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Robert Kurz


Robert Kurz

Die Demokratie frisst ihre Kinder
Bemerkungen zum neuen Rechtsradikalismus


Die Herrschaftslogik der Demokratie

So können historische Sieger nicht aussehen. Die monströse Dummheit und Häßlichkeit des neuen Rechtsradikalismus entstand aber nicht auf eigene Rechnung, sondern sie muß auf das Konto genau jener Marktwirtschaftsdemokratie verbucht werden, die zur endgültigen Fasson der Menschheit ausgerufen worden ist. Denn vom Himmel gefallen und das Werk von Außerirdischen kann dieses ideologische Aids ja nicht sein. Es schwimmt auch kein unbekannter Erreger im Blut einer isolierbaren Personengruppe. Die Demokratie will partout nicht wahrhaben, daß es sich um verräterische Geschwüre auf ihrem eigenen Gesicht handelt. Sie verdrängt die banale Wahrheit, daß die Erscheinungen einer Gesellschaft immer aus dem Inneren dieser Gesellschaft, aus ihrem eigenen Widerspruchspotential hervorgehen. Die Demokratie ist selbst der Schoß, aus dem das kroch.

Daß die eigene an sich gute Ordnung von artfremden und wesensfremden äußeren Kräften der Dunkelheit bedroht werde, war die Standardphrase der Modernisierungsdiktaturen im Westen wie im Osten, mit der sie ihr eigenes Widerspruchspotential verleugneten; und die Wiederholung dieses durchsichtigen Abwehrarguments in den landläufigen demokratischen Absonderungen zum neuen Rechtsradikalismus verweist schon auf den inneren Zusammenhang der reifen Marktwirtschaftsdemokratie mit ihren diktatorischen Vorgängern. Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf; weil die moderne westliche Demokratie auf gar keinen Fall als Ursache und Nährboden der aufkeimenden Barbarei enttarnt werden soll, deswegen sucht das demokratische Bewußtsein fleißig nach Konstrukten der Rechtfertigung. Denn welche Ironie: unter Federführung des NATO-Folterpartners Türkei und der islamischen Republik Pakistan wurde eine UNO-Resolution erarbeitet, in der die westlichen Demokratien, allen voran die BRD, wegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf die Anklagebank gesetzt werden. Die westlichen Diplomaten, sonst gewohnheitsmäßig Zensuren in Sachen Menschenrechte verteilend, sprechen wie die Emissäre beliebiger bananen- und erdölexportierender Dunkelmännerregimes aufgeregt von "Einseitigkeit" und "Verdrehung der Tatsachen". Die westliche Demokratie soll doch überall die Lösung und nicht das Problem, das Gute und nicht das Böse sein. Wo immer in der aus den Fugen geratenden Welt nach dem Ende der bipolaren Nachkriegsordnung Rassismus, Rechtsradikalismus und Ethno-Nationalismus ihr Mordprogramm abspulen, dort wird Demokratie empfohlen als historischer Alleskleber. Also bloß nicht zulassen, daß der Spieß umgedreht wird.

Dieses Raster der blinden Demokratieverteidigung wird nun auch auf die Entwicklung in Ost- und Südosteuropa gelegt, die so gar nicht den euphorischen Hoffnungsgemälden nach dem Ende der "kommunistischen Diktatur" entsprechen will. "Sozialer Kannibalismus" (ein Ausdruck von Henry L. Feingold), zunehmende Mafiaherrschaft, Verelendung der Massen, Ethno-Rassismus, Antisemitismus und Bürgerkrieg im gesamten Raum der ehemaligen Staatssozialismen dürfen gar nichts mit der soeben unter Menschheitsgetöse "eingeführten" Marktwirtschaftsdemokratie zu tun haben. Die unverkennbare und sich einnistende Barbarei soll also angeblich ein Flaschengeist der Vergangenheit sein, geboren aus mangelnder westlicher Modernität und bloß zeitweilig eingebannt in das staatssozialistische Zwangsgefäß, der nun nach dem Zerbrechen der Flasche mit Schwefelgestank entweiche, um sich im marktwirtschaftlichen Umbruch schließlich demokratisch zu verflüchtigen. Es fehlt nicht viel, und einige Pogrome, kleinere Genozide oder unbedeutende Massaker an marktwirtschaftlich unwichtigen Personen der Zeitgeschichte wie Frauen, Rentnern, Kindern, Arbeitslosen und anderen Unrentablen werden von der freiheitlichen Intelligenz als eine Art "reinigendes Gewitter" dargestellt, in dem sich der nationalfaschistische balkanische oder kaukasische Beelzebub vor seiner demokratischen Läuterung noch einmal ein bißchen austoben dürfe, weil der Ärmste ja so lange "unter dem Deckel gehalten" worden sei.

Dieses Konstrukt ist gut erfunden. Aber wie erklärt sich der intelligente Demokrat Rechtsradikalismus, Pogromhetze und rassistische Menschenjagd in den humanitären westlichen Demokratien selbst? Hat z.B. auch die bundesdeutsche Weltmarktrepublik vierzig Jahre lang ihren faschistischen Flaschengeist bloß "unter dem Deckel" gehalten wie jede ordinäre stalinistische Diktatur auch? Und wer soll dann der demokratische Erzieher der Demokraten sein, die die Demokraten erziehen? Hier hilft nur noch das Schwelgen in anthropologischer Hoffnungslosigkeit: wenn sogar in den allerdemokratischsten Demokratien, je selbst im rechtsrheinischen Disneyland dasselbe Ungeheuer sein abstoßendes Haupt erhebt, dann muß es aus den Ur- und Abgründen der menschlichen Natur schlechthin gestiegen sein. Die Demokratie sei also gefährdet durch das Vorzivilisatorische, das "an sich" in den Seelen schlummere; und wieder wähnt sich das demokratische Bewußtsein aus dem Schneider. Die neuen Rechtsradikalen müssen eine Art zivilisationsgenetischer Unfall sein, der atavistische Regungen durchbrechen läßt. Die zivile Marktwirtschaftsdemokratie habe damit nichts zu tun; im Gegenteil, sie biete den einzigen Schutz gegen solche Atavismen.

Mehr oder weniger reflektiert und raffiniert fächern sich im öffentlichen Raum solche und ähnliche Argumentationen auf, mit denen die demokratische Intelligenz das für ihr affirmatives Marktfreiheits- und Politikgedudel peinliche Aufkommen der neuen Barbarei in Ost und West zu isolieren sucht. Der Fluchtpunkt einer wesentlich vergangenheitsbezogenen Abwehr und Scheinbewältigung des plötzlich mitten in die demokratische Siegesfeier grölend einbrechenden rechtsradikalen Bandenwesens ist natürlich der historische Nationalismus und Faschismus, besonders der deutsche Nationalsozialismus. Es scheint so, als greife ein gespenstischer Arm aus dem längst zugeschütteten Grab der Vergangenheit, um der demokratischen Unschuld an die Kehle zu gehen. Die Heuchelei ist perfekt, weil der selber repressive Herrschaftscharakter von Demokratie und westlicher Rationalität im gesamten geistigen und politischen Spektrum hochgradig tabuisiert ist. Die unbezweifelbaren emanzipatorischen und positiven Elemente der westlichen Demokratie in ihrem langen Aufstiegsprozeß werden ideologisch von ihrer dunklen, negativen Kehrseite abgetrennt. Der Vergleichsmaßstab darf immer nur die stets von neuem zu überwindende Vergangenheit sein, niemals jedoch eine mögliche Zukunft über die westliche Rationalität hinaus. Der geschichtliche Charakter der Demokratie wird verleugnet, weil sie historischer Endlichkeit nicht unterliegen soll, und weil es nach ihr nichts Neues unter der Sonne mehr geben darf. Der ideelle Gesamtdemokrat aller Parteien tut so, als müsse der Durchsetzungsprozeß des demokratischen Systems ewig weitergehen, als könne die Demokratie ihre Aufgabe niemals ausgeschöpft haben und ihren eigenen repressiven Kern nach außen kehren, als sei es stets die ewig gleiche faschistische oder kommunistische "Bedrohung", die besiegt, und die ewig gleiche menschliche Unzulänglichkeit, die durch "demokratische Erziehung" (warum nicht gleich Diktatur?) überwunden werden müsse. Wenn ihr glaubt, gegen die menschliche Natur selbst kämpfen zu müssen, so könnte man die Demokraten fragen, warum gebt ihr es dann nicht auf?

Niemand wird die historische Notwendigkeit der Demokratie und ihre große Bedeutung für ein Hinauskommen über die Enge der ständischen Agrargesellschaft bestreiten. Aber auf diesen Lorbeeren kann sich die Menschheit nicht für immer zur Ruhe setzen. Daß die Demokratie selbst, wie ihr Name schon sagt (Volks-Herrschaft), nur die bisher modernste Art der Diktatur einer zwanghaften gesellschaftlichen Form über die Entwicklung menschlicher Bedürfnisse und Beziehungen ist, kann das absolut in dieser Form befangene demokratische Räsonnement nicht einmal im Traum realisieren. Dabei fiele es eigentlich nicht schwer, die sogenannte Marktwirtschaft als den repressiven Kern der demokratischen Herrschaft zu dechiffrieren, denn die bedingungslose Unterwerfung der menschlichen Lebensäußerungen unter die Logik und unter die Zwänge des Marktes (egal ob "frei" oder "geplant") ist das wesentliche Merkmal aller modernen Demokratien. Dieser Zusammenhang blieb aber im ideologischen Bewußtsein der westlichen Moderne bis heute verdunkelt, weil sich in ihrem Aufstiegsprozeß alle Fraktionen innerhalb der Logik westlicher Rationalität hinsichtlich des gemeinsamen Bezugssystems selbst-affirmativ verhalten mußten. Das gilt auch für die gesamte Linke und ganz besonders für einen biederen traditionellen Linksradikalismus, der heute sein müdes Haupt zur letzten Ruhe bettet. Die linken "Radikaldemokraten" verschiedenster Couleur lösten den demokratischen Anspruch von seiner marktwirtschaftlichen ökonomischen Form ab und stellten die beiden Seiten des Modernisierungsprozesses einander äußerlich gegenüber. Demokratie soll angeblich das Gegenteil von Kapitalismus sein. Diese "politizistische" Illusion versuchte immer wieder den abstrakten aufklärerischen Anspruch von Mündigkeit, Selbstverantwortung, "Arbeiterselbstverwaltung" (Trotzki), "herrschaftsfreiem Diskurs" (Habermas), "Basisdemokratie" usw. emanzipatorisch zu isolieren und gegen die unbegriffene andere, repressive Seite derselben Logik zu mobilisieren. Noch in den siebziger Jahren war es ein beliebter linker Kalauer, die kapitalistischen Betriebe mit dem Spruch denunzieren zu wollen: "Hier endet der demokratische Sektor der Bundesrepublik Deutschland". Und eine der übriggebliebenen linksdemokratischen Sekten, das "Sozialistische Büro" (SB), das sanft in der Frankfurter Paulskirche eines ewig weiterimaginierten 1848 vor sich hindämmert, weiß vom "Sozialismus" nichts mehr, "außer daß er demokratisch sein muß".

Diese linksdemokratische und altbacken linksradikale Ideologie sieht den vermeintlich "undemokratischen" Charakter des Kapitalismus in der subjektiven sogenannten Verfügungsgewalt der "Kapitalisten" bzw. des Managements über die Produktionsmittel begründet und bildet sich ein, die Ausdehnung der Prinzipien politischer Demokratie auf den "ökonomischen Sektor" (und auf die bürokratischen Institutionen) würde die Leiden, Übel, Krisen und Katastrophen des Kapitalismus letztlich durch Selbstverwaltung und gleichberechtigten Diskurs überwinden. Die immergleiche langweilige Parole der "Demokratisierung", die mit dem manischen Nachdruck eines Patentrezepts vorgetragen wird, ist das letzte Wort der untergehenden, nichts mehr begreifenden Linken in der sich auflösenden spätmodernen Gesellschaft. Dieses Denken ist soziologistisch und "institutionalistisch" beschränkt, den bürgerlichen Subjekt-Illusionen der Aufklärung verpflichtet und selber Bestandteil des modernen Fetisch-Systems. Es führt die Übel der kapitalistischen Produktionsweise letztlich auf die Subjektivität und damit auf den nicht mehr herleitbaren "freien Willen" von irgendwelchen Herrschenden zurück, die angeblich einen "Willen zur Ausbeutung" entwickeln, und die sich in ihre Machenschaften nicht demokratisch hineinreden lassen wollen. Der Grad an vermeintlicher Radikalität bemißt sich dann einzig und allein daran, mit welchem Nachdruck man diesen "Herrschenden" ans Leder will. Völlig außer Betracht bleiben dagegen die gesellschaftlichen Basis-Formen, in denen sich die ganze Veranstaltung abspielt, und die für die herkömmliche Linke nicht weniger als für ihre Gegner so selbstverständlich und so neutral sind wie die Atemluft.

Diese basalen Formen von "Wert", Ware, Geld, Lohn, Preis, Gewinn und Rentabilität, die das warenproduzierende, marktwirtschaftliche System der Moderne konstituieren, sind zwar ebenso wie die komplementären demokratischen Institutionen historisch durch menschlich-gesellschaftliche Aktivität entstanden und gehen durch die menschlichen Subjekte als Handelnde hindurch, aber sie haben sich ihnen gegenüber im Verlauf eines langen Prozesses als "zweite Natur" eines subjektlosen Systems verselbständigt(1). Der vermeintliche "Wille zur Ausbeutung" ist keine ursächliche und selbständige Größe, sondern eine völlig unselbständige abgeleitete Systemfunktion, eine bloße Exekution subjektloser systemischer Gesetze und Kriterien, die auch den sogenannten Ausgebeuteten selbstverständlich sind. Das Verräterische an der scheinbaren linken Radikalität ist, daß sie ihre Losungen, Forderungen, Programme usw. selber in der bürgerlichen Form erhebt, und daß sie also bloß einen institutionellen Gegenwillen innerhalb der bewußtlos hingenommenen "zweiten Natur" des warenproduzierenden Systems geltend macht(2). Die linksdemokratische Illusion besteht darin, daß dieser immanent soziologistisch bestimmten Willensbildung (von Arbeiterklasse, Unterdrückten, Volksmassen usw.) qua geeigneter Institutionalisierung (Basisdemokratie usw.) zugetraut wird, jene Krisen, Übel und Probleme zu bewältigen, die doch gar nicht dem "falschen" Willen der "falschen Subjekte" entstammen, sondern dem subjektlosen Systemprozeß der modernen (totalen) Warenform und seinen Gesetzmäßigkeiten. Das Problem ist nicht der Wille, sondern die allen Beteiligten gemeinsame gesellschaftliche Form des Willens.

Das linksdemokratische Denken begreift nicht, daß die demokratische Diskursform in allen ihren denkbaren Institutionalisierungen ihrem Wesen nach keine "Freiheit" (Entscheidungsfreiheit) schlechthin, sondern immer nur einen Entscheidungszwang innerhalb der Formzwänge der Warengesellschaft darstellt. Die demokratische Freiheit ist identisch mit dem diktatorischen Zwang, den sogenannten "freien Willen" bis ins Unendliche in der Form einer Verwertung von abstraktem Wert geltend zu machen, deren "Gesetze" das demokratische Universum begrenzen wie die Lichtgeschwindigkeit das physikalische Universum. Freiheit heißt, alle Ressourcen und Wünsche gnadenlos immer derselben subjektlosen Geldform unterwerfen zu müssen. Das ist der moderne "Fetisch", von dem Marx sprach, und das macht den Herrschaftscharakter der Demokratie aus. Der Umkehrbeweis besteht darin, daß demokratisches Denken jeglicher Couleur von sich aus niemals auf die Idee kommt, die Ressourcen und den gesellschaftlichen Reichtum anders als in der Waren- bzw. Geldform mobilisiern und organisieren zu wollen; und daß somit seine vermeintliche Freiheitlichkeit und Humanität sich immer bewußtlos die Systemgesetze der modernen Warenform selber als harte Grenze setzt. Die Demokratie ist also ihrer Logik nach niemals ein mündiger Diskurs von gesellschaftlich selbst-bewußten Menschen über die Produktion und Verwendung des gemeinsamen Reichtums, sondern nichts anderes als der kollektive Götzendienst von gesellschaftlich bewußtlosen Fetischdienern, deren Diskurs lediglich liturgischer Natur ist, d.h. sich einzig und allein auf die Art und Weise der Exekution blinder Systemkriterien beziehen kann. Demokratie ist nicht das Gegenteil von Kapitalismus, sondern die Art und Weise, wie das kapitalistisch organisierte "Volk" sich nach kapitalistischen Kriterien mit blinder, selbstzerstörerischer Wut "selbst beherrscht".

Demokratie und Marktwirtschaft alias Kapitalismus gehören zusammen als die zwei Seiten einer Medaille, darin haben die offiziellen Demokraten gegen ihre linken Stiefbrüder zweifellos recht. Die offizielle Demokratie sagt mehr, als sie weiß, wenn sie Liberalität, Individualität und Marktwirtschaft positiv identisch setzt. Denn in der Tat: diese Freiheit ist die Freiheit, als Warensubjekt auf dem Markt kaufen und verkaufen zu können, und die Freiheit, über die institutionelle Regulation und über die Rahmenbedingungen des Kaufens und Verkaufens "verhandeln" zu können (Rechtssystem und Gesetze, Moderation warenförmiger Interessenvertretung, infrastrukturelle und soziale Transfers usw.); nicht jedoch die Freiheit, in einer anderen Gestalt als in der eines Warensubjekts (eines immerwährenden Verkäufers und Käufers) überhaupt ein Mensch sein zu können. Mit dem Verweis auf die Identität von Freiheit und Markt ist also implizit zugegeben, daß die demokratische Freiheit durch den Markt definiert und damit auch begrenzt ist. Deswegen ist es durchaus passend, zur besseren Kennzeichnung von "Marktwirtschaftsdemokratie" zu sprechen, um diese strukturelle Identität hervorzuheben.

Die Marktwirtschaft als totales System umfaßt freilich nicht allein den Markt im engeren Sinne als Ort der Käufe und Verkäufe, sondern ebenso den dahinterstehenden Prozeß der betriebswirtschaftlichen Vernutzung von Mensch und Natur. Die offizielle Demokratie beschönigt natürlich die Tatsache, daß der wesentliche Akt in diesem Freiheitsdrama die zweischneidige Freiheit ist, sich selbst (die eigene Arbeitskraft) verkaufen zu "dürfen" (zu müssen), und daß nur darüber der gesamte Systemkreislauf aller übrigen Verkäufe und Käufe funktionieren kann. Denn nur die nach dem Verkaufsakt betriebswirtschaftlich in Tätigkeit versetzte (angewendete und vernutzte) Arbeitskraft schafft im Prozeß der "abstrakten Arbeit" (Produktionstätigkeit, deren eigentlicher Zweck jeder sinnlichen Qualität entkleidet ist) den abstrakten "Wert", der als Geld auf dem Markt realisiert wird, und aus dem dann die Gewinne ebenso wie die Löhne und damit die Kaufkraft für andere Produktionen, Verkäufe und Käufe resultieren. Die abstraktifizierte Schinderei, mit deren Inhalten man eigentlich nichts zu tun hat, und der man sich nur unterwirft, um an den für die eigene Reproduktion lebensnotwendig gewordenen Geldfetisch heranzukommen, ist die Kehrseite der Konsumfreiheit als Käufer.

Eine Kehrseite ist aber etwas anderes als ein Gegenprinzip. Vorder- und Rückseite von "etwas" sind bestimmt durch die eine Identität dieses "etwas". Das moderne bürgerliche Bewußtsein, die sozialistische und "basisdemokratische" Linke eingeschlossen, klammert sich mit seinem abstrakten Freiheitsbegriff an den Markt als Zirkulation, d.h. als diejenige gesellschaftliche Sphäre, in der die Kauf- und Verkaufsakte von freien und gleichen Rechtssubjekten vollzogen werden (unablässiger "Händewechsel" von Ware und Geld). Während die offizielle Demokratie Freiheit und Gleichheit auf die ihnen strukturell tatsächlich zukommende Sphäre der Zirkulation beschränkt, und die Kehrseite der Unterwerfung unter die Leiden der abstrakten Arbeit achselzuckend als unvermeidlich hinnimmt, wollten die linken Edeldemokraten stets widersinnig das Prinzip der Zirkulation auf die (betriebswirtschaftliche) Produktion ausdehnen, weil sie die strukturelle Identität nie begreifen konnten und das negative Moment der abstrakten Arbeitsdiktatur fälschlich der bloßen Subjektivität von "Kapitalisten" ("Verfügungsgewalt", ein systemisch gesehen geradezu dümmlicher Ausdruck) zuschrieben statt der Strukturidentität des warenproduzierenden Systems.

Es ist aber nicht allein ihre Kehrseite in Gestalt der abstrakten Arbeit, die den diktatorischen Charakter von Freiheit und Demokratie ausmacht. Auch auf die Sphäre der Zirkulation selbst greift das diktatorische Moment über. Denn erstens impliziert die abstrakte Freiheit der abstrakten, monadisierten Individuen, die sich immerzu "selbstverwerten" müssen, den gnadenlosen Konkurrenzkampf aller gegen alle; und die totale Konkurrenz bildet als Verlaufsform der gemeinsamen Unterwerfung unter den Fetisch des Kapitals den Bezugsrahmen des demokratischen Diskurses, ihre Moderation bestimmt seine brutal beschränkte Reichweite. Zweitens ist in diesem Zusammenhang die reale Aktionsfähigkeit als Freier und Gleicher auf die Zahlungsfähigkeit begrenzt. Die Gleichheit ist eben ein Formprinzip und also ihrem Wesen nach formal. Daher ist sie nicht nur mit extremen sozialen Unterschieden vereinbar, sondern auch mit dem gnadenlosen Ausschluß der nicht mehr Zahlungsfähigen von ihren eigenen Lebensgrundlagen. Auch der mangels Kaufkraft Verhungernde hat das gleiche Recht, alles zu kaufen, was der Markt anbietet, und das wird ihm zynisch beschieden. Die Sozialtransfers aber sind kein Wesensmerkmal der Marktwirtschaftsdemokratie, sondern akzidentiell; sie hängen ab vom Weltmarkterfolg eines Staates und sind daher auf ganz wenige reiche Gewinnerländer beschränkt. Bleibt der Markterfolg aus, werden unter bedauernden Gesten der Galionsfiguren ganze Populationen mit dem sanften Nachdruck der Subjektlosigkeit ins Elend getrieben.

Die demokratische Welt ist also eine Welt des "stummen Zwanges" (Marx), der sich als Verwertungsgesetz des Geldes in vielen Erscheinungsformen bemerkbar macht. Die große historische Emanzipationsleistung der Demokratie war, daß alle Menschen ohne ständische Schranken(3) ein "Selbst" werden konnten; aber allmählich hat sich herausgestellt, daß diese "Selbstwerdung" einen furchtbaren Preis hatte. An die Stelle der Unterwerfung unter den persönlichen "Herrn" qua Geburt trat die Unterwerfung unter die unpersönliche und viel totalere Herrschaft des Geldes. Jeder hat das Recht, das zu sein, was die totale Warengesellschaft aus ihm gemacht hat. Jeder darf "seine Interessen" vertreten, und sei es diejenigen "als" Obdachloser; aber schon diese Kategorie des warenförmig zugerichteten "Interesses" selbst ist es, die ihn strukturell an sein eigenes Elend kettet. Demokratie ist die Freiheit zum Tode, jedenfalls für eine wachsende Mehrzahl der Menschheit. Dieser Kern subjektloser Repression, diese Unterwerfung des Lebensprozesses unter die abstrakten Fetischgesetze der Moderne, hat von Anfang an zu Kritik und Rebellion gereizt. Aber solange die gespannte Feder des Modernisierungsprozesses noch nicht erschlafft, solange die mechanische Uhr der Marktwirtschaftsdemokratie nicht abgelaufen war, konnten Kritik und Rebellion nur innerhalb desselben Gehäuses stattfinden und dessen automatenhafte Fortbewegung hemmen oder beschleunigen, nicht aber dieses Gehäuse sprengen und daraus entkommen. Während die linke Kritik die westliche Rationalität stets ebenso verzweifelt wie vergeblich über ihre objektive Reichweite hinaus zu verlängern suchte, mobilisierte die rechte (und "rechtsradikale") Kritik stets Momente des Irrationalismus, der doch nur die dunkle Kehrseite der westlichen Rationalität selbst ist.

Auch jetzt wieder scheinen wilde Formen von immanenter, beschränkter Pseudorebellion mobilisiert zu werden. Der in seinem Wesen völlig unbegriffene Zusammenbruch des Staatssozialismus im Osten und die offenbar gewordene Unwahrheit und Unfähigkeit des westlichen Linksdemokratismus haben den globalen Endsieg der westlichen Marktwirtschaftsdemokratie eingeläutet. Es wächst zusammen, was zusammengehört: Demokratie und totaler Markt, abstrakte Freiheit und stummer Zwang, individuelle "Selbstverwirklichung" und wechselseitiges Scheitern an der Konkurrenz. Jetzt darf die Demokratie weltweit ihr wahres Gesicht zeigen, und es ist eine grauenhaft entstellte Fratze. Nie waren menschliche Verelendung, Naturzerstörung und Verwüstung sozialer Strukturen größer, und nie hat sich die gesellschaftliche Verwahrlosung schneller ausgebreitet als seit dem Gesamtsieg der Marktwirtschaftsdemokratie. Ihr Endsieg ist auch das Endstadium westlicher Zivilisation, das unmittelbar in den völligen Zerfall übergeht. Und es ist eine ideologische und historische Konstellation, die nach dem linken Abgesang noch einmal eine letzte Konjunktur des Rechtsradikalismus eröffnet; ein letztes Aufbäumen immanenter, verbissen irrationaler Scheinkritik.

