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Claus Peter Ortlieb


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Claus Peter Ortlieb

 

Bewusstlose Objektivität

Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft

 

 

 

Im späten 20. Jahrhundert nach alternativen Zielsetzungen der Wissenschaft zu fragen ist kein müßiges oder rein akademisches Unterfangen. Die Wissenschaftler haben sich als gewitzt genug erwiesen zu lernen, was sie wissen müssen, um zu erreichen, was wir ihrer oder unserer Meinung nach brauchen, und zumindest manche von uns sind alarmiert. Etwas ist ganz und gar falsch gelaufen. Gerade das Können der modernen Wissenschaft konfrontiert uns mit dem Faktum, daß wir aus irgendeinem Grund vergessen haben, unser eigenes Überleben in die Zielsetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis einzubringen. Vielleicht ist es nicht zu spät, das Unternehmen, das sich als eine so gewaltige Ressource erwiesen hat, neu zu erwägen, neu zu benennen und neu zu definieren; das Projekt der Wissenschaft in einer Sprache umzugestalten, die ein Bekenntnis zum Überleben - unserem eigenen und dem der Welt um uns - als erste Priorität kodifiziert.

Evelyn Fox Keller 1995

 

Es dürfte kaum ein Subsystem der modernen Gesellschaft geben, das sich in seinem Selbstverständnis wie in der öffentlichen Wahrnehmung gegen Kritik als so resistent erweist wie die 'hard sciences', die 'eigentliche Wissenschaft' im Sinne des Kant'schen Diktums (Kant 1786, Vorrede),

daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.

Von ihr soll im Folgenden die Rede sein. Kritik an der Naturwissenschaft gibt es durchaus, seit den 70er Jahren getragen vor allem von der Frauen- und der Alternativbewegung, das Eingangszitat ist dafür ein Beispiel. Die moderat und eher abstrakt vorgetragenen Erwägungen der Biophysikerin und feministischen Wissenschaftstheoretikerin Evelyn Fox Keller dürften bei praktisch tätigen Naturwissenschaftlern (1) in der Regel weniger auf Ablehnung als auf blankes Unverständnis stoßen. Massiver daherkommende Sätze wie die folgenden (Hofmann 1981, S. 8/22) mögen dagegen, sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, zunächst eine gewisse Empörung auslösen:

Denn die Wissenschaft muß endlich begriffen werden als Institutionalisierung der Denkform einer auf Unterdrückung und Männerherrschaft beruhenden Gesellschaft. ...

Eine Ernährungskatastrophe wird durch die wissenschaftliche Forschung, ihre technologische Anwendung und die kapitalistische Verbreitung vorbereitet. ...

Die wissenschaftliche Denkweise hängt zwar unmittelbar zusammen mit der akuten Gefährdung der Menschheit durch ökologische Katastrophen, atomare Aufrüstung, ökonomische, soziale und psychische Verelendung. Es ist aber nicht möglich, im Rahmen der heutigen Wissenschaft wirkungsvolle Maßnahmen zur Abwendung dieser Gefährdung zu entwickeln. Vielmehr bringt uns jede Maßnahme, die mit den Mitteln heutiger Wissenschaft entwickelt und durchgesetzt wird, der Katastrophe näher.

Doch diese Empörung (wer lässt sich schon gern der Unterdrückung oder gar des Völkermords beschuldigen) wird sehr schnell einem achselzuckenden Übergang zur Tagesordnung weichen. Dabei könnte eine inhaltliche Auseinandersetzung mit derartigen Behauptungen durchaus ergeben, dass sie so nicht haltbar sind, (2) aber diese Auseinandersetzung findet gar nicht statt. Was nämlich Naturwissenschaftler an Thesen dieser Art frappiert und regelhaft in Abwehrhaltung bringt, ist der Umstand, dass hier nicht nur die Folgen der Naturwissenschaften kritisiert werden, sondern die Naturwissenschaften selbst. Dass die gesellschaftliche Verwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mehr als prekär ist, gilt bei vielen Naturwissenschaftlern fast schon als Gemeinplatz, und die schärfsten (und kompetentesten) KritikerInnen an derartigen Entwicklungen kommen aus ihren Reihen. (3) Was aber, bitteschön, solle an den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen selbst, an der Entdeckung von Naturgesetzen und unumstößlichen Tatsachen, am Ringen um Wahrheit kritisiert werden können?

Die von der feministischen Wissenschaftskritik gestellte und heute keineswegs schon positiv zu beantwortende Frage nach einer anderen Wissenschaft wird so von vornherein noch nicht einmal als Frage ernst- bzw. als Problem wahrgenommen, sondern allenfalls mit der spöttischen Gegenfrage konterkariert, ob denn wohl zukünftig das Fallgesetz nicht mehr gelten oder gar zwei mal zwei nicht mehr vier sein solle, womit sich dann jede weitere Diskussion erübrigt.

Das empiristische Bild von der wertfreien Wissenschaft

Diese Abwehrhaltung, die gegen alle Kritik immunisiert, speist sich aus der Vorstellung von der Naturwissenschaft als einem neutralen Werkzeug, der 'wertfreien Wissenschaft'. Hierzu ist zunächst einmal festzuhalten, dass historisch gesehen dieses Leitbild eine Rückzugsposition darstellt. Die Zeitgenossen Galileis, etwa Francis Bacon, Thomas Hobbes oder René Descartes hatten durchaus weiter gehende Auffassungen: Naturwissenschaftliches Denken als Weg zum guten Leben, zu beständigem Frieden und letztlich zur Lösung aller Probleme, die überhaupt menschlicher Erkenntnis zugänglich sind. Ich möchte diese Vorstellungen hier nicht nachzeichnen, weil sie im Zeitalter der Nukleartechnologie und durch Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse hervorgerufener globaler ökologischer Risiken ohnehin nicht mehr geteilt werden. Aus heutiger Sicht handelt es sich um jugendliche Flausen, und die Naturwissenschaft ist schließlich schon vor langer Zeit erwachsen geworden.

Die moderne Auffassung von der wertfreien Wissenschaft ist da aus härterem Holz. In ihrer eher naiven Variante, die in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit wohl vorherrschen dürfte, handelt es sich bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in aller Schlichtheit um wahre Aussagen über die Natur, die durch genaue Beobachtungen und deren präzise mathematische Beschreibung gewonnen würden. Dieser Vorstellung hat insbesondere der Positivismus Vorschub geleistet, dem auch manche seiner Kritiker aufsitzen, die völlig zu recht dessen Wissenschaftsauffassung für die Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge ablehnen, aber gleichwohl denken, seine Beschreibung der Naturwissenschaften als einer ungeheuren Sammlung positiver Tatsachen in Gestalt empirischen Materials (Beobachtungen und daraus abgeleiteter Naturgesetze) sei zutreffend.

Angesichts der in der Geschichte der Naturwissenschaften nicht zu übersehenden Brüche, die es bei einer Methode, die schlicht Tatsachen feststellt, ja wohl nicht geben könnte, sehen Naturwissenschaftler selbst, sofern sie darüber nachdenken, die Sache etwas differenzierter und gehen davon aus, dass das menschliche Denken in seiner Unvollkommenheit die volle Wahrheit vielleicht nie entdecken könne. Was sie aber in ihrer großen Mehrheit mit der aufgeklärten Öffentlichkeit teilen, ist die Idee, es gebe eine universell, für alle Menschen gleichermaßen und unabhängig von der Gesellschaftsform gültige Sicht der Natur, und dass der naturwissenschaftliche Fortschritt darin bestehe, den Wissensstand dieser Sicht immer besser anzunähern.

Untrennbar verbunden mit dieser Auffassung ist die Vorstellung einer linearen Entwicklung, eben des wissenschaftlichen Fortschritts, dessen Ursprünge bis in die menschliche Vorgeschichte oder sogar noch weiter zurückverlagert werden, so etwa von Popper 1973, S. 288/289:

Das alles läßt sich so ausdrücken, daß der Erkenntnisfortschritt das Ergebnis eines Vorgangs ist, der dem sehr ähnlich ist, was Darwin 'natürliche Auslese' nannte; es gibt also eine natürliche Auslese von Hypothesen: unsere Erkenntnis besteht zu jedem Zeitpunkt aus denjenigen Hypothesen, die ihre (relative) Tüchtigkeit dadurch gezeigt haben, daß sie bis dahin in ihrem Existenzkampf überlebt haben, einem Konkurrenzkampf, der die untüchtigen Hypothesen ausmerzt.

Diese Interpretation läßt sich auf das tierische Wissen, das vorwissenschaftliche Wissen und die wissenschaftliche Erkenntnis anwenden. Das Besondere der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, daß der Existenzkampf durch die bewußte und systematische Kritik unserer Theorien erschwert wird. Während also das tierische und das vorwissenschaftliche Wissen hauptsächlich dadurch wächst, daß diejenigen, die untüchtige Hypothesen haben, selbst ausgemerzt werden, läßt die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie merzt dann unsere falschen Vorstellungen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausgemerzt werden.

Damit möchte ich beschreiben, wie die Erkenntnis tatsächlich fortschreitet. Ich meine es nicht bildlich, obwohl ich Bilder verwende. Die Erkenntnistheorie, die ich vorschlagen möchte, ist weitgehend eine darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts. Von der Amöbe bis Einstein ist der Erkenntnisfortschritt immer derselbe: wir versuchen, unsere Probleme zu lösen und durch Auslese zu einigermaßen brauchbaren vorläufigen Lösungen zu kommen.

Diese konsequent bis zur Groteske vorangetriebenen Überlegungen, die Popper hier ohne eine Spur von Selbstironie vorträgt, bestätigen bloß den Verdacht, dass bereits der Darwinismus selbst, und nicht erst seine erkenntnistheoretische Variante, nur die Prinzipien bürgerlicher Vergesellschaftung in die Biologie projiziert. Aber auch wenn man nicht bei der Amöbe, sondern erst beim Urmenschen beginnt, so bringt die These, der Mensch habe sich durch immer bessere Anpassung seiner Vorstellungen und Verhaltensweisen an die Natur vervollkommnet, ''das Kunststück fertig, im schulpflichtigen mitteleuropäischen Großstädter den eigentlichen Naturmenschen zu sehen, oder seriöser formuliert: sie verklärt die bestehende soziale und materielle Wirklichkeit ideologisch zum Naturzustand'' (Greiff 1980, S. 60).

Es überrascht nicht, dass der Arbeiterbewegungs-Marxismus ähnliche Auffassungen hervorgebracht hat, sie passen einfach zu gut zu seinem deterministischen Fortschrittsoptimismus. Danach treibe der Kapitalismus als historisch notwendiges Durchgangsstadium die menschlichen Fähigkeiten zur objektiven Erkenntnis voran, die im Prinzip unverändert in den Sozialismus und schließlich Kommunismus übernommen werden können. Und auch hier ist objektive Erkenntnis einfach der letzte Schritt einer Jahrmillionen währenden Auseinandersetzung mit der Umwelt, durch die der Mensch sich immer besser an die objektiv-reale Außenwelt angepasst habe. (4)

Doch selbst noch die kulturpessimistischen, zivilisations- und wissenschaftskritischen Gegner dieser Auffassung eines linearen Fortschritts von der Urzeit bis heute fallen, indem sie sie einfach nur negativ wenden und ihres Optimismus' entkleiden, auf sie herein, so etwa Adorno 1975, S. 314:

Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der zukünftigen zynisch. Nicht aber ist darum die Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitterten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von Naturbeherrschung, fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich die über inwendige Natur. Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.

'Naturbeherrschung' als Sündenfall von Herrschaft überhaupt, die offenbar als ein ontologisches Prinzip zur Seinsbestimmung des Menschen gehört; in dieser Vorstellung kann auch Naturwissenschaft (und Technik) gar nichts anderes sein als ein Herrschaftsinstrument wie andere vor ihm, nur eben in seiner höchstentwickelten Form besonders effektiv und raffiniert.

Vom Faustkeil zum Computer, von der Amöbe zu Einstein, von der Steinschleuder zur Megabombe, angesichts dieser universellen und deterministischen Dynamik im Guten oder Bösen bleibt offenbar nur die Wahl zwischen einem fortschrittsoptimistischem 'Weiter so' oder kulturpessimistischer Resignation bzw. hilflosen Forderungen nach einem Zurückdrehen der Produktivkräfte mindestens bis zur mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft. Diese Alternative beruht aber auf einer falschen, nämlich ahistorischen Sichtweise, die moderne Verhältnisse einfach in die Vergangenheit (und in die Zukunft) projiziert und sie damit in den Rang von Naturverhältnissen hebt, womit gerade die Besonderheiten der Moderne, zu denen auch die Naturwissenschaft zählt, verfehlt werden müssen.

