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Robert Kurz


GELD UND ANTISEMITISMUS
Der strukturelle Wahn in der warenproduzierenden Moderne

von Robert Kurz

1. Der Fetischismus des Geldes

Geld ist das allgegenwärtige Fluidum der Moderne, der allgemeine Schmierstoff der Gesellschaft, die flächendeckende Form der Reproduktion: "Money makes the world go round". Geld ist auch die universelle Gestalt des Reichtums, denn mit Geld kann man/frau (vermeintlich) alles kaufen; es eröffnet den scheinbar uneingeschränkten Zugriff der Zahlungsfähigen auf die Möglichkeiten der Welt und ist deshalb auch der universelle Gegenstand des Begehrens. Aus allen diesen Gründen wird das Geld von den Ideologen der modernen Volkswirtschaftslehre gepriesen als die schlaueste und segensreichste Erfindung der Menschheit.

Geld ist aber gleichzeitig auch die Gestalt eines universellen Schreckens und als negative Kehrseite des Reichtums die Formel einer ungeheuerlichen Armut, die nicht mehr aus den Naturbedingungen erwächst, sondern künstlich durch die Gesellschaft produziert wird. Geld erscheint als eine unheimliche Macht, weil es das "abstrakte Ding" ist, gleichgültig gegen alle sinnlichen Inhalte, gegen Mensch und Natur, gegen Gefühle und persönliche Bindungen. Geld kann alles und nichts repräsentieren, es umfaßt alle Dinge der Welt und ist doch selber vollkommen leer, gewissermaßen ein ökonomisches Nirwana. In dieser gesellschaftlichen Abstraktion des Geldes lauert ein ungeheures Destruktionspotential, sobald sie real gegen die sinnliche Welt durchgesetzt wird: "Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören" (Hegel). Im Geld verkehren sich gleichzeitig auf paradoxe Weise soziale und dingliche Beziehungen: In ihrem wechselseitigen gesellschaftlichen Verhältnis repräsentieren die Menschen nicht sich selbst, sondern Quanta der abstrakten gesellschaftlichen Pseudo-Materie (Gold, Münzen, Geldscheine, Buchungsimpulse).

Marx nannte dieses absurde Verhältnis den "Fetischismus" der Warenproduktion. Das Geld entsteht nämlich erst durch eine gesellschaftliche Funktionsteilung, in der die Tätigkeit für die Reproduktion des Lebens im "Stoffwechselprozeß mit der Natur" (Marx) nicht im vorhinein bewußt gemeinschaftlich organisiert wird, sondern als getrennte Privatproduktion für anonyme Märkte stattfindet. Die Produktion wird also erst im nachhinein durch Tauschakte gesellschaftlich, als deren blindes Medium sich das Geld (die "universelle Ware") herausgebildet hat. Das Geld repräsentiert dabei das abstrakte Gemeinsame der qualitativ völlig verschiedenen Produkte, ihren sogenannten Wert, der wiederum nichts anderes darstellt als die Menge der dafür gesellschaftlich notwendigen Verausgabung menschlicher Energie. Gesellschaftlich muß dabei von der konkreten Art und Weise dieser Verausgabung abgesehen werden, weil sie nur auf die abstrakte Äquivalenz der Waren bezogen sein kann. Von vornherein ausgerichtet auf diese abstrakte Allgemeinheit des Werts und seiner Erscheinungsform, des Geldes, wird daher die abstrakte Seite der Tätigkeit als sogenannte "Arbeit" (Verausgabung menschlicher Energie schlechthin) bestimmend, was eine "universelle Gleichgültigkeit" der Produzenten gegen den Inhalt ihrer Produktion einschließt. Hauptsache, es wird "Geld verdient".

Natürlich bleibt der Gesellschaft und ihren Individuen die zerstörerische Kehrseite des Geldes und seiner "Realabstraktion" (Sohn-Rethel) nicht verborgen. Schon früh rief dieser Widerspruch den Versuch hervor, ideologisch "gutes" und "böses" Geld zu unterscheiden. Das destruktive und abstrakte Moment sollte abgetrennt und auf eine negative, äußerliche Macht projiziert werden, als die (im Anschluß an den religiösen Vorbehalt gegen die "Christusmörder") seit dem Spätmittelalter die jüdischen Gemeinden definiert wurden. Der Antisemitismus will also unter Beibehaltung der Geldform deren unheimliche entsinnlichte Inhaltslosigkeit als angebliche "jüdische Eigenschaft" definieren und damit "den Juden" als Sündenböcken aufhalsen. Er ist die irrationale immanente Reaktion auf die Irrationalität des Waren- und Geldfetischismus.