Der Boden der siegreichen Marktwirtschaftsdemokratie enthüllt sich als trostlose Wüste, und dieser Boden selbst ist es, auf dem die neue Barbarei erwächst. Das demokratische "Selbst" des abstrakten, warenförmigen Individuums erfährt drastisch seine Nichtigkeit gegenüber den blinden Systemkriterien, die das "Selbst" in eben dem Augenblick dementieren, in dem die Freiheit ihren letzten und größten Sieg zu erringen scheint. In Wahrheit entpuppt sich die demokratische Freiheit als eine ebenso vollkommene wie gefräßige Leere. Wie Saturn frißt der marktwirtschaftsdemokratische Totalitarismus des Geldes seine eigenen Kinder. Die innere Herrschaftslogik des demokratischen Marktsystems tritt repressiv nach außen, und sie erzeugt als Reaktion zunächst keine neue emanzipatorische Kritik, sondern ein mörderisches Echo ihrer selbst. Demokratie und Rechtsradikalismus gehören zusammen wie siamesische Zwillinge, innerlich verbunden durch den Blutkreislauf des abstrakten Verwertungsprozesses und seiner stummen Zwänge. Jede Demokratie bringt am Ende des Modernisierungsprozesses mit logischer Gesetzmäßigkeit den neuen Rechtsradikalismus in irgendeiner Variation als immanente Reaktion hervor. Die heuchlerische Maske der Liberalität lädt zum Dreinschlagen ein; aber es ist die Faust desselben unheimlichen Fetischwesens, die in blindem Wahn zuschlägt.


Geschichte wiederholt sich nicht

Der Versuch des westlich-demokratischen Bewußtseins, die aufkommende rechtsradikale Barbarei zu veräußerlichen, korrespondiert mit dem Versuch, den historischen Faschismus als ein der Demokratie äußerliches Feind- und Fremdsystem zu bestimmen (wie ja andererseits auch der östliche Staatssozialismus oder "Stalinismus" als un- bzw. antidemokratisches Fremdsystem begriffen wurde). Diesem Denken liegt die eigentümliche Geschichtslosigkeit der bürgerlichen Aufklärung zugrunde, die nicht erst seit Hegel (und nicht mit Fukuyama endend) Geschichte nur als Vorgeschichte ihrer selbst begreifen und sich somit selbst der Geschichte entheben muß. Das Tabu der emanzipatorischen, weiterführenden, aufhebenden Demokratiekritik ist identisch mit dem Tabu, Geschichte kritisch über die Kategorien der warenförmigen Moderne hinaus weiterzudenken(4). Das Resultat ist ein doppeltes. Erstens kann in der vermeintlich "postgeschichtlichen" Moderne der historische Prozeß nicht mehr als ein fortschreitendes Kontinuum erkannt werden, sondern nur noch als Abfolge von bloßen Ereignissen vor dem Hintergrund immer derselben scheinbar unveränderlichen (ontologisierten) Grundkategorien, während "Entwicklung" teils bloß noch als technologischer Fortschritt erscheint, teils als bloße Läuterung im Sinne dieser immer schon feststehenden Grundkategorien (im Kern die Kategorien des warenproduzierenden Fetischsystems). Zweitens erscheinen dann die verschiedenen ungleichzeitigen Entwicklungsstufen dieses historischen System-Kontinuums als einander äußerliche und vermeintlich entgegengesetzte "Prinzipien" (und zwar selbstverständlich "gute" und "böse" Prinzipien), die sich bekämpfen und "Siege" bzw. "Niederlagen" erleiden.

Die demokratische Geschichts- und somit Bewußtlosigkeit muß keine explizite sein wie bei den theoretischen Geschichtslimitisten vor und nach Hegel; sie kommt auch dann zum Ausdruck, wenn vordergründig die Historizität der Gesellschaft beschworen wird, aber bloß innerhalb der modernen Basiskategorien. Wenn die Linke in allen ihren Variationen einen verkürzt verstandenen und daher letztlich mißverstandenen Kapitalismus als das historische Kontinuum(5) und als die historisch aufzuhebende gesellschaftliche Form begriff, gleichzeitig aber das historische Limit eines wesentlichen Moments derselben Form, nämlich der allgemeinen Herrschaftsform der Demokratie, bis ins Unendliche hinauszuschieben und in ewig weitergespulten "Verwirklichungs"-Forderungen zu verlängern gedachte, dann stellte sie eben nur eine zunehmend weniger originelle Variante der demokratischen Geschichtslosigkeit und Geschichtsvergessenheit dar.

Der historische Faschismus mußte so bei den offiziellen Nachkriegsdemokraten wie bei ihren linken und linksradikalen Stiefgeschwistern in den Rang eines feindlichen "Prinzips" rücken: eine Art Schreckgespenst im geschichtslosen Nebel der Moderne, das jederzeit wiedererscheinen könnte. Entweder als schwerer Betriebsunfall der demokratischen Läuterung, der immer passieren kann, wenn man nicht aufpaßt, oder gar als schlechthin transzendentes Ereignis, als Singularität, die unbegreifbar bleibt und in dieser Unbegreifbarkeit ebenfalls als neue Singularität des Grauens quasi mutativ wiederkehren könnte. "Wehret den Anfängen!" oder "Denkt an 33!" wurden Allzweckparolen quer durch das politisch-ideologische Spektrum, und der wechselseitige Faschismusverdacht avancierte zum schärfsten Mittel der Denunziation. So ist es kein Wunder, daß der neue Rechtsradikalismus sogleich unter dem Aspekt der "Wiederkehr" eines feindlichen "Prinzips" wahrgenommen wurde.

Aber Geschichte wiederholt sich nicht. Und wenn die Moderne selber als Geschichte und somit auch als historisch endlich verstanden werden kann, dann ist zunächst einmal der historische Faschismus als Teil des historischen Kontinuums der warenproduzierenden Moderne zu bestimmen. Das bedeutet erstens, daß er schlicht eine bestimmte zeitliche Strecke dieses Kontinuums markiert, also nicht aus diesem herausfällt und somit schon in diesem banalen Sinne nicht wiederholbar ist. Zweitens aber handelt es sich dann nicht um ein "Gegenprinzip" zur Demokratie, sondern um einen ihrer historischen Vorläufer, oder zugespitzt gesagt: um eine historisch mögliche Verpuppungsgestalt der Demokratie selbst, die unter bestimmten Bedingungen in bestimmten Ländern als besonderes Durchsetzungsstadium wirksam werden konnte. In Deutschland wird der Faschismus als völlige Abweichung vom Weg des Demokratisierungsprozesses mißverstanden, als bloße Verirrung schrecklichen Ausmaßes zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik(6). Aber die "germanische Demokratie" Hitlers war keineswegs bloß ein phantastisches Etikett der Barbarei (wie sich noch ein Georg Lukacs erregen konnte), sondern der Nationalsozialismus brachte durchaus gesellschaftliche Strukturveränderungen auf den Weg, die Teil des Demokratisierungsprozesses waren, wenn man Demokratie als marktwirtschaftsdemokratische Gesamtstruktur unter Einschluß ihrer repressiven Seiten begreift. Phänomenologisch ist diese Erkenntnis nicht neu, vor allem Ralf Dahrendorf hat Ansätze dazu schon 1965 in seinem Werk "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" geliefert, und es entbehrt nicht der Ironie, daß auf diese Weise ausgerechnet ein Liberaler (unfreiwillig) einen Stein zur strukturbewußten Demokratiekritik beigetragen hat. Freilich folgte daraus nichts, solange das theoretische Raster noch selber dem warenförmigen Modernisierungsprozeß verpflichtet war. Für Dahrendorf erledigt sich das durchscheinende brisante Problem damit, daß er die strukturellen Demokratisierungsmomente des Nationalsozialismus zu unbewußten, "unbeabsichtigten Nebenwirkungen" erklärt. Für ein aufklärerisches Bewußtsein, das die subjektive Intention (Unter Absehen von ihrer bewußtlosen Warenförmigkeit) als das Wesentliche begreift, ist damit der nötige Abstand von Faschismus und Demokratie oberflächlich wiederhergestellt(7). Wenn man es jedoch als allgemeines Merkmal der Modernisierung überhaupt begreift, daß sich der Zusammenhang "hinter dem Rücken" (Marx) der Binnensubjekte herstellt, wie es für jedes Fetisch-System konstitutiv ist, dann wird gerade die übergreifende Identität des Strukturprozesses wesentlich, und auf dieser Ebene erscheint der Faschismus dann ganz ohne Vorbehalt als Wegbereiter der Demokratie.

Natürlich klingt eine solche Feststellung für das demokratische Bewußtsein im allgemeinen und für die linken "Demokratisierungs"-Strategen im besonderen wie eine Provokation. Dennoch lassen sich einige Tatsachen nicht ignorieren. Der Erste Weltkrieg hatte die ständischen und halbfeudalen Relikte des Kaiserreichs ad absurdum geführt; aber die Weimarer Republik hatte nur die äußerliche Regierungsform ausgewechselt, nicht jedoch die gesellschaftlichen Resultate des Krieges strukturell exekutiert. Es war bekanntlich eine halbherzige Republik. Entkleidet man nun das Problem der heute endgültig überflüssig gewordenen ideologischen Gewänder und betrachtet es als "systemisches" oder "strukturelles" Problem, dann ging es im wesentlichen um die faktische Überwindung jener ständischen, vormodernen, wilhelminischen Strukturrelikte, die morsch geworden, aber noch nicht gefallen waren. In dieser entscheidenden Hinsicht nun war der Nationalsozialismus keineswegs rückwärtsgewandt oder reaktionär, im Gegenteil. Auf seine bestialische Weise (und für diesen Vergleich muß man die Tiere um Verzeihung bitten) exekutierte er die Resultate des Weltkriegs, in seinen Formen mobilisierte er die nächste Stufe des marktwirtschaftsdemokratischen Systemprozesses. Sicherlich hätte diese in der Zwischenkriegszeit unvermeidlich anstehende Transformation auch von liberalen, christdemokratischen oder sozialistischen Kräften auf andere, zivilere und weniger grauenhafte Weise bewerkstelligt werden können. Aber diese Kräfte waren eben unfähig dazu. Der Linksradikalismus der KPD unterwarf sich bedingungslos der für Deutschland kontrafaktischen und kontraproduktiven nationalökonomischen Interessenpolitik der Sowjetunion und schied dadurch als möglicher Träger der anstehenden Strukturveränderungen in einem hochentwickelten westlichen Land aus. Das offizielle demokratische Spektrum der Weimarer Republik bis hin zur Sozialdemokratie andererseits blieb den zu eliminierenden wilhelminischen Strukturen gegenüber weiterhin passiv bis hündisch ergeben, es waren eben kaiserlich-königliche Demokraten, ein stocksteifes altbackenes Honoratiorenvolk, das auch die nächsten hundert Jahre noch vor jedem Hauptmann von Köpenick die Hinterbacken zusammengekniffen hätte (diese anödende honoratiorenhafte Altbackenheit ist ein Markenzeichen gerade der SPD bis heute geblieben). Die mörderische NS-Maschine wirkte demgegenüber hypermodern und vorwärtstreibend, ihre Protagonisten verachteten den Wilhelminismus ostentativ und herausfordernd. Also waren sie es, von denen die Kräfte der Umstrukturierung formiert wurden; das katastrophale Gesamtresultat konnte ja noch nicht im allgemeinen Bewußtsein aufscheinen(8).

In diesem Sinne müßte die Debatte um die Positionen von Erich Nolte und seinen Schülern (wie z.B. Rainer Zitelmann) zur Einschätzung des Nationalsozialismus kritisch neu bewertet werden. Der Gedanke einer "Historisierung", wie ihn wohl zuerst Martin Broszat formulierte, und wie ihn Nolte u.Co. auf ihre Weise aufgegriffen haben(9), ist nämlich durchaus fruchtbar, fruchtbarer jedenfalls als das vernebelnde und mythologisierende Festhalten an einer angeblich "unbegreifbaren" Singularität der NS-Barbarei, die nicht auf der Linie des Modernisierungsprozesses läge. Das Interesse, heute mit dem Pfunde des Holocaust zu wuchern, um den Massenmord moralisch für diese oder jene Position in heutigen Auseinandersetzungen instrumentalisieren zu können, kann jedenfalls ebensowenig das Interesse der wirklichen Opfer sein wie das Postulat der "Unbegreiflichkeit" im Interesse eines Nichtbegreifenwollens. Das schwer erträgliche an der "Historisierungsthese" in der Version von von Nolte u. Co. besteht offenbar darin, daß auf diese Weise der Nationalsozialismus "normalisiert", entschuldigt und die deutsche Geschichte im Sinne einer angeblichen neuen deutschnationalen Großmachtpolitik begradigt zu werden scheint. Und in der Tat enthält die Positon von Nolte völlig indiskutable Momente. Es gehört einige Unverfrorenheit dazu, den Kampf der Hitlerarmee im Osten als "teilweise rechtfertigbar" im Sinne einer westlichen Abwehr "asiatischer Barbarei" darzustellen und den Holocaust an den europäischen Juden als bloße "Sekundärtat" und als irrationale Reaktion aud den "asiatischen" bolschewistischen Terror zu relativieren.

Freilich hüten sich natürlich Nolte und seine Schüler, die NS-Herrschaft direkt und explizit zu exculpieren. Sie wird vielmehr in den historischen Kontext des modernen "utopischen" Denkens gestellt, sozusagen als Erweiterung der Totalitarismustheorie, und der NS-Terror erscheint so in einer Reiehe mit frühneuzeitlicher Eschatologie, Jakobinismus, Marxismus, Stalinismus usw. Dieser Part von Nolte wird auf merkwürdige Weise durch den von Zitelmann ergänzt, der die "Historisierung" des Nationalsozialismus vor allem aud dessen Modernisierungsleistungen bezieht. Als Essenz dieser vereinten Bemühungen schält sich ein durchaus übles Konstrukt heraus: der deutsche Nationalismus wird sozusagen in zwei völlig entgegengesetzte Momente aufgeteilt; soweit er Verbrechen begangen hat, gehört er dem nicht- bzw. antiwestlichen "utopischen Kollektivismus" an und kopiert bedauerlicherweise "asiatische" Züge; soweit er jedoch Modernisierungsleistungen vollbracht hat, gehört er doch irgendwie der westlichen Moderne an und ist nicht dem schlechthinnig Bösen des "Kollektivismus" gänzlich gleich zu setzen. Der relativierende Effekt von Nolte-Zitelmann gegenüber dem Nationalsozialismus kommt also nicht direkt apologetisch, sondern gewissermaßen hintenherum und indirekt zustande. Das Verbrecherische wird als "eigentlich asiatisch" und nicht-westlich bzw. nicht-kapitalistisch veräußerlicht und wegeskamotiert, und es bleibt ein mit dem westlichen "Liberalkapitalismus" kompatibler Rest, der dann in den Vordergrund gestellt werden kann.

So wenig dieses Konstrukt als solches rechtfertigbar ist, es enthält dennoch unfreiwillig einen Zugang zu einer kritischen Auflösung, der den radikal- und liberaldemokratischen Kontrahenten verborgen bleiben mußte, weil er von ihrem eigenen Selbstverständnis weggeführt hätte. Entscheidend ist, daß Nolte bzw. Zitelmann ihre apologetischen Argumente nicht mehr aus einem selber anti-westlichen und rechtsradikal-antikapitalistischen Denken entwickeln, wie es noch in der Weimarer Zeit für die Gesamtrechte bestimmend war. Gerade aus der prowestlichen und prokapitalistischen bzw. "proindividualistischen" Stoßrichtung ihres Ansatzes heraus ist es brisant, daß sie einerseits den Nationalsozialismus strukturell-historisch in vieler Hinsicht als Modernisierungsprozeß und als strukturellen Vorläufer der marktwirtschaftdemokratischen BRD-Institutionen dechiffrieren(10), andererseits sich selber grundsätzlich ideologisch positiv und affirmativ zu Begriff und Realität von Modernisierung und Marktwirtschaftsdemokratie verhalten.

Wenn der Nationalsozialismus aber in vieler Hinsicht struktureller Wegbereiter und Vorläufer von etwas schlechthin Positivem gewesen ist, dann fällt fast unvermeidlich ein Abglanz dieses Positiven auch auf ihn selber zurück. Für den ideellen Gesamtdemokraten und prowestlichen Verfassungspatrioten (ebenso wie für den Restbestand linker Radikaldemokraten) ist also die "Historisierungsthese" von Nolte bzw. Zitelmann nicht deshalb so unerträglich, weil diese Position den Nationalsozialismus gegen die Demokratie verteidigen würde, sondern weil er eine Relativierung gerade umgekehrt im Namen der Demokratie vornimmt, d.h. ideologisch im Grunde genommen vom selben Standpunkt der bedingungslosen, unkritischen Anbetung westlicher Marktwirtschaftsdemokratie aus argumentiert wie seine patentdemokratischen Gegner. Nolte und Zitelmann sind persona non grata, weil sie (unfreiwillig) "verräterisch" sind, weil sie sozusagen ungewollt ein unaussprechliches Geheimnis der Demokratie aufdeckt, nämlich ihren inneren strukturellen und historischen Zusammenhang, ihre Kompatibilität mit dem Nationalsozialismus. Man braucht den Spieß bloß umzudrehen, um die affirmative Analyse von Nolte u.Co. in eine Waffe der Kritik zu verwandeln. Das aber geht nur vom Standpunkt einer emanzipatorischen, aufhebenden Kritik der Marktwirtschaftsdemokratie aus, d.h. einer Position mit kritischer Distanz zum gesamten Modernisierungsprozeß, und damit auch einer Kritik der linken "Demokratisierungs"-Illusion innerhalb der unbegriffenen Basisformen des warenproduzierenden Systems. Zu dieser Kritik aber ist auch der allerlinkeste Demokratismus weder fähig noch willens, weil er davon selber ins Herz getroffen und seine ideologische Identität vernichtet würde. So mußten Nolte (und bald darauf Zitelmann) zu Sündenböcken und Schießbudenfiguren für die heuchlerische linksdemokratische Empörung werden, und die Potentiale der "Historisierungsthese" blieben für eine weiterführende Gesellschaftskritik unerschlossen.

Tatsächlich hat der Nationalsozialismus strukturell die Freiheit und Gleichheit vorangetrieben und die ständischen Relikte des Wilhelminismus überwunden. Das ist dann nicht besonders überraschend, wenn Freiheit und Gleichheit als Begriffe aus ihrer blinden ideologischen Überhöhung herausgelöst und als Funktionskategorien des warenproduzierenden Systems begriffen werden. Der NS-Staat hat die Gleichheit weiterentwickelt, indem er das "Volk" zur gleichen gesichtslosen Masse gegenüber dem "Führer" verwandelte und die Hierarchisierung demokratisch funktionalisierte, d.h. von allen feudal-patriarchalischen Geburtsprivilegien, von lokalem Honoratiorentum, von gewachsenen Sonderstrukturen usw. reinigte. Er hat, um in der Diktion von Ferdinand Tönnies zu reden, die abstrakt-allgemeine "Gesellschaft" gegen die alten und sperrigen Formen patriarchaler "Gemeinschaft" vorangetrieben; und nichts anderes ist letztlich "Demokratisierung". Das gilt trotz der Terminologie von der "Volksgemeinschaft", die schon als Terminus einen paradoxen Gegensatz formuliert, denn der abstrakte Großraum des (nationalökonomischen und nationalstaatlichen) "Volkes" steht im Widerspruch zum engen familialen und lokalen Raum der "Gemeinschaft". Der Nationalsozialismus hat gleichzeitig die Freiheit weiterentwickelt, indem er das Bezugssystem des Einzelnen in diesen abstrakten Großraum hinein erweiterte, also die alten Standes- und Klassenkulturen mit ihren Bindungen durch den Totalitarismus der einen Partei ("Volkspartei") auflöste, die Zugänge zu den verschiedenen Funktions- und Kommandostrukturen für den Einzelnen durchlässiger und ihn dadurch mehr als zuvor zum "abstrakt Einzelnen" machte.

In diesem systemischen Sinne kann man sagen, daß die BRD-Demokratie den Nationalsozialismus fortgesetzt und strukturell vollendet hat. Die ideologischen Gegensätze, die retrospektiven Reaktionen des Abscheus und der Distanzierung können über diese systemische Kohärenz nicht hinwegtäuschen. Trotzdem sind Nationalsozialismus und BRD-Demokratie natürlich nicht einfach unmittelbar dasselbe, sondern eben verschiedene Entwicklungsstufen eines Identischen; die Identität ist keine unmittelbare, sondern eine historisch-genetische. Deswegen ist die Einsicht in den Charakter dieser Identität auch gleichbedeutend mit der Einsicht, daß sich der Nationalsozialismus nicht wiederholen kann. Daraus folgt freilich alles andere als eine "Entwarnung". Denn aus dieser historisch-genetischen Sicht erscheint der Nationalsozialismus als spezifisches Moment im Herausbildungsprozeß der modernen Marktwirtschaftsdemokratie, als eines ihrer Vor- und Durchsetzungsstadien; und die damalige Krise (Weltkriege und Weltwirtschaftskrise) als die größte ihrer Durchsetzungskrisen. Heute dagegen haben wir es nach dem historisch ultrakurzen (sozusagen sibirischen) Sommer der fordistischen Nachkriegsprosperität und der Vollendung demokratischer Strukturen gerade umgekehrt mit der historischen Niedergangskrise und mit dem barbarischen Zerfall der Marktwirtschaftsdemokratie zu tun, die an ihre absoluten Schranken stößt.

Auch diese These mag für das demokratische Bewußtsein wieder als gewagt und als anstößig erscheinen. Und abermals sind es wesentliche systemische Strukturveränderungen, die als Beweismittel dienen können, und die gleichzeitig den Unterschied zum historischen Nationalsozialismus bzw. die Unmöglichkeit von dessen Wiederkehr belegen. Diese Strukturveränderungen beziehen sich auf das System der abstrakten Arbeit und ihrer Organisation, auf das Problem der Diktatur, auf den Charakter des "Volkes" und des Volksbegriffs, auf die Kohärenz von Nationalökonomie und politischer Nation, nicht zuletzt auf die Mobilisationsfähigkeit und auf die Mobilisationsformen von Rassismus und Antisemitismus. Diese Strukturelemente und ihre Begriffe verweisen auf einen inneren Zusammenhang, an dem entlang sie gewissermaßen aufgereiht sind und in Wechselbeziehung zueinander stehen. Dabei bilden Arbeit, Volk und Nation die zentralen Nahtstellen des "Kleides" von Systemkohärenz, in das die Gesellschaft zunächst "hineinwachsen" mußte: das letzte und dynamischste Stadium dieses Hineinwachsens war die Epoche der Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise bis zur Mitte des Jahrhunderts. Wie angegossen schien dieses "Kleid" nur im kurzen Sommer der fordistischen Nachkriegsprosperität zu passen; in der neuen Krisenepoche spätestens seit dem Ende der 70er Jahre aber platzt es aus den Nähten und hängt nur noch in Fetzen an einer darüber hinausgewachsenen Gesellschaft.

Es ist oft festgestellt worden, daß die westliche Moderne "universalistisch" sei; meistens im positiven Sinne von Menschenrechten, Rechtsstaat, Demokratie usw. Dabei handelt es sich immer um den abstrakten Universalismus der Ware (des warenproduzierenden Systems) unter Einschluß aller repressiven Momente. Der destruktive Charakter dieses Universalismus, die Zerstörung sozialer und ökologischer Strukturen, das Inkaufnehmen ungeheuren Elends, die Unterwerfung der Menschheit unter die subjektlose Dynamik von Marktprozessen und unter die "Entwicklung" der betriebswirtschaftlichen Vernutzungslogik, all dies wurde jedoch als "Preis des Fortschritts" oder als "Preis der Modernisierung" verharmlost. Der abstrakte Universalismus des warenproduzierenden Systems nagte schon seit der Renaissance (und vor allem natürlich seit der Aufklärung und seit dem Beginn der Industrialisierung) an den nicht-universalistischen Strukturen der alten Agrargesellschaften. Dieser Tatbestand verführt den Betrachter a posteriori dazu, mit der Hintergrundannahme eines nahezu gleichförmigen "Kapitalismus" zu operieren, egal ob in kritischer oder affirmativer Absicht; ein Aspekt der selbst-affirmativen Geschichtslosigkeit in der Moderne übrigens. Die betriebs- und marktwirtschaftliche Logik war jedoch bis ins 20. Jahrhundert hinein selbst in den entwickeltsten westlichen Ländern bei weitem nicht im heute selbstverständlich gewordenen Sinne durchgesetzt, ebensowenig wie die Demokratie im heutigen Sinne(11). Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die eigentliche marktwirtschaftsdemokratische Dynamik erst entfesselt und die vollgültige Gestalt dieses Systems in den gesellschaftlichen Binnenstrukturen ebenso wie in seiner Form als "Weltsystem" (Immanuel Wallerstein) erst sehr spät herausgebildet.