Ein Charakteristikum der Naturwissenschaften ist, dass sie historisch nur in einer einzigen Kultur aufgetreten sind, der bürgerlichen Gesellschaft. Nichtsdestoweniger hat die Aufklärung es fertig gebracht, entsprechend ihrer Vorstellung von sich selbst als höchstem und letztem Stadium menschlicher Geschichte, diese ihr eigene Erkenntnisform für universell zu erklären, so dass etwa Aristoteles oder Buddha, wenn sie es denn hätten erleben dürfen, einem Galilei oder Newton nachträglich hätten Recht geben müssen. Dieser objektivistischen Auffassung naturwissenschaftlicher Erkenntnis ist von außen, allein mit dem Hinweis auf ihren kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang, nicht beizukommen. Deshalb soll hier die mathematisch-naturwissenschaftliche Tätigkeit zunächst immanent analysiert werden, wobei ich an Immanuel Kant anknüpfe. In dieser Hinsicht Sohn-Rethel 1970, 1990, Greiff 1976 und Müller 1977 folgend, denke ich, dass der große Philosoph der Aufklärung das Instrumentarium bereits entwickelt hat, das geeignet ist, das Aufklärungsdenken von innen heraus aufzulösen, auch wenn er selbst diesen zweiten Schritt nicht mehr gemacht hat.

Der Empirist David Hume, der nach Kants eigenen Worten diesen aus seinem ''dogmatischen Schlummer'' erweckt habe, hatte bereits nachgewiesen, dass eine empiristische Begründung objektiver Erkenntnis unmöglich ist, da sich aus Erfahrung keine Naturgesetze zwingend ableiten lassen (Hume 1748, S 37/38):

Denn alle Ableitung aus Erfahrung setzt als ihre Grundlage voraus, daß die Zukunft der Vergangenheit ähnlich sein wird, und daß gleichartige Kräfte mit gleichartigen sinnlichen Eigenschaften zusammenhängen werden. Schöpfte man irgendwie Verdacht, daß der Naturlauf sich ändern könne und daß in der Vergangenheit nicht die Regel für die Zukunft enthalten sei, so wäre jede Erfahrung nutzlos und könnte zu keinem Ableiten oder Schließen Veranlassung geben. Daher ist es unmöglich, daß irgendwelche Erfahrungsbegründungen diese Ähnlichkeit der Vergangenheit mit der Zukunft belegen können, denn all diese Begründungen beruhen ja auf der Voraussetzung dieser Ähnlichkeit.

Der ehrliche Empirist muss zum Skeptiker werden, will er sich nicht selbst in die Tasche lügen (Hume 1748, S 163):

Mir scheint, daß die einzigen Gegenstände der abstrakten Wissenschaften oder der Demonstration Größe und Zahl sind, und daß alle Versuche, diese vollkommeneren Wissensarten über diese Grenzen hinaus zu erstrecken, nur Blendwerk und Täuschung bedeuten.

Das hindert allerdings noch den modernen Empirismus nicht daran, es immer wieder zu versuchen und auf einer empiristischen Begründung aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu beharren. Dabei dürfte die historisch gesehen jüngste Erkenntnisform, die sich nur auf die unmittelbare Erfahrung bezog, wenn es denn je eine solche gab, die Naturlehre des Aristoteles gewesen sein, wie sie vom Mittelalter adaptiert wurde. Demgegenüber konstituiert sich die neuzeitliche Naturwissenschaft gerade durch die Verabschiedung von der unmittelbaren Empirie, und diese ''Revolution der Denkart'' (Kant) macht ihren besonderen Erfolg aus. (5) Ich möchte im Folgenden versuchen, dies an einigen Beispielen aus ihren Anfängen deutlich zu machen bzw. in Erinnerung zu rufen.

Geozentrisches und heliozentrisches Weltbild

Der Aufstieg der bürgerlichen Epoche beginnt mit einem mathematisches Modell. Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543) bricht in dem kurz vor seinem Tode gedruckten Buch De Revolutionibus Orbium Coelestium mit dem das Mittelalter bestimmenden ptolemäischen oder geozentrischen Weltbild: Die Erde bewege sich zusammen mit den anderen Planeten auf Kreisbahnen um die Sonne und drehe sich selber um ihre eigene Achse.

Dieses Weltbild gehört in modifizierter Form inzwischen zum gesicherten Bestand unseres Wissens. Kein aufgeklärter Mensch wird ihm zugunsten des ptolemäischen widersprechen wollen. Doch woher wissen wir das? Die mittelalterlichen Menschen wussten schließlich etwas anderes, und der unmittelbare Augenschein spricht für sie. Eine ebenso banale wie zutreffende Antwort ist, dass uns dieses Wissen in frühem Alter schlicht mitgeteilt wurde, in der Schule und in Büchern. Das neue Kinderlexikon in Farbe, Bechtermünz-Verlag 1995, etwa gibt unter dem Stichwort Himmelskunde die folgende Auskunft:

Wer hat recht?

Im 2. Jahrhundert n. Chr. beschrieb der griechische Astronom Ptolemäus ein Universum von bescheidenen Ausmaßen, in dessen Mittelpunkt sich die feststehende Erde befindet, um die herum die Sonne, die Planeten und die Sterne kreisen.

Im 16. Jahrhundert erklärte der Astronom Kopernikus dieses Weltbild für falsch und behauptete, daß im Gegenteil die Erde und die übrigen Planeten sich um die Sonne drehen und außerdem um sich selbst.

Im 17. Jahrhundert bestätigte der italienische Gelehrte Galilei die Richtigkeit der kopernikanischen Lehre, wurde deswegen aber von der Kirche verurteilt. Heute wissen wir, daß er recht hatte.

Die treuherzige Berufung auf Autoritäten ist immerhin ehrlich, mehr lässt sich nämlich kaum sagen. Das große Ravensburger Lexikon 1995 wagt sich dagegen etwas weiter vor:

Im 3. Jh. n. Chr. stellte der griechische Astronom Aristarchos von Samos die Behauptung auf, daß sich die Erde und die Planeten um die Sonne bewegen.

Mit dem Teleskop, das erstmals von Galilei zu Himmelsbeobachtungen benutzt worden war, konnte diese Aussage bestätigt werden.

Der erste Satz ist richtig und legt die Frage nahe, warum sich das heliozentrische Weltbild im dritten Jahrhundert nicht durchsetzen konnte, in der Neuzeit dagegen schon. Der zweite Satz ist dagegen einfach nur falsch, allenfalls geeignet, die empiristische Auffassung von den Naturwissenschaften in Kinderköpfen zu verankern. Eine Bestätigung des kopernikanischen Systems ist auf der rein empirischen Ebene nämlich überhaupt nicht möglich:

Tycho Brahe (1546 - 1601), der bedeutendste beobachtende und messende Astronom vor Erfindung des Fernrohrs, blieb zeitlebens Ptolemäer. Das kopernikanische System lehnte er aus physikalischen Gründen bzw. aus Gründen des gesunden Menschenverstandes ab: In seinem System steht die Erde fest und unbeweglich im Zentrum, wie wir sie unter unseren Füßen spüren können, die Sonne bewegt sich um sie, die übrigen Planeten bewegen sich um die Sonne. Während also Kopernikus mit seinem System die von der Erde aus zu beobachtenden Bewegungen der Himmelskörper für scheinbar erklärte, hielt Brahe dieselben Himmelsbewegungen für real.

Es ist klar, dass es keine astronomische Beobachtung geben kann, die mit dem einen Weltbild übereinstimmt, mit dem anderen aber nicht, denn hinsichtlich der Beobachtungen sind sie völlig identisch. Aus dem Blickwinkel der modernen Physik handelt es sich einfach um einen Wechsel des Bezugssystems.

Auch das Fernrohr, das Galilei erstmals für die Beobachtung von Himmelsbewegungen einsetzte, kann hier keine Entscheidung bringen. Was Galilei beobachtete, waren vielmehr die Bewegungen der Jupitermonde um den Jupiter, aber dadurch wird die Richtigkeit des kopernikanischen Systems nicht bewiesen, jedenfalls nicht durch Beobachtung, sondern allenfalls auf der Basis der Annahme eines allgemeinen Prinzips, nach dem sich die kleineren Himmelskörper um die größeren drehen.

Dieses Konzept des allgemeinen Prinzips, des Naturgesetzes, ebenso das damit zusammenhängende Konzept der Einfachheit setzte sich in den 150 Jahren zwischen Kopernikus und Newton durch. Bereits Kopernikus 1543 hebt denn auch in der als Brief an Papst Paul III. abgefassten Vorrede seines Werkes weniger auf die bessere Übereinstimmung mit den Beobachtungen ab als vielmehr auf die Kategorien Ordnung und Einheitlichkeit. Er konstatiert die methodischen Probleme der Mathematiker, die auf der Basis des ptolemäischen Systems Berechnungen anstellen und dabei ständig neu mit 'ad hoc'-Annahmen operieren müssen. Dagegen vor allem wendet er sich:

Auch konnten sie die Hauptsache, nämlich die Gestalt der Welt und die tatsächliche Symmetrie ihrer Teile, weder finden noch aus jenen berechnen, sondern es erging ihnen so, als wenn jemand von verschiedenen Orten her Hände, Füße, Kopf und andere Körperteile, zwar sehr schön, aber nicht in der Proportion eines bestimmten Körpers gezeichnet, nähme und, ohne daß sie sich irgendwie entsprächen, mehr ein Monstrum als einen Menschen daraus zusammensetzte. Daher zeigt es sich, daß sie in der Beweisführung, die man Methode nennt, entweder etwas Notwendiges übergangen oder etwas Fremdartiges und zur Sache nicht Gehörendes hinzugesetzt haben, was ihnen gewiß nicht widerfahren wäre, wenn sie sichere Prinzipien befolgt hätten.

Die Übereinstimmung mit den Beobachtungen konnten schon deswegen für die Entscheidung zwischen dem kopernikanischen und dem ptolemäischen (bzw. braheschen) System nicht relevant sein, weil sie bekanntlich auf der Basis der von beiden Systemen angenommenen Kreisbewegungen gar nicht zu errreichen war. Erst mit Johannes Kepler (1571 - 1630), dem Nachfolger Tycho Brahes als Hofastronom am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag, löst sich die Astronomie von dieser Vorstellung, an die Stelle der Kreisbahnen treten Ellipsen, ein einheitliches Prinzip vermag erstmals, eine Vielfalt astronomischer Beobachtungen zu erklären. Kepler nimmt es mit der Übereinstimmung von Voraussage und Beobachtung genau. So soll ihn einem eigenen Berichte zufolge eine Diskrepanz von gerade mal acht Minuten veranlasst haben, seine bis dahin aufgestellte Hypothese zu verwerfen und die gesamte Astronomie zu reformieren.

Nichtsdestoweniger hebt er die besondere Rolle der selbständigen Tätigkeit des Geistes für den Erkenntnisprozess hervor, so etwa in Harmonices Mundi, Kepler 1619:

Nicht der Einfluß des Himmels ist es, der jene Erkenntnisse in mir gewirkt hat, sondern sie ruhten gemäß der Platonischen Lehre in der verborgenen Tiefe meiner Seele und wurden nur geweckt durch den Anblick der Wirklichkeit. Das Feuer des eigenen Geistes und Urteils haben die Sterne geschürt und zu rastloser Arbeit und Wißbegier entfacht: nicht die Inspiration, sondern nur die erste Anregung der geistigen Kräfte stammt von ihnen.

Der zentrale Begriff in Keplers wissenschaftlichem System ist der der Harmonie im Sinne einer ''Anschauung der Welt als eines geordneten, nach geometrischer Gesetzlichkeit gegliederten Kosmos'' (Cassirer 1910, Bd. 1, S. 330). Das folgende Beispiel für die dadurch in Gang gesetzte Denkart stammt aus dem Mysterium Cosmographicum, Kepler 1596. Die Planetenbahnen werden mit den fünf platonischen Körpern in Verbindung gebracht:

Die Erde ist das Maß für alle anderen Bahnen. Ihr umschreibe ein Dodekaeder; die dieses umspannende Sphäre ist der Mars. Der Marsbahn umschreibe ein Tetraeder; die dieses umspannende Sphäre ist der Jupiter. Der Jupiterbahn umschreibe einen Würfel; die diesen umspannende Späre ist der Saturn. Nun lege in die Erdbahn ein Ikosaeder; die diesem einbeschriebene Sphäre ist die Venus. In die Venusbahn lege ein Oktaeder; die diesem einbeschriebene Sphäre ist der Merkur. Da hast du den Grund für die Anzahl von Planeten.

Man kann es offenbar auch übertreiben. Deutlich wird aber gerade an einem solchen, aus heutiger Sicht angesichts der inzwischen hinzugekommenen Planeten in die Irre gehenden Argument, welches Gewicht die selbständige, an rein mathematischen Vorstellungen orientierte Spekulation im Vergleich zur Empirie in Keplers System besitzt.

Und um noch einmal auf die beiden Weltbilder zu sprechen zu kommen: Eine Entscheidung zwischen ihnen kann auch Kepler nicht bringen. Denn natürlich hätte ein zweiter Tycho Brahe auftreten und behaupten können: Die Sonne bewegt sich auf einer Ellipse um die Erde, die übrigen Planeten bewegen sich auf Ellipsen um die Sonne. Andererseits dürfte kaum ein Zweifel bestehen, dass Kepler nur auf der Basis des kopernikanischen Systems die Kreise durch Ellipsen ersetzen und die nach ihm benannten Bewegungsgesetze aus den Beobachtungsdaten herauslesen konnte. Aber erst mit Newton, der den Begriff der Kraft ins Spiel brachte und die zu beobachtenden Kepler'schen Gesetze theoretisch erklärte, gibt es einen Unterschied zwischen den beiden Systemen, allerdings nach wie vor nicht auf der Ebene der Beobachtungen, und im Übrigen erst 150 Jahre nach Kopernikus' Tod.