2. Das Elend der Konkurrenz

Zum allgemeinen, flächendeckenden Verhältnis wird dieser Fetischismus aber erst durch die moderne Verwandlung des Geldes in Produktivkapital: Das Geld wird auf sich selber rückgekoppelt, um sich zu "verwerten" (aus einer Mark zwei zu machen) - und damit zum "automatischen Subjekt" (Marx) einer neuen Produktionsweise. "Das Medium ist die Botschaft" (McLuhan); das Tauschmittel mausert sich zum Selbstzweck, der sich sukzessive der gesamten Reproduktion bemächtigt. In der wechselseitigen Bedingtheit von "abstrakter Arbeit" und "Verwertung des Werts" entsteht eine neue Art "negativer Vergesellschaftung", in der die gesellschaftliche Tätigkeit individualisiert und absolut abhängig gemacht wird von den autonomen Bewegungsgesetzen des "abstrakten Dings", auf die sich die Gesellschaftsmitglieder als "vereinzelte Einzelne" allesamt beziehen müssen. Die Menschen geraten so in ein wechselseitiges Verhältnis totaler Konkurrenz, in dem zwar die Produktivkräfte mit einer nie gekannten Dynamik entwickelt werden, aber eben in einer zwanghaften, paradoxen und destruktiven Weise, die sich in Krisen und Katastrophen entlädt.

Es ist nur folgerichtig, daß diese dynamisierte gesellschaftliche Paradoxie, deren Struktur dem klinischen Wahnsinn nicht unähnlich ist (jedoch in objektivierter gesellschaftlicher Form), eine explosive Mischung aus Angst und Begehren erzeugt. Die Befreiung von diesem strukturellen Wahn könnte nur darin bestehen, daß durch eine gesellschaftliche Bewegung emanzipatorischer Aneignung hindurch an die Stelle des Fetischismus von "Arbeit", Wert und Geld eine neue Struktur bewußter gesellschaftlicher Selbstverständigung tritt, an der (z.B. in Form eines Systems von Räten oder Komitees) alle Menschen beteiligt sind und gemeinschaftlich über den sinnvollen Einsatz ihrer Ressourcen und Produktivkräfte entscheiden. Zu einer solchen Praxis sozialer und stofflich-sinnlicher Vernunft jenseits der warenproduzierenden Moderne ist jedoch die Menschheit bis jetzt nicht durchgestoßen, nachdem die Zwangsgesetze von "Arbeit" und Geld in einem mehrhundertjährigen Prozeß von Unterdrückung, Gewalt, "Erziehung" und abstrakter "Verfleißigung" (Industrialisierung) verinnerlicht und gewissermaßen zur Tabuzone gemacht worden sind: Wer die fetischistische Grundstruktur direkt kritisiert und sie aufheben will, wird geradezu für verrückt erklärt.

In der Durchsetzungsgeschichte dieses warenproduzierenden Systems entstanden daher verschiedene immanente Bewältigungs-Ideen und Reaktionsformen, um mit den Widersprüchen und Krisen des modernen Fetischismus auf seinem eigenen Boden (ohne wirkliche Transformation) vermeintlich fertigzuwerden. Gegen die Rationalität des Liberalismus, der (auch heute wieder) den blinden Selbstlauf der Konkurrenz propagiert und dabei das Herausfallen von wachsenden Menschenmassen in Kauf nimmt, positionierte sich die Rationalität des Staatssozialismus von Bismarck bis Lenin und von Keynes bis Castro, um die krisenhaften Wirkungen der Konkurrenz in verschiedenen, mehr oder weniger weit gehenden Systemen staatlicher Regulation (deficit spending, Sozialstaat, Staat als Generalunternehmer etc.) zu überwinden, ohne jedoch Warenproduktion, Markt und Geldform aufzuheben. Aber diese staatssozialistischen Versuche mußten in allen ihren Variationen immer wieder (und heute endgültig) scheitern, denn der Staat ist nur der andere Pol der fetischistischen abstrakten Allgemeinheit und bleibt letztlich abhängig von den blinden Gesetzen des kapitalisierten Geldes. Unter dem Dach staatlicher Regulation schwelt daher die Konkurrenz weiter und bricht mit umso größerer Gewalt wieder hervor (sowohl binnenökonomisch als auch in den Außenbeziehungen).

Weil der Staatssozialismus auf dem Boden des unaufgehobenen warenproduzierenden Systems viel zu schwach ist, um die Irrationalität der fetischistischen Struktur und des damit verbundenen Konkurrenz-Systems überwinden zu können, bildeten sich gleichzeitig seit dem 19. Jahrhundert verschiedene politisch-soziale Strömungen einer irrationalen "Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln", in deren ideologischem Zentrum der Antisemitismus steht: Die Projektion der abstrakten, destruktiven Eigenschaften der Geldform auf "die Juden" setzt sich fort in deren Definition als das fremde "Außen" der Konkurrenz. Die universelle Angst im "Krieg aller gegen alle" (Hobbes) bringt das Verlangen nach einem eindeutigen, in der Konkurrenz trotzdem der Konkurrenz entzogenen "Wir" hervor, das in Gestalt eines Meta-Subjekts gegen "die anderen" als ein System von sozialen Einschließungen und Ausschließungen imaginiert wird, in dem "das Jüdische" als das universelle Andere und Fremde figuriert, das alle negativen Eigenschaften von Geld und Konkurrenz auf sich vereinigt.