Die Modernisierungsleistung des Nationalsozialismus bestand also im wesentlichen darin, daß er auf seine spezifische Weise den abstrakten Universalismus der Warenform in die vorgefundenen gesellschaftlichen Strukturen hinein weiterentwickelte. Dabei wurde ein Paradoxon fortgeführt, das sich in allen Modernisierungsgesellschaften schon seit dem späten 18. Jahrhundert gezeigt hatte: nämlich die Tatsache, daß der Universalismus sich zunächst selber mit einer "Partikularität höherer Ordnung" verschmelzen mußte, und zwar eben auf der Linie Volk - Nation - System der abstrakten Arbeit. Gegenüber den vormodernen Partikularitäten der buntscheckig gewachsenen familialen, lokalen und feudalen Binnenstrukturen heftete sich der Universalismus an die neuen Meta-Partikularitäten des nationalökonomischen abstrakten Raumes. Der Universalismus behielt und entwickelte so selbst eine nicht-universalistische Form, die Gleichheit grenzte sich ab von "anderer" Gleichheit und die Freiheit von "anderer" Freiheit; die Konkurrenz behielt ein formierendes Moment von Nicht-Konkurrenz, aber ein aus der nationalen Meta-Konkurrenz selber abgeleitetes Moment. Indem der Nationalsozialismus Freiheit und Gleichheit in diesen nationalökonomischen Raum hinein weiterentwickelte, mußte er mit besonderem Nachdruck auf diesem formierenden Moment beharren.

Die Mittel waren also die "totalitäre" Diktatur (im Unterschied zur erst halbmodernen Honoratioren- und Stände-Herrschaft) und das "Führerprinzip", die modernisierenden Formen des Autoritarismus. Daß es sich dabei, sieht man von den phantastischen ideologischen Besetzungen (Germanentum usw.) ab, um kein Spezifikum des Faschismus und Nationalsozialismus handelte, ist evident. Ein synthetischer Führerkult und parallel dazu die Formierung einer gleichförmigen "Masse" als andere Seite desselben Prozesses zieht sich bis heute durch die Modernisierungsgeschichte nahezu aller Länder, ganz unabhängig von der ideologischen Couleur(12). Nachdem der unter ideologischen (und mörderischen) Hüllen verborgene Zweck erreicht war, konnte und mußte die totalitäre Verpackung und Verpuppung nach dem Zweiten Weltkrieg abgestreift werden. Wie bei jedem Modernisierungsschub wurde das äußerliche, diktatorische Element nicht überwunden, sondern verinnerlicht. Die zwanghafte, gewaltsame, "totalitäre" Angleichung der Menschen an das hochentwickelte marktwirtschaftsdemokratische Reproduktionssystem in seiner neuen, weitaus umfassenderen Gestalt (erst jetzt erfaßte das betriebswirtschaftliche Kalkül die letzten traditionellen Produktionszweige) konnte nach dem Zweiten Weltkrieg "von selber" funktionieren, weil die Zurichtung gelungen war. Ganz im Gegensatz zur demokratischen Ideologie verschwand das "totalitäre" Moment nicht, sondern verlagerte sich auf die innere Selbstdisziplin des weiterentwickelten Warensubjekts: von nun an konnte jeder sein eigener Hitler oder Stalin sein im Namen des subjektlosen demokratischen Totalitarismus, d.h. der bis in die gesellschaftlichen Poren vorgedrungenen Waren- und Geldform. Nachdem dieses Stadium durchlaufen ist, führt die neue Strukturkrise am Ende des 20. Jahrhunderts natürlich nicht zu den alten Modernisierungsdiktaturen zurück. Die atomisierten Warensubjekte stehen dem totalen Universalismus der Warenform gegenüber, und sie reagieren gewaltsam und irrational, aber eben als das, was sie geworden sind, d.h. als Gesellschaftsatome, die nicht mehr zu einem neuen diktatorischen Gesamtzusammenhang formiert werden können. Der Zusammenhang ist ja schon da in Gestalt des abstrakten Universalismus, d.h. des vollendeten warenproduzierenden Systems, dessen Herrschaftskriterien immanent nicht kritisierbar sind, aber jetzt auch nicht mehr weiterentwickelt werden können.

Die fordistische Zwangsformierung des Nationalsozialismus stellte in Deutschland den letzten Schub eines "nachholenden" Sonderwegs der Modernisierung dar(13). Die ideologische Konstruktion des "Volkes", deren Wurzeln bis tief ins 19. Jahrhundert zurückreichen (allerdings auch kaum weiter, denn in keiner vorhergehenden Epoche wurde der Begriff des "Volkes" mit dieser Konnotation gebraucht), diente als Klammer der systemischen Ummodelung von der Technologie bis zur Subjektstruktur, in der die mechanisierte fordistische Produktions- und Freizeitkultur implantiert wurde ("Volkswagen", "Volksempfänger", "Kraft durch Freude" usw.): alles Elemente, die in der späteren BRD in zivilen und kommerzialisierten Formen weiterentwickelt wurden und so erst "zu sich" kamen. Dabei mußte sich freilich auch die ideologische Überhöhung des "Volks"-Begriffs verflüchtigen. Wie die äußerliche totalitäre Diktatur das innerlich totalitäre demokratische Gesellschaftsatom zurückließ, so die "völkische" Formierung ein Patchwork von Interessen-Segmenten, die sich gerade durch die fordistische Massenproduktion herausgebildet hatten. Das "Volk" ist eben seinem Begriff nach keine "Gemeinschaft", sondern synthetisches Produkt und Durchgangsideologie abstrakter Vergesellschaftung. Auch das Konstruktionselement des "Volkes" rutschte in die abstrakte Allgemeinheit der vollendeten Warenform. In der heute aufscheinenden Krise dieser Form selber kann das auseinanderfliegende Gefüge der fordistisch modernisierten Interessen-Konkurrenz ebensowenig noch einmal "völkisch" zusammengehalten werden, wie die Formen der Modernisierungsdiktatur zurückzuholen sind.

Dasselbe Problem stellt sich hinsichtlich des Begriffs der "Arbeit". Auch in dieser Hinsicht hat der Nationalsozialismus modernisierend gewirkt, indem er ideologisch parallel zur Arbeitsvergottung der Arbeiterbewegung(14) die ständischen Strukturen des Wilhelminismus niederwalzte, die Formierung der Gesamtgesellschaft zu einem Zuchthaus abstrakter industrieller Arbeit und damit die Ausdehnung betriebswirtschaftlicher Rationalität (vor allem in Handwerk und Landwirtschaft) vorantrieb. An die Stelle des ständischen Fabrikherrn und des individuellen Besitzbürgers trat der höheren Instanzen des abstrakten gesellschaftlichen Raums verpflichtete "Industrieführer", der dann in der BRD zum modernen Manager mutieren konnte. Die säkulare Religion der abstrakten Arbeit konnte so in ihr industrielles Reifestadium, in das Stadium fordistischer Vergesellschaftung eintreten. Diese letzte Stufe des warenförmigen Industrialismus mobilisierte folgerichtig noch einmal alle ideologischen Elemente der industriellen Arbeitsverherrlichung mit Abgrenzungen und Feindbildern, wie sie zwischen den Kraftfeldern von Arbeiterbewegung, Anarchismus und Faschismus diffundierten: nämlich gegen die Klassen der wirklichen oder vermeintlichen "Nichtarbeiter" und gegen das "zinstragende Kapital". Der Nationalsozialismus amalgamierte die arbeiterbewegte Ikone des "ehrlichen Arbeiters" mit der Gestalt des modernisierten "Industrieführers" in den fortgeschrittensten Produktionszweigen der Automobil- und Rüstungsindustrie und mit der verkürzten Kritik des Geldes in Gestalt des Zinses, wie sie in zahlreichen Variationen seit Proudhon bei Rudolf Steiner, Silvio Gesell und anderen vorgefunden und in die NS-Ideologie aufgenommen werden konnte. Das "schaffende Kapital" einer nationalökonomisch durchformierten industriellen Arbeitsgesellschaft wurde gegen das "raffende Kapital" des Kreditsystems ausgespielt, das gleichzeitig antisemitisch biologisiert wurde(15).

Diese spezifische historische Formierung des abstrakten Arbeitssystems läßt sich noch viel weniger zurückholen als die dazugehörigen Momente der fordistischen Modernisierungsdiktatur und der "völkischen" Fundierung. Ironischerweise hat die totalitäre Formierung der Arbeit zu einer Inflationierung des Arbeitsbegriffs geführt. Auch die Funktionen des vermeintlich "raffenden" Kapitals wurden vergesellschaftet und dem totalen Arbeitsuniversum eingegliedert, das sich inzwischen sogar bis in die Zonen der Intimität und Sexualität ausgedehnt hat. Wenn aber nahezu alle menschlichen Lebensäußerungen und gesellschaftlichen Tätigkeiten "Arbeit" sind oder dazu gemacht werden können, dann verliert die einstige Durchsetzungsideologie der "ehrlichen" (industriell fundierten) Arbeit ihren Sinn, weil das Abgrenzungskriterium hinfällig wird und im Prinzip alle immer schon "Arbeiter" sind, das Management genauso eingeschlossen wie die hart arbeitenden Spekulanten, die Politiker, Schauspieler oder berufsmäßig "schönen Frauen". Jeder "arbeitet", und alle "arbeiten an sich selbst" im Namen des arbeitsgesellschaftlichen Erfolgs. Gleichzeitig sind die Formen des zinstragenden Kapitals sowohl von der Seite der Einkünfte aus "angelegtem" Geld als auch von der Seite gewohnheitsmäßiger eigener Kreditaufnahme her in den Alltag und in die Reproduktion der breiten Massen eingedrungen, z.B. in Gestalt der Vermassung von Staatspapieren (der Nationalsozialismus selbst hat dabei einen historischen Schub in der Reproduktion über "fiktives Kapital" ausgelöst), der Lebensversicherung oder des Konsumenten- bzw. Überziehungskredits. Schon die Ausformung des fordistischen Endstadiums nach dem Zweiten Weltkrieg hat so die militante Ideologie des "schaffenden Kapitals" und des industriell beschränkten Arbeitsbegriffs gegenüber den alten Formen der "Nichtarbeit" verblassen lassen.

Erst recht ist es die Krise der abstrakten Arbeit selbst, in der die neuen Produktivkräfte der Mikroelektronik die industrielle menschliche Arbeitskraft systematisch entwerten und gleichzeitig die ökologische "Zerstörung der Welt durch Arbeit" manifest wird, während die Ausdehnung des Arbeitssystems (und damit des warenförmigen, industriellen Arbeitsbegriffs) auf die infrastrukturellen Bereiche des "tertiären Sektors" (Gesundheitswesen, Sozialarbeit, Bildung und Kultur etc.) am kapitalistisch "unproduktiven" Charakter dieser Sektoren und daher an ihrer "Finanzierungskrise" zu scheitern droht. Einerseits ist also alles "Arbeit" (weil alles "Markt" ist und somit Geldeinkommen bzw. Geldfrage), andererseits ist "Arbeit überhaupt" durch und durch (und bis tief ins Massenbewußtsein hinein) obsolet geworden. Alle wissen oder ahnen wenigstens, daß dieses System und die eigene Überlebensfähigkeit in diesem System überhaupt nur noch durch das fiktive Kapital des Staatskredits, durch die scheinbare Verselbständigung des Geldkapitals und durch die globale Spekulation notdürftig aufrechterhalten werden. Die eigene Behauptung in der totalen Konkurrenz muß dem Rechnung tragen. Für die in solchem Kontext sozialisierten Subjekte hat sich der Bezug zur "Arbeit" ebenso partikularisiert und atomisiert wie der Bezug zum "Volk". Im Prinzip ist die Art der Einkommensquelle nicht weniger gleichgültig als die Art der Zurechnung zu einem Interessensegment; beides kann lebensgeschichtlich häufig wechseln(16). Auf diesem gesellschaftlichen Boden ist die alte industrielle Arbeitsideologie brüchig und die Feier eines "schaffenden Kapitals" nur mehr skurril. In der "Krise der Arbeitsgesellschaft" taugt die "Arbeit" nicht mehr als mobilisierender Bezugspunkt. Eine gesamtgesellschaftliche Formierungspotenz ist auf diesem Wege nicht mehr zu gewinnen.

Auch Realität und Begriff der "Nation" unterliegen derselben historisch-genetischen Logik. Ebenso wie "Arbeit" und "Volk" reicht die "Nation" im heute landläufigen Sinne kaum weiter als bis ins 19. Jahrhundert zurück. Die moderne Konnotation dieses Begriffs bezieht sich eindeutig auf den Herausbildungsprozeß des abstrakten ökonomischen Raums warenproduzierender Systeme; die politische und "völkische" Konstitution von "Nationen" ist die andere Seite der Konstitution von marktwirtschaftlichen, industriellen "Nationalökonomien". Während aber die wichtigsten westeuropäischen Nationen ihre moderne, politisch-republikanische Konstitution schon länger ausgeformt hatten, waren bekanntlich Deutschland und Italien in dieser Hinsicht späte Nachzügler. Der Wilhelminismus verband die vormodernen Elemente einer Stände- und Adelsherrschaft anachronistisch mit der industriellen Konstitution eines nationalökonomischen Universalismus. Das wilhelminische "Vaterland" war insofern ein historischer Zwitter, in dem der Nationalbegriff noch eine personale bzw. feudale Konnotation besaß. Der Nationalsozialismus räumte gerade in dieser Hinsicht mit den nostalgischen Momenten der Weimarer Republik gründlich auf und modernisierte auch den Nationalbegriff. Die Auswechslung der "Kaisertreue" durch die "Führergefolgschaft" war weitaus mehr als bloß ein äußerlicher Wechsel in einer personalen Bestimmung der Nation. Der "Führer" zeigte sich nicht mehr wie der "Kaiser" als persönliche, patriarchale Vaterfigur, sondern als entrückte, abstraktifizierte Funktionsgestalt, als synthetisches Wesen der Systemrepräsentanz. Dem entsprach die Durchfunktionalisierung des nationalökonomischen Raumes als "Universalisierung" der Nation in dem Sinne, daß die Nation nun als Darstellungsform des Universalismus der Warenform modernisiert wurde. Der Nationalsozialismus beseitigte also die widersprüchliche Ungleichzeitigkeit des Wilhelminischen Nationalbegriffs und verwandelte die Nation endgültig in das Bezugssystem von betriebswirtschaftlichem Kalkül, abstrakter Arbeit, Staatskredit und politischer Regulation im Kontext fordistischer Strukturen (und insoweit war der Nationalsozialismus eminent sozialdemokratisch; vielleicht sogar sozialdemokratischer als die kaiserlich-königliche Sozialdemokratie selbst, weil militanter, moderner und konsequenter).

Die heutige Krise ist aber keine Krise aus einem Mangel an nationalökonomischer Kohärenz mehr, sondern umgekehrt eine Krise der nationalökonomischen Kohärenz selber. Denn dieselben neuen ("postfordistischen") Produktivkräfte, die System, Begriff und Ethik der abstrakten Arbeit obsolet gemacht haben, ließen auch die Reproduktion des warenproduzierenden Systems über die nationalökonomische Form hinauswachsen. Das Stichwort der "Globalisierung" markiert eine neue Qualität der Internationalisierung sowohl der betriebswirtschaftlichen Produktion (globale Zerlegung einzelner Produktionsprozesse) als auch der Finanzmärkte und der Kreditsysteme. Die Warenproduktion, deren von Immanuel Wallerstein historisch-retrospektiv analysierter Charakter als "Weltsystem" sich bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eher als virtueller bestimmen läßt, tritt in die Phase einer Unmittelbarkeit des Weltkapitals ein und wird erst jetzt zum realen "Weltsystem" im eigentlichen Sinne. Damit aber entfallen alle relativen "Garantien", die von der bisherigen nationalökonomischen Kohärenz in sozialer und ökonomischer Hinsicht erwartet werden konnten. Kapitalistisches Kalkül und Nationalismus lassen sich nicht mehr vermitteln. Wie auf allen anderen Ebenen ist auch diese Entwicklung auf der Linie des marktwirtschaftsdemokratischen Prozesses unhintergehbar, und demzufolge die "Nation" im alten Sinne genausowenig zurückzuholen wie alle anderen historischen Durchgangsformen des warenproduzierenden Systems.

Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die Anlagerung des abstrakten Universalismus der Warenform an den Komplex Arbeit - Volk - Nation aufgelöst worden ist (oder zumindest unter unseren Augen aufgelöst zu werden beginnt). Die gesellschaftliche Kohärenz auf dieser Linie zerfällt. Es zeigt sich jetzt, daß der Widerspruch von abstraktem Universalismus und moderner nationalökonomischer Partikularität nicht auf ein Gleichgewicht zusteueren konnte, sondern in seiner blinden Dynamik auf die Selbstzerstörung der warenproduzierenden Menschheit zutreibt. Der systemische Zusammenhang von Arbeit, Volk und Nation ist einerseits durch den abstrakten Universalismus erst synthetisch hergestellt worden(17); dieser Zusammenhang wird aber andererseits durch denselben Universalismus auf höherer Stufe wieder zerrissen. Die scheinbar festgefügte Identität von Allgemeinheit der Warenform und nationaler "Partikularität höherer Ordnung" im Kontext des abstrakten nationalökonomischen Raumes platzt auf. Der abstrakte Universalismus tritt in sein Endstadium ein, nicht nur im räumlichen Sinne, indem er sich als unmittelbare Globalisierung der Warenform darstellt, sondern gleichzeitig als Verselbständigung von allen Regulationsmechanismen und als Abheben von allen sozialen Gefügen und von allen kulturellen Amalgamierungen.

Der auf diese Weise entrückte Universalismus der Ware wird zu einer Art "himmlischem Führer" ohne Subjektivität, der erst jetzt endgültig auch zum "inneren Meister" jedes vereinzelten Einzelnen avanciert. Die abstrakte Allgemeinheit der Warenform und ihrer Gesetze wird zu einem totalitären Bezugssystem neuer Ordnung, das nicht mehr subjektiv (z.B. durch Politik, Kultur, soziale Zusammenhänge, Geschichte) "verunreinigt" ist. Dieser "entkoppelte" Universalismus entspricht erst jetzt völlig seinem Begriff, er ist nunmehr abstrakt im reinen Sinne, Universalismus sans Phrase. Dem entspricht auf der anderen Seite, auf der Seite der Subjekte, die komplementäre Totalisierung der zusammenhanglosen Partikularität. Die Subjekte fallen aus den kraftlos werdenden Feldern von Arbeit, Volk und Nation heraus, die nicht länger vom Universalismus der Warenform gespeist werden. Die schwerelos gewordenen, entkoppelten Partikularitäten purzeln durcheinander und stoßen katastrophisch aneinander, während sie hilflos dem Kraftfeld der entrückten totalen Warenform ausgeliefert bleiben. Solange dieses Feld nicht ausgeschaltet wird, kann es keine historische Formierung und keine regulierbare gesellschaftliche Kohärenz mehr geben. Alle Ideologeme, Politikformen, Zielsetzungen, Programme und Vorgehensweise der Modernisierungsgeschichte mögen so irgendein Revival erleben, alles wird noch einmal durchprobiert(18), aber nichts davon kann mehr bis zur gesamtgesellschaftlichen Hegemonie aufgeblasen werden, alles verbleibt im Zustand der (mehr oder minder auffälligen und sich anstrengenden) Partikularität. Denn das Ziel ist schon erreicht, universeller kann die Warenform nicht mehr werden, ebensowenig wie die Subjekte noch partikularer werden können.

Vor diesem Hintergrund muß auch der neue Rechtsradikalismus gesehen werden. Er ist ein Krisenphänomen, aber unter den neuen Bedingungen, und insofern ein Krisenphänomen der auseinanderfallenden Marktwirtschaftsdemokratie selbst. Gerade die totale Universalisierung ihrer Basisformen führt sie selber ad absurdum. Der alte Rechtsradikalismus war ein Phänomen der Aufstiegs- und Durchsetzungskrise des warenproduzierenden Systems, das noch einen historischen Entwicklungsspielraum vor sich hatte; er war eine Funktion des "Hineinwachsens" in das noch unausgefüllte Kleid des abstrakten Universalismus auf der Stufe von Arbeit, Volk und Nation. Der neue Rechtsradikalismus ist schon selber eine Erscheinung im Platzen dieses Kleides, ein Phänomen des Durchdrehens der nicht mehr verallgemeinerbaren Partikularität von Konkurrenzsubjekten, die immer schon dem totalisierten, nicht mehr zu integrativen Leistungen fähigen abstrakten Universalismus der Ware und des Geldes gegenüberstehen. Nicht von einer "Rückkehr der Nation" (Günther Nenning) kann so gesprochen werden, sondern bloß von der "Rückkehr des Nationalismus" in einer allerdings völlig veränderten, selber partikularistischen Gestalt(19) auf dem Boden des verwildernden Verteilungskrieges. Ethno-nationalistische und völkische Parolen ebenso wie die Beschwörung einer "Ehre der Arbeit" können nur noch die Sprengung der Nationalökonomien vorantreiben, Elemente der Destabilisierung ausbilden und der Krise Verlaufsformen geben, aber sie sind nicht mehr zur staatlichen Allgemeinheit auszuentwickeln(20). In diesem Zusammenhang verlieren auch Rassismus und Antisemitismus ihre Kraft zu einer verallgemeinernden irrationalen Welt- und Krisenerklärung. Die wiederkehrenden Bruchstücke rassistischer und antisemitischer Ideologien ordnen sich in das Chaos der Partikularitäten ein, indem sie einerseits direkt zum (prekären) Legitimationsmittel in der totalen Konkurrenz herabgesetzt werden (statt einer irrationalen Scheinaufhebung der Konkurrenz dienen zu können), und indem sie andererseits in der zunehmend willkürlichen Identitätsstiftung neben beliebige andere Verarbeitungsformen treten: so z.B. religiöse Sektenbewegungen mit internationalisierter Loyalitätsstruktur, deren Zulauf größer als derjenige des neuen Rechtsradikalismus zu sein scheint; kriminelle Bandenbildung und Strukturen von Mafiaherrschaft; Subkulturen von Esoterik, Dauertherapien, Drogensucht und Sexualität etc. Alle diese Erscheinungen können sich mit dem Rechtsradikalismus überschneiden, aber im Unterschied zu den 20er Jahren können sie von diesem nicht mehr dominiert und überformt werden, sondern treten als gleich-gültige Formen auf derselben Ebene der Beliebigkeit neben ihn (und neben die westlich-demokratische "Politik" überhaupt, zu deren Zersetzungs- und Verwesungsprodukten der neue Rechtsradikalismus gehört). Man könnte auch sagen, daß der irrationalistische Fremdenhaß, Rassismus und Antisemitismus selber zu einer Krisenfunktion des marktwirtschaftsdemokratischen Rationalismus geworden ist und so die Irrationalität des westlichen Rationalismus in dessen Endstadium enthüllt. In der vollendeten Marktwirtschaftsdemokratie lauert die Barbarei immer und überall.

Es mag als frivol erscheinen, die jetzige Krise als Hinübergleiten der vollendeten und sich zersetzenden Marktwirtschaftsdemokratie in die Barbarei zu bestimmen. Liegt die eigentliche Barbarei der Moderne in Gestalt des Nationalsozialismus nicht hinter uns, und kann es etwas geben, das noch barbarischer wäre als der Holocaust? Aber darum geht es nicht. Der Holocaust als mit modernsten Mitteln durchorganisierte industrielle Menschenvernichtung ist nicht mehr zu übertreffen, und er wird sich in dieser Form auch nicht wiederholen; insofern hat der Nationalsozialismus tatsächlich etwas singulares an sich. Was aber die Barbarei im allgemeinen angeht, so lassen sich ihre Elemente in allen Durchsetzungsschüben der Modernisierungsgeschichte finden. Völkermord und Massenmord war gerade den "alten westlichen Demokratien" nie etwas fremdes, wenn sie auch immer rationalistische Motive hatten (die Irrationalität des Rationalismus schimmerte von Anfang an durch). Die Barbarei in der Modernisierung läßt sich nirgendwo rechtfertigen. Der Unterschied ist nur der, daß in der Vergangenheit aus den barbarischen Schüben immer wieder die Momente des Zivilisatorischen im positiven Sinne hervorgehen konnten; die doppelgesichtige Moderne besaß trotz ihrer mörderischen Durchsetzungsgeschichte immer noch Spielraum für die "zivilisatorische Mission des Kapitals" (Marx). Immerhin ist doch sogar der Nationalsozialismus durch die zivile Marktwirtschaftsdemokratie der BRD abgelöst worden, in der nach den ungeheuren Leiden und Verbrechen die Ernte der fordistischen Prosperität in jenem kurzen sibirischen Sommer der Nachkriegszeit eingefahren werden konnte. Damit ist es jetzt für immer vorbei. Es gibt keinen zivilisatorischen Schub mehr, und deswegen sieht auch die Barbarei anders aus. Die Marktwirtschaftsdemokratie selbst zerfällt, weil ihr "Verwirklichungs"-Horizont überschritten ist, und sie selbst wird barbarisch. Die Barbarei kann nicht mehr im Maßstab von "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" auftreten, aber als Funktion der verwildernden demokratischen Konkurrenz und der demokratischen Identitätskrise setzt sie sich in den Segmenten und Subsystemen der marktwirtschaftlichen Reproduktion fest. Mord, Terror, Wahnsinn, Rassismus und zähnefletschende Irrationalität marschieren nicht mehr im Gleichschritt nach Osten oder sonstwohin, sondern wirken in den Poren des kapitalistischen Alltags und seiner medialen Spiegelung. Der Neue Rechtsradikalismus ist signifikant für eine vielfältige Verallgemeinerung der Barbarei in den demokratischen Strukturen, und aus dieser Barbarisierung führt kein Weg mehr zu irgendeiner marktwirtschaftlichen Zivilität.