Die Begründung der experimentellen Methode

Keplers Zeitgenosse Galileo Galilei (1564 - 1642) gilt als handfester, weniger spekulativ in seinen Methoden, mit denen aber auch er keineswegs an der unmittelbaren Erfahrung ansetzt. Mulser 1996 (S. 157) verspottet die empiristische Auffassung, Ausgangspunkt aller Naturwissenschaft habe die Beobachtung zu sein, indem er eine bekannte Legende um Galilei und den schiefen Turm seiner Heimatstadt Pisa als ''Schwank'' erzählt:

Der junge Galilei stieg eines Tages auf den Schiefen Turm in seiner Heimatstadt Pisa, bepackt mit allerlei Gegenständen, die er samt und sonders mit sichtlichem Vergnügen in die Tiefe fallen ließ, einen nach dem anderen: eine Kugel aus Blei, ein altes Fernrohr, seine Brille, einen Kochlöffel, einen Lampion aus Papier, Bettfedern, Blütenpollen und einen Vogel. Dann rannte er nach unten und stellte fest, Kugel, Kochlöffel, Brille und Fernrohr lagen im Gras, und der Lampion ging vor seinen Augen nieder, aber einige Bettfedern tänzelten immer noch in der Luft, die Pollen waren eine Beute des Windes und nicht mehr auszumachen, und dem Vogel gelüstete es nach Höhe und Weite, er entschwand in den Lüften. Galilei faßte seine Versuchsergebnisse zusammen und verkündete: ''Alle Körper fallen gleich schnell.''

Es gibt zu dieser Legende natürlich auch die heroische Version, eine Art Mythos des Empirismus'. Danach habe Galilei die aristotelische Wissenschaft herausgefordert und vor der versammelten Professoren- und Studentenschaft der Pisaner Universität ihre Falschheit durch Experimente demonstriert, ausgeführt von der Höhe des Pisaner Glockenturms. Die Geschichte ist 60 Jahre nach dem angeblichen Ereignis zum ersten Mal verfasst und später von Wissenschaftshistorikern immer wieder aufgegriffen und weiter ausgeschmückt worden. Sie widerspricht allen Gebräuchen an Universitäten dieser Zeit, sie ist von Galilei selbst, der die Kunst der Selbstdarstellung in hohem Maße beherrschte, nie erwähnt worden, und schließlich: Die Experimente, so wie beschrieben, wären schief gegangen (s. Koyré 1998, S. 123 - 134).

Nun hat Galilei selbst in einem reichhaltigen Schrifttum die von ihm entwickelten und verwendeten Methoden sehr genau beschrieben, und es überrascht nicht, dass sie ganz anders sind, als die Legende es erzählt. Galileis Alterswerk, die Discorsi von 1638 werden 300 Jahre später in der Jubiläumsausgabe von Max v. Laue als ''erstes Lehrbuch der Physik'' bezeichnet. Das typische Vorgehen wird am Dritten Tag(6) am Beispiel des freien Falls deutlich. Es beginnt nicht mit einer Beobachtung, sondern mit einer (mathematischen) Definition:

Gleichförmig oder einförmig beschleunigte Bewegung nenne ich diejenige, die von Anfang an in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszuwüchse ertheilt.

Es folgt ein mathematischer Satz:

Wenn ein Körper von der Ruhelage aus gleichförmig beschleunigt fällt, so verhalten sich die in gewissen Zeiten zurückgelegten Strecken wie die Quadrate der Zeiten,

der dann zunächst mathematisch bewiesen wird. Erst danach beginnt überhaupt die Empirie, aber nicht etwa in Form von Beobachtungen, die mit unbewaffnetem Auge vorgenommen werden, sondern als Handlungsanweisung zur Herstellung von Versuchsbedingungen, die dem Ideal der gleichförmig beschleunigten Bewegung möglichst nahe kommen: Eine nach aller Handwerkskunst herzustellende, ebene, schiefgestellte Platte, eine sehr gerade Rinne und eine glattpolierte Messingkugel. Schließlich kann das Experiment beginnen und können Messungen vorgenommen werden, wobei der zuvor bewiesene mathematische Satz den Hinweis darauf gibt, was überhaupt gemessen werden soll. Die genaue Messung der Zeit stellt dabei ein großes Problem dar, das gesondert behandelt wird. (7)

Ebenso beginnt die Behandlung der Wurfbewegung im Vierten Tag der mit einem mathematischen Satz:

Ein gleichförmig horizontaler und gleichförmig beschleunigter Bewegung unterworfener Körper beschreibt eine Halbparabel.

Eine Definition ist nicht nötig, da die verwendeten Begriffe bereits eingeführt sind. Aber wie es sich gehört, wird der Satz zunächst einmal mit geometrischen Mitteln bewiesen. Ob wirkliche Körper sich so verhalten, ist dann eine ganz andere Frage, da insbesondere der Luftwiderstand störende Effekte hervorrufen kann:

Über alle die unendlich verschiedenen Möglichkeiten hinsichtlich der Schwere, der Geschwindigkeit und der Gestalt kann keine Theorie gegeben werden. Übrigens muß selbst, um diesen Gegenstand wissenschaftlich zu handhaben, zuerst von Schwierigkeiten abstrahiert werden, es müssen, abgesehen von Hindernissen, die bewiesenen Theoreme praktisch geprüft werden, innerhalb der Grenzen, die die Versuche uns selbst vorschreiben. Der Nutzen wird nicht gering sein, denn Stoff und Gestalt werden so gewählt werden können, daß der Widerstand möglichst gering sei, d. h. wir werden recht schwere und runde Körper wählen: dabei sollen die Strecken sowohl, als auch die Geschwindigkeiten nicht so exorbitant groß sein, daß wir sie nicht mehr genau messen können.

Auch hier geht es also um die bewusste Herbeiführung einer Situation, die den in der mathematischen Konstruktion unterstellten Idealbedingungen möglichst nahe kommt. Es ist klar, dass ein Experiment nie am Anfang einer solchen Untersuchung stehen kann, sondern nur an deren Ende, denn die experimentellen Bedingungen müssen zielgerichtet hergestellt werden, und das kann nur in Kenntnis des Ziels, also theoriegeleitet geschehen.

Der Unterschied zwischen Beobachtung und Experiment kann gar nicht scharf genug hervorgehoben werden, seine Nichtbeachtung hat schon viele in die Irre führt, so etwa den braven Übersetzer Emil Strauss von Galileis Dialog ins Deutsche 1890 in seiner Einleitung, der

... die falsche, ja thörichte aristotelische Behauptung ..., daß die Fallgeschwindigkeit proportional zur Schwere und umgekehrt proportional der Dichtigkeit des Mediums sei ...

als Beleg für die Überlegenheit der neuzeitlichen Naturwissenschaft gegenüber mittelalterlichen und anderen Denkweisen anführt. Dieser Ausspruch ist ein besonders schönes Beispiel für das typische Aufklärungsdenken, das die eigene Erkenntnisform für die einzig mögliche und Vertreter anderer Kulturen, die zu anderen Ergebnissen kommen, einfach nur für dumm oder verblendet hält. Dabei hat Aristoteles so Unrecht ja nicht, solange man sich auf alltägliche Beobachtungen bezieht. Oder anders gesagt: Galilei wäre zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen, wenn er so vorgegangen wäre, wie die Legende vom Schiefen Turm es erzählt. Galileis ganz anderes, als Fallgesetz formuliertes Ergebnis beruht auf einer ganz anderen Methode, die u. a. gerade darin besteht, von der ''Dichtigkeit des Mediums'' zu abstrahieren. Seine Überprüfung im Experiment setzt voraus, dass Versuchsbedingungen hergestellt werden, bei denen die Dichte vernachlässigt werden kann. Aristoteles aus seiner Behauptung einen Vorwurf zu machen, heißt daher, ihm vorzuwerfen, er habe die experimentelle Methode der neuzeitlichen Physik nicht gekannt.

Experimente können bekanntlich schief gehen. Dass dadurch die theoretischen Überlegungen keinesfalls entwertet werden, betont Galilei 1637 in einem Brief an Carcaville (zitiert nach Cassirer 1910, Bd. 1, S. 386):

Zeigt die Erfahrung nunmehr, daß solche Eigenschaften, wie wir sie abgeleitet, im freien Fall der Naturkörper ihre Bestätigung finden, so können wir ohne Gefahr des Irrtums behaupten, daß die konkrete Fallbewegung mit derjenigen, die wir definiert und vorausgesetzt haben, identisch ist: ist dies nicht der Fall, so verlieren doch unsere Beweise, da sie einzig und allein für unsere Voraussetzung gelten wollten, nichts von ihrer Kraft und Schlüssigkeit.

In der modernen Terminologie des 20. Jahrhunderts mit der Mathematik als einem inzwischen eigenständig gewordenen Fach heißt das, dass die Korrektheit mathematischer Beweise nicht von der Empirie abhängt, was heute als Selbstverständlichkeit gilt. Auf die Idee, so an die Erkenntnis der Natur heranzugehen, muss man aber erst einmal kommen.

Tatsächlich können abstrakte Vorstellungen selbst über völlig irreale, nirgends zu beobachtende Bewegungen sinnvoll sein, und eben davon lebt die Physik und mit ihr die gesamte mathematische Naturwissenschaft spätestens seit Isaac Newton (1642 - 1727):

Newton gelang 1687 mit seinen Principia die mathematisch-deduktive und vereinheitlichende Begründung der Himmelsbewegungen und der sublunaren Physik. Er musste dazu aus Galileis nicht empirischem, sondern mathematischem Begriff der Bewegung die letzte Konsequenz ziehen, ''das Wirkliche aus dem Unmöglichen zu erklären'' (Koyré 1998, S. 73), was hier durch die Betrachtung einiger seiner Axiome noch einmal verdeutlicht werden soll:

Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.

Es handelt sich gewissermaßen um ein Naturgesetz im Konjunktiv: Keine derartige gleichförmig-geradlinige Bewegung wurde je beobachtet, und Newton weiß, dass das auch gar nicht sein kann, da es einen kräftefreien Raum seinem eigenen Gravitationsgesetz nach nicht gibt. Das hindert ihn aber nicht, ein solches durch Empirie nicht unmittelbar belegbares Gesetz an den Anfang seiner Principia zu stellen.

Die Bewegungsänderung ist der eingedrückten Bewegungskraft proportional und geschieht in der Richtung der geraden Linie, in der jene Kraft eindrückt.

Wiederum spricht alle unmittelbare Empirie gegen Newton und im Übrigen noch einmal für Aristoteles, dem zufolge eine Kraft nötig ist, um einen Bewegungszustand aufrechtzuerhalten, wogegen seine Änderung (Abbremsung) von selbst geschieht.

Auch der für Newtons Theorie zentrale Begriff der Kraft ist nichtempirisch: Kräfte lassen sich direkt weder beobachten noch messen, gemessen werden können immer nur die ihnen von der Theorie unterstellten Wirkungen.

Wir sind als moderne Menschen an die grundlegenden Auffassungen und Prinzipien der neuzeitlichen Naturwissenschaft so gewöhnt, dass wir die Welt nur noch in ihrem Lichte sehen und deshalb meinen, sie aus Erfahrung und Beobachtung gewonnen zu haben. ''Uns entgeht die Waghalsigkeit Galileis, mit der er beschließt, die Mechanik als Zweig der Mathematik zu behandeln, also die wirkliche Welt der täglichen Erfahrung durch eine bloß vorgestellte Welt der Geometrie zu ersetzen'' (Koyré 1998, S. 73), und Aussagen über die Natur gegen alle Empirie aus mathematischen Begriffen wie Zeit, Raum und Bewegung abzuleiten. Die hieraus entwickelte Naturauffassung, die uns so evident erscheint, wäre in der griechischen Antike und im Mittelalter als offenkundig falsch oder gar absurd eingestuft worden (vgl. Koyré 1998, S. 70 - 87).

Revolution der Denkart

Insbesondere Galileis präzise Beschreibung seines Vorgehens macht es möglich, die Methode systematisch zu bestimmen, die sich in der Zeit zwischen Kopernikus und Newton herausgebildet hat, und die für die mathematische Naturwissenschaft immer noch grundlegend ist. Bei kritischer Betrachtung wird deutlich, dass diese Methode auf einer Reihe sich gegenseitig stützender Grundannahmen beruht, die sich ihrerseits nicht empirisch begründen lassen, sondern vielmehr umgekehrt aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis vorausgehen:

Die mathematische Naturwissenschaft beruht auf der Grundannahme, dass es universell gültige, d.h. von Ort und Zeit unabhängige Naturgesetze gebe. Diese Annahme lässt sich durch einfache Beobachtung nicht belegen, die Wirklichkeit erscheint eher ungeordnet und unregelmäßig. Die aristotelische Wissenschaft meinte, dass die himmlischen Sphären ganz anderen Gesetzen folgen als die sublunare, sofern sie denn überhaupt von 'Gesetzen' in unserem Sinne gesprochen hat, denn die Vorstellung universeller Naturgesetze setzt einen objektiven Begriff der linearen und beliebig teilbaren Zeit und einen Begriff des Raumes als homogen und nicht etwa in Sphären aufgeteilt voraus.