Der Antisemitismus nahm dabei immer wieder Elemente sowohl des Liberalismus als auch des Staatssozialismus in sich auf, um sich gesellschaftlich zu formieren (historisch in Gestalt von Faschismus und Nationalsozialismus). Darin zeigen sich sowohl die Differenzen als auch die Affinitäten und Überschneidungen von Liberalismus, Staatssozialismus und Antisemitismus, die in je verschiedener Weise dieselbe rationale Irrationalität oder denselben irrationalen Rationalismus auf dem gemeinsamen Boden des modernen Fetischsystems ausdrücken.

3. Die Naturalisierung des Sozialen

Die in der Kapitalform gesamtgesellschaftlich gewordene blinde und entfesselte Selbstbewegung des "abstrakten Dings" hat die Ideologen dieses Systems von Anfang an dazu geführt, die "zweite Natur" der fetischistischen (in ihrer Formbestimmung dem menschlichen Willen entzogenen) Vergesellschaftung mit der "ersten Natur" nicht nur analog zu setzen, sondern direkt zu identifizieren. Schon die Klassiker des Liberalismus und der "Volkswirtschaftslehre" betrachteten die blinden Gesetze von Geld und Markt ganz unbefangen als Naturgesetze. Die physikalische "Weltmaschine" des mechanischen Universums von Newton fand ihre Entsprechung in der ebenso mechanischen ökonomischen "Weltmaschine" oder anzubetenden "schönen Maschine" (Adam Smith) des Kapitals. Aus der Metaphysik des Geldes wurde die Physik des universellen Marktes. Während bei Marx im Kontext seiner Fetisch-Kritik diese Pseudo-Physik der Kategorien eines warenproduzierenden Systems noch als negativ erscheint und ihre Darstellung als radikale Kritik formuliert ist, fiel der Staatssozialismus (auch in seiner "marxistischen" Variante) auf den Positivismus der fetischistischen "Gesetzmäßigkeiten" zurück, die "unabhängig vom menschlichen Willen" als Quasi-Natur vorausgesetzt erscheinen.

Diese pseudo-physikalische Naturalisierung des Sozialen setzte sich jedoch schon bald fort in einer Biologisierung von gesellschaftlicher Entwicklung und sozialen Eigenschaften. Darwins epochemachende Entdeckung der biologischen Evolution wurde sogleich gesellschaftlich kurzgeschlossen (auch von Darwin selbst) und als pseudobiologisches "Ausleseverfahren" und "Survival of the fittest" auf die menschliche Geschichte übertragen. Dieser "Sozialdarwinismus" richtete sich gegen Behinderte und sogenanntes "lebensunwertes Leben", das durch strenge "Rassenhygiene" (staatliche Kontrolle der Vererbung etc.) schon im Keim erstickt werden sollte. In diesem Sinne drang der Sozialdarwinismus auch tief in die marxistische Arbeiterbewegung ein und wurde von ihren führenden Ideologen (z.B. Karl Kautsky) ganz offen vertreten.

Derselbe Sozialbiologismus besetzte mit dem Slogan vom "Kampf ums Dasein" auch die Deutung der allseitigen Konkurrenz und das daraus resultierende System der sozialen Ein- und Ausschließungen. Während der Liberalismus ein individuelles sozialdarwinistisches Ausleseverfahren nach den kapitalistischen Kriterien befürwortete, entwickelte sich gleichzeitig ein umfassender biologischer Rassismus, der das angstbesetzte Syndrom der Konkurrenz ideologisch in einen Kampf von "höheren" und "niederen" Rassen umphantasierte und den Mythos von der "arischen Lichtrasse" (Graf Gobineau) erfand.

Der Antisemitismus wurde sehr schnell in dieses biologistische und rassistische Weltbild integriert. Während die sogenannten farbigen Menschen (Afrikaner, Asiaten etc.) als "unterwertige" Rassen oder "Untermenschen" definiert wurden, figurierten "die Juden" umgekehrt als die "überwertige Rasse des Bösen" und als phantasmatischer großer Gegenspieler der "Arier". Wie der Antisemitismus vorher schon die strukturelle Negativität von "Geldherrschaft" und Konkurrenz auf ein "jüdisches" Wesen projiziert hatte, so wurden "die Juden" nun zu den biologisch von Natur aus "Anderen" schlechthin, denen das Böse der negativen und abstrakten Vergesellschaftung nicht nur historisch oder kulturell, sondern direkt in ihrer physischen, biologischen und "blutsmäßigen", also leiblichen Existenz anhaftet. Der Antisemitismus vollendete so die in der gesamten affirmativen Ideologie des modernen warenproduzierenden Systems angelegte Naturalisierung des Sozialen und spitzte sie bis zur äußersten Konsequenz zu.