Die Reiche des Bösen

In demselben Maße, wie sich die auf ihrem eigenen Boden unlösbaren inneren Widersprüche der Marktwirtschaftsdemokratie krisenhaft zuspitzen und das historische Ende dieser Vergesellschaftungsform der Moderne ankündigen, erzeugen die demokratischen Prozeduren selbst die Potentiale des neuen Rechtsradikalismus. Diese Potentiale entwickeln sich auf verschiedenen Ebenen, und ob sie sich zu einem Gesamtkomplex oder zu einem "gesellschaftlichen Lager" kristallisieren können, hängt natürlich auch vom empirischen Charakter dieser Potentiale ab. Letztlich widerspricht es dem partikularistischen Charakter der neuen Barbarei, sich noch einmal als gesamtgesellschaftliches Hegemonialprojekt auf den verschiedenen Ebenenen des Sozialen, Ökonomischen, Sozialpsychologischen, Ideologischen, Politischen und Organisatorischen zusammenzufassen. Dafür ist die Atomisierung der Subjekte und die Segmentierung der Interessen zu weit fortgeschritten. Aber die verschiedenen gesellschaftlichen Konstitutionselemente des neuen Rechtsradikalismus müssen dann erst recht genau untersucht und beobachtet werden. Ironisch könnte man diese Elemente die heraufdämmernden "Reiche des Bösen" nennen, an denen sich auch dann, wenn sie nicht mehr zu einer kohärenten und reproduktionsfähigen Gesamtkraft zusammenfließen, jeweils die Übergänge der zerfallenden Marktwirtschaftsdemokratie in die Barbarei markieren lassen.

Zentral sind in einer bis in die Poren ökonomisierten Gesellschaft selbstverständlich die ökonomische Krise und ihre sozialen Folgen(21). Die Schreckensnachrichten aus großen Teilen der ehemaligen Dritten Welt, der Zusammenbruch des Staatssozialismus und die bisher langsam aber unaufhaltsam wachsende strukturelle Krise im Westen selber haben ein allgemeines Klima der Angst erzeugt, das in der zweiten Hälfte der 80er Jahre nur mühsam durch die Pestparty des spekulativen Kasino-Kapitalismus und durch den peinlichen Fasching der Yuppie-Welle kaschiert werden konnte, das jetzt aber gewaltsam ins öffentliche Bewußtsein durchbricht. Auch wenn die riesige strukturelle Massenarbeitslosigkeit nicht mechanisch und unmittelbar bei den Betroffenen zu rechtsradikalen Verarbeitungsformen führt, so bildet sie doch den stummen Hintergrund, vor dem die rechtsradikalen "Blumen des Bösen" aufblühen. Wesentlich dabei ist, daß die Repräsentanten der offiziellen Gesellschaft (Management und Politik) deutlich zu erkennen geben, daß sie keine Rezepte mehr gegen die selbstläufige Entwicklung des globalen Marktsystems und gegen die Zwänge der Konkurrenz haben, und daß sie die Dinge treiben lassen. Die wachsende Angst und Unzufriedenheit in den wegbrechenden Segmenten der Lohnarbeit findet kein Ventil durch die demokratischen Institutionen mehr, der soziale Kesseldruck steigt. Die allgemeine Erwartung geht dahin, daß es nur noch schlechter werden kann, ohne daß irgendeine Hoffnung oder Alternative in Sicht wäre, nachdem soeben das vermeintliche östliche Gegensystem (in Wirklichkeit ein System nachholender Modernisierung und Kapitalisierung) für immer untergegangen ist. So führt die immer deutlicher werdende Systemkrise der Marktwirtschaftsdemokratie fast zwangsläufig dazu, daß die Systemkriterien selber gerade bei den manifesten Verlierern (oder bei denen, die sich vom Krisenprozeß in irgendeiner Weise bedroht fühlen) umso krampfhafter festgehalten und sogar überbetont, aber mangels Möglichkeit zur weiteren "rationalen" Interessenverfolgung irrational und zunehmend aggressiv besetzt werden. Die Heuchelei der demokratiebeflissenen offiziellen Publizisten, Soziologen und Kommentatoren besteht gerade darin, daß sie pflichtschuldigst ihrer Besorgnis Ausdruck geben, aber gleichzeitig so tun, als würden sie in den Äußerungen des Rechtsradikalismus und der Barbarei nicht die eigenen marktwirtschaftsdemokratischen Kriterien (abstraktes Erfolgsdenken, Konkurrenzinteresse, Behauptungswillen auf dem Markt etc.) wiedererkennen. Die liberale Niedertracht, die den Markt zum alleinseligmachenden Götzen erklärt hat, gleichzeitig aber von einer wachsenden Masse nicht mehr marktfähiger Menschen dreist erwartet, daß sie sich "zivilitär" in ihr Schicksal und in die staatliche Armutsverwaltung fügen, gießt Öl in das Feuer des Rassismus und Rechtsradikalismus.

Und die soziale Angst ist nur allzu begründet. Die absolute Schranke marktwirtschaftlicher Reproduktion, das "Umkippen" des Verhältnisses von Rationalisierung (Verwissenschaftlichung) einerseits und Ausdehnung der Märkte andererseits, führt zu immer schnelleren Rückkoppelungen auf das System der abstrakten Arbeit, und die ungleichmäßigen (und ungleichzeitigen) Verlaufsformen der Krise greifen tief in die internationalen Arbeitsteilungsstrukturen ein. Gleich von mehreren Seiten her rollt die Bedrohung auf die deutschen und mitteleuropäischen Zentralsektoren der Lohnarbeit zu. Allein schon die Zusammenbruchskrise der osteuropäischen Volkswirtschaften hat nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" die Rückkoppelungen der globalen Krise auf den bisherigen Weltmarktgewinner BRD und auf ganz Westeuropa sprunghaft gesteigert. Nachdem die lächerlichen Illusionen eines marktwirtschaftlichen "Aufschwungs" und "neuer Märkte" im gesamten Osten verflogen sind, haben die östlichen Krisengesellschaften mit einem brutalen sozialen Ausgrenzungsprozeß nach konkurrenzökonomischen Kriterien begonnen, der einen Massenexodus heraufbeschwört. Laut Umfragen tragen sich allein in Ländern wie Polen, der Tschechei und Ungarn (ganz zu schweigen von Rumänien, Bulgarien, Ex-Jugoslawien, Albanien und dem Großraum der GUS) zwischen 50 und 70 Prozent der jüngeren Bevölkerung mit Flucht- bzw. Auswanderungsgedanken. Hier wird schon der erste Widerspruch der westlichen, marktwirtschaftsdemokratischen Reaktionsformen auf den Zusammenbruch im Osten deutlich: auf der einen Seite wird stur das vermeintliche westliche Siegermodell empfohlen bzw. sogar mit wirtschaftlichen und politischen Pressionen durchgesetzt, auf der anderen Seite wird man mit den katastrophalen sozialen Folgen nicht fertig. Der Immigrationsdruck allein schon trägt die soziale Destabilisierung in den Westen. Die Flüchtlingswellen schmelzen die westlichen Sozialfonds ab, erhöhen auf dem ohnehin bis zum Zerreißen angespannten Wohnungsmarkt den Nachfragedruck und auf dem längst prekären Arbeitsmarkt den Angebotsdruck. Zwar ist es richtig, daß viele erbärmliche Billiglohnjobs in den kommerziellen Dienstleistungssektoren bisher von den westlichen Lohnarbeitern verweigert werden, aber der Massenzustrom wird diese Jobs nicht nur als letzte "Reserve" wegnehmen, sondern gleichzeitig Druck auf das allgemeine Lohnniveau ausüben bzw. die Schwelle der "Zumutbarkeit" senken(22). Außerdem drängt das zuströmende Angebot längst auch in andere Sektoren, vor allem in der Bauindustrie. Legale (von der Bundesregierung vertraglich zugelassene) Baukolonnen aus Polen, Ungarn usw. und ein Mehrfaches an illegaler Baubeschäftigung durch osteuropäische Zuwanderer konkurrieren das inländische Arbeitsangebot nieder(23). Inzwischen verlagert sich das konkurrierende Angebot durch hochqualifizierte Zuwanderer zunehmend auch auf die bisherigen Hochlohnsektoren. So entspricht es schlicht den Tatsachen, daß der Zustrom die Konkurrenz hinsichtlich der Sozialfonds (deren Kassen sich leeren), auf dem Wohnungsmarkt und auf sämtlichen Arbeitsmärkten bis zur Unerträglichkeit verschärft. Andererseits muß der Westen einen gewissen kanalisierten und bürokratisch reglementierten Zustrom zulassen, wenn die Entwicklung in Osteuropa nicht völlig außer Kontrolle geraten soll.

Dieselbe Widersprüchlichkeit setzt sich auf den Exportmärkten fort. Während die Importfähigkeit der osteuropäischen und der russischen Ökonomien mangels Konkurrenzfähigkeit und damit mangels Devisen gegen Null tendiert(24), versuchen sie ihre eigenen Exportprodukte zu Dumpingpreisen (und zwar mittels Notenpressen-Inflation oder Wechselkurs-Manipulation hochsubventioniert) auf die westeuropäischen Märkte zu werfen, um wenigstens ein Minimum an Devisen für die lebensnotwendigsten Importgüter zu verdienen, einen Teil ihrer Beschäftigung zu halten und ihre Bevölkerungen nicht vollends zum Aufstand gegen die importierte Marktwirtschaftsdemokratie zu reizen (im Unterschied zu realen Gütern herrscht bei den ideologischen West-Importen kein Mangel). Die EG-Staaten, längst selber ins Messer der Rezession gelaufen, schwanken zwischen verbaler Ermunterung, garniert mit neoliberalem Altersschwachsinn, und realem Versperren des Zugangs zu ihren eigenen wegbrechenden Märkten. Derselbe Grund, der sie hinsichtlich der Immigration zu gewissen Zugeständnissen zwingt, erfordert allerdings auch ein Minimum an Nachgeben in der Exportfrage, sodaß für die Ostprodukte wenigstens ein Spalt breit aufgemacht werden muß. Durch diesen Spalt quillt aber jetzt schon eine Lawine von Billigstahl, Zement, Textilien, Schuhen, Lebensmitteln usw., von der die ohnehin vor der ostasiatischen Konkurrenz in die Knie gehenden Montanindustrien, die Textil- und Bekleidungsindustrien, die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrien in der EG noch einmal schwer getroffen werden(25). Unter diesem Verzweiflungsansturm östlicher Billigprodukte knicken in den westlichen Krisenbranchen weitere Beschäftigungssegmente weg.

Der dritte Großangriff aus den Zusammenbruchsökonomien Osteuropas auf die westeuropäische Lohnbeschäftigung läuft über das Angebot von Joint Ventures, für die mit harten Sonderkonditionen westliches Investitionskapital nach Osteuropa, nach Rußland, in die Ukraine usw. gelockt werden soll. In der typischen Manier von Verliererstaaten oder prekären Newcomern auf dem Weltmarkt wuchern die Russen und Osteuropäer ausschließlich mit dem Pfunde des Billiglohns, weil sie sonst fast nichts mehr in die Waagschale zu werfen haben. Zum einen haben sie durch die segensreichen liberalen Reformen und die dadurch erzeugte Massenarbeitslosigkeit das Lohnniveau der verbliebenen Beschäftigung brutal herabgedrückt, zum anderen kommt ihnen wie bei den Exporten für diese Option der niedrige Wechselkurs ihrer Währungen zustatten, der gerade durch ihren Verliererstatus heruntergeprügelt worden ist und in der entstandenen verzweifelten Lage oft sogar noch weiter heruntermanipuliert wird(26). Zwar stellt sich immer deutlicher heraus, daß die scheinbar phantastischen Kostenvorteile bei den Löhnen in Osteuropa durch niedrige Produktivität, marode Infrastrukturen, vorsintflutliche Bankensysteme und Abrechnungsformen sowie überdies durch politisch-militärische Risiken (Ethno-Nationalismus) wieder aufgefressen werden; aber trotzdem, und weil auch hier der Wunsch der Vater des Gedankens ist, giert das unter dem Kostendruck sich windende westdeutsche und westeuropäische Management mit großen Augen nach den vermeintlichen Schlaraffenländern des Niedriglohns. Wenn ein Russe siebzigmal und ein Ungar immer noch zehnmal billiger ist als ein Deutscher, dann wirkt dieses Angebot zumindest in einigen Teilbereichen verlockend. So bleibt zwar der westliche Investitionsfluß weit unter einem Volumen, das die östlichen Volkswirtschaften als ganze hochziehen könnte; aber im Verein mit den anderen Konkurrenzfaktoren drückt die sektoral nach Osteuropa ausgelagerte billige Lohn- und Komponentenfertigung zusätzlich auf die Beschäftigung im Westen.

Der dreifache Angriff aus Osteuropa auf das mitteleuropäische Lohn- und Beschäftigungsniveau wird ergänzt durch den anhaltenden Konkurrenz- und Kostendruck aus Japan, aus den südostasiatischen "Tigerstaaten" und aus Südchina. Auch wenn es sich bei alledem nicht um eine historische Verlagerung der kapitalistischen Wachstums- und Reichtumszentren handelt (wie oberflächliche Betrachter meinen), sondern nur um eine bestimmte Etappe des globalen Krisenprozesses, der auch auf die Billiganbieter zurückschlagen wird (im Falle Osteuropas handelt es sich bei den Billigangeboten ja schon um ein ökonomisches Zerfallsprodukt), so bleibt als Resultat dieses Zangengriffs doch die große Strukturkrise in der EG, deren weitere Integration dadurch abermals nachgelagerte Krisenprozesse auslösen wird. Denn unter dem Kostendruck werden neue Rationalisierungskonzepte und nachfolgende Rationalisierungsschübe ("Lean Production") zu hohen Kapitalkonzentrationen und damit zu neuen Massenentlassungen führen. Die "heißesten" Kandidaten für das nächste Massensterben sind z.B. die Zulieferer der Automobilindustrie und die Finanzdienstleister (Banken, Sparkassen und Versicherungen). Vor allem setzen die neuen Rationalisierungskonzepte nicht nur einfache Lohnarbeiter, sondern auch große Teile des Management-Mittelbaus auf die Straße; so müssen bei VW und Daimler-Benz tausende von Abteilungsleitern über die Klinge springen. Rechnet man alle Subventionierungen und kommerziell noch durchgezogenen, aber bereits unrentablen Sektoren heraus, dann ergibt sich allein für Gesamtdeutschland mittlerweile ein Potential der Arbeitslosigkeit zwischen 5 und 10 Millionen, also möglicherweise über den Einbruch der großen Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren hinausgehend.

Dieses Drohpotential erzeugt also Angst, auch bei den jetzt noch nicht Betroffenen, und die ohnehin aus dem Normalzustand der Konkurrenz immer aufsteigende Angst verdichtet sich zu einem gesamtgesellschaftlichen Klima der Angst, ohne daß aus dem "geistigen", theoretisch-konzeptionellen Sektor der Gesellschaft noch irgendeine Alternative oder glaubwürdige Bewältigungsstrategie formuliert würde. Es entwickelt sich daher im Denken wie im Handeln und Verhalten ein Spektrum der Ausgrenzung gegen soziale Segmente, die jeweils als "die anderen" bestimmt werden. Die Grenze zwischen moderaten und militanten Verarbeitungsformen ist dabei diffus, sie verläuft zwischen den Hinterkopfparolen "Für uns reicht es noch" und "Für uns soll es noch reichen". Dieses Klima ist sicher eine der Ursachen für den neuen Ausländerhaß, Rassismus und Rechtsradikalismus. Besonders die rassistische Aggression gegen Osteuropäer (wobei anscheinend die Roma als dankbarstes Haßobjekt bevorzugt werden, übrigens auch in Osteuropa selbst) folgt erkennbar direkt den Linien der sozialen Konkurrenz. Die offene Gewalt gegen Asylbewerber ist insofern nur die Spitze des Eisbergs, der sich in den Tiefen der totalen marktwirtschaftsdemokratischen Konkurrenzgesellschaft gebildet hat. Das ideelle "Reich des Bösen", das in diesem Kontext erscheint, ist ein sozialer Verzweiflungsnationalismus, der nicht mehr aus Nationalgefühl und Nationalkultur wie in der Aufstiegsepoche des warenproduzierenden Systems gespeist wird, sondern mit dürren Wirtschaftsparolen auf die Gratifikationen des zerfallenden nationalökonomischen Regulationsraums pocht. Diese Stimmungslage eines postmodernen Nationalismus ist ein Zeichen für das offene Reaktionärwerden der alten Industriearbeiterklasse und für das moralische Verwildern ihrer perspektivlosen Jugend.

Die Herleitung dieses altproletarischen Rechtsradikalismus aus den Verwerfungen der sozialökonomischen Krise muß freilich erstens noch weiter differenziert werden. Viele ältere und industriell alteingesessene Arbeiter, die sich noch den hochfordistischen Speck anfressen konnten (hohe Sparguthaben, hohe Rentenansprüche, Hochlohnbasis selbst bei Arbeitslosigkeit, Möglichkeit des Vorruhestands, Eigenheime etc.), sind überhaupt nicht unmittelbar bedroht und kotzen nur den latent immer vorhandenen proletarischen Spießer- und Stammtischrassismus ebenso wie den pfennigfuchserischen Geiz und Haß gegen Sozialabgaben aus. Diese Pfeffersäcke der Facharbeiterklasse hetzen eher mit gemütlicher Unmenschlichkeit gegen "Asylanten" und entwickeln in ihren Schrebergärten Euthanasie-Phantasien gegen Behinderte, die "kosten", oder nicht weniger gemütvolle Verstümmelungs-Phantasien gegen sexuelle Minderheiten; aber sie wollen ihre verschwitzte "Ehrbarkeit" nicht aufs Spiel setzen und sind strikt gegen unkontrollierte Gewaltausbrüche der von ihnen so genannten "Assis" ("Asoziale"). Heftiger und näher an der Gewaltbereitschaft lodert der rassistische Ausgrenzungshaß schon bei den jüngeren spät- und postfordistischen Arbeitern, die sich noch nicht gesettlet haben, über hohe Konsumstandards (Auto-Fetischismus usw.) teilweise erheblich verschuldet sind und selbst einen bloßen Abbau von Überstunden kaum verkraften können. Die eigentliche Schlägergarde rekrutiert sich jedoch aus einem alkoholisierten Bestand von bereits "herausgefallenen" Ungelernten mit Verwahrlosungstendenzen, die sowieso auf der Suche nach Aggressionsobjekten sind und denen daher die allgemeine rassistische Stimmung entgegenkommt; sie entsprechen selber am ehesten den mörderischen Minderwertigkeitsbegriffen, die den aufkommenden allgemeinen Ausgrenzungswillen bestimmen.

Zweitens aber muß festgehalten werden, daß die wirklich erschütternden bisherigen Mordanschläge (Mölln und Solingen) anscheinend tatsächlich von desorientierten Einzelgängern oder von sozial nicht eindeutig bestimmbaren kleinen Spontangruppen mit schwer pathologischen Zügen begangen wurden, die selbst den rechtsradikalen Kumpaneien und Parteien gegenüber Außenseiter und eher den verstörten Zufalls- und Prominenten-Attentätern der letzten Jahre (in der BRD gegen Lafontaine und Schäuble) vergleichbar sind. Die rechtsradikale Stimmung in der reaktionär gewordenen fordistischen Lohnarbeiterklasse verbindet sich hier mit dem Ausrasten der allgemeinen bürgerlichen Subjektform hoffnungslos abstrakter Individualität, wie sie sich in den verschiedensten sozialen Segmenten darstellt. Der offene rechtsradikale Gewaltausbruch deutet also ebensowohl auf die allgemeine psychische Deformation des zur permanenten abstrakten Selbstbehauptung gezwungenen Warensubjekts hin, wie er seinen quasi konjunkturellen Anlaß und seinen sozialen Nährboden in den großen Krisensektoren der untergehenden fordistischen Lohnarbeit findet.

Entscheidend bleibt freilich, daß sich der so gespeiste Neo-Nationalismus beim besten Willen nicht mehr mit der Entwicklung des großen Kapitals vermitteln läßt. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Zwischenkriegszeit. Die irreversible Globalisierung der kapitalistischen, betriebswirtschaftlichen Reproduktion schließt jeden nationalistischen Schulterschluß zwischen "Kapital" und "Arbeit" aus. Daran lassen auch die Reaktionen des Managements, der Wirtschaftsverbände und der Wirtschaftspresse keinerlei Zweifel. Und es ist absehbar, daß der alerte, bewegliche Teil der Beschäftigung versuchen wird, sich an den Internationalisierungs- und Globalisierungsprozeß des Kapitals anzuhängen. Die Hoffnung "Für uns reicht es noch" wird sich unter Inkaufnahme einer harten sozialen und regionalen Segmentierung quer zu den bisherigen Nationen von Seiten der internationalisierten Sektoren weniger gegen "Ausländer" als vielmehr gegen den unbeweglichen, als "unbrauchbar" und als Sozialabfall definierten Teil der industriellen Verlierersektoren richten (der Typus des schwerfälligen, traditionalistischen Montanarbeiters der Kohlezechen und Hochöfen könnte dabei zur negativen Symbolfigur und Spottgestalt mutieren). Der Entwicklungsprozeß des Kapitals selbst, der eine nationalökonomische Formierung unmöglich gemacht hat, spaltet so auch die Massen in Vertreter der "weltoffenen" liberalen Heuchelei einerseits und des dumpfen rassistischen Neo-Nationalismus andererseits(27). Unter den neuen Bedingungen des hochentwickelten Weltsystems ist dies kein bloß ideologischer Gegensatz innerhalb einer "Nation" mehr, der so oder so entschieden werden könnte, sondern die harte Objektivität des Weltmarkts reicht bis in die Poren der gesellschaftlichen Reproduktion hinein. Der neue Rechtsradikalismus gewinnt zwar sein soziales Potential, aber keine gesamtgesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit, die bei einem systemkonformen (d.h. warenförmigen) Bewußtsein auf der Linie der kapitalistischen Entwicklung liegen müßte. Er wird zum Ferment des sozialen Zerfalls und perspektivloser Verteilungskriege.

Dennoch könnte gerade diese desolate und zugleich provokatorische Verarbeitungsform der Krise Anhänger auch in jenem relativ breit gewordenen sozialen Sektor gewinnen, der bisher eine eher habituelle und diffus "linke" Gesellschaftskritik gespeist hat und immer noch emanzipatorische Potentiale besitzt. In den hochentwickelten westlichen Ländern hat sich seit langem ein nicht mehr "beruflich" integrierbarer Überhang an gymnasialer und akademischer Ausbildung entwickelt, der zahllose soziale Nischenexistenzen und Subkulturen quer zu den offiziellen Institutionen hervorgebracht hat. Ansatzweise hat sich hier eine Art Doppelleben vermasst, in dem häufig unterqualifizierte Beschäftigung mit reduzierten Zeitanteilen ("Jobber", Teilzeitarbeit, bewußtes Ausnutzen von ABMs usw.) für ein zweites, inoffizielles Projekt jenseits des Markterfolgs genutzt wird. Kulturelle und künstlerische, publizistische und soziale Schattenstrukturen haben sich in diesem Kontext herausgebildet; auch die Alternativbewegung der frühen 80er Jahre kann dazu gerechnet werden. Oft handelt es sich auch bloß um eine persönliche Lebensweise ohne Projektcharakter, sodaß das Potential dieser Nischenexistenzen weit über das Spektrum der Alternativprojekte hinausgehen dürfte. In diesem sozialen Raum aber hat seit Ende der 80er Jahre die Demoralisierung um sich gegriffen wie eine ansteckende Krankheit. Ermüdungserscheinungen, Verlust der gesellschaftskritischen Perspektive, wachsende Ziellosigkeit und finanzielle Probleme haben ebenso zersetzend gewirkt wie der ungeheure psychische und ideologische Druck der totalen Marktgesellschaft und ihrer abstrakten Erfolgskriterien, der in der kurzen Blütezeit des Neoliberalismus, der "Reaganomics" und der Yuppies fast überwältigend geworden war. Viele Jobber, Ex-Alternative und Ex-Verächter des Kapitalismus wurden "schick" und aalten sich in der geistarmen Luxus-Ideologie der zu Ende gehenden Spekulationsepoche, ohne es sich eigentlich leisten zu können. Mit dem Ende der Illusionen aber könnte das zynische Ressentiment als ein für diese gesellschaftliche Gruppe spezifisches "Reich des Bösen" aufbrechen.

Man hält sich für Leute, die eigentlich zu Besserem geboren sind. Torschlußpanik kommt auf bei vielen, die mit 30, 40 oder gar 50 noch immer wie Studenten leben und plötzlich entdecken, daß sie eigentlich doch lieber kapitalistischen Erfolg und ein Reihenhaus gehabt hätten. Die Enttäuschung der verwehten Träume und die Gefühle des Scheiterns schlagen um in dumpfe Wut und nicht mehr wegzutherapierende Lebensangst. An die Stelle der kritischen Reflexion tritt unreflektierter Gesellschaftshaß, das Bemühen um alternative Kultur und nicht-kommerzielles Wissen mutiert zu den Ressentiments des Halbintellektuellen und der Halbbildung. Auch in diesem Klima kann der neue Rechtsradikalismus gedeihen. Es ist dann ein Rechtsradikalismus wider besseres Wissen, ein zynisches Räsonnement, in dem die rassistischen und nationalistischen Phrasen spielerisch und mit bösartiger Unernsthaftigkeit benutzt werden, um die eigene Lebensangst in Provokation und rülpsendes Auftrumpfen zu verwandeln. Ist schon der gewöhnliche proletarische und Spießer-Rechtsradikalismus gegen Argumentation resistent, weil er nicht der Reflexion entspringt, sondern der blinden Abwehr von unbegriffenen Zumutungen, so gilt dies in erhöhtem Maße für den Rechtsradikalismus einer postmodernen Boheme, die rassistische Verdrängungen und Projektionen (womöglich sogar neue antisemitische Verschwörungstheorien) produziert, weil sie keine produktiven Träume mehr hat.