Die nächste Annahme lautet, dass sich die Naturgesetze mathematisch beschreiben lassen. Sie liegt dem für die Naturwissenschaften zentralen Begriff der Messung zugrunde. Denn die Idee, den Naturgesetzen auf dem Wege der Messung nachspüren zu können, wäre ansonsten ziemlich sinnlos.

Die ungeordnete und vielfältige Wirklichkeit lässt sich nicht messen. Daher wird denn auch anders vorgegangen, wie aus allen Schriften etwa Galileis und Newtons deutlich wird. Am Beginn steht ein Gedankenexperiment, also die Formulierung von Idealbedingungen (was wäre, wenn ...), aus denen auf mathematischem Wege Schlussfolgerungen gezogen werden können. Sowohl die Idealbedingungen als auch die mathematischen Schlussfolgerungen gehen dann in die experimentelle Überprüfung ein, erstere als Randbedingungen, die im Experiment genauestens zu beachten sind, letztere als Hinweise darauf, was eigentlich zu messen sei.

Erst auf der Basis derartiger Überlegungen kann ein Experiment stattfinden. Gute Experimentatoren müssen in der Lage sein, Versuchsanordnungen zu ersinnen, die den unterstellten Idealbedingungen möglichst nahe kommen und die die gewünschten Messungen ermöglichen, ohne dass der Messvorgang (der körperliche Einsatz des Experimentators) den idealen Ablauf stört. Das ist bekanntlich eine Wissenschaft für sich und erfordert, besonders in der Physik des 20. Jahrhunderts, einen ungeheuren technischen Apparat. Als Kriterium für ein gelungenes Experiment gilt seine Wiederholbarkeit: Wann immer dieselben Bedingungen hergestellt werden, muss sich derselbe Effekt einstellen, müssen die Messungen zum selben Ergebnis führen.

Die Tatsache, dass wirkliche Experimente bei Wiederholung nie zu exakt demselben Ergebnis führen, noch nicht einmal im Rahmen der Messgenauigkeit, gilt nicht als Gegenargument. Die experimentelle Methode beruht nämlich auf der Vorstellung, die zu beobachtenden Erscheinungen seien eine Überlagerung von mathematisch formulierbaren Naturgesetzen und so genannten Störfaktoren, das sind gewissermaßen Naturgesetze, die wir noch nicht im Griff haben. Experimente sind Handlungen, aktive Eingriffe in die Natur mit dem Ziel, Situationen künstlich zu schaffen, in denen Störfaktoren ausgeschaltet sind. (8)

Wird das eher regellos erscheinende Naturgeschehen durch die Brille der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode gesehen, so stellt es sich dar als ein Zusammenwirken verschiedener Naturgesetze. Um ein einzelnes von ihnen erkennen zu können, müssen die anderen ausgeschaltet, in ihrer Wirkung konstant gehalten werden. In diesem analytischen Vorgehen, der Zerlegung in Einzelfaktoren, liegt die Verbindung der Naturwissenschaften zur Technik: In dem Maße, wie es gelingt, Einzelfaktoren zu isolieren, lassen sie sich nach Belieben wieder neu zusammensetzen und zu technischen Systemen synthetisieren.

Immanuel Kant, selbst zehn Jahre lang naturwissenschaftlich tätig, fasst die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode in der Vorrede zur 2. Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft 1787 in der ihm eigentümlichen Sprache zusammen:

Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war.

Zum einen wird hier deutlich, welch wichtige Rolle Kant den ''Prinzipien der Vernunft'' zuschreibt, die sich nicht aus der Empirie ableiten lassen (das Kant'sche Apriori). Er löst damit das Problem, an dem Hume zum Skeptiker wurde und das die modernen Empiristen immer noch umtreibt, wie nämlich objektive Erkenntnis möglich ist.

Zum anderen schlägt zumindest in Kants Sprachduktus das Denken der Aufklärung durch, das 'die Vernunft' für eine allgemein-menschliche Eigenschaft oder Fähigkeit hält, diese aber gleichwohl ausschließlich für sich selbst reklamiert und sie anderen oder früheren Kulturen abspricht. Streift man dieses Vorurteil ab, so lässt sich festhalten, dass in der Tat die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode sich gegen das mittelalterliche Denken erst durchsetzen musste und die Rede von der ''Revolution der Denkart'' somit die Sache trifft, dass diese Revolution aber einer Vernunft zum Durchbruch verhalf, die der bürgerlichen Epoche spezifisch ist, gegen die Vernunft des Mittelalters, die ganz anders, aber deswegen nicht schlechthin unvernünftig war. (9)

Auch der Begriff der 'objektiven Erkenntnis' erhält damit eine andere Bedeutung als die in unserem Sprachgebrauch übliche einer ahistorischen, von der Gesellschaftsform unabhängigen und für alle Menschen gleichermaßen gültigen, weshalb denn auch Greiff 1976 von der 'objektiven Erkenntnisform' spricht. Ein Vertreter einer anderen oder früheren Kultur, der die Grundannahmen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode, die Prinzipien der bürgerlichen Vernunft nicht anerkennt, würde auch von der Wahrheit naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht zu überzeugen sein. Der einzige Bestandteil der Naturwissenschaft, den man ihm glaubhaft vorführen könnte, ist das Experiment: Wenn ich diese bis ins kleinste Detail festgelegte (dem anderen vermutlich rituell bis skurril anmutende) Handlung A ausführe, so stellt sich regelmäßig der Effekt B ein. Aber daraus folgt nichts weiter, solange mein Gegenüber meine Grundannahme der universellen Naturgesetze, die im Experiment angeblich zum Ausdruck kommen, nicht teilt, sondern das Naturgeschehen für willkürlich und regellos hält.

Der handfeste Erfolg der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode ist nicht zu bestreiten, er ist etwa in Form der technischen Systeme zu besichtigen; das sind Systeme, in denen künstlich Bedingungen geschaffen werden, wie sie für Experimente typisch sind, Störfaktoren also weitgehend ausgeschaltet werden (wenn nicht, versagen sie regelhaft). Aber aus dem Erfolg bestimmter Handlungen folgt nicht zwingend die (gar Gesellschaftsformen übergreifende) 'Wahrheit' der dahinter liegenden Vorstellungen. Erfolgreich ist beispielsweise auch die chinesische Kunst der Akupunktur, wie viele erfahren haben, denen die westliche Medizin nicht weiterhelfen konnte. Daraus auf die Wahrheit der dahinter stehenden Vorstellungen zu schließen, würde aber zumindest in Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über den menschlichen Körper stehen.

Noch weniger kann die zuweilen als Argument vorgebrachte Tatsache, dass das naturwissenschaftliche Denken zusammen mit der Warengesellschaft weltweit sich durchsetzen konnte, für die Überlegenheit dieser im Vergleich zu anderen Denkweisen herhalten. Die Methoden, denen das von Europa ausgehende warenproduzierende System seinen Aufstieg verdankt, sind schließlich bekannt: Die Ausrottung und Kolonialisierung fremder Völker gehört ebenso dazu(10) wie das von der Warenlogik erzwungene und daher nur umso erbarmungslosere Ausnutzen von Marktvorteilen und Modernisierungsvorsprüngen. Dass die europäische Denkweise Angehörige anderer Kulturen ''bekehrt'' habe, weil sie ihnen tiefere Erkenntnisse habe vermitteln können, klingt demgegenüber wenig überzeugend. So wie das naturwissenschaftliche Denken zunächst mit den Machtmitteln der Kirche, die Galilei zum Widerruf zwang, behindert wurde, so wurde es danach mit den Machtmitteln der Warengesellschaft durchgesetzt.

Objektive Erkenntnis und bürgerliches Subjekt

Ein derart offenkundiger äußerer Zusammenhang wie der zwischen bürgerlicher Gesellschaft und mathematischer Naturwissenschaft(11) legt die Frage nach dem inneren, kausalen Zusammenhang nahe. Ein krude ''materialistischer'' Ansatz, der alle gesellschaftlichen Erscheinungen auf die ökonomische Entwicklung zurückführen will (und dabei die Ökonomie als abgetrennte Sphäre immer schon voraussetzt), muss an dieser Frage schon deswegen scheitern, weil die Naturwissenschaften erst im Industriekapitalismus, also ungefähr 300 Jahre nach ihrem Auftreten, auch als Produktivkräfte eine Rolle spielen. Und selbst wenn es bereits in der frühen Neuzeit ökonomisch relevante Probleme gegeben hätte, zu deren Lösung die Naturwissenschaften einen Beitrag hätten leisten können, wäre damit der radikale Methodenwechsel im Übergang von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Wissenschaft nicht zu erklären.

Alfred Sohn-Rethel hat mit seiner These einer ''geheimen Identität von Warenform und Denkform'' (Sohn-Rethel 1970, 1990) ein sehr weitgefasstes Programm entwickelt, in dem er das Aufkommen des abstrakten abendländischen Denkens mit der ersten Münzprägung und dem Warentausch in Verbindung bringt. Dagegen ist einzuwenden, dass es, erstens, den einfachen Warentausch, den Marx als logische Vorstufe der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft analysiert, als eigenständige historische Gesellschaftsformation nie gegeben hat(12) , und dass, zweitens, Vorstufen des Industriekapitals bis hin zum Handels- und Wucherkapital auch in anderen Gesellschaften (China, Indien) aufgetreten sind, ohne dass deshalb das Denken dieselbe Entwicklung genommen hat wie im Westen und, im Übrigen, ohne dass dort eine eigenständige kapitalistische Dynamik entstanden ist. (13)

Ich möchte diese Diskussion hier nicht weiterführen, da es mir nicht um das abstrakte abendländische Denken schlechthin geht, sondern nur um seine besondere Form der objektiven Erkenntnis in den mathematischen Naturwissenschaften. Ferner strebe ich, da mir hierzu die Mittel fehlen, keine kausale Erklärung der historischen Entwicklung an, sondern beschränke mich auf die strukturellen Beziehungen zwischen der oben idealtypisch beschriebenen mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode und der Logik der Warengesellschaft in ihrer heute vorzufindenden entwickelten Form. Sohn-Rethels Programm, in dieser Weise abgespeckt, scheint mir dann immerhin durchführbar, wenn auch im Folgenden nur ansatzweise realisiert.

Das Verbindungsglied zwischen der Warengesellschaft und der objektiven Erkenntnisform ist das bürgerliche Subjekt, also die spezifische Konstitution des Bewusstseins, die einerseits erforderlich ist, um in der waren- und geldförmigen Vergesellschaftung bestehen zu können (vgl. Müller 1977, Bolay/Trieb 1988, Klein 1992, Kurz 1993), und die andererseits das Erkenntnissubjekt haben muss, um zu objektiver Erkenntnis fähig zu sein. Es geht hier also nicht um die individuellen Unterschiede, wie es in der Sprechweise vom ''subjektiven Faktor'' nahe gelegt wird, sondern um das, worin sich alle bürgerlichen Menschen gleichen bzw. was sie zu Gleichen macht:

Die Warenform, also die gesellschaftliche Bestimmung von Dingen, Waren zu sein, ist in der modernen bürgerlichen Gesellschaft dadurch zur allgemeinen Form geworden, dass der Kapitalismus die Arbeitskraft zu einer Ware gemacht hat, über die ihre Träger frei verfügen können, frei von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, frei von allen Zwängen außer dem einen, Geld verdienen zu müssen. Dieser unpersönliche Zwang allerdings ist umfassend, Geld daher zum einzigen Zweck aller Arbeit und der Verkauf der eigenen Arbeitskraft (ihr Tausch gegen Geld) zur vorherrschenden Form der Reproduktion geworden. Vor die Befriedigung eines jeden konkreten Bedürfnisses hat die Warengesellschaft das Geld gesetzt. Das Bedürfnis, über möglichst viel Geld zu verfügen, wird daher zum Ersten, für alle Gesellschaftsmitglieder gleichen, abstrakten ''Eigeninteresse'', also einem Interesse, das alle gleichermaßen haben, gleichwohl als wirtschaftliche Monaden in Konkurrenz zueinander verfolgen müssen. (14)

Die in diesem abstrakten Sinne freien und gleichen Subjekte des Warenverkehrs imaginieren sich als autonome Einzelne, die sich ihren Lebensunterhalt durch ihre Arbeit redlich ''verdienen''. Von der thatcheristischen Version des Neoliberalismus wird diese Illusion geradezu zum Programm erhoben, wenn sie feststellt, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Einzelne. Auch die antisemitische Wut über ''Spekulanten, die ihr Geld ohne Arbeit verdienen'', oder gar über ''Sozialschmarotzer'', die von ''unseren'' Steuergeldern leben, wird hieraus gespeist. Die Kehrseite dieses illusionären Bildes vom ''homo faber'' ist das Elend des Arbeitslosen, der seine Arbeitslosigkeit nur als selbstverschuldet begreifen kann und ''nicht mehr Manns genug, seine Familie zu ernähren'' letztendlich sein Lebensrecht verwirkt sieht. Dabei sollte angesichts des inzwischen erreichten Niveaus der Arbeitsteilung und der Vernetzung der Produktion jedem modernen Menschen klar sein, dass er von seiner konkreten Arbeit allein keine Woche überleben könnte. (15)

Dem Schein der Autonomie des Einzelnen korrespondiert der Schein der Naturhaftigkeit des ökonomischen Prozesses, der den wirtschaftlichen Monaden als ein gesetzmäßiger gegenübertritt und sich offenbar nur noch mit den Naturwissenschaften entlehnten Konzepten der Systemtheorie beschreiben lässt. Doch anders als etwa die Himmelskörper in ihrem Lauf kommen gesellschaftliche Systeme, und mögen sie als noch so verselbständigt erscheinen, ohne Menschen nicht aus.