4. Arbeitszwang und Leistungswahn

Die Grundlage und gewissermaßen das innere Feuer, die bewegende Kraft der rastlosen "Verwertung des Werts" ist die abstrakte "Arbeit", d.h. die ebenso rastlose Verausgabung menschlicher Energie unter Gleichgültigkeit nicht nur gegen die konkreten Inhalte der Verausgabung (dem Kapital und seinen Produzenten muß es im Prinzip egal sein, ob sie Schokoladentörtchen oder Tellerminen herstellen), sondern auch gegen die Folgen, "Risiken" und Nebenwirkungen der damit verbundenen (betriebswirtschaftlichen) Rationalität. Nicht bewußte menschliche Zwecke setzen sich in ebenso bewußte, gemeinschaftlich organisierte Tätigkeit um, sondern genau umgekehrt hängen die menschlichen Zwecke vom prozessierenden Selbstzweck des Werts und der "Arbeit" als seiner abstraktifizierten Bewegungsform ab. Trotz dieser Absurdität wurde der abstrakte Begriff der "Arbeit" schon seit der frühen Neuzeit zum edlen ethischen Ziel geadelt. Während in allen vormodernen Produktionsweisen die Subsumtion von Menschen unter die Abstraktion einer fremdbestimmten Tätigkeit als negativ und minderwertig galt, stieg die "Arbeit" in der "protestantischen Ethik" zum paradoxen positiven Ziel der menschlichen Selbstverwirklichung unter den Augen Gottes auf. Darin kündigte sich die Säkularisierung der Religion in Form der Unterwerfung unter die kapitalistische "Weltmaschine" an.

Sowohl der Liberalismus als auch der (marxistische) Staatssozialismus erwiesen sich als Erben dieser "protestantischen Ethik". Mit fortschreitender Entwicklung des warenproduzierenden Systems wurden die "Arbeit" und die damit zusammenhängenden, ebenso abstrakten "Sekundärtugenden" (Fleiß, Disziplin, Pünktlichkeit usw.) dem Selbstzweck des "abstrakten Dings" entsprechend propagiert und die Definition der "Wohlfahrt" davon abhängig gemacht, ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Sinnhaftigkeit und das wirkliche Wohlbefinden der Individuen. Arbeitszwang und Leistungswahn für immer absurdere "Pyramidenbauten" im Namen des zum Selbstzweck gewordenen Geldes ließen die positiven Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung immer wieder verpuffen.

Statt dieses fetischistische Verhältnis mitsamt seinem abstrakten Tätigkeitsbegriff anzugreifen, konnte die historische Arbeiterbewegung nur bis zu einer systemimmanenten Kritik gelangen und machte sich selber den Standpunkt der "Arbeit" zu eigen. Obwohl selber eine Abstraktion und als solche real vom abstrakten Selbstzweck des Geldes bestimmt, erschien die "Arbeit"

(besonders die unmittelbare Produktionstätigkeit) als das "Konkrete" und Sinnhafte gegenüber der abstrakten Welt der Geldform. "Kapital" und "Arbeit" wurden somit nicht als die beiden Seiten derselben Medaille begriffen, sondern als äußerlicher Gegensatz. An die Stelle einer Kritik der gesellschaftlichen Fetischform trat die Kritik der "Nichtarbeit" oder der "unproduktiven Arbeit", des "arbeitslosen Einkommens", des "Parasitentums", der "Arbeitsscheuen", der "Schmarotzer" usw. Ironischerweise entwickelte der Liberalismus ganz ähnliche Kriterien, wenn auch mit anderer Besetzung (hier figurierten die unbotmäßigen und nach Verkürzung des Arbeitstages strebenden Lohnarbeiter selber als "faules Gesindel").

Auch wenn August Bebel die antisemitische Ideologie den "Antikapitalismus der dummen Kerle" nannte, so konnte der Antisemitismus doch sowohl an die basale "protestantische Ethik" und den liberalen Leistungswahn als auch an die daran gebundene verkürzte Kapitalismuskritik der marxistischen Arbeiterbewegung anknüpfen. "Arbeit macht frei" stand nicht umsonst über dem Tor von Auschwitz. Die Positivierung der "Arbeit" und die Brandmarkung der "Nichtarbeit", des "Müßiggängertums" etc. mußte nur noch biologistisch aufgeladen und entsprechend zugeordnet werden, um in das antisemitische Weltbild zu passen. Dabei wiederholte sich die naturalisierende Zuordnung des Negativen: Die Afrikaner, Slawen usw. wurden als die "unterwertigen Arbeitsscheuen", "die Juden" dagegen als die "negativ überwertigen Arbeitsscheuen" und als eigentlicher Gegenpol zum "arischen" Prinzip der "ehrlichen Arbeit" definiert.

Als angebliche Träger des "bösen" Geldes und der gesellschaftlichen Realabstraktion überhaupt wurden "die Juden" aber nicht bloß mit dem Feindbild des gehobenen "parasitären Müßiggängertums" identifiziert, sondern auch mit den Abstraktionen der reflektierenden Vernunft. Nicht umsonst hatte Marx die Logik das "Geld des Geistes" genannt. Und wie im Hause des Gehenkten nicht vom Strick gesprochen werden darf, so darf in der auf Realabstraktionen beruhenden warenproduzierenden Gesellschaft nicht die abstrakte fetischistische Form durch Reflexion versehentlich beim Namen genannt werden. Obwohl gerade der banale Alltagsverstand der "geldverdienenden" Menschen bis zur Blödsinnigkeit abstrakt denkt, wie schon Hegel gezeigt hat, ist der "abstrakte Denker" in seiner reflexiven und daher irgendwie gefährlichen Gestalt verpönt, seitdem das gesellschaftliche Bewußtsein mit zunehmender Durchsetzung des totalen "Geldverdienens" immer positivistischer geworden ist. Sowohl der liberale Pragmatismus als auch der arbeiterbewegte Vulgärmarxismus entwickelten daher zusammen mit dem Affekt gegen die jeweilige Definition von "Nichtarbeit" und "Unproduktivität" auch ein entsprechendes Maß an Intellektuellenfeindlichkeit, das der Antisemitismus auf seine Weise aufgenommen hat: Der "unproduktive" und müßiggängerische "jüdische Flaneur" oder "elegante jüdische Lebemann" wurde nahezu gleichbedeutend mit der Figur des "zersetzenden jüdischen Intellektuellen", in dem sich die negative Kraft der Abstraktion reflexiv gegen das "gute" Prinzip der "Arbeit" wendet.

