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Claus Peter Ortlieb


Claus Peter Ortlieb

Absturz einer Debatte

Zu Andreas Exners Versuch einer Auseinandersetzung mit der Krisentheorie

Auch und gerade in akademischen Debatten gibt es eine bekannte Taktik des kritisch daher kommenden Sich-dumm-Stellens. Sie kann darin bestehen, jede Argumentation mit einem „Das verstehe ich nicht“ zu kontern und immer weitergehende Begründungen einzufordern, bis am Ende auch noch Aussagen vom Typ „2+2=4“ begründet werden müssen, wodurch der in der Regel doch etwas komplexere Gegenstand der Debatte vollends aus dem Blick gerät, was wohl der eigentliche Sinn der Übung ist. Sie kann auch darin bestehen, Zitate ihres Kontextes und damit Argumentationszusammenhangs zu entkleiden zu dem einzigen Zweck, über das angebliche Fehlen von Begründungen nur umso lauter jammern zu können.

Die Taktik ist durchaus zweischneidig. Wer sie einschlägt, begibt sich in Gefahr, weil sich von außen die Frage, ob es sich um bloße Taktik oder um wirkliche Dummheit handelt, nicht immer leicht beantworten lässt. Um niemandem Unrecht zu tun, lasse ich in Hinblick auf das im Folgenden behandelte Beispiel diese Frage offen.

Es geht dabei um einen Beitrag von Andreas Exner, einem Autor, der auf den Internetseiten der „Wertkritischen Magazine“ Streifzüge und Krisis ein gewisses Gewicht einnimmt und auf seinem eigenen Blog, verlinkt mit der Streifzüge-Homepage, einen Text „Produktivität und Krise. Notizen zu einer Debatte“ publiziert hat. Er nimmt dort Bezug auf die von Kurz (1986 und 1995) entwickelte Krisentheorie, die Debatte zwischen Heinrich (1999 und 2000) und Trenkle (1999 und 2000) darüber sowie meinen neueren Text (Ortlieb 2008). Während er die älteren Texte zunächst bloß referiert (darauf, dass auch das in mehr als bloß schräger Art und Weise geschieht, gehe ich hier nicht ein), ändert er bei der Behandlung meines Artikels die Darstellungsweise:

1.

2.

Das Wort „bewiesen“ ist übrigens Exners Erfindung, in meinem Text wird es nicht verwendet, aber das nur nebenbei.

3.

  • Der Zusammenhang zwischen (1) und (2) ist im Zitat selbst hergestellt. Er besteht darin, dass für eine gelingende Kapitalverwertung Waren nicht nur produziert, sondern auch verkauft werden müssen.
  • Exner hatte vorher zustimmend zur Kenntnis genommen, dass die Mehrwertmasse je stofflicher Einheit mit wachsender Produktivität abnimmt, für dieselbe Mehrwertmasse also ein immer größerer stofflicher Output erforderlich ist. Ergo muss, um ein bestimmtes Wachstum der Mehrwertmasse zu erreichen, der stoffliche Output noch stärker wachsen.
  • Wenn Exner sich nicht vorstellen kann, dass der stoffliche Output weniger schnell als die Produktivität wächst, geht er offenbar von dem Dogma aus, dass die Menge an produktiv eingesetzter Arbeitskraft nicht abnehmen kann. Dieses Dogma wird, wie Exner wissen könnte, in meinem Text selbstverständlich nicht geteilt.

4.

Die Endlichkeit menschlicher Ressourcen bedeute, dass die gesamtgesellschaftliche Profitrate bzw. Akkumulationsrate fallen müsse, “eine konstante Profitrate aber eine exponentiell wachsende Arbeitsbevölkerung zu ihrer Voraussetzung hätte”. Ortlieb verweist auf eine Arbeit von Hüller, die ich nicht kenne. Für sich genommen, müsste man fragen, wie Profit- und Akkumulationsrate zusammenhängen. Michel Husson hat zum Beispiel gezeigt, dass im postfordistischen Akkumulationsregime eine relativ hohe Profitrate mit einer im Vergleich mit dem Fordismus sehr niedrige Akkumulationsrate einhergeht. Davon abgesehen, würde diese Grenze des Kapitalwachstums in sehr ferner Zukunft liegen. Schließlich liegt die Erwerbsquote noch lange nicht bei 100% der arbeitsfähigen Weltbevölkerung. Worin die stofflichen Ressourcengrenzen bestehen und inwiefern sie sich negativ auf die Mehrwertmasse auswirken, darauf geht Ortlieb jedoch gar nicht ein.