In diesem doppelten Sinne ist das bürgerliche Subjekt der eigenen Gesellschaftlichkeit nicht bewusst: Verpflichtet nur der eigenen Reproduktion, für die es als Einzelner doch gar nicht sorgen kann, füttert es mit abstrakter Arbeit die Megamaschine der Kapitalverwertung, für deren Lauf es gleichwohl keine Verantwortung übernimmt, da es ihn als naturgesetzlich, außerhalb der Reichweite des eigenen Handelns stehend erfährt.

Bereits eine elementare Grundvoraussetzung sowohl der Warenform als auch der wissenschaftlichen Rationalität lässt sich keineswegs in anderen Gesellschaften in derselben Weise wiederfinden, nämlich das Bewusstsein oder, je nach Standpunkt, die Illusion der Ich-Identität, sprachlich ausgedrückt durch das Wörtchen 'ich'. Müller 1977 weist an Hand ethnologischer Studien darauf hin, dass viele Sprachen (indianische, vietnamesische u.a.) dieses Wort nicht kennen, sondern stattdessen an die jeweilige Situation angepasste Wendungen verwenden (z. B. 'der, der spricht'). Solche Gesellschaften kennen weder die als Ich-Störungen auftretenden psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie noch unsere auf dem logischen Satz von der Identität (A = A) aufbauende Form der Rationalität, was Europäer, die dort die Segnungen der westlichen Wissenschaft verbreiten wollen, schon mal zur Verzweiflung treiben kann (Müller 1977, S. 11 ff., S. 242 ff.).

Der Zusammenhang zwischen der Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Identitätsbewusstsein wurde bereits von Hume und Kant hervorgehoben, mit den auch hier für sie charakteristischen Unterschieden: Für den Empiristen und Skeptiker Hume ist nicht nur die Vorstellung eines identischen Objekts, sondern auch das Bewusstsein der persönlichen Identität, da aus der Erfahrung nicht ableitbar, eine metaphysische Täuschung (Hume 1739, Bd. 1, 327):

Jede wirkliche Vorstellung muß durch einen Eindruck veranlaßt sein. Unser Ich oder die Persönlichkeit aber ist kein Eindruck. Es soll ja vielmehr das sein, worauf unsere verschiedenen Eindrücke und Vorstellungen sich beziehen. Wenn ein Eindruck die Vorstellung des Ich veranlaßte, so müßte dieser Eindruck unser ganzes Leben lang unverändert bleiben; denn das Ich soll ja in solcher Weise existieren. Es gibt aber keinen konstanten und unveränderlichen Eindruck. ...

Wenn ich aber von einigen Metaphysikern, die sich eines solchen Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, daß sie nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen (bundle or collection) verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind.

Kant argumentiert komplementär: Da objektive Erkenntnis offenbar möglich (zu Zeiten Humes und Kants eine Tatsache) ist, die Bedingungen ihrer Möglichkeit sich aber, wie Hume gezeigt hat, nicht aus der Empirie ableiten lassen, müssen sie a priori vorhanden, also aller Erfahrung vorgelagert sein. Objektive Erkenntnis setzt ein erkennendes Subjekt voraus, das in der Lage sein muss, Gegenstände der Erfahrung als identische Objekte zu konstituieren, was seinerseits das Bewusstsein eines mit sich selbst identischen Ich voraussetzt (Kant 1787, B 132/134).:

Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können, denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. ...

Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebenen Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach soviel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen, und ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus, d. i. nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige derselben in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselben insgesamt meine Vorstellungen; denn sonst würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin.

Das Identitätsbewusstsein lässt sich nicht aus der Erfahrung ableiten, es ist aller Empirie vorgelagert. Es ist aber auch nicht qua Menschsein angeboren, sondern gesellschaftlich konstituiert. Müller 1977 und Bolay/Trieb 1988 versuchen, einen engen Zusammenhang zwischen der Warenform, der individuellen Ich-Identität und dem Identitätsbegriff der Logik herzustellen. Nun ist es sicher richtig, dass die Warengesellschaft mit einem derartigen Bewusstsein ausgestattete Subjekte voraussetzt und ihrerseits hervorbringt. Daraus folgt aber nicht, dass ein Identitätsbewusstsein nur in der Warengesellschaft möglich ist. So wird etwa in den buddhistischen Lehren mehr als 2000 Jahre vor Hume das individuelle Ich-Bewusstsein als ein Trugbild gekennzeichnet, das es durch meditative Versenkung zu überwinden gelte. In der indischen Gesellschaft dieser Zeit muss es ein solches Bewusstsein also bereits gegeben haben. Im Zuge der hier geführten Diskussion erscheint es daher sinnvoller, nicht beim Identitätsbewusstsein schlechthin stehen zu bleiben, sondern seine spezifisch bürgerliche Ausprägung zu untersuchen.

Um die Konstitution eines Subjekts, das zu objektiver Erkenntnis fähig ist, genauer zu bestimmen, ist es nützlich, sich die Anforderungen anzuschauen, die zur Durchführung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode erfüllt werden müssen. Greiff 1976 weist anhand der geläufigen, imperativisch formulierten Vorschriften in Lehrbüchern der experimentellen Physik zur Ausführung von Experimenten (Ausschaltung des 'subjektiven Faktors' bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Beobachterstatus') nach, dass sie sich auf ein Subjekt beziehen, dessen Verstand nicht von seinen Empfindungen abhängt, denn nur diese sind auszuschalten. Der im Experiment vorgenommene aktive Eingriff in die Natur ist zuallererst eine Handlung des Experimentators an sich selbst, nämlich die Ausschaltung seiner Körperlichkeit und seiner Empfindungen. So entsteht der Schein, es habe das Subjekt mit dem Erkenntnisprozess gar nichts zu tun (Greiff 1976, S. 93):

Denn scheinbar kommt ein Subjekt im Erkenntnisakt nach seiner Eliminierung gar nicht mehr vor. Scheinbar ist es für die Objektivität der Erkenntnis hinderlich und störend, zumindest überflüssig. Die Tatsache, daß sich der Betrachter im Vollzug der Erkenntnis wirklich als verzerrendes Störmoment begreifen und eliminieren muß, erzeugt den Gedanken, die Wahrheit läge in der Natur und nicht in der Erkenntnis der Natur, die Gesetzmäßigkeit habe natürliche, und die Abweichung von ihr menschliche Ursachen. Sie produziert den Schein, die Gesetzmäßigkeit sei eine Natureigenschaft, die sich in ihrer ganzen Pracht und Vollkommenheit äußern würde, wenn es überhaupt kein Subjekt gäbe.

Doch das ist bloßer Schein. Denn auch und gerade die Eliminierung des Subjekts stellt eine subjektive Handlung dar, eine Operation, die vom erkennenden Subjekt selbst ausgeführt werden muß. ... (Die Gesetzmäßigkeit) wird vom Wissenschaftler durch die Befolgung besonderer und angebbarer Regeln selbst hervorgebracht. Würden die vorgeschriebenen Handlungen unterlassen, dann würde die Natur nicht als gesetzmäßige Natur erkannt, d. h. dann gäbe es anstelle von objektiven und gesetzmäßigen Erkenntnissen nur von Beobachter zu Beobachter variierende subjektive Wahrnehmungen.

Jede Messung ist eine durch die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode vermittelte Wechselbeziehung von erkennendem Subjekt und der zu seinem Objekt gemachten Natur und kann sich daher nie auf die Natur 'an sich', sondern immer nur auf diese ganz spezifische Form der Interaktion beziehen. (16) Die im Experiment hervorgebrachte gesetzesförmige Subjekt-Objekt-Beziehung lässt sich nicht einfach nach einem ihrer Pole hin auflösen, auch nicht zum Subjekt hin, wie ein strikter Kulturalismus es vielleicht nahe legen mag. Naturgesetze sind weder Diskursprodukte, die sich unter Absehen von der Objektseite beliebig herstellen lassen, noch bloße Natureigenschaften, die mit den Erkenntnissubjekten gar nichts zu tun haben.

Bei der Ausführung von Experimenten geht es denn auch nicht um die ''Eliminierung des Subjekts'', sondern um die Abspaltung seiner körperlichen und empfindenden Individualität, die eben im Akt der objektiven Erkenntnis nichts zu suchen hat. Das wiederum setzt ein Subjekt voraus, das sich in dieser Weise spalten lässt und bei dem der nach der Abspaltung allein übrig gebliebene urteilende Verstand (das Kant'sche Transzendentalsubjekt) nichts Besonderes oder Individuelles mehr enthalten darf.

Der Schein, die im Experiment erzeugte Gesetzmäßigkeit sei eine Natureigenschaft, ist derselbe Schein, der in der Warengesellschaft den blinden gesellschaftlichen Prozess den Menschen als ihnen äußerlichen und gesetzmäßigen gegenübertreten lässt, obwohl dieser sich doch durch ihr eigenes Handeln als bürgerliche Subjekte erst konstituiert.

Das Subjekt als ''ein bewußter Aktor, der sich seiner eigenen Form nicht bewußt ist'' (Kurz 1993, S. 68) denkt sich selbst als von der Natur und den anderen Subjekten geschieden, die es als bloße Außenwelt erlebt. Der für die bürgerliche Gesellschaft spezifische gesamtgesellschaftliche Rahmen, der diese Bewusstseinsform erst herstellt, wird dabei seinerseits bewusstlos vorausgesetzt (Kurz 1993, S. 69):

Die Begrenztheit des Wahrnehmungs- und Handlungsbewußtseins erlaubt es nicht, eine Meta-Ebene zu erklimmen und sich selbst (das Subjekt) in seinem Bezug zur Außenwelt wahrzunehmen und also den Gesamtkomplex zu begreifen, in den das Subjekt und seine Wahrnehmungs- bzw. Handlungsgegenstände eingeschlossen sind. Die Form-Unbewußtheit des Subjekts, die eine bloße Dichotomie von Subjekt und Außenwelt konstituiert, setzt damit die Gegenstände von Wahrnehmung und Handlung (Natur und andere Subjekte) zu Objekten herab. Der Subjekt-Objekt-Dualismus ist Folge der Tatsache, daß die Metaebene, von der aus der Aktor und seine Gegenstände als ein gemeinsames Ganzes erscheinen, sozusagen ''nicht besetzt'' ist; diese Metaebene nimmt eben die subjektlose Form des Subjekts ein, wodurch sich der scheinbar unausweichliche und unüberbrückbare Dualismus herstellt.

Der derart objektivierte Systemzusammenhang der Warenform konstituiert auch die Gleichheit der Subjekte, die der objektiven Erkenntnisform vorausgesetzt ist, ihre Gleichheit als Waren- und Geldmonaden, als mündige und geschäftsfähige Bürger, mit den gleichen Rechten ausgestattet und den gleichen Regeln und Gesetzen unterworfen.

Doch diese Gleichheit ist erst herzustellen in einem Akt des Subjekts an sich selbst, in dem Körper und Geist zugerichtet, die eigenen Befindlichkeiten und Fähigkeiten objektiviert, die individuellen Besonderheiten abgespalten werden. Dies ist im Übrigen der gar nicht so heimliche Lehrplan des Humboldt'schen Konzepts der deutschen Universitäten einer ''Bildung durch Wissenschaft'', der sich insoweit die ''geheime Identität von Warenform und Denkform'' praktisch zunutze machte, lange bevor Sohn-Rethel sie theoretisch formulierte. Noch ein Mathematik-Hasser wie Schopenhauer mochte hier der Mathematik ihre heilsame Wirkung für die Selbstdisziplinierung nicht absprechen.