5. "Schaffendes" und "raffendes" Kapital

Die Affirmation des "guten Geldes" gegen das "böse Geld", das Lob des "Konkreten" (das in Wahrheit nur die Konkretion der realabstrakten modernen Vergesellschaftung selber ist) gegen das "Abstrakte" und die Apotheose der "Arbeit" gegen Müßiggang und "Parasitentum" können im System der politischen Ökonomie eigentlich nur auf eines hinauslaufen: nämlich auf eine verkürzte Kritik des zinstragenden Kapitals, das mit der Negativität der ganzen Produktionsweise identifiziert wird. Obwohl das Finanzkapital logisch nur eine abgeleitete Form des Produktivkapitals und der Zins nur ein Bestandteil der industriellen Mehrwertschöpfung sein kann, erscheint in diesem flachen Verständnis allein der Zins, der für geliehenes Geld bzw. Geldkapital gezahlt werden muß, als "Abpressung des Mehrwerts" und als moralisch ungerechtfertigtes "arbeitsloses Einkommen". Ökonomisch gesehen gelten so einzig die Geldkapitalbesitzer, Bankiers etc. als "Kapitalisten", die industriellen Unternehmer dagegen als eine Art "leitende Selbstarbeiter" mit bloß etwas höherem Unternehmerlohn oder einer "Risikoprämie".

Sowohl die industriellen Unternehmer selber als auch die kleinen Familienbetriebe und Handwerker, die auf Bankkredite angewiesen sind und jederzeit in die "Schuldenfalle" laufen können, neigen von ihrem immanenten Interessenstandpunkt aus leicht zu einer solchen Betrachtungsweise. Insofern ist sogar eine liberale Kritik des Finanzkapitalismus denkbar; und in der Arbeiterbewegung war es demzufolge der quasi liberale Flügel in Gestalt eines Teils der Anarchisten, der von einem eher kleinunternehmerischen Standpunkt aus oder im Sinne warenproduzierender Genossenschaftsbetriebe die "Brechung der Zinsknechtschaft" (Proudhon) verlangte. Der Arbeiterbewegungs-Marxismus lehnte diese Position zwar als kleinbürgerliche ab; aber seine eigene staatssozialistische Ideologie, die nicht die Aufhebung des fetischistischen Verhältnisses und der darin eingeschlossenen Lohnarbeit zum Ziel hatte, sondern bloß die Verstaatlichung und bürokratische Regulation des privaten Produktivkapitals, war davon nicht gar so weit entfernt. In der Praxis der marxistischen Massenagitation, zumal im Zeichen einer "Bündnispolitk" mit den diversen arbeitsamen "kleinen Warenproduzenten", rückte der Finanzkapitalismus wie von selbst ins Zentrum der Kritik und wurde zum Generalbösewicht aufgeblasen.

Der Antisemitismus konnte aus der verkürzten Kritik des zinstragenden Kapitals besonders leicht seinen Honig saugen, denn schon seit dem Spätmittelalter galten "die Juden" als Geldwucherer (so z.B. in aggressiver und geradezu pogromhetzerischer Weise bei Martin Luther). Diese Zuordnung war darauf zurückzuführen, daß Christen laut Bibel offiziell das Zinsnehmen verboten war, während im Handelsverkehr trotzdem Kreditbedarf bestand. In vielen Städten war den jüdischen Gemeinden gleichzeitig aus Konkurrenzgründen die Ausübung von Gewerben untersagt. So verlegten sich einige jüdische Bürger notgedrungen auf Handel und Geldverleih (obwohl auch im Alten Testament die Zinsnahme verboten ist). Der jüdische Trödler und Lumpenhändler wurde sprichwörtlich, während sich an die historisch herausgebildete Existenz einiger jüdischer Bankiersfamilien (darunter die berühmten Rothschilds) ein haßerfüllter Mythos vom "jüdischen Finanzkapital" knüpfen konnte. Daß die überwältigende Mehrheit der Juden stets alles andere, bloß keine Finanzgewaltigen waren, störte dabei überhaupt nicht.