Auf der kategorialen Ebene lässt sich, ausgehend vom Wert als Form des Reichtums im Kapitalismus, die dessen historisch spezifisches Wesen ausmacht, ein „prozessierender Widerspruch“ (Marx) nachweisen (oder eben auch nicht, wenn man Heinrich folgt, hier genau liegt die Kontroverse). Er besteht darin, dass die Akkumulation von immer mehr Mehrwert ein immer stärker wachsenden Verbrauch an menschlichen und stofflichen Ressourcen erfordert, der nicht ad infinitum möglich ist, da diese Ressourcen nun einmal endlich sind. Der Logik nach ergibt sich hieraus die Notwendigkeit einer finalen Krise des Kapitals auch dann, wenn es nicht durch bewusste menschliche Handlungen überwunden wird. Es lässt sich natürlich nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass bereits Marx mit seiner Bestimmung des Werts als Wesenskern des Kapitals daneben lag und wir, die ihm darin folgen, nur verrückt oder zumindest verblendet sind. Dann wäre alle Wertkritik und -theorie (allerdings auch die von Michael Heinrich) nur ein Haufen Scheiße. Davon gehe ich ebenso wenig aus, wie es die bisherigen Debattenteilnehmer taten. Ob Exner davon ausgeht, ist mir angesichts seines positivistischen Rekurses auf die Empirie als einzig gültiges Wahrheitskriterium nicht klar. Wenn das so sein sollte, müsste er es offen sagen, dann ließe sich die Diskussion nur noch auf einer erkenntniskritischen Ebene führen.

Auf der kategorialen Ebene lässt sich freilich nicht klären,

  • ob wir uns heute bereits in der historischen Situation dieser finalen Krise befinden,
  • an welche der verschiedenen stofflichen Grenzen die kapitalistische Dynamik zuerst stößt und welche Verlaufsform die finale Krise schließlich nimmt (ökonomische und/oder ökologische Krise, Nuklearkrieg, ...).

Die Möglichkeit, dass sich das Kapital entgegen dem derzeitigen empirischen Anschein „noch einmal berappeln“ könnte, bezieht sich ausdrücklich auf die empirische Ebene und hieße nur, dass die notwendige Endkrise noch nicht erreicht wäre, sondern später kommt. Mehr nicht.

Noch eine Bemerkung zum „postfordistischen Akkumulationsregime“, mit dem ja wohl das gerade zusammengebrochene finanzgetriebene Akkumulationsregime gemeint ist. Exners Hinweis auf die Arbeit von Husson, der zufolge die hohen Profitraten (in Geld ausgedrückte Renditen der Einzelbetriebe) mit einer sehr niedrigen Akkumulationsrate (des Gesamtkapitals) einhergingen, zeigt ja gerade die Unmöglichkeit eines solchen „Akkumulationsregimes“: Offensichtlich beruhten die hohen Profitraten nur noch auf spekulativen Finanzblasen, denen jetzt die Luft entweicht.

5.

In aller Kürze noch einmal: Wenn mit einer neuen Technik Arbeit durch Maschinen ersetzt werden kann, dann wird ein Kapitalist diese nur dann einsetzen, wenn sich dabei seine Gesamtkosten bei der Produktion verringern, wenn also zusätzlich eingesetzte Maschinen und Energie einen geringeren Wert haben als die Arbeitskräfte, die er damit einspart. Daraus folgt, dass die Wertproduktion (und bei einer Mehrwertrate m‘>1 auch die Mehrwertproduktion) je stofflichem Output insgesamt (also einschließlich Maschinen und Energie) durch die Einführung der neuen Technik sinkt, während der stoffliche Gesamtaufwand zunimmt. In meinem Text hatte ich das am Beispiel einer Hemdenproduktion exemplifiziert. Aber für Nähmaschinen gilt es natürlich genauso.

Bei der „Effizienzsteigerung“, von der hier die Rede ist, handelt es sich um eine Verringerung des Inputs an Primärmaterialien im Vergleich zu dem im BIP erfassten Output. Diese ergäbe sich freilich bereits als rechnerische Folge einer Erhöhung des Anteils unproduktiver Arbeit, die keine Primärmaterialien verbraucht, deren Entgelte aber im BIP erfasst werden. Sie kann aber auch ganz andere Gründe haben.

6.