Nun ist an sich gegen Selbstdisziplin und Ordnung im Denken wenig einzuwenden, und die Auflösung allen Denkens im 'Fühlen' sprengt ja nicht die Warenform, (17) ist noch nicht einmal eine Revolte, sondern eher die Selbstauslieferung an den objektivierten Prozess und allenfalls geeignet, den grauen Alltag karnevalistisch zu kompensieren. Zu kritisieren ist aber die Bewusstlosigkeit, mit der die Disziplin des objektiven Denkens angeeignet wird, zu besichtigen etwa in einer beliebigen Mathematikvorlesung für StudienanfängerInnen, denen die Mathematik in ihrer heutigen Gestalt einfach so vorgesetzt wird, ohne Entstehungsgeschichte oder gesellschaftliche Bezüge auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Hierin besteht der eigentliche Dressurakt, die Zurichtung des seiner Form nicht bewussten Bewusstseins: Sich formale Regeln und Kalküle ohne jeden Sinnzusammenhang anzueignen, bis sie im Kopf ihre Eigenlogik entwickelt haben und sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr stellt.

Die Abspaltung individueller Besonderheiten, die das erkennende Subjekt an sich selbst in der Durchführung eines Experiments zum Zwecke seines Gelingens vornehmen muss, vollzieht es in der mathematischen Abstraktion des Gedankenexperiments an den Gegenständen seiner Betrachtung, die es zu Objekten macht: Von deren Beschaffenheit, ja von konkreten Dingen überhaupt wird abstrahiert; man denke in diesem Zusammenhang an Galileis oben aufgeführte Definition der gleichförmig beschleunigten Bewegung oder an den berühmten ''Massenpunkt'' der Newton'schen Mechanik.

Für die mathematische Ableitung schließlich ist es ein wesentliches Kriterium, dass die abgespaltene, konkrete Wirklichkeit von ihr fern gehalten wird. Die Geschichte der Mathematik seit Galilei ist gekennzeichnet durch die zunehmende Abschottung gegen diesen abgespaltenen Anteil menschlichen Denkens, der durch irgendwelche Hintertüren immer wieder in das mathematische Denken hineingerät und es zu ''verunreinigen'' droht. Während noch bis ins 19. Jahrhundert hinein das Selbstbild der Mathematik weitgehend geprägt ist von ihrer Rolle als Sprache, in der das Buch der Natur geschrieben sei (so eine auf Galilei zurückgehende Metapher) und insofern doch letztlich dem Konkreten verhaftet bleibt, konstituiert sie sich 1900 mit dem formalistischen Programm David Hilberts als Wissenschaft eigenen Rechts, bestehend in der Anwendung festgelegter Regeln zur Umformung von Zeichenketten, denen keinerlei inhaltliche Bedeutung mehr zukomme. (18) Es ist sicher kein historischer Zufall, dass diese Entwicklung in eine Zeit fällt, in der sich die Warenform als Vergesellschaftungsprinzip umfassend durchgesetzt hat und die aus dem Feudalismus überkommenen persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse weitgehend durch formale Regeln abgelöst sind, die für alle gleichermaßen gelten und keinem individuellen Zweck mehr dienen. (19) Die Mathematik als der abstrakte Kern der (mathematischen) Naturwissenschaft schwingt sich im 20. Jahrhundert zur ''Königsdisziplin'' (Hilbert) auf, ohne die keine andere Wissenschaft mehr auskommen mag. Zu dieser Entwicklung gehört auch das Ende der zwar abstrakten, doch gleichwohl der Anschauung entnommenen Modelle der klassischen Physik, die etwa in der Elementarteilchenphysik durch rein mathematische, keinem mechanischen Analogon mehr verpflichtete Modelle ersetzt werden, so dass man jetzt in populärwissenschaftlichen Zeitschriften lesen kann, der Raum sei ''in Wirklichkeit'' elfdimensional und in sich gekrümmt; doch diese Darstellung ist bereits eine eigentlich unzulässige Veranschaulichung.

Geschlechtliche Abspaltung

Ernst zu nehmende Kritik an den Naturwissenschaften ist in den letzten Jahrzehnten vor allem von Seiten des Feminismus gekommen (s. Keller 1986, List/Studer 1989, Harding 1994, Scheich 1993, 1996, Orland/Scheich 1995). Soweit ich sehe, gibt es zwei Hauptstoßrichtungen. Die eine zielt auf den biologischen Begriff des Geschlechts, mit dem in vielen Arbeiten auf fast schon groteske Weise nur die Geschlechterrollen der bürgerlichen Gesellschaft reproduziert werden: Männchen haben aktiv zu sein, Weibchen passiv, und wenn sie es nicht sind, so zeigen sie eben ein untypisches Verhalten. Die andere richtet sich weniger auf die Inhalte und mehr auf die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode, weshalb meine bisherigen Überlegungen sich daran anschließen lassen:

Die Warengesellschaft ist durch eine Spaltung in voneinander abgetrennte Sphären gekennzeichnet, die es früher oder auch in anderen Kulturen so nicht gegeben hat. Die erste Sphärentrennung, die jeder und jede am eigenen Leibe verspürt, ist die in Öffentlichkeit und Privatheit: Der öffentlichen Sphäre der abstrakten Arbeit, die nach den Regeln des Geldes funktioniert, und im Übrigen in weitere Abteilungen ausdifferenziert ist, steht die der Kompensation und der Reproduktion des Lebens und der Arbeitskraft dienende private Sphäre gegenüber. Auf der Ebene der einzelnen Subjekte findet sich diese Sphärentrennung wieder in Form einer Spaltung in ein abstraktes Verstandeswesen und ein empfindendes Körperwesen.

Diese Spaltung ist geschlechtlich besetzt ('Abspaltungstheorem', Scholz 1992, S. 23):

Der Grundwiderspruch der Wertvergesellschaftung von Stoff (Inhalt, Natur) und Form (abstrakter Wert) ist geschlechtsspezifisch bestimmt. Alles, was in der abstrakten Wertform an sinnlichem Gehalt nicht aufgeht, aber trotzdem Voraussetzung gesellschaftlicher Reproduktion bleibt, wird an die Frau delegiert.

Zur Frauenrolle gehört es, für die Privatsphäre zuständig zu sein, für die Sinnlichkeit, für die Reproduktion des Lebens, für den emotionalen Haushalt (des Mannes), für Kindererziehung und Altenversorgung. Der Zweck dieser Abspaltung ist, dem Mann in seiner Rolle die eigene Zurichtung auf die nur an abstrakten Kalkülen orientierten öffentliche Sphäre zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Das heißt natürlich nicht, dass wirkliche Frauen und Männer sich nur entsprechend der für sie vorgesehenen Rollen verhalten, schließlich handelt es sich hier nicht um biologische Determinanten, sondern um gesellschaftliche Zuschreibungen. Doch der Zwang ist groß, sich den durch die Wertvergesellschaftung kodifizierten Attributen von 'weiblich' und 'männlich' zu fügen. Er beginnt in frühester Kindheit und setzt sich bis in die Verhaltensweisen fort, die frau/man aufweisen muss, um als sexuell attraktiv zu gelten. Deshalb ist nach wie vor, statistisch gesprochen, die positive Korrelation zwischen Geschlechterrolle und biologischem Geschlecht sehr hoch.

Der meines Erachtens entscheidende Gehalt des 'Abspaltungstheorems' ist die Aussage, dass Warenform und Patriarchat in der bürgerlichen Gesellschaft eine untrennbare Verbindung miteinander eingegangen sind und sich wechselseitig bedingen, so dass von dem aus der Klassenkampf-Rhetorik vielleicht noch bekannten ''Nebenwiderspruch'' nicht die Rede sein kann. Die Unterdrückung der Frau, so verschieden ihre historischen Formen auch gewesen sein mögen, ist in ihrer modernen Gestalt der Abspaltung und damit Herabsetzung des Weiblichen an die Warengesellschaft geknüpft, deren Produkt und die Bedingung ihrer Möglichkeit zugleich.

Wo sind nun hinsichtlich dieser Spaltung die Naturwissenschaften zu verorten? Die Antwort ist völlig eindeutig: Sie stehen gewissermaßen mit beiden Beinen auf der öffentlichen/männlichen Seite. Empirische Belege dafür gibt es zuhauf, beginnend etwa mit der Auffassung der Klassiker, die Naturwissenschaft betreffend, etwa Francis Bacons, dessen sexuelle Metaphorik auf eine eheliche Zusammenkunft von Geist und Natur zielt, deren innerste Kammern durch Zwang, Belästigung, Verfolgung, Eroberung offen zu legen seien (Keller 1986, S. 41 ff.). Die Natur selbst wird dabei selbstverständlich als weiblich verstanden, und selbstverständlich können Frauen bei diesem Geschäft nur stören. Frauenfeindliche Äußerungen sind fast von jedem großen Naturwissenschaftler zu haben, die folgende von Max Planck ist nur besonders plastisch (zitiert nach Pietschmann 1995, S. 249):

Es wäre höchst verfehlt, durch Gründung besonderer Anstalten die Frauen zum akademischen Studium heranzuziehen, wenigstens sofern es sich um die rein wissenschaftliche Forschung handelt. Amazonen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig. Bei einzelnen praktischen Aufgaben, zum Beispiel in der Frauenheilkunde, mögen vielleicht die Verhältnisse anders liegen, im allgemeinen aber kann man nicht stark genug betonen, daß die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter vorgeschrieben hat, und daß Naturgesetze unter keinen Umständen ohne schwere Schädigungen, welches sich im vorliegenden Falle besonders an dem nachwachsenden Geschlecht zeigen würden, ignoriert werden können.

Aber jemand wie Albert Einstein steht ihm in dieser Hinsicht in nichts nach (s. Pietschmann, S. 333 ff.).

Ein Problem mit diesen Äußerungen ist, dass sich die Kritik an ihnen festbeißen und der Eindruck entstehen kann, als würde Naturwissenschaft nur von den falschen Menschen betrieben. Richtig ist, dass Naturwissenschaft überwiegend von Männern betrieben wird, dass der Frauenanteil deutlich geringer ist als in anderen akademischen Sparten und mit dem Aufstieg in höhere akademische Positionen noch einmal rapide sinkt. Neben männerbündischen Mechanismen gibt es dafür aber auch einen strukturellen Grund, und er erscheint mir im Zusammenhang der hier geführten Diskussion wichtiger:

Bei der vom Experimentator in der Durchführung des Experiments an sich selbst vorzunehmenden Abspaltung individueller Besonderheiten, des 'subjektiven Faktors', ebenso wie in denen der mathematischen Abstraktion handelt es sich um die bewusste Anstrengung zur Abspaltung des privaten / weiblichen Anteils, und genau hierdurch ist die objektive Erkenntnis qua Methode geprägt. In der Metaphorik Bacons ausgedrückt: Der Experimentator muss sich im Experiment erst zum Manne zurichten, um die ''eheliche Zusammenkunft von Geist und Natur'' vollziehen zu können.

Es ist klar, dass Frauen damit ihre Probleme haben, oder anders formuliert: Der Frauenanteil unter den naturwissenschaftlich Tätigen ist (auch) deshalb so gering, weil Frauen beim Betreiben von Naturwissenschaft in Konflikt mit der ihnen zugeschriebenen Rolle geraten, Männer dagegen in der ihren noch bestätigt werden.

Die Feststellung von Evelyn Fox Keller im Eingangszitat, ''daß wir aus irgendeinem Grund vergessen haben, unser eigenes Überleben in die Zielsetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis einzubringen'', lässt sich unter dem Aspekt der geschlechtlichen Abspaltung präzisieren und verschärfen: Die Frage des Überlebens der Menschheit und der Welt um uns ist an die abgespaltene weibliche Sphäre delegiert und kommt in der warenförmigen öffentlichen Sphäre, der hierfür jedes Instrumentarium fehlt, gar nicht vor, zuallerletzt in der objektiven Erkenntnis, deren Methode ja gerade darin besteht, den weiblichen Anteil abzuspalten.

Diese Sichtweise impliziert, dass es zu kurz greifen muss, Programme zur Förderung von Frauen in den Naturwissenschaften aufzulegen, auch wenn das Ziel richtig ist, damit die Handlungsmöglichkeiten von Frauen zu erweitern und den Wissenschaftsbetrieb wenigstens an seiner Oberfläche zu verändern. (20) Die von der feministischen Wissenschaftskritik gestellte Frage nach einer anderen Wissenschaft wird damit aber nicht beantwortet und die für die Naturwissenschaft konstitutive Abspaltung des Weiblichen gar nicht berührt. Um hier weiterzukommen, nützt es nichts, die eine oder andere der getrennten Sphären durch bestimmte Personen zu besetzen, auch wenn diese vielleicht zur fortschrittlicheren Hälfte der Menschheit gehören. Das Ziel kann nur darin bestehen, die Sphärentrennung aufzuheben. Diese allerdings ist, siehe oben, der Warengesellschaft immanent.

Es hilft daher nichts: Wer das Ziel verfolgt, die bestehende Wissenschaft in einem umfassenderen System menschlichen Wissens aufzuheben, muss beginnen, über die Aufhebung der Warenform selbst nachzudenken.