In die falsche, am Wesen des modernen Fetischismus vorbeigehende Kritik der "Zinsknechtschaft" mischten sich daher von Luthers Zeiten bis ins 20. Jahrhundert antisemitische Töne. Dabei gilt die Faustregel: Nicht alle Kritiker des zinstragenden Kapitals sind (offene) Antisemiten, aber alle Antisemiten sind Kritiker des zinstragenden Kapitals. Gewissermaßen handelt es sich um eine "politische Ökonomie des Antisemitismus", die gleichzeitig als umfassende irrationale Weltanschauung auftritt. Diese seit Proudhon weitgefächerte Ideologie, die sich auch bei den Anthroposophen Rudolf Steiners und den Anhängern des ökonomischen Quacksalbers Silvio Gesell (wie überhaupt bei den Sektenbewegungen der Vor- und Zwischenkriegszeit) fand, wurde von den Nationalsozialisten synthetisiert und auf die Spitze getrieben. In der Gegenüberstellung von "schaffendem" und "raffendem" Kapital faßte die Nazi-Ideologie alle Momente des antisemitischen Syndroms zusammen.

Dazu gehörte auch die schon seit dem späten 19. Jahrhundert geisternde abstruse Idee von der "jüdischen Weltverschwörung": Die Anonymität und die supranationalen Gesetze des Weltmarkts wurden dabei durch eine Analogisierung von transnationalen Finanzzusammenhängen und der "verdächtigen", als im nationalistischen Sinne illoyal identifizierten und über die Welt verstreuten jüdischen Ghetto-Existenz dämonisiert, um für die unbegriffenen subjektlosen Wirkungen der globalen Konkurrenzverhältnisse, Kapital- und Handelsströme einen teuflischen, die Fäden ziehenden "Verursacher" hinter den Kulissen dingfest zu machen (in gewisser Weise ist der Wahn von der "jüdischen Weltverschwörung" eine Karikatur der Aufklärungsphilosophie, die ja ebenfalls die Geschichte auf bewußt handelnde Subjekte zurückführt, ohne etwas von fetischistischen Strukturen zu ahnen).

In derselben Weise erklärt die irrationale "politische Ökonomie des Antisemitismus" dann auch die kapitalistischen Krisen. Die tatsächliche innere Schranke der Akkumulation findet sich im Produktivkapital selbst: Wenn für eine gegebene industrielle Struktur die Expansionsfähigkeit der Märkte erschöpft ist und die Rationalisierung mehr Arbeitsplätze frißt, als neue geschaffen werden, können die aus vorangegangenen Produktionsperioden realisierten Gewinne nicht mehr ausreichend rentabel in zusätzlichen produktiven Investitionen angelegt werden. Diese Situation der "Überakkumulation" (Marx) des Kapitals führt einerseits zu einer krisenhaften Negativspirale von Entlassungen, Schrumpfung der Märkte usw. Andererseits strömt das nicht mehr rentabel reinvestierbare Geldkapital in die Finanzmärkte und treibt unter dem Verwertungsdruck eine Blase der Spekulation (der Kreation von fiktiven Werten) hervor, deren Platzen dann die Krise umso mehr anheizt. Die irrationale Krisentheorie, die einseitig auf das Finanzkapital fixiert ist, verkehrt nun in diesem Ablauf der Krise einfach Ursache und Wirkung: Die Spekulation, die aus der Krise des Produktivkapitals selber entstanden ist, erscheint umgekehrt als deren Ursache, und "die Spekulanten" werden zu den böswilligen Subjekten der Krise erklärt. Und da schon das Finanzkapital überhaupt als "jüdisch" definiert ist, bedarf es keiner großen Herleitung mehr, um auch die spezifische Krisenfigur des "Spekulanten" entsprechend einzuordnen. Auf diese Weise haben die Nazis mit nicht geringem propagandistischen Erfolg die Weltwirtschaftskrise von 1929-33 gedeutet.

6. Auschwitz - die deutsche Revolution

Das antisemitische Syndrom hat den Kapitalismus von Anfang an begleitet und war immer in allen Ländern des modernen warenproduzierenden Systems präsent - auch dort, wo es gar keine Juden gibt. Gerade der "Antisemitismus ohne Juden" beweist den Charakter dieser aggressiven Ideologie als irrationale Weltanschauung, die nicht aus empirischen Konflikten entstanden ist. Nicht erklärt ist damit allerdings, warum die universelle Präsenz des Antisemitismus in der modernen Welt sich nur in Deutschland bis zum Menschheitsverbrechen des Holocaust steigern konnte. Ein Moment von Unerklärlichkeit, das der reflektierenden Vernunft nicht mehr zugänglich ist, wird Auschwitz wohl für immer behalten. Trotzdem lassen sich Gründe angeben, warum das deutsche Reich zum Organisator dieses universellen Grauens werden konnte.

