Einleitung zur Neuausgabe
Vom Ende des Staatssozialismus 1989 zur Krise des Weltkapitals 2009
Das Feiern von Jahrestagen berühmter
Ereignisse gehört zu den eher langweiligen
Pflichtübungen des bürgerlichen Kulturbetriebs.
Gerade dann aber, wenn die Jährung auf brisante
Zusammenhänge verweist, die zu keiner Feier einladen, wird sie
gern verdrängt. Als dieses Buch 1999 zum ersten Mal erschien,
gab es für die offizielle Welt vermeintlich etwas zu feiern:
Der Zusammenbruch des Staatssozialismus lag gerade 10 Jahre
zurück. Noch war die Siegeseuphorie der westlichen kalten
Krieger nicht verklungen. Die akademische Philosophie hatte das
„Ende der Utopien“ und der US-Politologe Francis
Fukuyama das „Ende der Geschichte“
verkündet; die menschliche Entwicklung sei in der
immerwährenden gesellschaftlichen Form von
„Marktwirtschaft und Demokratie“ an ihr Ziel
gelangt. Der professorale Restmarxismus und die politische Linke kamen
mit dem Abschwören gar nicht mehr nach; das Bekenntnis zum
marktgerechten Realismus war geradezu ein Ritual geworden. Und die
„neoliberale Revolution“ schien das neue
marktradikale Menschenbild unaufhaltsam durchzusetzen. Damals befand
sich die kapitalistische Weltökonomie auf dem
Höhepunkt einer beispiellosen Hausse der
Aktienbörsen. Die Management-Gurus und Finanzanalysten riefen
eine „New Economy“ aus, von der behauptet wurde,
sie habe alle bisherigen Lehren der Wirtschaftswissenschaft hinter sich
gelassen.
In dieser Situation gab es nur eine
Möglichkeit, gegen den Strom des Zeitgeistes zu schwimmen: Dem
herrschenden Bewusstsein musste seine völlige
Geschichtsblindheit vorgehalten werden. Der totalitäre Markt
kennt keine Geschichte, sondern nur die konjunkturelle ewige Wiederkehr
des Gleichen. Je mehr sich das Denken in den Zeithorizont der
Marktlogik einbannen lässt, desto zusammenhangloser muss es
werden. Das „Schwarzbuch
Kapitalismus“ unternimmt es dagegen, die verlorene
historische Dimension wiederherzustellen. Es geht dabei nicht um die
Banalität, dass alles Zeitliche irgendwann einmal ein Ende
hat, sondern um die konkrete Analyse eines Prozesses, in dem der
Kapitalismus buchstäblich die Welt und sich selber auffrisst.
Dass mit dem Zwang zum unaufhörlichen Wachstum des
„abstrakten Reichtums“ (Marx) eine fortschreitende
Zerstörung der Naturgrundlagen verbunden ist, hat sich
längst herumgesprochen. Je unaufhaltsamer die Klimakatastrophe
zu werden droht, desto zögerlicher fallen trotz aller
politischen Lippenbekenntnisse die realen Maßnahmen zu ihrer
Bewältigung aus, weil die erforderlichen Eingriffe
völlig unvereinbar mit der ökonomischen
Rationalität der nunmehr planetarisch vereinheitlichten
Produktionsweise sind. Die Analyse des
„Schwarzbuchs“ bezieht sich allerdings vor allem
auf die Dynamik der „Verwertung des Werts“ (Marx)
und seiner historischen Akkumulation selbst. Dabei wird sichtbar, was
dem Bewusstsein der auf bloße
„Wechsellagen“ der Konjunktur fixierten
Marktmenschen entgeht: Die abstrakte Plusmacherei des Kapitalismus
stößt nicht nur an eine äußere
Naturschranke, sondern auch an eine innere ökonomische
Barriere.
Was auf der Ebene der Waren- und
Geldströme, des ewigen Kaufens und Verkaufens als Wiederkehr
des Gleichen erscheint, ist gleichzeitig eine irreversible Geschichte
dessen, was Marx als die von der nationalen und internationalen
Konkurrenz erzwungene „Produktivkraftentwicklung“
bezeichnet hat. In dieser Hinsicht kehrt niemals das Gleiche wieder,
sondern die technologischen Revolutionen setzen auf wachsender
Stufenleiter immer neue Standards der Produktivität. In den
Industriemuseen der Welt ist diese Geschichte abzulesen. Die Ideologie
der totalen Machbarkeit versagt an dieser selbst erzeugten Entwicklung.
Denn eines kann der Kapitalismus nicht machen; er kann nicht zu einem
früheren technologischen Niveau (etwa der Dampfmaschine)
zurückkehren. Die Produktivkraftentwicklung folgt aber nicht
einem gesellschaftlichen Plan auf der Basis bewusster Vereinbarungen,
der die Risiken, Nebenwirkungen und langfristigen Konsequenzen
einbeziehen könnte, sondern sie wird von der blinden Dynamik
der Konkurrenz gesteuert. Darin besteht der Mechanismus der
ökonomischen Maschine, die bei Marx als
„automatisches Subjekt“ erscheint, dem auch die
Eliten unterworfen sind. Deshalb können die gesellschaftlichen
Rückwirkungen immer erst im nachhinein und unzureichend
bearbeitet werden. Damit entstehen aber Widersprüche, die sich
genauso aufakkumulieren wie das Geldkapital. Die Geschichte des
Kapitalismus ist die Geschichte seiner Widerspruchsbearbeitung, die
sich am Ende des 20. Jahrhunderts dramatisch zugespitzt hat.