Aber auch dieses "Reich des Bösen" entwickelt sich in engen Grenzen. Die Parallelen zur Stimmungslage der 20er Jahre sind zwar zweifellos zu entdecken, dennoch kann die oberflächliche Ähnlichkeit nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieselbe rechtsradikale Stimmung auf völlig veränderte Subjektformen trifft. Die "gescheiterten Existenzen" der 20er Jahre mit halbintellektuellem Anspruch waren äußerlich durch den Weltkrieg aus einem traditionellen Habitus mit bürgerlichen Lebensplänen und Berufsperspektiven herausgerissen worden, in die sie nach den Fronterlebnissen nicht mehr zurückfinden konnten. Ein solches Phänomen der Entwurzelung einer ganzen Generation wiederholt sich heute keineswegs, denn traditionell "verwurzelt" in diesem Sinne waren die heutigen anspruchsvollen Nischenexistenzen von Haus aus nicht. Ihre Einschätzung bzw. (heimliche) Selbsteinschätzung als "gescheiterte Existenzen" hat als Maßstab kein traditionelles, kohärentes Lebensbild (Familie, "ehrbaren" Beruf, ständischen Stolz etc.) mehr, sondern nur noch den abstrakten kapitalistischen Markterfolg. Deswegen ist die Ideologisierung traditioneller Werte mit rassistischer und nationalistischer Konnotation im Unterschied zur Zwischenkriegszeit bei der heutigen drop-out-Intelligenz ziemlich willkürlich und kraftlos. Die meisten derjenigen, die plötzlich zur Stützung ihrer brüchigen Identität "kulturellen Rassismus" und National-Ontologismus als intellektuellen Kitzel entdecken, könnten mit germanischen Großfamilien, militärischem Drill und Reichsparteitagen in ihrem realen Leben herzlich wenig anfangen(28). Der größere Teil der drop-out-Intelligenz wird diesen Weg nicht gehen; und selbst der Antisemitismus als eine der dümmsten und zugleich widerwärtigsten Verkleidungen gesellschaftlicher Widersprüche, der unvermeidlich in den halbintellektuellen und ressentimentgeladenen Verarbeitungsformen wieder auftaucht, kann es nach der historischen Großtragödie ein zweitesmal nur noch zur Hooligan-Farce bringen (was übel genug ist).

Die sozialen Felder, auf denen der neue Rechtsradikalismus wuchert, sind freilich groß genug, um das gesamte politisch-ideologische Spektrum zu verschieben und sich nicht nur am "rechten Rand", sondern auch bis weit in die sogenannte Mitte, ja eigentlich über die gesamte "politische Klasse" (bis zu den Grünen) hinweg als Stimmungs- und Meinungsumschwung, als Veränderung der politisch-ideologischen Großwetterlage zu reproduzieren. Das rassistische und nationalistische Vokabular hat längst Eingang in alle Parteien gefunden, die überhaupt auf der politischen Bühne agieren. Das ist auch leicht zu erklären. Im Unterschied zum Management ist die politische Klasse nicht nur von den Stimmungen der Wähler abhängig, sondern muß auch auf der Ebene der (als Opposition angestrebten oder als Regierung bzw. Regierungskoalition gehaltenen) staatlichen Macht mit gesamtgesellschaftlichen Bewältigungskonzepten operieren. Diese Konzepte gibt es nicht und kann es auch nicht geben, da es sich um die Systemkrise der Marktwirtschaftsdemokratie selbst handelt, d.h. um die (immanent) unbewältigbare Krise des allgemeinen und unreflektierten Bezugssystems. Gerade deshalb aber reproduziert sich die rechtsradikal aufgeladene gesellschaftliche Krisenstimmung in den Äußerungen der politischen Klasse bzw. in deren publizistischer Begleitmusik besonders nachdrücklich. Nach dem vermeintlichen Rettungsanker "nationaler Besinnung" wird quer durch das gesamte Spektrum geschrien. Bis in die als "linksradikal" eingestufte PDS (bzw. im Westen in die alte DKP) hinein gibt es Äußerungen, die mit den Reps um die Beschwörung "nationaler" Wirtschaftsinteressen (vom Standpunkt der "Arbeit" selbstverständlich) gegen die EG-Integration wetteifern; den Realo-Grünen nahestehende Publizisten propagieren die Rückkehr zu einem "normalen Nationalgefühl" (einem wohlverstanden demokratischen und gemäßigten selbstverständlich); und als unabhängig bezeichnete "Denker" ergehen sich in spitzfindigen Differenzierungen zwischen einem "bösen" Nationalismus und einem "guten" Patriotismus - alles in derselben breimäuligen Diktion des wissenden Einverständnisses mit der herrschenden marktwirtschaftsdemokratischen "Realität", die den Diskurs der sogenannten kritischen Intelligenz in den letzten zehn Jahren bis zur gähnenden Langweiligkeit heruntergebracht hat. Es bedarf gar keiner Frage, daß diese neuen Sprachregelungen der versammelten demokratischen Wichtigtuer nichts anderes sind als das sanft blökende Einschwenken auf den Kurs, der von den rechtsradikalen Schäferhunden vorgegeben wurde. Allenfalls deutet die peinliche Eile, mit der sich die offiziellen und linken Demokraten an die Patriotismus-Debatte angehängt haben, auf die hohe Temperatur unter ihren Sitzflächen hin.

Wenn schon der "linke Rand" mit Begriffen und Parolen operiert, die aus dem aufsteigenden neuen Rechtsradikalismus eingesickert sind, dann kann es kaum verwundern, daß in den großen politischen Hauptparteien die nationalistischen und rassistischen Tiraden fast schon zum alltäglichen Sprachgebrauch gehören. SPD-Geschäftsführer Karlheinz Blessing, selber ein smarter Aufsteiger der Yuppie-Generation, hat die deutschen Manager mit primitiver Demagogie als "vaterlandslose Gesellen" beschimpft, weil sie mehr im Ausland oder auf den internationalen Spekulationsmärkten investieren, statt am "deutschen Standort" Arbeitsplätze zu schaffen. Und der bayerische CSU-Innenminister Edmund Stoiber (designierter bayerischer Ministerpräsident nach dem zu erwartenden Rücktritt des "Amigo" Max Streibl) wetterte nicht nur gegen die Gefahren einer "durchraßten Gesellschaft", sondern griff im Handelsblatt offen "die Wirtschaft" an wegen ihrer "internationalistischen Illusionen". Der "rechte" Druck hat inzwischen anläßlich der Frage nach dem Streibl-Nachfolger in der vordergründigen Personalquerele zwischen Stoiber und Finanzminister Waigel zu offenen Spekulationen geführt, daß die CSU dabei sei, ihren gemäßigten Flügel abzustoßen. Solche Haarrisse in einer von Haus aus "rechten" Partei mögen dem Außenstehenden geringfügig erscheinen, sie deuten jedoch die drohende Spaltung der Gesamtgesellschaft an. Das übelriechende Vokabular in öffentlichen Reden ist kein Ausrutscher, sondern verrät Kalkül, Position und gewissermaßen "Gesinnung"(29). Es kann gar keinen Zweifel geben, daß der größte Teil der politischen Klasse samt journalistischem Troß dabei ist, mangels realer Bewältigungskonzepte die Politik überhaupt in ein "Reich des Bösen" zu verwandeln, d.h. in eine vermittelte Funktion des neuen Rechtsradikalismus.

Bemerkenswert an dieser Tendenz ist vor allem, mit welcher Offenheit quer durch das politische Spektrum die Manager oder "die Kapitalisten" mit geifernden nationalpopulistischen Parolen wie bei Blessing oder Stoiber angegriffen werden. Das ist ein völlig neuer Ton. Rechtsradikale Kapitalistenbeschimpfung hat es zwar auch in der Weimarer Republik gegeben, aber die Gegensätze waren anders verteilt. Die Konfrontation verlief innerhalb des politischen Spektrums, und die Kapitalverbände oder politisierende Kapitalisten ordneten sich aus verschiedenen Interessenlagen, aber auch aus eigenständigen ideologischen Motiven heraus den streitenden politischen Parteien und Strömungen zu(30). Im Unterschied zu Weimar ist die BRD eine hochgradig "entpolitisierte" Wirtschaftsrepublik. Die ökonomische und soziale Krise, deren Wucht lange unterschätzt wurde, weil niemand ein Ende der kapitalistischen Normalität für möglich hielt, läßt eine völlig neuartige Konfrontation sichtbar werden: nämlich das Auseinanderdriften von "Politik" und "Ökonomie" überhaupt. Natürlich ist der marktwirtschaftliche Internationalismus des Managements seinerseits anrüchig, weil er mit Sozialdumping und globaler Verelendung operiert; und er ist tatsächlich insofern illusionär, als die weltweite Verallgemeinerung von Sozialdumping kaufkraftzerstörend wirkt und die Systemkrise der Marktwirtschaft nur verschärfen kann, vom Risiko großer Gewaltausbrüche ganz zu schweigen. Illusionär ist es auch, wenn das betriebswirtschaftlich bornierte Management die vom Marktprozeß verursachten Probleme wie gewohnt an Politik und Staatsverwaltung glaubt abschieben zu können, und zunehmend ärgerlich und gereizt reagiert auf das, was es "das Versagen der Politik" nennt. Es handelt sich aber längst nicht mehr bloß um subjektives Versagen, sondern um die strukturelle Schranke von politischen Eingriffen als solchen, die ja "finanzierbar" sein müssen. Wenn der Marktprozeß nicht mehr genügend Spielraum für die Abschöpfung von Geldern (Steuern und Staatskredit) bietet, kann auch die Politik keine Auffangstellung mehr organisieren. Umgekehrt sind allerdings die wüst demagogischen nationalpopulistischen Parolen der Blessing, Stoiber u. Co. erst recht illusionär, weil sie das Kapital nicht mehr auf nationalökonomische Reproduktionsformen verpflichten können. Beiderseits werden die "Sachzwänge" des marktwirtschaftsdemokratischen Systems real wirksam, und sie schließen sich gegenseitig aus. So wird sich die neue Konfrontation von "Kapital" und "Politik" ohne jede Lösungsaussicht weiter verschärfen. Für die treugläubigen Anhänger eines "Primats der Politik" (zu denen sowohl die heutigen selber theoretisch abgerüsteten Rechtsradikalen als auch die Linksdemokraten gehören) mag es unzweifelhaft sein, daß sich in dieser Konfrontation das politische "Reich des Bösen" irgendwie durchsetzen wird, d.h. die populistische Demagogie. Aber die Systemkrise bringt es an den Tag, daß die Politik am Ende doch bloß eine abgeleitete Sphäre ist und überhaupt keine selbständige Eingriffskompetenz besitzt(31). Gesetze und Staatsmaßnahmen, die sich nicht in Übereinstimmung mit dem Entwicklungsstand des subjektlosen Marktprozesses befinden, gehen ins Leere oder bleiben ein Fetzen Papier.

Dieses kleine Problem erhebt sich auch dann, wenn der innerste Gewaltkern und gleichzeitig die ultima ratio der Marktwirtschaftsdemokratie auf den Plan tritt, nämlich die bewaffneten Mächte des staatlichen Gewaltmonopols. Polizei und Militär könnten in einer zugespitzten Krisensituation auch in der superdemokratischen BRD außer Kontrolle geraten. Anzeichen dafür gibt es bereits jetzt mehr als genug, und auch die Gründe lassen sich leicht benennen. Aufgabe, Habitus und "Lebensform" des Militärischen besitzen sozusagen naturgemäß eine gewisse Affinität zu "rechten" Ideologien und Ordnungsvorstellungen. Dieses verborgene Potential kann wirksam werden, wenn die mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus verbundene "Sinnkrise" der NATO im Offizierskorps zu ideologischen Gärungsprozessen führt, und wenn gleichzeitig die sozialökonomische Krise eine anomische Situation heraufbeschwört. Hinzu kommen gravierende soziale Probleme der Soldaten und Polizisten selbst, die wie überall in der Welt eher unterbezahlt sind, unter Beförderungsstau leiden und schlecht- oder unbezahlte Überstundenberge vor sich herschieben. Ironischerweise wird die Krise der Staatsfinanzen auf dem Gewaltapparat ebenso abgeladen wie auf der Kultur und auf der Sozialklientel. So schimmert das uniformierte "Reich des Bösen" schon durch; Ansätze einer gewissen Verselbständigung des Gewaltapparats und anwachsende Sympathien für den neuen Rechtsradikalismus in Bundeswehr und Polizei sind nicht mehr zu übersehen.

Offenbar gezielt und einseitig gegen "links" abgerichtete und scharfgemachte Greiftrupps oder Sondereinheiten, die unvergessenen quasimilitärischen Großeinsätze gegen die Anti-AKW-Bewegung und die Münchner Prügelorgie gegen eingekesselte Demonstranten, die anläßlich des G7-Gipfels lediglich verbal protestiert hatten, sprechen eine ebenso deutliche Sprache wie das bewußte Nichteingreifen der Polizei gegen den rechtsradikalen Straßenterror in Rostock und an zahlreichen anderen Orten, besonders in Ostdeutschland. Im Einsatz von Verfassungsschutz, politischer Polizei und anderen Staatsorganen dürfte das Verhältnis von "linksradikalen" und "rechtsradikalenen" Objekten bei 10:1 liegen. Rechtsradikale Täter werden in aller Regel mit größerer Langmut geduldet, seltener verhaftet und milder abgeurteilt als linksradikale Täter. Obwohl sich auch innerhalb des Staats- und Justizapparats insgesamt die postfordistischen Subjektformen mit internationalisierter Kultur ausbreiten, ist doch insbesondere der eigentliche Gewaltapparat von der "Kulturrevolution" der 68er Bewegung ungefähr so stark berührt worden wie der KGB. Hinter der Fassade der Rechtsgleichheit erzeugt der strukturelle Rechtsradikalismus der politischen Klasse bei den Uniformträgern besonders starke Resonanzschwingungen. Von un- und halbbewußter Begünstigung über stumme Kumpanei, klammheimliche Zustimmung, halbherzige Duldung und Strafvereitelung bis hin zum klandestinen Helfershelfertum reicht das Spektrum von Verhaltensweisen, in dem sich die Affinität von Kräften des Polizei- und Justizapparats zum Rechtsradikalismus zeigt. Bei Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen tritt die Parteilichkeit der Staatsgewalt oft völlig unverhüllt und gleichsam grinsend auf. Wenn man davon ausgehen kann, daß die Presseberichterstattung der letzten Jahre über diesen Gesamtkomplex nur die Spitze des Eisbergs gezeigt hat, dann muß jedes Vertrauen in die demokratisch-rechtsstaatliche Kontrolle des Gewaltapparats jetzt schon als naiv bezeichnet werden(32). Diese Sachlage wird bei einer Verschärfung der gesellschaftlichen Krise unvermeidlich die Frage des Selbstschutzes aufwerfen.

Die andere Frage ist allerdings, gegen wen ein außer Kontrolle geratender Gewalteinsatz sich eigentlich auf Dauer richten und was er überhaupt erzwingen soll. Der innere Feind ist genauso zweifelhaft geworden wie der äußere, weil die übersichtlichen alten Frontlinien längst völlig durcheinandergeraten sind. Relativ willkürlich Feindbilder zu erhalten und zu produzieren, gegen als "subversiv" definierte Leute mit Verhaftung, Vergewaltigung, Folter und Mord vorzugehen, das alles mag ja möglich sein und gehört in vielen Ländern bereits zur "normalen" Polizeipraxis, aber es bringt kaum mehr als die Befriedigung sadistischer Gelüste von einzelnen perversen Kommandeuren und Folterknechten. Neben die Verfolgung der immer willkürlicher definierten "Subversion" scheint allerdings eine aktive Verlängerung des antisozialen gesellschaftlichen Ausgrenzungshasses gegen Schwache durch den Gewaltapparat zu treten. In Brasilien gehört es bekanntlich zur Freizeit-Nebenbeschäftigung von Polizisten, im Auftrag von Geschäftsleuten Straßenkinder zu killen. Zwar ist es in der BRD noch nicht so weit gekommen, aber die Behandlung von Obdachlosen oder von Schwulen durch die deutsche Polizei spricht ebenso Bände wie der offenbar auch an der Polizeibasis weitverbreitete "Asylanten"- und Ausländerhaß(33).

Eine gesellschaftliche Strategie und die Perspektive einer (und sei es perversen) Systemkohärenz wird dadurch freilich nicht erzeugt, und ein ausgerastetes Polizeihirn dürfte dazu noch viel weniger in der Lage sein als ein eingeschläfertes Politikerhirn. Der Gewaltapparat könnte sogar alle "Kapitalisten" verhaften und sie mit Erschießung bedrohen, er würde dadurch das Ende des nationalökonomischen Zusammenhangs nicht ungeschehen machen. Wie sich der subjektlose Systemprozeß nicht gesetzlich einschränken läßt, so läßt er sich erst recht nicht von Figuren beeindrucken, die mit Maschinenpistolen herumfuchteln. Deswegen ist ein rechtsradikaler General oder Polizeioffizier auf dem Stuhl des Wirtschaftsmanagers nur eine lächerliche Figur. Die Erfahrungen der Militärdiktaturen in Lateinamerika, in Afrika und in Asien waren im letzten Jahrzehnt überall einschlägig, und auch der General Jaruselski in Polen mußte dieselbe Lehre durchmachen. Der voreilig als "Demokratisierungswelle" bejubelte Rückzug in die Kasernen vollzog nur die Einsicht, daß die globalisierte Marktwirtschaft kein geeignetes Terrain für eine militärische Besetzung ist. So ließen auch die lateinamerikanischen notorischen Putschmilitärs das rechtsradikale Lieblingsspielzeug "Geopolitik" vorerst fallen und wandten sich lieber dem einträglichen Rauschgifthandel zu. Und diese Einsicht ist vielleicht auch der Grund, warum die inzwischen stramm rechtsradikalen Generäle der Roten Armee immer noch zögern und zaudern, eine Militärdiktatur zu errichten.

Ob mit oder ohne Putsch und Militärdiktatur, der Gewaltapparat wird sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Krise auf jeden Fall verselbständigen, dann aber den Verhältnissen angemessen nicht mehr als finsterer Ordnungs- und gesamtgesellschaftlicher Machtfaktor, sondern als Teilmoment des Zerfalls kohärenter Strukturen. Da der neue Rechtsradikalismus ohnehin ideologisch nicht ausgearbeitet und laufend selbstwidersprüchlich ist, kann er vermutlich subjektiv auch mit dem Widerspruch von "Ordnungsideologie" und kriminellem Bandenwesen mit Plünderungsphantasien leben, wie sich ja oft Betrunkene zur Verkehrsregelung berufen fühlen, gewalttätige Zuhälter militante Moralvorstellungen vertreten und Mafiabosse ebenso wie ihre Killer nicht selten hochreligiös sind. Der Krisenprozeß könnte also die untergründige Verbindung von Polizei und Verbrechen manifest machen, Teile des demokratischen Gewaltapparats in streunende Banden und sich wechselseitig bekämpfende Mafiakrieger verwandeln und "Clockwork Orange" endlich auch im Freizeitpark BRD verwirklichen. Schon jetzt häufen sich (nach Angaben u.a. von FAZ und Welt) in der deutschen Polizei Fälle von Korruption, Mafiaverbindungen und Gelderpressung auf Straßen und Autobahnen. Daß die Polizei selber eine gewalttätige Räuber- und Mörderbande wird, die zur nicht-uniformierten Kriminalität lediglich in einem Konkurrenzverhältnis steht, ist für die Menschen in der ehemaligen Dritten Welt, mittlerweile aber auch in Osteuropa und in den GUS-Staaten nichts Neues mehr, und auch in den anderen westlichen Kernländern scheint sich dieselbe Tendenz herauszubilden. Die Anreicherung dieser Potentiale mit rechtsradikaler Ideologie hat dabei nur noch eine schwache Legitimationsfunktion; wie auf allen anderen Ebenen wird der neue Rechtsradikalismus auch im demokratischen Gewaltapparat zum Ferment des Auflösungsprozesses in die zusammenhanglose Barbarei.

Neben all diesen sozialen und institutionellen Potentialen des neuen Rechtsradikalismus ist offenbar auch das Moment eines Generations- und Erziehungskonflikts wirksam, der in der Krise der Marktwirtschaftsdemokratie verschärft abgerufen wird. Auf merkwürdige Weise scheint sich eine überraschende ideologische Koalition von Nazi-Opa und Nazi-Enkel gegen die mittleren Generationen der "linken", antiautoritären 68er Bewegung abzuzeichnen. Zweifellos ist die Rebellion der Youngsters gegen die 68er und Post-68er demokratische Linke ein durchaus nicht unerheblicher Aspekt des neuen Rechtsradikalismus. Billig wäre es freilich, diesen Konflikt als eine menschlich-gesellschaftliche Urkonstante zu anthropologisieren, um dann womöglich noch festzustellen, daß den Kids heute fast schon gar nichts anderes mehr übrigbleibe, als rechtsradikal, ausländerfeindlich und rassistisch zu werden oder als Berufswunsch Hooligan und Polizist oder Panzerkommandant anzugeben, um sich vom aufklärerischen, antiautoritären Elternhaus emanzipieren zu können. Wenn auch derlei Vulgär-Psychoanalyse keinerlei Erklärungswert beanspruchen kann, so muß das Wahrheitsmoment in der eigenartigen "Generationskiste" doch gesucht und auf seine gesellschaftlichen Ursachen zurückgeführt werden.

Die Reaktionen der 68er und Post-68er auf den neuen Generationskonflikt, vor allem die Reaktionen der "etablierten", in den gesamtdemokratischen Grundkonsensus eingetauchten Linken oder Ex-Linken, sind gegensätzlich, aber komplementär. Die einen leugnen wütend jede Verantwortung, weil es sich bei den jungen Menschenzündlern gar nicht um "ihre" Kinder handle, sondern um die Sprößlinge aus rückständigen Elternhäusern der westdeutschen Unterschicht oder des ostdeutschen Stalinismus, die von antiautoritärer und modern-demokratischer Erziehung eben unbeleckt geblieben seien. An dieser Argumentation ist ebensoviel Wahrheit wie Ausflucht; sie greift entschieden zu kurz. Denn weder geht es allein um die Träger des unmittelbaren rechtsradikalen Straßenterrors, sondern um die viel weiter reichende Ausbreitung "rechten" Gedankenguts bei den Jugendlichen, noch geht es bloß um die direkten leiblichen Nachkommen der 68er, sondern um die gesamtgesellschaftlichen Reaktionsformen der jüngsten Generationen auf die von den 68ern längst "mitgestaltete" demokratische Welt (und dieser ebenso vollmundige wie dämliche Begriff des "Gestaltens" innerhalb der Grenzen des mörderischen Fetisch-Systems ist ja fast schon zum Marken-Totschlagswort der abgetakelten Linksdemokraten geworden).

Die anderen, und das scheint fast die Mehrheit zu sein, reagieren auf die rassistischen Schandtaten und Schandideologien der Youngsters mit der Fortsetzung ihres längst schon gewohnheitsmäßigen "mea culpa"-Geschreis. Wie man den eigenen früheren Linksradikalismus nicht kritisch aufgehoben, sondern bloß als "Jugendsünde" verworfen hat, so bietet man sich jetzt reumütig als Verantwortungsträger für die anscheinend demokratisch danebengegangene Erziehung der grölenden und mordenden Jungmonster an. Ausgerechnet das bißchen "antiautoritäre Erziehung", das längst in fortgeschrittenen Management-Konzepten verwurstet worden ist, soll "schuld" sein am neuen Rechtsradikalismus der Jugendlichen. Die Konsequenzen sind unklar, aber offensichtlich entblöden sich einige ex-antiautoritäre Lehrer-Lempel-Figuren nicht einmal, den guten und vielleicht ein wenig schlagkräftigen "starken Vater", regelmäßigen Kirchstuhlgang und womöglich noch die bewährte alte "Schule der Nation" mit Sturmgepäck und allen Schikanen herbeizuphantasieren. Die wehmütige Erinnerung an die brennenden Handflächen nach dem Empfang von kleinen Rohrstockhieben, wie sie bis in die 60er Jahre hinein noch zur Empfindungswelt des bundesdeutschen Grundschulsystems gehörten, mag die Frage aufwerfen, ob es nicht gerade diese schöne Kindheitserfahrung gewesen sein könnte, die ganz unbewußt und nebenbei den Helden von 1968 gefestigte demokratische Charaktere eingebleut hat. Völlig unrecht hätte das autoritär-antiautoritäre Späträsonnement damit ja nicht einmal, wenn auch auf unfreiwillige (und unfreiwillig komische) Weise; denn die systemnotwendige repressive Verinnerlichung der marktwirtschaftsdemokratischen Zwänge verträgt sich vielleicht sogar mit dem Rohrstock als Ausgangserfahrung. Und die neofaschistischen Jungmonster gieren ja geradezu nach dem ihnen so verständnislos vorenthaltenen Rohrstock(34), sodaß die paradoxe Intervention der liberalen, ex-antiautoritären und linksdemokratischen Besorgnisträger und Demokratieverteidiger nicht nur im politischen, sondern auch im pädagogischen Bereich zum faktischen Vollzugsorgan des neuen Rechtsradikalismus wird: die immer konservativer werdenden demokratischen Linken propagieren selber mit verdrehten Augen das pädagogische "Reich des Bösen" herbei. Fast möchte man wünschen, daß diese staatstragenden Erziehungspropheten von ihren neuen Zöglingen in spe etwas besonders Saftiges auf die Mütze kriegen.