Perspektiven der Aufhebung

So wenig davon auszugehen ist, dass das warenproduzierende System sich einfach in Wohlgefallen auflöst und im blinden Selbstlauf auf eine höhere Stufe hebt, so wenig Sinn hätte es, über die Bedingungen für eine postkapitalistische Gesellschaft nachzudenken, wenn die Konturen eines systemischen Zusammenbruchs der Warengesellschaft sich nicht bezeichnen ließen, obzwar mit offenem Ausgang. In einer Zeit, in der ökonomische Vorhersagen die Verfallszeiten von Wetterberichten haben, scheint es etwas aberwitzig, zu diesem Zweck auf eine immerhin schon 140 Jahre alte Prognose zurückzugreifen; aber es geht hier, um im Bilde zu bleiben, auch nicht um das Wetter, sondern um schwer wiegende Klimaveränderungen.

Im Werk von Karl Marx finden sich, eher verstreut als systematisch, Passagen, in denen er versucht, aus der von ihm analysierten Logik des Kapitals auf dessen weitere Entwicklung zu schließen. Die folgenden sind einem Abschnitt aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie entnommen, überschrieben mit dem Titel Widerspruch zwischen der Grundlage der bürgerlichen Produktion (Wertmaß) und ihrer Entwicklung selbst. Maschinen etc. (Marx 1857-58 , S. 592 ff.). Ich empfehle ihre Lektüre vor dem Hintergrund der heute keineswegs schon abgeschlossenen 'mikroelektronischen Revolution', den ungeheuren Steuerungs- und Rationalisierungspotenzialen symbolverarbeitender Maschinen und dem dadurch verursachten und inzwischen allseits beschworenen 'Ende der Arbeitsgesellschaft':

In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder ... in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.

... Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper - in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbstgeschaffne.

... Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren sucht, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung - question de vie et de mort - für die notwendige. Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur, wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig ... zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit, und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten. Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen - beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums - erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.

Im Zusammenhang mit der hier geführten Diskussion ist vor allem der Begriff der Produktivkraft wichtig, verstanden als die inzwischen entwickelten Potenzen von Naturwissenschaft, Technik und gesellschaftlichen Beziehungen. In der marxistischen Rezeptionsgeschichte scheint dieser Begriff weitgehend mit dem der Produktionsmittel identifiziert worden zu sein (vgl. Lohoff 1987), also der unter kapitalistischen Bedingungen tatsächlich realisierten Technik, wie sie in der Produktion zum Einsatz kommt.

Für eine über die bestehenden Produktionsverhältnisse hinausweisende Perspektive kann nichts falscher sein als eine solche Identifikation. Die für die Naturwissenschaft charakteristische Zerlegung des regellos erscheinenden Naturgeschehens in beherrschbare und beliebig zusammensetzbare Einzelfaktoren lässt zunächst völlig offen, in welcher Weise deren tatsächliche Synthese in technischen Produktionssystemen dann erfolgt. Da dies unter dem Diktat der Wertform geschieht, dem Zwang, aus Geld mehr Geld zu machen, werden die Produktionsmittel immer irrationaler, und das gleich in zweifacher Hinsicht:

Zum einen betrifft es das Kapital (den ''prozessierenden Widerspruch'') selbst, das unter dem Zwang der Konkurrenz der Einzelkapitalien die Produktivität ständig erhöhen muss, damit aber seine eigene Basis untergräbt: In einer menschenleeren Fabrik kann kein (in Arbeitszeit gemessener) Wert mehr geschaffen werden.

Zum anderen haben die allein dem Zweck der Geldvermehrung dienenden Produktionsmittel die ungeheure Vergeudung stofflicher Ressourcen und menschlicher Potenzen zur Folge, die für die Produktion von immer mehr unsinnigen und schädlichen Dingen eingesetzt werden. Die Kritik an der bestehenden Technik ist daher mehr als berechtigt. Daraus lässt sich aber noch keine Kritik der Produktivkräfte, der Technik und Naturwissenschaft schlechthin ableiten. Entsprechende Versuche(21) , in denen zudem die Produktionsverhältnisse als Verursacher gar nicht dingfest gemacht werden, enden regelhaft nicht etwa in Forderungen nach Aufhebung der Geldvergesellschaftung, sondern in schlechten Utopien einer Wiedereinführung der Subsistenzwirtschaft nach dem Vorbild des Mittelalters, die natürlich schon deswegen hilflos sein müssen, weil sich die Produktivkräfte als know how in den Köpfen der Menschen ja nicht einfach zurückdrehen lassen. Von einer Analyse, die Ursache und Wirkung, Krankheit und Symptom durcheinander bringt, ist allerdings auch nicht mehr zu erwarten. (22)

Aus der Tatsache, dass eine bestimmte Kritik an den Produktivkräften falsch ist, weil sie auf einer Begriffsverwirrung, genauer: einer unzulässigen Identifikation auseinanderzuhaltender Begriffe beruht, folgt aber nicht, dass eine derartige Kritik überhaupt nicht möglich wäre. Und in der Tat impliziert der oben aufgezeigte Zusammenhang von Subjektform und objektiver Erkenntnisform als eine erste Konsequenz für jede über den Kapitalismus hinausweisende Perspektive: So wenig das bürgerliche Subjekt in eine postkapitalistische Gesellschaft unbeschadet hinübergerettet werden kann, so wenig ist das von den Naturwissenschaften und der von ihnen induzierten Technik zu erwarten, die gerade diese Subjektkonstitution voraussetzen.

Diese Aussage bezieht sich nicht in erster Linie auf die Ergebnisse der bisherigen Naturwissenschaft. Diese lassen sich, wie schon gesagt, ja nicht einfach aus der Welt schaffen, auch wenn das vielfach wünschenswert wäre, so etwa für das Wissen zur Herstellung hochtechnologischer Waffensysteme. (23) Im Übrigen sind NaturwissenschaftlerInnen, IngenieurInnen und andere BastlerInnen durchaus in ihrem Element, wenn es darum geht, das vorhandene naturwissenschaftliche Potenzial zu menschenfreundlichen, ressourcen- und umweltschonenden Systemen neu zu synthetisieren, wie eine Unzahl einschlägiger Studien beweist, die freilich allesamt die Rechnung ohne den Wert machen, nach einer Aufhebung der Wertform oder auch im Zuge einer entsprechenden Bewegung jedoch nützlich werden können. Exemplarisch sei hier auf den ganzen Müll von Untersuchungen zu einer ''ökologischen Marktwirtschaft'' verwiesen, der es schon zu mehreren Buchreihen gebracht hat. Die Crux dieser Studien ist der von vornherein zum Scheitern verurteilte und doch immer wieder unternommene Versuch, die eigenen Überlegungen und als notwendig erkannten Maßnahmen markt- und geldförmig zu vermitteln, (24) und ''nur'' insofern sind sie in der Tat für den Müll produziert. Doch das hier angesammelte technische und naturwissenschaftliche know how ist beeindruckend, und eine Aufhebungsbewegung, die die gesellschaftliche Vermittlung bewusst gestaltet und nicht der blinden Bewegung des Geldes überlässt, könnte an dieses Wissen unmittelbar anschließen. (25)

Eine darüber hinausgehende Frage aber ist die nach der Rolle und der Form, die (Natur-) Wissenschaft als Tätigkeit oder Institution in einer postkapitalistischen Gesellschaft haben soll und kann, hierauf vor allem bezieht sich der obige Hinweis auf den Zusammenhang dieser Denkform mit der Konstitution des bürgerlichen Subjekts. Geht man mit Kurz 1993 davon aus, dass 'Aufhebung der Warenform' nicht bedeuten kann, bewusstlos in eine neue Zwangskonstitution hinüberzugleiten, sondern die Bewusstwerdung des Subjekts und seine bewusste Selbstaufhebung meint, auch hinsichtlich seiner Spaltung in 'männlich' und 'weiblich', so zeichnen sich nach dem bisher Gesagten Konsequenzen für die Naturwissenschaft ab, wenngleich vorerst nur als negative Bestimmungen:

Insoweit die Naturwissenschaft die menschlichen Handlungsmöglichkeiten erweitert, ist sie nützlich und sollte auf dieses Werkzeug nicht verzichtet werden. Doch die ''Naturwissenschaft als Religion unserer Zeit'' (Pietschmann), die die von der objektiven Erkenntnisform produzierte Gesetzmäßigkeit zur Natureigenschaft und die gesetzmäßige Natur zum Weltbild erhebt, das bestimmt, was wir sehen und was wir nicht sehen, wird unsere Zeit, die Moderne, nicht überdauern. Das Bild von 'der Natur' ist immer ein gesellschaftlich konstituiertes gewesen. Es ist nicht einzusehen, warum eine Gesellschaft, die sich jeder bewusstlosen, abstrakt-allgemeinen Form entledigt, noch eines einheitlichen, für alle gleichermaßen und zu jeder Zeit verbindlichen Naturbildes bedarf. (26)

'Aufhebung' bedeutet 'Bewahrung', aber eben auch 'Abschaffung': Zur Bewusstwerdung der Subjekte gehört, dass sie sich nicht mehr auf ein bornierte Tätigkeiten reduzieren lassen werden. Für die lebenslange Arbeit in einem winzigen Teilgebiet etwa der Mathematik, dem Produzieren von Ergebnissen, die gerade mal von einem halben Dutzend Experten auf der Welt nachvollzogen werden können, wird sich daher niemand mehr finden lassen. Das mag auf Kosten der 'Leistung' gehen und aus heutiger Sicht bedauert werden, doch eben nur aus heutiger Sicht, in der 'Leistung' ohne Ansehen ihres Inhalts und Zwecks hochgehalten wird. Eine kulturelle Hochleistung ist freilich auch der Pyramidenbau vor mehr als 4000 Jahren gewesen, und doch denkt heute niemand daran, es den alten Ägyptern nachzumachen.

Schwierig zu beantworten scheint mir die Frage, ob eine Methode, die auf der Abspaltung des 'Weiblichen' beruht, die Aufhebung der Trennung der geschlechtlich besetzten Sphären überdauern kann, und sei es auch nur zum nützlichen Gebrauch. Für eine Menschheit, die ihr Geschick in die eigenen Hände nimmt und es nicht mehr dem blinden Prozess der Kapitalverwertung überlässt, ist das möglicherweise kein besonders wichtiges Problem. Denkbar ist daher, dass sowohl 'weibliche' als auch 'männliche' Fragen an die Natur gestellt und die unterschiedlichen Antworten erst nachträglich zusammengeführt und beurteilt werden. Denkbar im Sinne des feministischen Projekts einer anderen Wissenschaft ist aber auch die Aufhebung der bisherigen in einem umfassenderen System menschlichen Wissens, wie immer dieses dann aussehen mag.

Um abschließend doch noch einmal den Boden der 'Tatsachen' zu betreten: Das alles sind für unser Alltagsverständnis natürlich schon deshalb völlig unrealistische Spekulationen, weil bereits die Vorstellung einer Menschheit ohne Geld als absurd, als so unmöglich gilt wie das Übertreten von Naturgesetzen. Dabei sehen alle, dass die Geldvergesellschaftung selbst zunehmend verrückt spielt. Alle wissen oder ahnen es zumindest, dass die Weltmarktkonkurrenz keine Gewinner mehr kennen wird, und doch scheint die einzige Konsequenz aus dieser Einsicht zu sein, sich für diese Konkurrenz nur umso besser zu rüsten. Was soll man gegen Naturkatastrophen auch sonst schon ausrichten? Die Wissenschaft spielt hierbei als ''Standortfaktor'' eine besondere Rolle, noch der längste studentische 'Streik' in der Geschichte der bundesdeutschen Hochschulen vermochte Ende 1997 über diese Perspektive nicht hinauszukommen. Und erst recht versucht die etablierte Wissenschaft, die allgemeine Konkurrenzangst zu nutzen, um staatliche Gelder in die richtigen Kanäle zu lenken. (27)

Zukunftsvisionen können dann nur noch als technische gedacht werden. Angesichts der offensichtlichen, aber nicht weiter hinterfragten Irrationalität der nichtwissenschaftlichen Welt wird die mathematische Naturwissenschaft als ''höchste Form der Rationalität'' angepriesen, als Mittel zur Lösung aller gesellschaftlichen Probleme, so etwa in den Fantasmen einer ''rationalen'' Steuerung gesellschaftlicher Prozesse durch Automaten, mit denen Vertreter der ''Künstlichen Intelligenz'' für sich Forschungsgelder lockermachen.

Die Grenzen einer Methode nicht einschätzen zu können, ist ein sicheres Zeichen für die Bewusstlosigkeit, mit der sie betrieben wird. Doch während auf der einen Seite allen Ernstes nach der ''Großen Vereinheitlichten Theorie'', der ''Weltformel'' gesucht wird, die die letzte Erklärung für alles liefern soll (s. Barrow 1994), verbreitet sich mehr als 350 Jahre nach Galilei auch die Einsicht in die Grenzen der mathematischen Naturwissenschaft. So spricht etwa der theoretische Physiker Herbert Pietschmann 1995 vom ''Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters'', das er an der Unmöglichkeit festmacht, einer Lösung der wirklichen Menschheitsprobleme durch naturwissenschaftliches Denken allein auch nur einen Schritt näher zu kommen. Die Selbstbescheidung seiner Darstellung macht diese sympathisch, zugleich aber auch hilflos, weil der Bezug zur Warengesellschaft und ihren Widersprüchen nicht entwickelt wird. Doch ein solcher Versuch, die eigene Rolle selbstkritisch zu reflektieren, ist allemal hoffnungsvoller als das bewusstlose Weitermachen wie bisher. Zumindest bietet er Ansatzpunkte.

