei der unirritierten Aufnahme der Flüge in den Urlaub nichts mehr davon zu spüren. Kein Gedanke wurde mehr auf die globale ökologische Krise verschwendet, an der der Flugverkehr ja nicht gerade einen geringen Anteil hat. Das gilt nicht nur für die Reisenden, sondern mehr noch für die wenig nachdenkliche ‚eventorientierte‘ und z.T. euphorisierte Berichterstattung in vielen Medien. Alles scheint wieder gut zu werden, zumal die Politik ihre Handlungsmächtigkeit in der Coraona-Krise ja unter Beweis gestellt hat. Was können uns da schon die globalen Krisenerscheinungen und ihre Zusammenhänge mit der Krise des Kapitalismus anhaben?


  1. Robert Kurz, Das Ende der Theorie. Auf dem Weg zur reflexionslosen Gesellschaft, in: ders, Weltkrise und Ignoranz. Kapitalismus im Niedergang, Berlin 2013, 80 – 87. ^

  2. Ebd., 85. ^

  3. Peter Wehr, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 11./12. Juni 2020. ^

  4. Ebd. ^

  5. Robert Kurz, Weltkrise und Ignoranz, in: ders, Weltkrise und Ignoranz. Kapitalismus im Niedergang, Berlin 2013, 203 – 212, 210. ^




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