Keinem der alt-antiautoritären Diskutanten scheint es in den Sinn zu kommen, daß es nicht der kritische, radikale Impuls von 1968, sondern gerade umgekehrt die Widersprüchlichkeit, Unvollständigkeit, Halbherzigkeit und Unglaubwürdigkeit des wieder in die bürgerliche Welt zurückgebogenen antiautoritären Demokratisierungs-Projekts sein könnte, die zur rechtsradikalen Ideologisierung oder zur sprachlosen Barbarei der heutigen Youngsters mehr oder weniger maßgeblich beigetragen hat. Zu dieser Widersprüchlichkeit gehört es, daß die demokratische Institutionalisierung des Antiautoritarismus im Zuge des "Marschs durch die Institutionen" (Rudi Dutschke) selber höchst autoritäre und repressive Züge angenommen hat. Im abstrakten, subjektlosen Herrschaftsraum der Marktwirtschaftsdemokratie, dessen Charakter von den 68er Theoremen nicht einmal im Ansatz reflektiert worden war, konnte sich der antiautoritäre Impuls nur als ein (den warenförmig vergesellschafteten Individuen entsprechendes) institutionelles Subsystem realisieren, d.h. in Gestalt von zusätzlicher Sozialstaats- und Erziehungsbürokratie, Helfer-Expertentum, Psycho- und Therapie-Markt, Motivations-Management, neuen Werbe-Konzepten, Polit-Animation usw.(35). Die Unglaubwürdigkeit der 68er Demokratie-Animation muß die Nachgeborenen zunehmend anöden, zumal diese Animation inzwischen mit der systematischen Verdrängung der realen Krisenpotentiale und Krisenprozesse angereichert ist.

Das schäbige und behäbige Demokratiegetue von Leuten, die ihre Sessel im offiziellen Funktionsraum erklommen haben, ist kein Angebot zur Gesellschaftskritik mehr. Die 68er Gesamtdemokraten können die Krise weder erklären noch haben sie eine aufhebende Perspektive vorzuschlagen. Sie repräsentieren nur noch das elaborierte Einverständnis mit den Systemkriterien, die von den Jungen nicht mehr erfüllt werden können. Als Lehrer, Professoren, Politiker, Journalisten usw. zeigen sie den Nachgeborenen die Maske der Herrschaft in einer lediglich besonders aufreizenden Form. Sie blockieren den Zugang zur emanzipatorischen Kritik, wie sie systemimmanent den von Restriktionen eingeschränkten Zugang zu den besseren Positionen blockieren. Für die kids muß die Doppelmoral von scheinkritischen Erwachsenen hassenswert sein, die vorneherum linke und grüne Sprüche klopfen, hintenherum aber mit verzerrten Gesichtern längst dem kapitalistischen Leistungs- und Erfolgswahn huldigen, den sie auch ihren Kindern mit fiesen demokratischen Methoden des "Darübersprechens" ohne wirkliche Alternativmöglichkeit einzutrichtern versuchen. Die jugendliche Anbetung der Häßlichkeit in Moral und Outfit, Glatzen und Springerstiefel, Menschenverachtung und Hakenkreuzschmiererei sind nur das Echo eines verstockten jugendlichen Bewußtseins auf den kapitalistischen Armani-Schick der geölten und butterweichen Linksdemokraten, deren bodenlosen postmodernen Designer-Philosophien die harten Krisenverhältnisse längst Hohn sprechen. Insofern ist der neue Rechtsradikalismus der Jugendlichen tatsächlich eine Reaktion auf den Antiautoritarismus der 68er, allerdings auf seinen affirmativ gewordenen, demokratisch institutionalisierten, systemkonformen Charakter. Freilich handelt es sich um keine bewußte Reaktion, sonst würden ihre Protagonisten heute die Leggewie u.Co. verprügeln statt Ausländerkinder. Nicht nur als Zerrbild der antiautoritären Aktionsformen ist der feige rechtsradikale Straßenmob das sprachlose Echo eines uneingelösten, geschwätzig und beflissen gewordenen 1968.

Das regressive geistige und soziale Klima hat nicht nur dazu geführt, daß der "linke Flügel" der marktwirtschaftsdemokratischen Gesellschaft aufgerollt worden ist und sich selber den Rest gibt. Auch der feministische Vormarsch ist ins Stocken geraten und beginnt Züge eines Rückzugsgefechts anzunehmen. Nicht wenige der einstigen Protagonistinnen folgten den männlichen 68er-Kollegen in die demokratische Affirmation von Markt und Staat und haben die Kritik des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses in einen seichten akademischen Karriere- und in einen sozialdemokratisierten Dirndl-Feminismus verwandelt. Das Herunterfahren der Kritik mußte sich hier besonders fatal auswirken, weil das affirmierte demokratische Bezugssystem an sich "männlich" bestimmt ist und das Einschwenken eines erheblichen Teils der Feministinnen auf die versachlichten Zwänge des Markt-Staat-Syndroms also der Schwerkraft von Verhältnissen nachgibt, die sowohl historisch als auch strukturell männlich besetzt sind(36). Aus dieser Schwächung heraus formiert sich ein vielfältiges, teils offen und teils verdeckt agierendes "roll back" der gesellschaftlichen Männerherrschaft, die sich mit kapitalistisch emanzipierten Vorzeigefrauen schmückt wie Muammar Gaddafi mit einer weiblichen Leibwache. In der massenhaften "privaten" Krisenrealität aber wird der regressive Druck auf das Geschlechterverhältnis zum Potential des neuen Rechtsradikalismus.

Denn spätestens in der Systemkrise wird deutlich, daß die weibliche Rolle im Geschlechterverhältnis des marktwirtschaftsdemokratischen Zusammenhangs schon immer die Funktion einer Auffangstellung für die sozialen und psychischen Probleme gebildet hat, die vom Markt und von den demokratischen Institutionen nicht erfaßt werden können. Die "stille" und als inferior bestimmte Schmier- und Reparaturarbeit der Frauen war es, die den marktwirtschaftsdemokratischen Systemprozeß überhaupt erträglich gemacht und seine Durchsetzungskrisen vielfältig abgepuffert hat. Die absolute historische Schranke des Systems ist aber auch die Schranke seiner geschlechtlichen Reproduktion. Der immanent unlösbare Selbstwiderspruch der Marktwirtschaftsdemokratie zeigt sich auch daran, daß ihre stumme strukturelle "Bedingung der Möglichkeit" einerseits die inferiore, flankierende und weder völlig bürokratisierbare noch völlig monetarisierbare Frauenrolle ist, daß jedoch andererseits die Frau als Warensubjekt selber abstraktes Individuum wird und die systemstabilisierende Rolle nicht mehr ausreichend trägt. Das männliche "roll back" findet also, die Marktwirtschaftsdemokratie blind vorausgesetzt, genügend gesellschaftliches "Beweismaterial" vor: allgemeine Vereinsamung, Unlebbarkeit eines Geschlechterverhältnisses von androgyn monadisierten Wesen, Zerfall der Familienstruktur, Unfinanzierbarkeit einer Vergesellschaftung der Frauenrolle, Verwahrlosung der Erziehungsgrundlagen usw. Der neue Rechtsradikalismus liefert Bruchstücke einer Legitimationsideologie für den Versuch, auch die geschlechtliche Kulturgeschichte zurückzudrehen, unter Berufung auf angeblich ontologische sexuelle Konstanten(37).

Freilich gilt auch für das Geschlechterverhältnis dasselbe wie auf allen anderen Ebenen: der neue Rechtsradikalismus gewinnt Kraft, aber keine gesellschaftliche Verallgemeinerungskraft, sondern gesellschaftliche Zersetzungskraft. Die geschlechtliche Strukturveränderung läßt sich ebensowenig zurückdrehen wie die Aufhebung der nationalökonomischen Kohärenz des Kapitals und das Obsoletwerden der "Arbeit". Unter den veränderten Lebensbedingungen der späten Marktwirtschaftsdemokratie können die Frauen gar nicht mehr zur Fraglosigkeit der alten Geschlechtsrolle zurückkehren. Sicherlich gibt es auch viele Frauen, die sich angesichts der Krise in die zugeschriebene Rolle zurückziehen möchten. Die Tendenz, aus purer Sozialangst und Perspektivlosigkeit heraus plötzlich einen abstrakten (und ideologisierten) "Kinderwunsch" zu entwickeln, um der Gesellschaft gegenüber in eine Art Forderungsposition zu gelangen, mag für das angebliche temporäre Ansteigen der Geburtenrate mitverantwortlich sein. Aber es handelt sich um den Rückzug in eine Ruine. Die subjektlosen Ansprüche der Marktkriterien lassen sich auch in den vermeintlichen Schonräumen nicht abweisen, und sie stehen im Gegensatz zur geforderten Pufferleistung im Krisenprozeß. So stellt es sich millionenfach praktisch heraus, daß das Geschlechterproblem marktwirtschaftsdemokratisch unlösbar ist, und daß der Geschlechterkampf in der unaufgehobenen Familienruine mit unverminderter Härte weitergeht. Das maskulinistische "roll back", das sich legitimatorisch auf die Defizite einer steckengebliebenen systemimmanenten Frauenemanzipation beruft, will die Krisenlast in jeder Hinsicht dreist auf den Frauen abladen. Weil dies praktisch nicht mehr in der alten Weise möglich ist, ist die Reaktion buchstäblich eine Gewaltorgie in den Poren des kapitalistischen Alltags gegen Frauen und Kinder. Diese männliche Alltagsgewalt vermittelt sich mit der rechtsradikalen Straßengewalt, und es gibt zweifellos auch eine klammheimliche männliche Freude angesichts der Massenvergewaltigungen in den jugoslawischen und kaukasischen Bürgerkriegen. Gewalt, Vergewaltigung und einschlägige "Männerphantasien" (Klaus Theweleit) bilden ein eigenes Moment des neuen Rechtsradikalismus aus; aber auch dieses geschlechtliche "Reich des Bösen" wirkt nicht mehr strukturformend, sondern beschleunigt auf seine Weise den Übergang in die sekundäre Barbarei.

Eine letzte Scheinplausibilität gewinnen die zersetzenden rechtsradikalen "Reiche des Bösen" im Verfallsprozeß der westlichen Marktwirtschaftsdemokratie durch die Re-Nationalisierung in den Zusammenbruchsgesellschaften des Ostens. Gerade diese Entwicklung hat ja das Gros der westlichen Intellektuellen, von denen die Realität nicht mehr analysiert, sondern bloß noch nachgeäfft wird, zum dankbaren Anlaß genommen, für sich selbst einen gemäßigten Patriotismus zu entdecken. Ex oriente fasces. Tatsächlich sind es gerade der unaufgeholte Entwicklungsrückstand und der "Kollaps der Modernisierung" im Osten, der in den rauchenden Trümmern des Staatssozialismus den neuen Rechtsradikalismus besonders üppig keimen läßt. Die rechtsradikale Ideologie findet auf diesem Boden unter der zerstörten Hülle noch Strukturelemente vor, wie sie für die westlichen Gesellschaften in den 30er, 40er oder 50er Jahren bestimmend waren. Der historische Industrialisierungsschub des Ostens reichte nur bis zu einem rohen Fordismus. Die mikroelektronische Revolution hat der Osten nicht mehr mitgemacht, und auch die "postindustrielle" Tertiarisierung ist weitgehend ausgeblieben, sodaß die industriell fundierte "Arbeit" samt den dazugehörigen Bewußtseinsformen ihren alten Stellenwert behalten konnte.

Ähnliches dürfte komplementär für das Geschlechterverhältnis gelten. Der im Vergleich zum Westen viel größere Anteil der Frauen an der industriellen Erwerbstätigkeit und damit ihre größere finanzielle Unabhängigkeit folgte nicht aus einem gesellschaftlichen Individualisierungsschub, sondern war eher ein Nebenprodukt der "nachholenden Industrialisierung" und ihrer Erfordernisse. Die quasi kriegsmäßig organisierte "Produktionsschlacht" mußte auch die Frauen ansaugen, ähnlich wie in den westlichen Rüstungsindustrien während der beiden Weltkriege. Dieser Art der Integration von Frauen in den Produktionsprozeß eignet jedoch etwas Rohes und Äußerliches; damit sind noch nicht entsprechende Subjektveränderungen im psychosozialen Geschlechterverhältnis verbunden. Wie die alte Arbeiterbewegung überhaupt die (klein)bürgerliche Familienstruktur und Familienideologie übernahm, so auch der östliche Staatssozialismus. Die psychosoziale Frauenrolle in der bürgerlichen Gesellschaft wurde im Vergleich zum Westen eher konserviert, trotz der größeren Rate von Erwerbstätigkeit (die jetzt "natürlich" in den Zusammenbruchsökonomien brutal zurückgefahren wird). So gab es im Osten zwar aufgrund der größeren finanziellen Selbständigkeit von Frauen und aufgrund der stärkeren staatlichen Kindererziehung auch höhere Scheidungsraten; aber trotzdem wurde die im Vergleich zum Westen ungebrochene alte Frauenrolle dadurch nur "seriell" in aufeinanderfolgenden Ehen reproduziert. Vom Standpunkt westlicher Individualität ist daher das psychosoziale Geschlechterverhältnis im Osten rückständig und altertümlich(38), was sich jetzt in der Krise mit dem Verlust der bloß äußerlichen Selbständigkeit auch massenhaft praktisch zu beweisen scheint (den Beweis des Gegenteils haben die Ost-Frauen bis jetzt nicht angetreten).

So ist es also gerade die strukturelle Rückständigkeit, die der Re-Nationalisierung und dem neuen Rechtsradikalismus in Osteuropa auf verschiedenen Ebenen als Reaktion auf den Zusammenbruch und auf das Ausbleiben des marktwirtschaftsdemokratischen "Aufschwungs" eine größere Verallgemeinerungskraft zu geben scheint. Die regressive Stimmung des Westens, der in seine eigene Krise taumelt, verleiht dem Ost-Nationalismus sogar eine gewisse paradoxe Ausstrahlungskraft. Aber diese Kraft ist so trügerisch wie der neue Rechtsradikalismus überhaupt. Denn trotz der Affinität rückständiger Binnenstrukturen zur "rechten", neo-nationalistischen Ideologie können natürlich die Länder des ehemaligen Ostblocks den Prozeß der kapitalistischen Globalisierung noch weniger zurückdrehen als die westlichen Länder. Solange sie warenförmig organisiert sind, werden sie objektiv an den Standards des Weltmarkts gemessen, ob sie nun wollen oder nicht. Die aufgrund ihrer kapitalistischen Rückständigkeit besonders starke ideologische Re-Nationalisierung läuft ökonomisch an die Wand und ist zur Bildung kohärenter Reproduktionsstrukturen ebenso unfähig wie im Westen(39). Die größere ideologische Stärke des neuen Nationalismus und Rechtsradikalismus im Osten Europas spiegelt also nur die dortige höhere Entwicklungsstufe der Krise des "Weltsystems". Die Krise wird so nicht negativ gelöst, sondern sie erhält nur ihre Verlaufsform; in einigen Regionen als permanenter "ethnischer" Bürgerkrieg bis zur völligen Erschöpfung.


Die hilflosen Demokratiehelfer

Die Demokratie zerbricht an sich selbst. In dieser Logik der Barbarisierung, die sich mit den sozialökonomischen Selektionsmechanismen der Konkurrenz vermittelt und zur Ausgrenzungsorgie führt, gehen aber die demokratischen Menschen trotzdem nicht vollständig auf. Die demokratischen Manifestationen gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, die Organisation von Hilfsaktionen und selbst die Lichterketten dementieren sich nicht schlechthin von selbst, auch wenn es ein falsches Bewußtsein ist, das sie inszeniert hat. Der Abscheu vor der offenen Barbarei ist glaubwürdig und entwicklungsfähig, bleibt aber kraftlos und in Selbstfesselung verstrickt, solange er die Barbarei als ein bloß äußerliches Phänomen betrachtet, dessen Bekämpfung ausgerechnet von derselben Logik aus möglich sein soll, die es hervorgebracht hat. Wenn dieser Zusammenhang nicht aufgedeckt werden kann, bleibt die Abwehr der Barbarei mit dem ebenso dumpfen demokratischen Interessen-Räsonnement verschwistert, und die selektive, ausgrenzende Strukturlogik der Marktwirtschaftsdemokratie setzt sich als objektiver Komplize des Pogroms gegen alle besseren Regungen durch.

Solange die Schmerzgrenze der demokratischen Selbsteinsicht nicht erreicht ist, nützen alle gutgemeinten Manifestationen nichts und das (un)heimliche Zusammenspiel von demokratischem Diskurs und mörderischem Rechtsterror nimmt seinen programmierten Lauf. Zur demokratischen Selbsterkenntnis müßte die Einsicht gehören, daß die neue rechtsradikale Menschenverachtung nicht bloß auf dem Boden des demokratischen Systems gewachsen ist, sondern daß sie durchaus auch in den liberalen Demokratenköpfen selbst wuchert, wenn auch nicht mit derselben Offenheit. Denn der rassistische rechte Terror spricht nur offen aus, was die wahre innere Logik und Konsequenz der Marktwirtschaftsdemokratie selbst ist, und was verschämt zu bemänteln eine der vornehmsten Aufgaben des demokratischen Normalo-Diskurses sein dürfte. Die unsägliche Asyldebatte ist bekanntlich von den offiziellen demokratischen Politikern angeheizt worden, und zwar mit dem bösen populistischen Blick auf das durchaus richtig kalkulierte demokratische Massenbewußtsein. Teilweise kann die Plazierung von Massenunterkünften für Asylbewerber nur als bewußte Provokation durch die Behörden verstanden werden, um die Stimmung anzuheizen (z.B. in Rostock). Wie oben, so unten: diese altchinesische astrologische Weisheit trifft auch auf das Verhältnis zwischen der politischen Klasse und dem gemeinen Wählerwillen zu. Die sich abzeichnende ökonomische und soziale Krise soll abgewälzt werden, der Schaden soll auf Kosten der am wenigsten Widerstandsfähigen begrenzt werden, Menschen sollen im wahrsten Sinne des Wortes ausgegrenzt werden. "Wir" sind nicht zuständig für die Probleme der Welt. Die infernalische bundesdeutsche Normalität soll betoniert werden. Unsere Demokratie kann nicht schuld sein. Was scheren uns die strukturellen Zusammenhänge des Weltmarkts und seiner Produktion von Verlierermassen, Hauptsache "wir" bleiben konkurrenz- und zahlungsfähig. Dieses dumpfe Räsonnement des demokratischen Bewußtseins ist nicht nur völlig illusionär, es schweißt auch oben und unten, Politikerkaste und "Volk", liberale Weltoffenheit und Rassismus trotz aller herzlichen gegenseitigen Verachtung zu einem einzigen (wenn auch diffusen) Ab- und Ausgrenzungswillen zusammen. Wenn es schlimm wird im Namen der Marktwirtschaft und ihrer gesetzmäßigen Wirkungen, dann sollen die "anderen" bluten, wer immer dies in der jeweiligen Diktion sein mag. Der demokratische Diskurs hat selbst die Aufgabe, die jeweils auszugrenzende innere und äußere Population zu definieren und dieses niederträchtige Unterfangen in humanistische Phrasen einzunebeln.

Die offene rechtsradikale Menschenjagd erweist sich so als durchaus funktional für diesen demokratischen Diskurs. Der Pogromterror gegen Asylbewerber, Ausländer, Behinderte, Obdachlose, Schwule, Linke usw. bringt die innere demokratische Logik an die Oberfläche; aber indem er über die formalen Spielregeln hinausschießt und die offene Fratze der Barbarei zeigt, läßt er sich veräußerlichen und als vermeintlich isoliertes Phänomen definieren. Die Mordbrennerei primitiver Schlägerbanden erhält so eine wichtige Entlastungsfunktion für den demokratischen Diskurs, der dasselbe Ziel nun gemäßigt, formalisiert und effizient verfolgen kann, während er gleichzeitig seiner Entrüstung über den abgespaltenen und veräußerlichten Klartext seines eigenen Tuns freien Lauf läßt. Der klassische Mechanismus der Projektion schnappt ein: an den moralisch verwahrlosten jugendlichen Brandstiftern und Menschenjägern (ureigenen Produkten der Marktwirtschaftsdemokratie) kann der offizielle Demokrat all das im Brustton der Überzeugung verurteilen, was er an sich selber als unkoscher empfindet, aber trotzdem für "notwendig" hält.

Von dieser uneingestandenen demokratischen Heuchelei schwer belastet ist auch die ausufernde Moraldebatte, die sich nach den Morden von Mölln und Solingen immer mühsamer dahinschleppt. Ende 1992 wurde von führenden Repräsentanten sozialliberaler bis konservativer Couleur aus Politik und Wirtschaft (unter Federführung von Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt) ein vielbeachtetes Manifest mit quasi oppositionellem Anspruch herausgebracht, unter dem Titel "Weil das Land sich ändern muß". In diesem Text kommt die Geisteshaltung und Geistesverfassung der bereits abgetretenen hochfordistischen Führungselite mit all ihren Defiziten besonders deutlich zum Ausdruck. Während sich der Spiegel über den hohen moralisierenden Ton und über die hohlen Anforderungsphrasen ohne konkretes Bewältigungskonzept lustig machte, fand die Kritik einer "Raffgesellschaft" bis in die selber moralisierende kirchliche und politische Linke hinein Anklang. Daß dieses Manifest "gut gemeint" ist, steht außer Frage; aber mit dieser Kennzeichnung ist natürlich auch schon ein vernichtendes Urteil gesprochen. Vermeintlich "links" besetzte Phrasen wie eine Kritik der kapitalistischen "Raffgier" und das Einklagen von Solidarität werden mit platten konservativen Phrasen wie "Besinnung auf die Tugenden der Vergangenheit", "Selbstbescheidung", "Verzicht" etc. zu einem ungenießbaren Brei verrührt. Die Botschaft erschöpft sich in der Deskription von gesellschaftlichen Verfallserscheinungen, denen ein unvermitteltes "Sollen" und "Müssen" matt gegenübergestellt wird.

Die Ungenießbarkeit dieses Manifests, das die Müßigkeit und Ungenießbarkeit der gesamten Ethik- und Moraldebatte nur exemplarisch repräsentiert, läßt sich ganz einfach bestimmen: der marktwirtschaftsdemokratische Pelz soll gewaschen, aber nicht naß gemacht werden. Gemessen an wissenschaftlichen Standards struktureller und systemtheoretischer Reflexion ist dieser Text geradezu primitiv und argumentiert auf Stammtischniveau. Die beklagten Erscheinungen können nicht erklärt werden, außer durch bloß subjektive Zuordnung auf einen "falschen" und "fehlgeleiteten" Willen; die längst widerlegte pädagogische Illusion wird auf dem Reflexionsstand ungefähr des 18. Jahrhunderts platt wiederholt. Daß die kritisierte Raffgier und Verallgemeinerung der Korruption ebenso wie die beklagte "Bindungslosigkeit" der "jungen Menschen" kein simples Produkt subjektiv falscher Erziehung, sondern logische Konsequenz der vollendeten Marktwirtschaftsdemokratie selbst und ihrer Strukturen ist, kommt den Manifestanten nicht in den hohen Sinn. Dieselben Leute, die soeben noch den Sieg des westlichen Marktsystems und seine Unausweichlichkeit feierten (und die es ausdrücklich auch in ihrem Manifest als "Wirtschaftsprinzip" für "unentbehrlich" erklären), schreien nun auf, wenn sich die Jugendlichen konsequent an den Erfolgs-, Selbstbehauptungs- und Konkurrenzkriterien dieses Systems orientieren, die unter ihren realen (postfordistischen) Lebensbedingungen eben barbarisch werden. Die realen Vergesellschaftungskategorien der totalen Geldwirtschaft und ihrer mörderischen Konsequenzen sollen unangetastet bleiben, aber die Subjekte sollen sich wie Jesus Christus verhalten; sie sollen mit hängender Zunge die kapitalistische Effizienz des 21. Jahrhunderts verkörpern und gleichzeitig eine Ethik biedermeierlicher Gemütlichkeit. Sogar das rohe und dinosaurierhafte warenproduzierende System des Staatssozialismus hatte trotz seiner diktatorischen Form wenigstens eine Ahnung davon entwickelt, daß den Subjekten für gewünschtes Wohlverhalten so etwas wie ein "materieller Anreiz" geboten werden müsse; die in falschen Tönen altertümelnden Manifestanten aber bilden sich offenbar ein, das Entgegennehmen ihrer salbungsvollen Verzichtpredigt wäre schon Gratifikation genug, und in einer strukturell auf Gelderfolg getrimmten Gesellschaft, wie sie die Marktwirtschaftsdemokratie nun einmal ist, könnte der Gotteslohn als das schönste Geschenk akzeptiert werden. Daß die monetäre Gratifikation nicht mehr durchhaltbar ist, gehört ja zur Krise des gesamten Systems; und die durchaus berechtigte Forderung nach Unentgeltlichkeit müßte erst einmal die Systemkriterien selber umstürzen und andere Formen des "materiellen Anreizes" gesellschaftlich entwickeln, statt sich auf unglaubwürdige pädagogisierende Frömmelei zurückzuziehen. Die glorreichen Manifestanten wollen dem aufkommenden Rechtsradikalismus entgegentreten; aber sie merken nicht einmal, daß genau ihre Predigt und deren Begriffe sich wortwörtlich schon längst in den Traktaten des Rechtsradikalismus selber findet, der ebenso wie sie oberflächlich gegen die spätmoderne "Egozentrik" wettert, um die Krise des warenproduzierenden Systems regressiv zu wenden (Scheinaufhebung der nackten Geldlogik in der Re-Imagination des Nationalen), und der gerade in diesem Kontext seine kriminelle Energie entwickelt.