Erstens war Deutschland im 19. Jahrhundert unter den großen kapitalistischen Ländern der historische Nachzügler, die "verspätete Nation". War die Modernisierung in England, Frankreich und den USA noch mit revolutionärer bürgerlicher Emphase und republikanischen Hoffnungen einhergegangen, so setzte sie in Deutschland erst zusammen mit der großen Transformationskrise der Industrialisierung bis zur Jahrhundertmitte ein. Ideologisch war die Herausbildung des modernen kapitalistischen Nationalstaats in Deutschland daher weniger mit dem vordergründig rationalen Aufklärungsdenken, sondern vielmehr bereits mit der irrationalen romantischen Gegenbewegung verbunden, die in einer widersprüchlichen Mischung modernisierende Elemente mit einer reaktionären und phantasmatischen Kritik der "abstrakten Geldwirtschaft" verband. Eine Folge davon war, daß die deutsche Nation im Gegensatz zum westlichen Rechts- und Staatsbegriff mit "völkischen" und rassischen Abstammungslehren biologistisch legitimiert wurde (bis heute ist die Staatsbürgerschaft auch der BRD in dieser Weise "blutsmäßig" definiert!). Diese ideologische und sogar juristische Grundlegung des deutschen Nationalstaats begünstigte in besonderer Weise eine irrationale, biologistische und eben auch antisemitische Gesellschafts- und Krisentheorie. Die deutschen Eliten waren damit fast durchgehend infiziert, darunter auch Leute, von denen man/frau es heute nicht mehr vermuten würde (z.B. Thomas Mann).

Zweitens war Deutschland bekanntlich dasjenige unter den großen kapitalistischen Ländern, das keine bürgerliche Revolution erlebte (die lächerliche und gescheiterte Episode von 1848 kann man/frau vergessen). Die Modernisierung und Nationalstaatsbildung wurde "von oben" durch den alten absolutistischen Apparat unter Führung des besonders autoritären und militaristischen Preußen durchgezogen. Die deutsche Modernisierungsgeschichte war also nicht durch Umstürze und Revolutionen geprägt, sondern durch "Kadavergehorsam" als verinnerlichtes Massenphänomen in Familie, Schule, Fabrik und Armee. Auch die sozialistische Arbeiterbewegung war stärker als in anderen Ländern vom Geist dieser preußischen Disziplinierung durchdrungen.

Indem sich die irrationale "völkisch"-biologistische Selbstlegitimierung der "deutschen Nation" und die autoritäre preußische Tradition zusammenschlossen, braute sich in Gestalt des Nationalsozialismus ein Versuch zusammen, mit dem Antisemitismus als Staatsdoktrin die kapitalistische Welt der "Arbeit" von der Gewalt der Realabstraktion zu "befreien"; aber nicht durch soziale Gegenwehr, Revolten oder eine Revolution, sondern durch die physische Vernichtung der vermeintlichen biologischen Träger des schlechten "Abstrakten", der parasitären "Nichtarbeit", des "zersetzenden Intellektualismus", des "raffenden" Finanzkapitals und des krisenverursachenden "Spekulantentums" usw. Mit einem Wort: der "deutsche Kapitalismus" (und der Kapitalismus überhaupt) sollte durch das Vergasen der Juden zu einer durch und durch "konkreten" Gesellschaft, die "Arbeit" zu einer biologisch reinen Allgemeinheit ohne das Zwangsgesetz der abstrakten Verwertung gemacht werden.

In zugespitzter Form hat der US-amerikanische Theoretiker Moishe Postone diese ungeheuerliche Absurdität des Nationalsozialismus formuliert: "Auschwitz war eine Fabrik zur Vernichtung des Werts". Dort sollte nichts produziert, sondern die gesellschaftliche Realabstraktion der Moderne fabrikmäßig eliminiert werden, ohne sie emanzipatorisch aufzuheben. Nicht allein die millionenfache Zahl der Opfer ist es, die den Holocaust zu einer historischen Singularität gemacht hat, sondern das völlige Fehlen eines definierbaren Interessenstandpunkts, wie er in dieser oder jener Form hinter allen anderen Genoziden und Massenmorden der Modernisierungsgeschichte zu finden ist. Der Holocaust war ein fanatisch vollstreckter Selbstzweck (sogar kriegswichtige Ressourcen wurden dafür geopfert), um den Selbstzweck des Kapitals loszuwerden. Der unüberwundene Kapitalismus sollte sich mit Hilfe der Gaskammern in eine an sich selber nichtkapitalistische Form verwandeln. Insofern war Auschwitz die "deutsche Revolution" - die einzige, die in diesem Land jemals "gelungen" ist. Die kadavergehorsamen Deutschen standen stramm für diese "Revolution" und vollstreckten sie mit der Präzision eines Uhrwerks, diszipliniert in allen Sekundärtugenden. Nur in diesem Land mit dieser spezifischen Geschichte konnte das antisemitische Syndrom sich als Pseudorevolution "von oben" bis zur letzten denkbaren Barbarei steigern.

7. Krise der Arbeit und Kasinokapitalismus

In der deutschen Nachkriegsgeschichte wurde das wahre Wesen von Auschwitz niemals diskutiert und aufgearbeitet, weil dies sofort die grundsätzliche Systemfrage der Moderne ans Licht gebracht hätte. Nicht nur die kapitalistischen Eliten der BRD (die als offizieller Nachfolgestaat des "Dritten Reiches" firmierte) hatten daran kein Interesse, sondern auch für die Westmächte mit den USA an der Spitze wäre in der neuen Epoche der kapitalistischen Weltmarkt-Integration eine bis an die Wurzeln gehende Offenlegung des antisemitischen Syndroms nur lästig gewesen. Aber auch in der DDR, die ja nicht bloß äußerlich durch den Stechschritt der "Nationalen Volksarmee" unselige preußische Traditionen pflegte, blieb die Aufarbeitung des Antisemitismus äußerst oberflächlich und halbherzig, um schon bald durch eine "antizionistische", an der Bündnispolitik der Sowjetunion mit den arabischen Staaten orientierte Propaganda überlagert zu werden.