Von einem Naturwissenschaftler und bürgerlichen Subjekt wie dem Autor des vorliegenden Textes ist eine positive Bestimmung einer Lebens-, Denk- und Erkenntnisweise jenseits der Warenform nicht zu leisten. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn sich darüber wenigstens eine Diskussion eröffnen ließe. Denn schließlich: Warum sollte die von Kant konstatierte 'Revolution der Denkart', die die moderne Naturwissenschaft begründete, die letzte Revolution dieser Art gewesen sein?

 

 

Literatur

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Zinn, Karl-Georg: Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989


(1) Sofern ich im folgenden die männliche Form benutze, ist die weibliche ausdrücklich nicht gemeint. Die Gründe dafür sollten im Laufe der weiteren Erörterungen noch deutlich werden.

(2) Ganz offensichtlich ist das für die Thesen der Fall, die ausschließlich auf der Erscheinungsebene argumentieren: Ohne naturwissenschaftliches Instrumentarium lassen sich viele Gefährdungen (Ozonloch, radioaktive Strahlung, Umweltgifte usw.) noch nicht einmal erkennen. Auf eine drohende Ernährungskatastrophe durch Erosion der Böden auf Grund von Entwaldung und Überdüngung wird vor allem von naturwissenschaftlichen Fachleuten hingewiesen. Die kapitalistische Wirtschaftsweise schließlich nur für die ''Verbreitung'' aller Übel verantwortlich zu machen, die dann wohl von einer entfesselten und enthemmten Wissenschaft und Technik in eigener Regie produziert werden, bringt zudem die tatsächlichen Verhältnisse einigermaßen durcheinander. Für eine Auseinandersetzung mit einer derartigen 'Produktivkraftkritik' vgl. Kurz 1986/87 und Lohoff 1987.

(3) Manche von ihnen bringt das in die absurde und auf Dauer unhaltbare Situation, gewissermaßen am Wochenende gegen das zu protestieren, was sie während der Woche selbst eifrig mitbetreiben.

(4) vgl. die Auseinandersetzungen mit der 'Widerspiegelungstheorie' bei Greiff 1976

(5) weshalb hier auch nicht für eine ''anarchistische Erkenntnistheorie'' des ''anything goes'' eines Feyerabend 1976 plädiert werden soll. Feyerabend, selbst in der Tradition des Empirismus stehend, zeigt, daß die moderne Wissenschaft sich den empiristischen Maßstäben nicht fügt. Daraus folgt aber keineswegs die Beliebigkeit der Methodenwahl. Vielmehr sind die angelegten Maßstäbe verfehlt.

(6) Die Discorsi sind als ein über mehrere Tage sich hinziehendes Gespräch dargestellt.

(7) Die tatsächliche Ausführung von Experimenten stößt in Galileis Zeiten auf große Schwierigkeiten, weil die technischen Voraussetzungen dafür erbärmlich sind, verglichen etwa mit denen, die heute die Physiksammlung einer normalen Schule bietet. Galileis Versuche zur Bestimmung der konstanten Beschleunigung im freien Fall sind völlig wertlos, er vermeidet daher auch soweit wie möglich die Angabe eines konkreten Zahlenwerts, und wenn er es doch tut, liegt er jedesmal völlig falsch, nämlich etwa bei der Hälfte des heute gültigen. Dieser Sachverhalt unterstreicht noch einmal, dass die Ablösung der qualitativen, aristotelischen Physik durch die mit mathematischer Strenge und Präzision arbeitende quantitative Physik Galileis nicht auf Erfahrung beruht (s. Koyré 1998, S. 151 - 184). Galilei selbst bediente sich denn auch zur Stützung seiner Auffassung hin und wieder des ''Kunstgriffs'', Experimente, die er sich bloß erdacht hatte, als wirklich durchgeführte zu beschreiben (Koyré 1998, S. 129).

(8) Die von den Naturwissenschaften selbst unterstellte Allgegenwart von Störfaktoren macht übrigens den Gedanken des modernen Empirismus, es ginge um die ''Falsifikation wissenschaftlicher Hypothesen durch Experimente'' (Popper), mehr als fragwürdig. Das Fallgesetz etwa läßt sich nicht falsifizieren. Ein Experiment, dessen Messungen im Widerspruch zu diesem Gesetz stünden, würde entweder nicht ernstgenommen oder aber Anlass geben, nach unbekannten Störfaktoren zu suchen.

(9) Es hängt halt immer von den Beurteilungskriterien ab: Das ''finstere Mittelalter'' hat etwa Gewaltexzesse wie die der bürgerlichen Epoche nicht gekannt, auch die ihm üblicherweise zugeschriebenen (Hexenverfolgung, Pogrome) fanden in der frühen Neuzeit statt.- Zinn 1989 weist darauf hin (und belegt), dass die Ernährungssituation der großen Bevölkerungsmehrheit sich im Zeitraum von 1450 bis 1850 stetig verschlechtert hat und erst seither wieder besser wird, allerdings nur in den industrialisierten Ländern (durch Industrienahrung mit den bekannten Folgen der Fehlernährung).- Nimmt man als Maßstab die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit im Verhältnis zu den Möglichkeiten des jeweiligen Standes der Produktivkräfte, so erscheint die moderne Gesellschaft gar als die unvernünftigste aller bisher dagewesenen Gesellschaftsformen.

(10) Die in diesem Zusammenhang entscheidende Überlegenheit der Waffentechnik in den Anfängen der Neuzeit verdankt sich nicht einem technischen Entwicklungsvorsprung, sondern dem in Europa gesamtgesellschaftlich sich durchsetzenden Impetus, das vorhandene technische Wissen und gewaltige ökonomische Ressourcen vorrangig für die Entwicklung und Produktion von Feuerwaffen einzusetzen. Aus dieser Zeit bereits datiert der für die bürgerliche Gesellschaft anscheinend charakteristische ''militärisch-industrielle Komplex'', vgl. Zinn 1989.

(11) Er lässt sich entstehungsgeschichtlich sogar örtlich und zeitlich lokalisieren: Stätten der neuzeitlichen Wissenschaft waren die Zentren des städtischen Bürgertums, deren Verlagerung von Norditalien und Deutschland nach England und den Niederlanden zeitverzögert die Verlagerung der wissenschaftlichen Zentren zur Folge hatte. Vgl. Lefevre 1978, der die These vertritt, die Naturwissenschaften seien zunächst vor allem ein ideologisches Instrument des Bürgertums gegen die Privilegien des Adels gewesen: Wenn die Natur universellen Gesetzen folgt, dann ist eine Gesellschaftsordnung ''natürlich'', für deren Mitglieder das ebenso gilt.

(12) was Sohn-Rethel anzunehmen bzw. zu unterstellen scheint, weswegen Halfmann / Rexroth 1976 von einem produktiven Missverständnis sprechen, ohne das Sohn-Rethel seine Theorie wohl nicht hätte entwickeln können.

(13) Zinn 1989 entwickelt die These, die bürgerlichen Gesellschaft sei durch eine Art ''historischen Betriebsunfall'' entstanden, nämlich durch die Pest im 14. Jahrhundet und die damit verbundene Zerstörung feudaler Strukturen sowie das gleichzeitige Aufkommen der Feuerwaffen, deren Massenproduktion die Herausbildung staatlicher Zentralgewalten und die Geldwirtschaft forciert (Ersetzung der bäuerlichen Sachabgaben durch Steuern). Das würde immerhin erklären, warum nur in Europa die Keimformen der Warengesellschaft in der Lage waren, die feudalen Strukturen zu sprengen.

(14) Vgl. Klein 1992, S. 24/25. Klein stellt im ersten Kapitel seines Buches auf knappe und klare Weise den Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie sowie der dazugehörigen Subjektkonstitution dar.

(15) Ein mittelalterlicher Bauer, der seine Reproduktion in weit höherem Maße autonom besorgen konnte, dürfte ein weitaus stärkeres Bewusstsein für die Außensteuerung seines Lebens gehabt haben als ein moderner Mensch.

(16) In der Quantenphysik, in der Beobachtungen ohne schwerwiegenden Eingriff in den ''natürlichen Ablauf'' gar nicht möglich sind, ist diese Einsicht durchaus geläufig, wird aber meist gleich wieder zugeschüttet mit der durch nichts begründeten Annahme, hinter den in der Interaktion von Subjekt und Mikrostruktur produzierten Gesetzmäßigkeiten stünden die ''wirklichen'', vom Subjekt unabhängigen Naturgesetze, vgl. Penrose 1991.

(17) die die Trennung von ''Körper'' und ''Geist'', ''Fühlen'' und ''Denken'' ja erst hervorbringt.

(18) Um einem verbreiteten Missverständnis entgegenzutreten: Die Hilbert'sche Definition der Mathematik als einem rein formalen System beschreibt nicht die mathematische Tätigkeit, welche immer noch von Menschen ausgeführt wird, die so gar nicht denken könnten. Es wird nur der Anspruch erhoben, jedes Ergebnis dieser Tätigkeit müsse sich als formales System und unter Absehen von allen Inhalten codieren lassen.

(19) Vgl. Heintz 1993; in ihrem Buch mit dem programmatischen Titel 'Die Herrschaft der Regel' wird deutlich, dass die mathematischen Wissenschaften nicht nur hinsichtlich ihrer Entstehung sondern auch ihrer weiteren Entwicklung mit dem warenproduzierenden System und seiner Eigendynamik eng verknüpft sind. Ob ich mit dieser Beschreibung die Intention der Autorin richtig beschreibe, bleibe dahingestellt.

(20) Chancen dazu bestehen vielleicht noch am ehesten in dem gebrochenen Verhältnis, das Frauen einer Methode gegenüber haben müssen, die das Weibliche abspaltet. Die unmittelbare Folge ist aber nur ein besonders harter individueller Anpassungsdruck. Und im übrigen hat die Ausübung von zwei unvermittelt nebeneinanderstehenden, reduzierten Tätigkeiten noch nichts mit Persönlichkeitsentwicklung zu tun, noch weniger allerdings der Rückzug auf nur eine von ihnen.

(21) so Hofmann 1981 und, etwas elaborierter, Ullrich 1979, dessen Dokumentation der Irrationalität bestehender Technik an Einzelphänomenen durchaus lesenswert ist.

(22) Für eine detaillierte Auseinandersetzung vgl. Kurz 1986/1987, Lohoff 1987.

(23) Es bleibt die Hoffnung, dass 'unnützes Wissen' innerhalb weniger Generationen einfach verlorengeht.

(24) oder aber von der herrschenden geld- und marktförmigen Vermittlung einfach abzusehen und damit jedenfalls so zu tun, als seien die vorgeschlagenen Maßnahmen im Rahmen der Warengesellschaft durchsetzbar. Ein Beispiel dieser Art liefert die bekannte Studie von Meadows / Randers 1992, die über ökonomische Zwänge nicht ein Wort verliert.

(25) Man sollte sich naturwissenschaftlich sozialisierte Menschen, von sehr wenigen durchgeknallten Ausnahmen einmal abgesehen, nicht vorstellen als Leute, die in der objektiven Erkenntnisform völlig aufgehen. Viele von ihnen sind alarmiert und wünschen, die eigene Kompetenz sinnvoll und nicht nur fürs Geldverdienen einsetzen zu können. Das befreit sie natürlich ebensowenig wie andere Menschen von der Illusion, diesem Wunsch innerhalb der Zwangsgesetze des Geldes nachkommen zu können.

(26) Noch einmal, weil ich auf dieses Missverständnis bereits gestoßen bin: Es geht hier nicht um ein ''anything goes'' im Sinne von Feyerabend 1976, sondern darum, einer Methode die Bedeutung zuzuweisen, die ihr zukommt. Damit steht sie selbstverständlich nicht auf derselben Ebene wie etwa ein Voodoo-Zauber.

(27) Um nur ein gerade aktuelles Beispiel zu nennen: ''Die Third International Mathematical Sciences Study (TIMSS) deckt gravierende Rückstände im mathematischen Grundwissen der Jahrgangsstufen 7, 8 in Deutschland auf. Für eine hochtechnisierte und auf dauernde technologische Innovationen angewiesene Gesellschaft ist dies ein Alarmsignal, das Maßnahmen verlangt. ... Der Stand der mathematischen Wissenschaften ist ein wesentlicher Indikator für das Leistungsvermögen einer Zivilisation und damit für ihre Wettbewerbsfähigkeit. Diese historisch überprüfbare Tatsache gewinnt Brisanz für die heutige Bildungs- und Forschungspolitik angesichts der Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts'', so die Deutsche Mathematiker-Vereinigung im Internet als Reaktion auf eine Studie, die deutschen SchülerInnen im Vergleich zu SchülerInnen anderer Länder (vor allem Japan) niedrigere Mathematik-Kenntisse und -Fertigkeiten bescheinigt.




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