Verräterisch ist es dabei, daß die propagierten ethischen "Werte" überhaupt nicht mehr aus einem verbindlichen allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Bezugssystem hergeleitet werden können, daß es keine Identität von gesellschaftlicher Form und Ethik bzw. Moral mehr gibt, sondern nur noch einen äußerlichen Dualismus von ökonomischem "Wert" (d.h. dem mörderischen und selbstzerstörerischen Kriterium der abstrakten Rentabilität) einerseits und zusammenhanglosen moralischen "Werten" als beliebigen Postulaten andererseits. Die völlige Inhaltsleere der Demokratie ist zugleich die Zweckleere ihrer Subjekte, die nur noch dem abstrakten Selbstzweck des Geldes folgen können, der alle ethisch-moralischen Postulate den Verkürzungen der "instrumentellen Vernunft" (Max Horkheimer) unterwirft und sie daher selber zu instrumentellen Techniken herabsetzt. Mit anderen Worten: die geforderten "Tugenden der Vergangenheit" können im Kontext des marktwirtschaftsdemokratischen Systemprozesses zunehmend nur noch als Sekundärtugenden, abgelöst von einer verbindlichen Wahrheit, in Erscheinung treten; und wir befinden uns heute im Endstadium dieser Instrumentalisierung. Schon vor Jahren hat Oskar Lafontaine, einer der wenigen prominenten Vertreter des postfordistischen kapitalistischen Hedonismus in der sonst eher verkniffen altväterlichen und arbeitsethischen SPD, dem unverdrossen moralpredigenden Helmut Schmidt ahnungsvoll vorgeworfen, er sei der Repräsentant von Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ betreiben könne. Diese Bemerkung trifft ins Schwarze. Denn in der Tat gehörte es zu den Modernisierungs-"Leistungen" des Nationalsozialismus, den instrumentellen Charakter der "Tugenden" voranzubringen, und niemand anders hat diesen Aspekt der Demokratisierung grauenhafter dargestellt als der Kommandant von Auschwitz(40).

Im Unterschied zum Nationalsozialismus hat sich die "instrumentelle Vernunft" aber seither von einem bloß äußerlichen Anforderungssystem gelöst und ist tiefer in die Subjekte und damit auch in den kapitalistischen Alltag eingewandert. Das heißt, daß die mörderische Seite des Instrumentalismus sich heute nicht mehr auf einen übergeordneten Zweck beziehen läßt, und sei es ein derart perverser wie die Judenvernichtung. Vielmehr hat die krude Unmittelbarkeit des Geldes und der daraus abgeleiteten Erfolgskriterien bzw. Selbstdarstellungsformen in einem weiteren Durchlaufprozeß sogar die Sekundärtugenden noch einmal (sozusagen "tertiär") instrumentalisiert, sodaß kaum mehr als Survival-Techniken und -Ideologien übrigbleiben. Die sozialdarwinistische Vulgärphilosophie des späten 19. Jahrhunderts ist zum unreflektierten Alltagsbewußtsein geworden. Wenn ein Jugendlicher einen anderen totschlägt, um dessen für ihn unerschwinglichen Markenturnschuhe zu rauben, dann beweist er damit in gewissem Sinne systemkonforme "Selbstbehauptungstugend", nämlich "Risikofreude" und "Durchsetzungsfähigkeit" etc. auf dem ihm zugänglichen Terrain der Konkurrenz. Das ist der letzte Rest der "Tugenden der Vergangenheit", den die Demokratie noch übrigläßt.

Der inadäquate und kontraproduktive Charakter der Schmidt-Dönhoffschen Tugendbolzerei zeigt sich freilich nicht nur auf der Seite der demokratisch vereinzelten Einzelnen, sondern auch auf der Seite der System-Reproduktion. In einer Gesellschaft, die auf Massenkonsum ausgelegt und angewiesen ist, in der die Konsumwerbung als letzte angemessene Kunstform wachsende Teile des Sozialprodukts verschlingt und ein Trommelfeuer der idiotisierenden Lockung auf die Menschen losläßt, kann die Losung des "Verzichts" und gar die großmütterliche Mahnung zur "Sparsamkeit" nur noch Lachstürme auslösen. Die ehrwürdigen StaatsgreisInnen tun so, als lebten wir in der Welt von Charles Dickens. Dieses Stadium hat die "unentbehrliche" Marktwirtschaft leider seit mehr als hundert Jahren hinter sich gelassen. Die Sparsamkeitsapostel argumentieren immer nur von einem Aspekt der Systemkrise her, nämlich von der Schranke monetärer Verteilungs- und Umverteilungskämpfe; sie vergessen aber regelmäßig die Kehrseite desselben Problems, nämlich die Notwendigkeit möglichst hoher Geldeinkommen für den gelingenden Vermarktungsprozeß. Der altbekannte kapitalistische Selbstwiderspruch ist heute eben in sein letztes, nicht mehr transformierbares Stadium getreten, und die Widersinnigkeit wird perfekt: wie die Leute gleichzeitig eigennützig und altruistisch, gleichzeitig durchsetzungswillig und hilfsbereit, konkurrenzfähig und solidarisch sein sollen, so sollen sie auch gleichzeitig arm und reich sein, gleichzeitig sparsam und verschwenderisch, gleichzeitig verzichtend und konsumierend, dick und dünn, asketisch und hedonistisch. Die klinische Schizophrenie wird zum Staatsziel erhoben, um trotz der für einen Blinden sichtbaren Systemschranke weitermachen zu können. Der Blödsinn hat Methode, und es ist die leerlaufende Strukturlogik der Marktwirtschaftsdemokratie(41). Wenn die gemeinsame Ratlosigkeit von Regierung und Opposition heute in der SPD wieder Stimmen laut werden läßt, die allen Ernstes noch einmal Helmut Schmidt küren möchten, dann sitzen die guten Leute einer Legende auf. Die Bewältigungskompetenz des einstigen "Machers", wie sie im Moral-Manifest erscheint, müßte sich an der demokratischen Realität der 90er Jahre grausam blamieren.

Daß von den politischen und publizistischen Ehrenhäuptlingen der Systemrepräsentanz keine wirkliche Gesellschaftskritik formuliert werden kann, ist kaum überraschend. Die bisherige Linke andererseits war sozusagen "zuständig" für die Gesellschaftskritik nur solange, wie sich das warenproduzierende System der Moderne noch weiterentwickeln konnte. Da auch die linken Kritiker allesamt gelernte Warenfetischisten sind, haben sie in der historischen Systemkrise genausowenig zu sagen wie die offizielle Politik und die offizielle Wissenschaft oder wie die altfränkischen Moralapostel, zu deren äffischem Echo sie werden. Die kläglichen Restbestände altlinker Radikalität ziehen sich auf Gespensterschlachten mit der Vergangenheit zurück, die in die Gegenwart projiziert wird (altlinker "Antifaschismus" gegen "Großdeutschland", den "deutschen Imperialismus" usw.); das Gros der Linken aber erweist sich als marktwirtschaftsdemokratisch domestiziert, womit nur die schon immer existierende Befangenheit in den Kategorien des warenproduzierenden Systems ihr natürliches Endstadium erreicht, und ist mitten in der Weltkrise hauptsächlich damit beschäftigt, den eigenen demokratischen Systemkonformismus zu zelebrieren und den Befähigungsnachweis für kapitalistische Krisenverwaltung zu erstrampeln. In das Vakuum, das die verschwundene Gesellschaftskritik hinterlassen hat, rückt als barbarische Krisenreaktion der neue Rechtsradikalismus ein, der den selbstläufigen Übergang der Marktwirtschaftsdemokratie in die sekundäre Barbarei, d.h. in den gewaltsamen Zerfall gesellschaftlicher Kohärenz, beschleunigt und negativ strukturiert.

Eine neue Gesellschaftskritik kann nur vom Standpunkt postdemokratischer Emanzipation aus formuliert werden, als Kritik und Transzendierung des warenproduzierenden Systems. Ohne adjektivische Relativierung muß gesagt werden: die Demokratie bringt nicht nur Menschenverachtung hervor, sie ist in ihrem sozialökonomischen Kern selber menschenverachtend. Das demokratische Zeitalter, das identisch ist mit der Totalisierung von Warenform und Geldwirtschaft, geht so oder so zu Ende. Das zerstörerische Kriterium der betriebswirtschaftlichen Rentabilität muß gebrochen werden; wesentliche Ressourcen sind aus den Steuerungsmechanismen von Markt und Staat (Geld und Macht) zu entlassen, auf internationaler wie auf regionaler Ebene. Die Aufhebung der Nationalstaaten muß ebenso institutionalisiert werden wie die Aufhebung der bürgerlichen Blutsfamilie. Der abstrakte Universalismus des Westens, der jetzt seine repressive Seite als globale Krise entfaltet, muß abgelöst werden durch eine "sinnliche Vernunft", die nach sozialen und ökologischen Kriterien konkret diversifiziert, ohne "völkisch" und irrationalistisch zu selektieren. Diese Probleme sind durch den Untergang des Staatssozialismus nicht dementiert, der selber noch der Durchsetzungsgeschichte des abstrakten Universalismus angehört und sich solche Aufgaben nicht einmal stellen konnte. Die Fixierung auf den Staatssozialismus und auf die alte Kapitalismuskritik verdunkelt nur das notwendige neue Krisenbewußtsein.

Insofern gilt auch: Nur Demokraten können die Demokratie aufheben. Will sagen: die Errungenschaften von Aufklärung und Demokratie können nur durch Aufhebung bewahrt werden, durch Aufhebung des sozialökonomischen Kerns der Demokratie. Das demokratische, geldverdienende "Selbst" des warenförmigen Individuums muß von seiner destruktiv gewordenen Form befreit werden, damit es ein menschliches "Selbst" bleiben kann. Dieses "Sollen" und "Müssen" ist ein anderes als das moralisierende, äußerlich herangetragene der kapitalistischen Tugendprediger. Es appelliert an die Aufhebungspotenz im Inneren der bürgerlichen, demokratischen Gesellschaft selbst, die nicht mehr verdrängt werden kann. Der demokratische Westen muß sich selbst aufheben, um "zivil" bleiben zu können; und eine gesellschaftskritische Aufhebungsbewegung wird sich aus allen Lagern und Institutionen der bisherigen warenproduzierenden Gesellschaft rekrutieren. Wenn der gesellschaftliche Konflikt nicht auf dieser neuen Ebene reformuliert werden kann, wird noch einmal Karl Marx mit seiner pessimistischsten Aussage das letzte Wort behalten, nämlich mit der Prognose eines möglichen "gemeinsamen Untergangs in der Barbarei".

 

Fußnoten

(1) Wenn hier und im folgenden Begriffe und Aussagen der Systemtheorie verwendet werden, so bedeutet dies keine Übereinstimmung mit deren ideologischen Prämissen. Im Gegenteil. Die Systemtheorie ist zwar hilfreich, um den subjektlosen Charakter der vorgefundenen Strukturen zu benennen, nicht aber für dessen kritische Überwindung. Sie affirmiert und ontologisiert diese Subjektlosigkeit vielmehr und erweist sich dadurch selber dem von ihr bekämpften Aufklärungsdenken zugehörig, nämlich hinsichtlich der aufklärerischen Geschichtslosigkeit. So kann die Systemtheorie sich selbst nicht als historisches Produkt einer bestimmten (und endlichen) historischen Gesellschaftsformation begreifen, auf deren Boden der Begriff eines "Systems" überhaupt erst entstehen konnte, sondern sie mißversteht wie jedes Aufklärungsdenken ihre Begriffe und Kategorien als überhistorische, ontologisch gültige, d.h. als "endgültige" Aussagen über die allgemeinen Seinszustände. So blamiert sich Niklas Luhman wie jeder Aufklärer, wenn er das Geld als unhistorisches "Kommunikationsmedium" für das "Subsystem" der "Wirtschaft" ontologisiert, vermeintlich gültig für jede beliebige menschliche Gesellschaft. Konzepte und Terms der Systemtheorie können aber in eine kritische Gesellschaftstheorie eingearbeitet werden, vor allem zur Bestimmung des (untergehenden) Ist-Zustands in Gestalt des warenproduzierenden Systems, wenn das kritisch-negatorische Moment der Marxschen Fetisch-Kritik hinzutritt, in dessen Licht die von der Systemtheorie als ewige Unausweichlichkeit hingestellte Blindheit und Selbstläufigkeit des Systemzusammenhangs als das Wesen einer bestimmten, zu Ende gehenden und zu überwindenden Epoche dechiffriert wird.

(2) In diesem Kontext ist auch der gesamte Staatssozialismus des Ostens angesiedelt, der ebenso wie die westliche Linke und die westliche Arbeiterbewegung noch keine Alternative zum warenproduzierenden System der Moderne konstituieren konnte (die erst aus dessen krisenhafter Reife am Ende des kapitalistischen Gesamtprozesses entstehen kann), sondern selber noch Bestandteil des bürgerlichen Modernisierungsprozesses in einigen Gesellschaften "nachholender Modernisierung" war.

(3) Freilich geschieht dies bis heute mit einem geschlechtlichen, männlichen Vorbehalt; denn strukturell ist die Demokratie schon seit den antiken Vorformen eigentlich auf den Diskurs der männlichen Öffentlichkeit (Demokratie der "Schwerbewaffneten") zugeschnitten, der den Raum des "privaten Haushalts" (und das, was dort geschieht) systematisch ausspart.

(4) Der Nonsense-Begriff der "Postmoderne" trug, wie inzwischen mehrfach festgestellt wurde, nur die eitle Hoffnung, die westliche Moderne über sich selbst hinaus zu verlängern und ihr Ende dadurch zu verweigern, daß es mit einem irrsinnigen Beliebigkeits-Geschwätz zugeschüttet werden sollte. Wenn es in den alten (warenförmigen) Kategorien nichts mehr zu sagen gibt, trotzdem über das Stadium des milden Verstummens hinaus weiterreden zu wollen, muß zwangsläufig im kindischen Geplapper enden. Diesen Punkt hat inzwischen auch die Politik erreicht, und zwar die Politik überhaupt, d.h. auch (und erst recht) die sogenannte linke Politik.

(5) In Deutschland als die Kontinuität von Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und schließlich BRD.

(6) Oder, um noch einmal auf die linken Varianten desselben Denkens hinzuweisen: der Faschismus erschien dann als eine bösartige Wucherung des "undemokratischen" Kapitalismus zwischen der unvollkommenen "bürgerlichen" Demokratie der Weimarer Republik und der "sozialistischen" Demokratie der DDR (oder in der westlich-linksradikalen Variante: der erst zukünftigen "wahren" sozialistischen Demokratie).

(7) Im Anschluß an und als Reaktion auf Dahrendorf hat sich eine gewisse Debatte um "strukturalistische" und "intentionalistische" Erklärungen des Nationalsozialismus entsponnen, die aber insofern lahm blieb, als sie den unkritischen, affirmativen Ausgangspunkt der Nachkriegs-Marktwirtschaftsdemokratie nie verlassen konnte. Immerhin wurde dabei nachgewiesen, daß sich die Momente der strukturellen Modernisierung im Nationalsozialismus durchaus auch "intentional" ausmachen lassen.

(8) Eine solche Feststellung hat nicht das geringste damit zu tun, dem Nationalsozialismus in irgendeiner Weise "gerecht" werden zu wollen im Sinne eines entschuldigenden Bonus oder dergleichen. Das allzu billige ex-post-Urteil über die gesellschaftliche Bewußtseinslage der zwanziger Jahre aber, das auf logisch unzulässige und eigentlich lächerliche Weise immer schon mit den historischen Resultaten operiert und sich somit bloß pflichtschuldigst und äußerlich vom Nationalsozialismus distanziert, begibt sich selber jedes möglichen Begreifens der Geschichte, die zur NS-Herrschaft geführt hat. Vielleicht deswegen, weil das gesamtdemokratische Bewußtsein diese Geschichte auch gar nicht begreifen will, könnte doch aus Versehen der innere Zusammenhang von Demokratie und Faschismus aufgedeckt werden.

(9) Rainer Zitelmann nimmt für sich und seine Mitstreiter in Anspruch, die Kontroverse über "Struktur" und "Intentionalität" des Nationalsozialismus überwunden zu haben, weil die von ihnen erst durchschlagend geltend gemachte "Modernisierungsfrage" dazu querliegend und vermittelnd sei. Freilich ist es mit bloßer Vermittlung nicht getan, solange der Begriff der "Modernisierung" selber leer oder unscharf und wesentlich affirmativ oder bestenfalls bloß binnenkritisch bleibt.

(10) Der Aspekt der "Modernisierungspotenz" in den wissenschaftlichen Untersuchungen und Kontroversen über den Nationalsozialismus ist spätestens seit Dahrendorf nichts grundsätzlich Neues; allerdings haben Nolte u. Co. diesen Aspekt weitaus stärker hervorgehoben als frühere einschlägige Beiträge, und vor allem haben sie die bohrende Untersuchung näher " an die Stellen herangeführt, wo der Nerv des demokratischen Bewußtseins getroffen wird, nämlich an den innovativen und prototypischen Charakter der nationalsozialistischen Umwälzungen für die späteren demokratischen Institutionen der BRD. So hat im Gefolge des Ansatzes von Rainer Zitelmann der Historiker Jürgen W. Falter die NSDAP keineswegs zu Unrecht als die "erste Volkspartei" und als Muster für die späteren typischen "Volksparteien" mit breitem Klientel-Spektrum in der BRD-Demokratie dechiffriert. Übrigens finden sich einschlägige Argumente schon in der mit dem Nationalsozialismus zeitgenössischen Analyse von Otto Kirchheimer, der die NSDAP mit dem Begriff der "Massenintegrationspartei" belegte; eine beachtliche Leistung, wenn auch naturgemäß die Beziehung zu den zukünftigen demokratischen BRD-Institutionen noch nicht hergestellt werden konnte. Im Sinne einer Strukturanalyse ist es durchaus korrekt, diese historisch-genetischen Zusammenhänge aufzuzeigen, und das empörte Aufjaulen zeigt nur, wie distanzlos die demokratischen Anstoßnehmer in jenem Kontinuum befangen sind, das Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie strukturell zusammenschließt.

(11) Es wäre eine eigene Untersuchung wert, die Beschränkungen von Wahlrecht, Rechtsstaat, Freizügigkeit und Universalismus gerade auch in Ländern wie England, Frankreich und selbst den USA (den sogenannten "alten westlichen Demokratien" mit angeblichem Vorbildcharakter) demokratiehistorisch und demokratiekritisch bis ins 20. Jahrhundert hinein zu verfolgen. Im einzelnen gibt es dazu natürlich Material, nicht zuletzt die Dokumente der verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen (und ihrer juristischen bzw. polizeilichen Verfolgung); trotzdem fehlt eine kohärente theoretische Darstellung, weil die Thematik letztlich erst von einem "postdemokratischen" Standpunkt der Emanzipation aus adäquat erfaßt werden kann.

(12) Merkwürdig identisch sind dabei sogar die Details, wie sie in der Formierung der Massen, in der Militarisierung des Erziehungswesens usw. erscheinen: so z.B. die Angewohnheit, uniformierte Schulkinder oder Soldaten "lebende" Buchstaben, Parolen oder Symbole bilden zu lassen, die nur aus der Luft oder aus großer Entfernung (z.B. in Stadien) erkannt werden können. Man kann darin eine "Einübung des abstrakten Individuums" sehen, ein Training des Universalismus, in dem sich die monadisierten Subjekte zu Molekülen des warenproduzierenden Systems fügen.

(13) Der Begriff der "nachholenden Modernisierung" trifft für das 20. Jahrhundert vor allem auf den Staatssozialismus und auf die postkolonialen Länder der 3. Welt zu. Aber auch im 19. Jahrhundert hatte es schon ungleichzeitige Entwicklungswege gegeben; diese erste "nachholende Modernisierung", die unter den Weltmarkt- und Produktivitätsbedingungen des 19. Jahrhunderts noch erfolgreich enden konnte, fand exemplarisch in Deutschland, Italien und Japan statt. Faschismus, Nationalsozialismus und das Tenno-Regime waren die letzten diktatorischen Ausläufer dieser Entwicklungswege, während England und Frankreich ihre zentralen Modernisierungsdiktaturen schon in den vorhergehenden Epochen hervorgebracht hatten; in den USA hatte es ohnehin nie das Problem einer inneren Durchsetzungsdiktatur des warenproduzierenden Systems gegen die vormoderne agrarische Feudalgesellschaft gegeben, die demokratische Gewalt konnte sich hier von Anfang an auf ihrem eigenen Boden entfalten. Nur deswegen kam die fordistische Formierung in Westeuropa und in den USA trotz ideologisch verwandter Begleitmusik (u.a. des wüsten Antisemitismus von Henry Ford höchstpersönlich) ohne neue Formierungsdiktatur aus.

(14) Indem sie immer positiv auf das System der abstrakten Arbeit und des Industrialismus bezogen blieb, konnte die Arbeiterbewegung nichts anderes sein als eine immanente Kraft der kapitalistischen Modernisierung selbst. Eine explizite Kritik der Warenform findet sich in der Geschichte der Arbeiterbewegung bestenfalls in Spurenelementen, und auch dann operiert diese Kritik noch vom Standpunkt der verhimmelten "Arbeit" aus, d.h. wie bei der äußerlichen Gegenüberstellung von Kapitalismus und Demokratie wird ein Strukturelement des warenproduzierenden Systems unbegriffen gegen ein anderes ausgespielt. Diese Immanenz der Kritik ist ein Zeichen dafür, daß sich die Entwicklung des Systems noch nicht erschöpft hatte; heute stößt eine solche Kritik umgekehrt deswegen an ihre Grenzen, weil das System selbst an seine Grenzen stößt.

(15) Natürlich hat der Nationalsozialismus sein Programm einer tatsächlichen Abschaffung des zinstragenden Kapitals nie verwirklicht. Das ist auf Basis eines warenproduzierenden Systems auch gar nicht möglich, weil das Problem auf der Ebene der abstrakten Arbeit und ihrer fetischistischen "Darstellung" in der Geldform als solcher liegt, die in der Rückkoppelung des betriebswirtschaftlichen Kalküls (Rentabilitäts-Kriterium) wachsende soziale und ökologische Destruktionspotentiale freisetzt. Bis zu diesem Grund der eigenen Subjektform mag das moderne bürgerliche Bewußtsein aber nicht vordringen, sodaß auch die heutige neue Weltkrise abermals ein ideologisches Revival der Geldpfuschereien im Sinne von Proudhon, Gesell u.Co. bei einigen Sekten und Reformbastlern mit sich bringt. Die Logik des warenproduzierenden Systems als solche bleibt unbegriffen und unbefragt, aber sie soll von ihren "negativen Seiten" eklektisch befreit werden. Unausgesprochen gehen alle derartigen Geldpfuschereien von einer "Individualität" der abstrakten Arbeit aus, wie sie auf der Stufe "einfacher" Arbeitsteilung von selbständigen (patriarchalischen) Bauern und Handwerkern vorstellbar war, während der gesamte reale Vergesellschaftungs- und Verwissenschaftlichungsprozeß der Reproduktion im 19. und 20. Jahrhundert von diesem ideologischen Raster ausgeblendet werden muß. Die Entfesselung des zinstragenden Kapitals und seiner Rückwirkung auf die industrielle Produktion ist aber von diesem Vergesellschaftungsprozeß in der Warenform nicht zu lösen. So lief die nationalsozialistische Kritik des "raffenden Kapitals" mit dem falschen Versprechen einer Befreiung von den Leiden abstrakter Arbeit einzig und allein in das Programm der Judenvernichtung aus.

(16) Damit ist mehr oder minder ausgeprägt in Deutschland, in Europa und mittlerweile in der ganzen Welt ein Zustand erreicht, wie er für das "jungfräuliche" Reich des warenproduzierenden Systems in den USA von Anfang an gültig war. Die allgemeine "Amerikanisierung" ist in Wirklichkeit nur die Verallgemeinerung der kapitalistischen Kriterien und Subjektformen, in die durch viele Durchsetzungskrisen hindurch auch die übrige Menschheit einrückt, freilich nur, um zusammen mit dieser globalen Verallgemeinerung auch die globale Krise des warenproduzierenden Systems und seiner beschränkten, betriebswirtschaftlichen Rationalität zu erleben.

(17) Er wurzelt also nicht in tieferen ontologischen Schichten, wie es die verschiedenen Strömungen "rechter" Ideologie suggerieren, die diese historischen Durchgangsformen mystifiziert und teilweise mit "rassischen" bzw. biologistischen Ideologien und Wahnsystemen unterfüttert haben.