Der Antisemitismus konnte allerdings auch deswegen nicht als Kern der Nazi-Ideologie herausgeschält werden, weil die verkürzte Kapitalismuskritik des Arbeiterbewegungs-Marxismus selber nicht an die Problematik der fetischistischen Realabstraktion heranreichte, wie sie von der antisemitischen Ideologie auf irrationale und mörderische Weise thematisiert wurde. Die sozialistischen und kommunistischen Parteien (ebenso wie die anarchistischen Strömungen) waren zwar nie die zentralen Träger des antisemitischen Syndroms, aber sie hatten doch immer wieder Berührungspunkte und unklare Beziehungen damit (dieser Sachverhaltet bildet geradezu die Geheimgeschichte des traditionellen Sozialismus). Die antisemitische Weltanschauung und Krisendeutung blieb also unaufgearbeitet und wurde in der Epoche von "Wiederaufbau" und "Wirtschaftswunder" zum "Schläfer" im gesellschaftlichen Unterbewußtsein.

Seit den 80er Jahren ist der Weltkapitalismus abermals in eine Krisenepoche eingetreten, die durch eine historisch neue Qualität von Automatisierung, Rationalisierung und Globalisierung des Kapitals im Zeichen der mikroelektronischen Revolution gekennzeichnet ist. Erstmals kann die "industrielle Reservearmee" (Marx) nicht mehr zyklisch reabsorbiert werden; die zyklische Entwicklung hat sich in eine strukturelle Überakkumulation des Kapitals verwandelt, mit der eine ständig anschwellende strukturelle Massenarbeitslosigkeit im Weltmaßstab einhergeht. Obwohl die "Krise der Arbeitsgesellschaft" ausgerufen wurde und damit eigentlich eine Grundkategorie der Moderne und ihrer realabstrakten Vergesellschaftung in Frage gestellt ist, glaubte man/frau in den 80er Jahren noch billig davonzukommen. Die pseudo-hedonistische Kritik der "Arbeit" blieb oberflächlich und zehrte von den Nachklängen des "Wirtschaftswunders"; die Hoffnung auf eine Ausdehnung der kapitalistischen "Freizeit" bei hohen Geldeinkommen und Konsumstandards zeigte, daß der Zusammenhang von "Arbeit" und Geldform gar nicht begriffen wurde.

In den 90er Jahren kommt nun der große Katzenjammer. Nach dem staatssozialistischen Zusammenbruch, der ein Moment der neuen Weltkrise war, ist jede Grundsatzkritik des Konkurrenz-Systems verstummt, während gleichzeitig der verdrängte Zusammenhang der kapitalistischen Kategorien zutage tritt: Die oberflächliche, konsumistische Kritik der "Arbeit" wird ersetzt durch den Schrei nach "Arbeitsplätzen" und eine hektische "Standort"-Debatte. Gegen die Globalisierung möchte gerade die Linke zurückflüchten in den längst obsoleten Keynesianismus, der an die nationalstaatliche Regulation gebunden ist. Diese keynesianische Nostalgie, die von der rechten Sozialdemokratie bis zu den Resten des Linksradikalismus reicht, will den fundamentalen Charakter der Krise nicht wahrhaben. Die Hoffnung, daß "Geld genug da" sei, richtet sich als irreale Forderung an den Staat, die entfesselten Finanzmärkte zurück in die nationale Gemeinschaft zu holen.

Gegen den Kasinokapitalismus eines historisch beispiellosen spekulativen Überbaus, wie er aus der strukturellen Überakkumulation des Kapitals hervorgegangen ist, werden hilflos "produktive Investitionen" eingeklagt. Auf dem Parteitag der SPD Anfang Dezember 1997 forderte der Vorsitzende Lafontaine, "gegen die Spekulanten" vorzugehen. In dieses Horn blasen in ganz Europa (und weltweit) Gewerkschaften, Grüne, Sozialisten, Kommunisten usw. Sie sind sicherlich (noch) keine Antisemiten, aber sie mobilisieren alle, aber auch wirklich alle Motive der "politischen Ökonomie des Antisemitismus", statt vom untergegangenen schwachen Paradigma des Staatssozialismus zu einer aufhebenden emanzipatorischen Kritik der fetischistischen Realabstraktion zu gelangen.

Die keynesianische Nostalgie der Linken wird so zum unfreiwilligen Schrittmacher eines neuen, in seiner Erscheinungsform noch unklaren antisemitischen Schubs der phantasmatischen Krisendeutung. Am rechten Rand des Konservatismus, im rechtsradikalen Spektrum, bei Skinhead-Banden, in der Bundeswehr usw. blühen bereits offen die antisemitischen Parolen und "Vorfälle". Niemals in den vergangenen 50 Jahren war es so deutlich wie heute, daß der Antisemitismus nur zusammen mit dem Kapitalismus verschwinden kann. In der Krise wird diese elementare Wahrheit abgerufen. Der "Schläfer" erwacht, die Dämonen kehren zurück.




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