Da der Kapitalismus ein gesellschaftliches
Verhältnis ist, muss er auch die Gesellschaft materiell und
sozial reproduzieren. Das liegt im Begriff des gesellschaftlichen
Verhältnisses und hat nichts mit moralischen
Erwägungen zu tun. Nun ist aber die materielle und soziale
Reproduktion gar nicht der Zweck der ganzen Veranstaltung. Vielmehr
handelt es sich um einen aus bewusstlosen historischen Prozessen heraus
entstandenen und an sich „irrationalen“
Selbstzweck, nämlich den Zwang, unaufhörlich aus
einem Euro oder Dollar zwei zu machen. Dieser automatische Selbstzweck
hat keinerlei Sensorium für den konkreten Inhalt, der dabei
bewegt wird. So erweist sich die Produktivkraftentwicklung
gleichzeitig als Destruktivkraftentwicklung, die nicht nur an die
Grenzen der ökologischen, sondern auch der sozialen
Belastbarkeit stößt. In der Moderne ist Geld nichts
anderes als die gesellschaftliche Darstellungsform verausgabter
abstrakter Arbeitskraft, die über ihre eigenen
Reproduktionskosten hinaus den berühmten Mehrwert produziert.
Aus der Perspektive der Betriebswirtschaft scheint die
überlebensnotwendige Herstellung von Profit umso besser zu
gelingen, je tiefer die Kosten der jeweiligen Arbeitskraftmenge
herabgedrückt werden. Indem die Produzenten nicht für
gemeinsame Bedürfnisse produzieren, sondern für den
vorausgesetzten kapitalistischen Selbstzweck, erzeugen sie zusammen mit
dem „abstrakten Reichtum“ ihre eigene relative oder
sogar absolute Armut.
Diese Beschreibung der paradoxen Logik des
Kapitalverhältnisses ruft immer noch den heftigsten
Widerspruch hervor. Hat nicht die wachsende Produktivität auch
zu einer Steigerung des „Wohlstands für
alle“ geführt? Aber schon 1999 war das
Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit nur noch Erinnerung. Der
untergehende bürokratische Staatssozialismus entließ
seine Kinder nicht in ein westliches Konsumparadies, wie es sich viele
erträumt hatten, sondern in die „neue
Armut“, den Sozialabbau, den Billiglohn und die
Prekarisierung. Dieser Abwärtssog in den westlichen Zentren
hatte während der 80er Jahre begonnen und war nur vom
östlichen Desaster überdeckt worden. Die scheinbar
befriedete soziale Widerspruchsbearbeitung verlor zunehmend ihre Kraft.
In den 90er Jahren mehrten sich die Stimmen, die meinten, nun kehre der
Kapitalismus eben zu seinem unschönen
„Normalzustand“ zurück, nachdem er keiner
Legitimation mehr wie im Systemkonflikt des Kalten Krieges bedurfte.
Das Legitimationsproblem ist sicherlich davon abhängig,
wieviel Entbehrung und Drangsal der Armutsverwaltung die auf Einheiten
von Arbeitskraft in spe degradierten Menschen zu ertragen bereit sind.
Die kapitalistischen Existenzbedingungen und ihre Kriterien sind in
einem säkularen Prozess seit dem späten 18.
Jahrhundert verinnerlicht worden. Wenn man sich nichts anderes mehr
vorstellen kann, muss man sich den Verhältnissen bedingungslos
ausliefern und sein Leben damit vergeuden, um die
„Konkurrenzfähigkeit“ zu ringen. Der
Siegeszug des Neoliberalismus ging zudem mit einer wachsenden
Individualisierung und Entsolidarisierung einher. Konnte also die sich
von sozialen Legitimationsproblemen emanzipierende Kapitalverwertung
nun erst recht zu einem neuen Höhenflug starten?