(18) Derselbe Vorgang wiederholt sich auch auf den Ebenen der Kultur, der Malerei, der Musik, der Literatur usw., mittlerweile sogar in der Popmusik. Es gibt nichts Neues unter der warenförmigen Sonne mehr, nur noch die endlose Variation von Puzzles und Kombinationen des längst Bekannten. Neues könnte nur aus einem Lebensgefühl entstehen, das mit dem ideellen und realen Sprengen der Warenform identisch wäre. Die ewig gleichen "Geldverdiener" aber können sich nur noch buchstäblich gegenseitig zu Tode langweilen. Erst jetzt ist die Verächtlichkeit des Geldverdienens am Ende angekommen, ein Ende in den Subjekten selbst, in dem sie nicht einmal mehr als Verächtlichkeit wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung wird sich erst in einem sehr späten Stadium der Zusammenbruchskrise wieder einstellen, falls es zu emanzipatorischen und nicht nur zu barbarischen Reaktionsformen kommt.

(19) Das zeigt sich schon daran, daß der neue Nationalismus in den zerbrechenden nationalökonomischen Regulationsräumen nicht bloß nach außen, sondern auch nach innen ab- und ausgrenzend wirkt, keine negativ integrative, sondern umgekehrt eine desintegrierende Potenz entwickelt. Nicht umsonst tritt er global in einer Welle von separatistischen und ethnischen Strömungen bis hin zu absurden Kleinst-Identitäten auf, die vielfach in schlichte Bandenkriege übergehen. Kein einziger der fast schon täglich aufflammenden Bürgerkriege und keine der willkürlich "ethnisch" besetzten "Unruhen" wird mehr zu irgendeinem nationalen "Reich" führen.

(20) Dies zeigt sich auch in den wenigen Reflexionen des intellektuellen Rechtsradikalismus, wie er in der BRD z.B. in der Zeitschrift "Junge Freiheit" artikuliert wird. Hatte der alte Rechtsradikalismus seine rassistische Ideologie noch unverhohlen biologisch begründet und damit eine durchschlagskräftige Legitimation bis hin zum primitiven Bewußtsein des gesellschaftlichen Bodensatzes geliefert, so erscheint der an die Theoreme der französischen Neuen Rechten (Alain Benoist u.a.) angelehnte "kulturelle Rassismus" demgegenüber bloß als schwächliches intellektuelles Konstrukt, dessen Vermittlung mit dem barbarisierten Krisenbewußtsein der Straßenbanden zweifelhaft ist (zumal abgrenzungsfähige nationalkulturelle Elemente höchstens noch folkloristisch ausgemacht werden können; der Straßen- und Stammtischrassist kann und will nicht mit Goethe oder Hegel auftrumpfen, ebensowenig wie er als "deutscher Christ" sich selber glaubwürdig wäre oder sich eine "deutsche Alltagskultur" zurechtbasteln könnte). Auch in anderer Hinsicht fehlt dem neuen intellektuellen Rechtsradikalismus die Eigenständigkeit und Kraft seiner ideologischen Vorfahren der Zwischenkriegszeit. Die nationalrevolutionären Strömungen der Weimarer Republik, die den Faschismus intellektuell mit auf den Weg gebracht, sich dann allerdings mit Recht angewidert von seiner Realität abgewandt hatten, besaßen in ihrer scharfen Kritik westlicher Rationalität, marktwirtschaftsdemokratischer "Politik" und betriebswirtschaftlicher Logik sogar starke, irrational verpackte Wahrheitsmomente gegen die freilich unbegriffene gesellschaftliche Warenform, die in ihrer eigenen Sprache durchaus die Fetischkritik von Marx tangieren, sich allerdings nach rückwärts orientierte national-ontologische Legitimationen suchten (so Thomas Mann in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen", so Ernst Jünger oder Carl Schmitt u.a.). Genau diese starken Momente scheinen aber die jungen Neo-Rechtsradikalen der "Jungen Freiheit" aufgegeben zu haben, wie man ihren quasi-programmatischen Aussagen entnehmen kann. Sie ordnen sich beflissen dem demokratischen Pluralismus ein und wollen ganz platt "politisch" sein, ausdrücklich konform mit dem marktwirtschaftlichen Basis-Konsensus des Westens; und dies keineswegs bloß aus taktischen Gründen. Darin zeigt sich die Befangenheit im Partikularismus des postmodernen Warensubjekts. Das einzig neue am Neuen Rechtsradikalismus ist seine mangelnde Kraft zur gesellschaftlichen Allgemeinheit bzw. zu deren Kritik in ihrer westlichen, marktwirtschaftsdemokratischen Form. Auf diese Weise hat die "Junge Freiheit" in ihrer inhaltlich zahnlosen und bemüht aufmüpfigen Elaboriertheit etwas von der Peinlichkeit einer alten Frau, die sich jugendlich herrichtet und Jugendliche zu verführen hofft.

(21) Die politizistischen Linksdemokraten sind immer schnell mit dem Vorwurf des "Ökonomismus" bei der Hand, wenn ihnen die Thematisierung bestimmter Zusammenhänge mißfällt. In der BRD ist es immerhin evident, daß die Wellen des Rechtsradikalismus in der Nachkriegsgeschichte, die seit den späten 60er Jahren schon mehrfach nationalistische und rassistische Parteien in die Parlamente gespült hatten, verblüffend genau dem Takt der ökonomischen Rezessionen folgten. Es existiert offenbar ein gewisses Potential, das schon durch einen "Hauch von Krise" abgerufen werden kann.

(22) Ganz abgesehen davon, daß die Dienstleistungen abgeleitete ökonomische Sektoren darstellen und gar keine eigenständige Kapitalakkumulation generieren können, weil zum größten Teil anderswo verdiente Gelder bei ihnen ausgegeben werden müssen. Ein allgemeines Billiglohnniveau, wie es offenbar einigen ökonomischen Idioten in den Arbeitgeberverbänden vorschwebt, müßte die Systemkrise erheblich verschärfen, da es die gesellschaftliche Kaufkraft zurückfahren würde, die im Kontext der globalen Krise nicht mehr durch Exporte ausgeglichen werden kann.

(23) Daß die osteuropäischen Arbeitskräfte teilweise unglaublich niedrige Stundenlöhne akzeptieren, erklärt sich vor allem aus den Wechselkursverhältnissen der Zusammenbruchsökonomien gegenüber der DM. Mit einer Arbeitssaison in der BRD kann etwa ein polnischer Saison-Immigrant zuhause seine ganze Familie für ein Jahr oder sogar länger ernähren oder sich ein Haus kaufen. Solche Möglichkeiten durch die teilweise bizarren Verlaufsformen der globalen Krise auf der Ebene der Währungsverhältnisse sind sicher nur vorübergehend, aber es wäre ein Wunder, wenn sie nicht wahrgenommen würden.

(24) Dies wiederum hat faktisch zum Zusammenbruch der ostdeutschen Exportindustrie geführt, die auf lange Sicht abhängig von den osteuropäischen und vor allem den russischen Märkten bleibt. Seitdem durch die Eingliederung Ostdeutschlands in die BRD Kosten und Preise in DM erscheinen, sind die ostdeutschen Produkte natürlich für die GUS und auch für die osteuropäischen Reformstaaten unerschwinglich geworden. Die bereits klinisch toten ostdeutschen Exportstrukturen werden von der Bundesregierung nur noch mühsam und perspektivlos durchsubventioniert. Das merken und wissen natürlich jene, von denen im westdeutschen Politikerjargon salbungsvoll als von "den Menschen im Lande" die Rede ist.

(25) Im Falle der Zementindustrie läßt sich sogar eine direkte Verbindung zum Immigrationsdruck von billiger Arbeitskraft herstellen, denn oft sind es die Führer von billigen (legalen oder illegalen) osteuropäischen Bauarbeiter-Trupps, die gleichzeitig als Verkaufsmanager für billigen Ost-Zement quasi nebenberuflich agieren. Besonders pikant ist es dabei, daß nicht selten staatliche Behörden und halbstaatliche Institutionen im Westen als erste anbeißen und die eigene Industrie bzw. die eigenen Arbeitskräfte ausbooten, weil sie mit leeren Kassen dastehen und bei öffentlichen Bau-Investitionen unter Kostendruck geraten. Daß dieses Vorgehen zur weiteren Verminderung von Steuereinnahmen, erhöhter Arbeitslosigkeit, erhöhten Sozialkosten usw. führt, gehört zur Krisenspirale. Die gesamtgesellschaftliche Irrationalität betriebswirtschaftlicher Kostenkalkulation zeigt sich eben auch (und sogar besonders deutlich) bei den öffentlichen Institutionen.

(26) Natürlich sind subventioniertes Exportdumping, Billiglohn und manipulierter Wechselkurs keine Elemente einer marktwirtschaftlich seriösen und längerfristig haltbaren Strategie, in Osteuropa ebensowenig wie in den meisten der hochgelobten vermeintlichen "Exportwunder" Südostasiens. Letztlich handelt es sich dabei um einseitige ökonomische Kamikaze-Versuche, die nicht mehr als Episoden im globalen Zusammenbruchsprozeß der Marktwirtschaft darstellen.

(27) Da die Ideologie freier flottiert als die sozialökonomischen Verhältnisse, lassen sich rassistische und marktliberale Reaktionsformen natürlich im Einzelfall nicht mechanisch zuordnen. Die ändert jedoch nichts daran, daß der ökonomische Krisenprozeß und die Verschärfung der sozialen Konkurrenz den Hintergrund des wachsenden Konfliktpotentials bilden.

(28) Dies gilt im übrigen auch für die kulturellen Ausdrucksformen. Volkstänze und Wandervogelgeschrumme gehören nun einmal zur "nationalen" Populärkultur, und wenn sich diese nicht reaktivieren läßt, dann ist das nur ein Zeichen dafür, daß die Ontologie des Nationalen überhaupt auf schwachen Beinen steht. Die spezifische Popmusik der Skins ("Pogo" etc.) wäre bei den Nazis natürlich sofort als "entartet" verboten worden, und zwar nach nationalistischen Maßstäben völlig zu Recht, weil sie diesen zufolge ein kulturelles Produkt der Internationalisierung und "Rassenmischung" ist. Wir haben es also nicht mit einer "Modernisierung" nationalistischer Ausdrucksformen zu tun, sondern mit schreienden inneren Widersprüchen des neuen Rechtsradikalismus. Der einzelne Skin oder Neonazi mag mit solchen Widersprüchen leben können, weil er sowieso keinen zusammenhängenden Gedanken zu formulieren in der Lage ist, aber für die gesellschaftliche Vermittlungs- und Durchsetzungsfähigkeit des neuen Rechtsradikalismus sind solche Widersprüche auf die Dauer lähmend.

(29) Das Wort "Gesinnung" mutet altertümlich an, weil es in der entfesselten Marktwirtschaft eigentlich nur noch "Meinungen" oder "Positionen" gibt, die immer schon mit sozusagen konjunkturellen Vorbehalten belegt werden. Die rechtsintellektuelle Demokratiekritik von Weimar sprach deshalb von der "Gesinnungslosigkeit" der demokratischen Politiker, und ihre Vertreter wie Ernst Jünger wandten sich nicht zuletzt deshalb angeekelt von den Nazis ab, weil sie in diesen "Lemuren" (Jünger) ein Durchsetzungspotential genau jener demokratischen Gesinnungslosigkeit witterten, die Elemente eines instrumentellen Verhältnisses zur eigenen Fassadenideologie entwickelte. Dieser Einschätzung kann ein starkes Wahrheitsmoment nicht abgesprochen werden, wenn auch verzerrt durch das rechtskonservative Raster. Die heutige Krise des Politischen liefert die letzte Bestätigung, soweit eine solche noch nötig war. Im inhaltlich völlig bedeutungslos gewordenen Ritual der demokratischen Wahlen, bei denen nichts Wesentliches zur Wahl steht, ist bekanntlich die Politik zum Marketing für repräsentative Seifen heruntergekommen. In diesem Seifengeschäft mag die geschäftliche Kalkulation von Stoiber und seiner sich rechtsradikal oder rechtsklerikal gebenden Kamarilla dahin gehen, durch rassistischen Populismus den Reps das Wasser abzugraben und die eigene Mehrheit zu halten. Diese Strategie ist so primitiv, daß sie ins Auge zu gehen verspricht. Denn die CSU wird dabei ihre liberalkonservative Klientel verlieren, während es mehr als fraglich ist, ob sie die nach rechtsaußen abtriftende Klientel zurückholen kann.

(30) Daß "das Kapital" einhellig und begeistert hinter Hitler und seiner Partei gestanden hätte, ist eine linke Legende, die sich auf lediglich partikulare Tatsachen stützt. Die Weimarer Republik war dem historischen Entwicklungsstand und den Transformationsproblemen entsprechend in allen sozialen Gruppen hochgradig "politisiert", und die Sympathien oder Stellungnahmen der Kapitalrepräsentanten verteilten sich auf ein großes und kontroverses politisches Spektrum. Sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mit dem Sieger zu arrangieren, war etwas anderes; solche Arrangement-Versuche gab es aber nicht nur bei den Kapitalisten und Kapitalverbänden, sondern auch bei den vorherigen politischen Gegnern der NSDAP und bekanntlich sogar bei den Gewerkschaften.

(31) Diese Schranke der Politik zeigt sich natürlich besonders deutlich bei den offenen Rechtsradikalen selbst, deren Wirtschafts- und Sozialprogramme entweder nicht vorhanden oder schlicht undurchführbar und in der Regel noch nebelhafter sind als diejenigen der offiziellen Parteien. Und da steckt auch kein verborgener Trumpf mehr im Ärmel. So ist es fast belustigend, zu sehen, wie etwa die schmissig rechtsintellektuelle "Junge Freiheit" bei den ökonomischen Zentralfragen plötzlich in peinliches Stottern gerät und oft in ein- und derselben Ausgabe diametral entgegengesetzte Standpunkte einnimmt; beispielsweise findet sich einerseits die übliche Gewerkschaftshetze der mittelständischen Halsabschneider, andererseits will man womöglich eine gemeinsame Front von "deutschen" Gewerkschaften, "fleißigen Mittelständlern" und deutschfreundlichen Fleißtürken zur Rettung des "deutschen Standorts" mobilisieren. Bevor es zu brenzlig wird, rettet man sich dann doch lieber in "geopolitische" Schwelgereien, was ungefähr den Träumen eines Beinamputierten von der Hochsprung-Weltmeisterschaft entspricht.

(32) Als wollte der Sicherheitsapparat sich beeilen, diese Einschätzung zu bestätigen, traf während der Fahnenkorrekturen dieses Buches die Nachricht von den skandalösen Vorgängen um die "Terroristenfahndung" von BKA bzw. GSG 9 ein, die im Verdacht stehen, bei einem Einsatz im ostdeuschen Bad Kleinen das RAF-Mitglied Wolfgang Grams regelrecht "hingerichet" zu haben.

(33) Mehr als in offiziellen und öffentlichen Stellungnahmen kann man über die Stimmungslage bei den Polizeitruppen anläßlich von antirassistischen Demonstrationen erfahren, wenn aus spontanen Wortwechseln oder Zurufen der Ordnungshüter (bzw. aus Beschimpfungen gegen festgenommene Demonstranten, die natürlich nicht beweisbar sind) eindeutig hervorgeht, daß zumindest ein gewisser Teil von ihnen geistig, moralisch und gesinnungsmäßig auf der Stufe von Skinheads stehen muß. Das wird auch durch einzelne Berichte der (eine winzige Minderheit vertretenden) "Vereinigung kritischer Polizeibeamter" in der Presse deutlich, die von Kollegen geschnitten und teilweise neonazistisch beschimpft wurden. Über das Ausmaß dieser Stimmung kann man nur Vermutungen anstellen. Sicherlich spiegelt der Polizeiapparat wie alle anderen gesellschaftlichen Institutionen auch die Tendenz in der Gesamtbevölkerung; aber sein besonderer Charakter und sein Ausleseverfahren, das viel eher "rechtes" als kritisches Denken begünstigt, muß bei fortschreitendem Krisenprozeß auch als besonderes Potential des Rechtsradikalismus und der verlängerten bzw. sich verselbständigenden Staatsgewalt gegen Schwache verstanden werden. In dieses Bild paßt es, daß der Jahresbericht 1993 von amnesty international schwere Beschuldigungen gegen die deutsche Polizei wegen Mißhandlung und Beleidigung von Ausländern enthält.

(34) Wie sich übrigens auch in den Anzeigenspalten der demokratischen und nicht zuletzt der alternativen Presse der tiefempfundene Wunsch nach sadomasochistischer Sexualität zunehmend äußert und inzwischen sogar KZ-Feriencamps zum Freizeitangebot des demokratischen Gestaltungsraums gehören.

(35) Phänomenologisch ist dieses Problem längst aufgeworfen und durch die soziologische und sozialpsychologische Literatur gezerrt worden. Von der "Entmündigung durch Experten" (Illich) bis zur "Kolonialisierung der Lebenswelt" (Habermas) wurden dazu die Stichworte geliefert. Aber nirgendwo ist die Reflexion bis zur Systemkritik der westlichen Marktwirtschaftsdemokratie vorgedrungen, deren abstrakter Universalismus nicht in seinem zentralen Repressionscharakter wahrgenommen wird. Solange dieser Charakter ausgeblendet bleibt, meinen die von der 68er Erfahrung geprägten Lehrer, Sozialpädagogen und Eltern, sich nicht entscheidend betroffen fühlen zu müssen.

(36) Der demokratische Karriere-Feminismus sichert bestenfalls das bürgerliche Reüssieren einer quasi mittelständischen Minderheit, während die keineswegs von den strukturellen Zwängen des asymmetrischen Geschlechterverhältnisses befreite Masse der Frauen klammheimlich aufgegeben wird. Diese Tendenz erinnert verdächtig an die ebenso klammheimliche gewerkschaftliche Ausgrenzungspolitik gegenüber den sozial Herausgefallenen, um für qualifizierte Kernbelegschaften anspruchsvolle Konzepte durchzusetzen. Die marktwirtschaftsdemokratisch vergatterten Karriere-Feministinnen ähneln so den "Karriere- und Vorzeige-Negern" in Apartheidgesellschaften.

(37) Fast tragisch ist es zu nennen, daß sich auch Teile des übriggebliebenen radikalen Feminismus selber auf eine Ontologisierung (und teilweise sogar Biologisierung) der Geschlechtsrollen zurückgezogen haben. Insbesondere eine militant-positive Besetzung der Mutterrolle und des "Kinderkriegens" versucht die herrschenden Zuschreibungen auf die Frau emanzipatorisch zu verdrehen, wobei der militante und "isolationistische" Gestus offenbar den prekären Charakter des ganzen Ansatzes ausgleichen soll. Da die menschliche Gesellschaft aber immer aus Männern und Frauen bestehen wird und eine "eingeschlechtliche" (feminine) Population außer in Phantasy-Romanen nicht möglich ist, leisten solche Ansätze trotz feministischen Eiferns letztlich dem maskulinistischen "roll back" und sogar dem neuen Rechtsradikalismus Vorschub. Einige Aussagen des militanten Mütter-Feminismus und der "Differenz"-Ontologistinnen erinnern selber schon verdächtig an die Blut- und Boden-Ideologie bzw. nähern sich den Ideologemen eines Öko-Faschismus an. Eine radikale Kritik der Geschlechtsrollen (statt einer Scheinkritik durch deren Ontologisierung), die andererseits nicht im bürgerlichen Gleichheits-Feminismus steckenbleiben will, muß durch die radikale Kritik der Marktwirtschaftsdemokratie und ihrer Reproduktionskriterien hindurch.

(38) Immer wieder überrascht es den West-Besucher, mit welcher offenbar unbewußten Selbstverständlichkeit bei gleichaltrigen Ost-Paaren, oft auch bei Intellektuellen, die Frau zusätzlich zu ihrer Berufstätigkeit eine Küche-Kinder-Haushalts-Existenz führt und für den Mann eine ungebrochen sekundierende, logistische Funktion erfüllt, während ihre eigenen geistigen Interessen eher Hobby-Charakter zu besitzen scheinen. Die Haushalte und Beziehungen "funktionieren" dadurch besser, aber eben nur äußerlich und in der alten Funktionsweise; sie sind noch nicht vom Geschlechterkrieg verwüstete Trümmerstätten, aber zu Lasten der Frau, deren offensichtliche Doppelbelastung (mit der die bloß finanzielle Unabhängigkeit teuer bezahlt ist) freudestrahlend als gelungene Emanzipation dargestellt wird. Damit korrespondiert eine politische Rechtfertigung von linken Ost-Frauen, die häufig ganz naiv mit der ungebrochenen psychosozialen Geschlechtsrolle des Weiblichen argumentiert und "Anerkennung" gerade von dieser Rolle her einklagt. Natürlich gibt es all das auch im Westen, aber nicht mehr derart ungebrochen und selbstverständlich.

(39) Aussagen wie die vorstehenden mögen manchen Osteuropäern und Ostdeutschen übel aufstoßen als vermeintliche Arroganz der "Besserwessis". Erstens geht es aber nicht um eine Abqualifizierung von Menschen, sondern um die Analyse von Strukturen. Und selbst manche scheinbaren "Ossihasser", die mit beißender Kritik über östliche Bewußtseinslagen herfallen, sind vielleicht noch eher hilfreich als jene falschen Marktwirtschaftsfreunde, die mit dem Grinsen von Autoverkäufern die Ostmenschen viel weniger ernst nehmen als jene, die sich mit analytischer Kritik unbeliebt machen. Zweitens ist es ein großer Unterschied, ob die kapitalistische Rückständigkeit des Ostens von einem selber kapitalistischen Standpunkt aus abqualifiziert wird (insofern haben viele Ostmenschen heute eher Selbsthasserprobleme, weil sie sich selbst an den westlichen Standards messen), oder ob es umgekehrt eine weitergehende Kapitalismuskritik auf einer neuen Meta-Ebene ist, die das Problem der kapitalistischen Rückständigkeit des Ostens einschließt und auf ganz andere Weise behandelt. Drittens heißt kapitalistische Rückständigkeit keineswegs, daß Ostdeutschland und Osteuropa nun mechanistisch erst die kapitalistische Entwicklung der 70er und 80er Jahre nachholen müßten, bevor sie einen eigenen Ansatz weitergehender Gesellschaftskritik entwickeln könnten. Ostdeutsche Schriftsteller wie Friedrich Dieckmann und Heiner Müller haben auf die "Chance der Unterentwicklung" und der "Verlangsamung" als Möglichkeit eines ganz anderen Ausgangs aus der staatssozialistischen Ruine hingewiesen. Die Transzendierung des warenproduzierenden Systems muß nicht unbedingt allein von seinen allerletzten (westlichen) Entwicklungsstadien ausgehen, die auch strukturelle Sackgassen enthalten; inwieweit sich dies auf das Problem des Geschlechterverhältnisses auswirkt, könnte nur geklärt werden, wenn die gesellschaftliche Situation im Osten auch von innen heraus mit einer neuen Perspektive der Kritik dargestellt wird. Ostdeutschland und Osteuropa besitzen trotz ihres kapitalistischen Rückstands eine genügende Entwicklungs- und Vergesellschaftungshöhe, um aus ihren Problemlagen heraus direkt zur Aufhebung der Warengesellschaft übergehen zu können. Dazu bedarf es allerdings einer Theorie und einer Analyse, von der die kapitalistische Rückständigkeit des Ostens kritisch statt affirmativ aufgearbeitet und die Krise der warenproduzierenden Moderne in ihren gemeinsamen Grundlagen erkannt wird. Staatssozialistische Nostalgie, Hurra-Marktwirtschaft und Neo-Nationalismus sind gleichermaßen ungeeignet und kontraproduktiv für die notwendige Problembewältigung.

(40) Auch diese Behauptung mag dem demokratischen Bewußtsein wieder als bloße Provokation erscheinen. Aber immerhin beginnt sich nach einer langen Zeit der platt demokratischen und die westliche Moderne blind affirmierenden Faschismustheorie in jüngsten soziologischen Publikationen eine offene Diskussion der stets verdrängten Zusammenhänge anzudeuten; so bei Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung/Die Moderne und der Holocaust (Hamburg 1992), bei Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager (Frankfurt/Main 1993), und wahrscheinlich auch bei Gerhard Armanski, Maschinen des Terrors/Das Lager (KZ und GULAG) in der Moderne (Münster 1993, angekündigt). Es scheint mir unzweifelhaft, daß die neueren Erkenntnisse und Arbeiten über den Holocaust einer aufhebenden radikalen Kritik der westlichen Moderne, des warenproduzierenden Systems und der Demokratie zugute kommen werden.

(41) Ein mehrfach kolportiertes Beispiel von begnadeter Absurdität hat offenbar Helmut Schmidt noch während seiner Regierungszeit geliefert. Er soll stur auf dem Darlehenscharakter und auf der Rückzahlung der Gelder in der allgemeinen Studienförderung beharrt haben, obwohl ihm vorgerechnet wurde, daß die Eintreibungsbürokratie mehr kostet, als die Rückzahlung dem Staat einbringen kann. Dem angeblich "pragmatischen" Kanzler der sozialliberalen Koalition ging es ums "Prinzip" der Sekundärtugend, um den vermeintlich erzieherischen Wert der grotesken Schildbürgerei, mit der die Studentenschaft die Arbeitsplätze einer kleinen Beamtenschar umso sicherer finanziert, je geringer ihre Rückzahlungsmoral ist. Einerseits zeigt sich hier der pathologische Selbstzweckcharakter der gesellschaftlichen Basislogik auf einem Nebenschauplatz; andererseits sind derart absurde Veranstaltungen sowohl im Sinne der volkswirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit als auch sogar im Sinne der selbst propagierten "Sparsamkeit" im höchsten Grade kontraproduktiv. Daß die Freunde der "Tugenden der Vergangenheit" sich selber ad absurdum führen, ließe sich wohl auf vielen Gebieten in der wunderbaren Welt der Marktwirtschaft nachweisen.




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