Grundsätzlich sind derartige Zahlen nur mit großer Vorsicht zu genießen. Sie wurden mit bestimmten Methoden erhoben, und ihre Erhebung ist durch Theorien über die ökonomische Realität geleitet, die mit Werttheorie und -kritik ganz gewiss nichts zu tun haben. Wann immer man sie verwendet (und andere Daten haben wir nicht), sollte man vorher zumindest klären, wie sie zustande kamen und wie sie daher im Lichte der eigenen Theorie zu interpretieren sind.

Darüber hinaus scheint Exner, wie seine schlichte Gleichsetzung BIP=Wertmasse zeigt, sie in einer Weise einzusetzen, die auch allen üblichen, nur wenig methodendenkritischen Standards der empirischen VWL Hohn sprechen. Wenn die Zahlen passen, werden sie gegriffen und einfach im eigenen Sinne ausgelegt.

In Exners „Vorläufigem Resümee“, das etwa ein Drittel seines Beitrags ausmacht, bekommen solche Zahlen Gewicht. Exner fasst dort zunächst den Stand der Debatte aus seiner Sicht (also falsch) zusammen und stellt ihr dann empirische Untersuchungen gegenüber. Auffällig ist die unterschiedliche Behandlung von Theorie und Empirie: Während sich Exner den werttheoretischen Beiträgen gegenüber scheinkritische Urteile („unzureichend“, „Schwachstelle“, „Schwachpunkt“ usw.) erlaubt, für die er allerdings (s.o.) kein Argument aufbringt, übernimmt er die Ergebnisse empirischer Studien als schlichte Fakten, an denen sich eine Theorie zu bewähren habe.

Worauf die empirischen Ergebnisse im Einzelnen beruhen und ob Exner noch öfter derart unseriös vorgegangen ist wie oben, habe ich nicht überprüft. Nur zu einem Datensatz, mit dem ich mich schon in anderem Zusammenhang („Die Zahlen als Medium und Fetisch“) auseinandergesetzt habe, erlaube ich mir einen methodenkritischen Hinweis. Es geht dabei um die Daten der ILO (International Labor Organisation), die Exner als Beweis dafür nimmt, dass die Zahl der Erwerbstätigen in den letzten Jahrzehnten global angestiegen sei:

Die ILO steht bei der Erhebung von Erwerbslosenquoten bzw. der Anzahl von Erwerbstätigen vor dem Problem, dass diese Zahlen in vielen Ländern gar nicht und in den anderen nach ganz unterschiedlichen Kriterien erhoben werden. Also hat sie eine vereinheitlichte Methode ersonnen, mit der diese Zahlen überall auf die gleiche Weise ermittelt werden: Als erwerbstätig wird von ihr gezählt, wer mindestens eine Stunde pro Woche bezahlt arbeitet. Als arbeitslos gilt, wer in diesem Sinne nicht erwerbstätig ist, eine solche ihr/ihm angebotene „Arbeit“ innerhalb von 14 Tagen nach eigenen Angaben aber antreten würde. Festgestellt wird der eine oder andere Status durch repräsentative, in der Regel telefonische Umfragen. Ein weiterer Kommentar zum fehlenden Zusammenhang zwischen auf diese Weise gezählten Erwerbstätigen und global produzierter Mehrwertmasse erübrigt sich wohl.

Auch wenn es ihm nur um die Erfüllung der üblichen akademischen (also niedrigen) Standards ginge, hätte Exner sich um das Zustandekommen der von ihm angeführten Fakten zu bemühen, um zumindest die Chance zu haben, ihren „Realitätsgehalt“ beurteilen zu können. Ich werde ihm diese Aufgabe nicht abnehmen.

7.

Zu einer solchen Darstellung ist Exner nicht willens oder nicht in der Lage, ich lasse das offen. Er bevorzugt den Blog-Stil: Es werden Meinungen ausgetauscht bzw. gegeneinander gestellt („A meint ...“, „B nimmt an ...“, „Ich kann dem nicht zustimmen“ usw.). Auf Argumente kommt es nicht an, weil die sowieso niemand zur Kenntnis nimmt. Als einziges Wahrheitskriterium gelten Zahlen-Daten-Fakten, in diesem Fall die der etablierten empirischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaft. Jeder darf hier seine eigene Meinung zu allem und jedem haben, je origineller, desto besser, und alle fühlen sich wohl. Der eigentliche Zweck des Blogs ist Selbstdarstellung.

In dieser Hinsicht lässt Exner am Ende seines Blog-Beitrags dann auch die Katze aus dem Sack, indem er mit großem Stolz auf die eigenen Veröffentlichungen verweist. Der Schlusssatz allerdings ist nur noch unfreiwillig komisch:




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