Der Begriff des gesellschaftlichen
Verhältnisses erschöpft sich allerdings nicht in der
ideologischen Legitimation. Zumindest bis zu einem gewissen Grad muss
der Kapitalismus das materielle und soziale Leben reproduzieren, um
sich selbst reproduzieren zu können. Er ist auf die
gesellschaftliche Kaufkraft für den Konsum von Waren und
Dienstleistungen angewiesen, weil sonst der Kreislauf einer Verwandlung
des vorgeschossenen Geldkapitals in Mehrwert nicht durchgehalten werden
kann. Insofern steht die betriebswirtschaftliche Rationalität
einer Kostensenkung der Arbeitskraft im Widerspruch zu den
Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals. Wenn die von der paradoxen
Logik der Verwertung produzierte Geldarmut eine gewisse Schmerzgrenze
überschreitet, wird sie zum Problem der Verwertung selbst. Die
sogenannten Krisen sind keineswegs eine Folge davon, dass die Menschen
für ihre kapitalistisch präformierten Interessen
kämpfen oder gar dieses System nicht mehr wollen, wie gerade
linke Theoretiker gern glauben. Umgekehrt ist die kapitalistische
Armut, die sich seit den 80er Jahren wieder rapide ausbreitet, kein
Resultat ideologischer Willensentscheidungen der Eliten, wie es
ebenfalls im Standardrepertoire einer zu kurz greifenden
Kapitalismuskritik erscheint. Ideologische Deutungsmuster und
Mobilisierungen können zwar die politischen Verlaufsformen
prägen, aber die ökonomischen Krisen nicht
hervorbringen. Die Schranke des Kapitals ist das Kapital selbst, wie
Marx sagte, nämlich die Entfaltung seines inneren
Selbstwiderspruchs. Deshalb ist die Geschichte des Kapitalismus nicht
nur die Geschichte seiner sozialen, sondern auch seiner
ökonomischen Widerspruchsbearbeitung.
Oberflächlich betrachtet geht es dabei
immer um mangelnde gesellschaftliche Kaufkraft. Das ist aber nur die
Erscheinungsform eines tiefer liegenden Problems, nämlich
einer mangelnden Produktion von gesellschaftlichem Mehrwert selbst. Der
Wert, der sich in der Form des Geldes darstellt, ist seinerseits nichts
anderes als die Darstellungsform „abstrakter
Arbeit“ (Marx), der Verausgabungsmasse abstrakter
menschlicher Energie in den betriebswirtschaftlichen
Funktionsräumen, die sich zu einer gesellschaftlichen
Gesamtmasse aggregiert. Die Gleichgültigkeit der Verwertung
gegenüber dem stofflichen Inhalt der betriebswirtschaftlichen
Produktion und deren Auswirkungen auf die Naturgrundlagen
rührt gerade daher, dass die „abstrakte
Arbeit“ ihren eigentlichen Inhalt oder ihre
„Substanz“ bildet. Der Selbstzweck, aus Geld mehr
Geld zu machen, beruht auf dem Selbstzweck, aus
„Arbeit“ immer „mehr Arbeit“ zu
machen. In der Konkurrenz eignet sich jedoch das einzelne Kapital nicht
den Mehrwert an, der in seinen eigenen vier Wänden produziert
wurde, sondern den Teil der gesellschaftlichen Mehrwertmasse, den es
durch sein Angebot auf sich ziehen kann. Um billiger anbieten und sich
in der Konkurrenz durchsetzen zu können, ist eine betriebliche
„Kostensenkungspolitik“ nötig, die eben
durch die Steigerung der Produktivität bewirkt wird. Das ist
aber keineswegs bloß eine technologische Angelegenheit,
sondern damit entstehen ständig neue ökonomische
Verwertungsbedingungen des Gesamtkapitals. Wie kann daraus eine
mangelnde gesellschaftliche Mehrwertproduktion resultieren?
Der Zwang zur betriebswirtschaftlichen
Kostensenkung führt nicht nur zum Druck auf die Lohneinkommen,
sondern die damit verbundene Produktivkraftentwicklung macht auch
Arbeitskraft überflüssig. Da aber Arbeitskraft die
Quelle des Mehrwerts ist, wird durch deren sukzessive
Wegrationalisierung der Selbstzweck der Verwertung in einem
säkularen Prozess ausgehöhlt. Gerade diejenigen
Unternehmen eignen sich den größten Teil der
gesellschaftlichen Mehrwertmasse an, die gleichzeitig am meisten zur
ihrer Verminderung beitragen, indem sie besonders viel Arbeitskraft
„frei setzen“. Darin besteht der eigentliche
Selbstwiderspruch des Kapitalismus. Trotz periodischer Krisen konnte
dieser Widerspruch in der Vergangenheit immer wieder kompensiert
werden, indem die Verbilligung der Produkte zu einer so
großen Ausdehnung der Märkte führte, dass
sich die Produktion und damit die zusätzliche Anwendung von
Arbeitskraft stärker erweiterte, als Arbeitskraft bei der
Produktion der einzelnen Waren wegfiel. Die Wirtschaftswissenschaft
machte daraus ein allgemeines Gesetz, und nur deshalb konnte die
Produktivkraftentwicklung als Motor gelingender Verwertung und
steigenden Wohlstands gefeiert werden. Das ist jedoch ein Trugschluss.
Denn in der 3. industriellen Revolution der Mikroelektronik wird seit
den 80er Jahren erstmals in der kapitalistischen Geschichte
flächendeckend mehr Arbeitskraft überflüssig
gemacht, als durch Erweiterung der Märkte reabsorbiert werden
kann. Die kapitalistische Entwicklung stößt in einer
irreversiblen „Entsubstantialisierung des Kapitals“
und einer historischen „Entwertung des Werts“ an
ihre absolute innere Schranke. Das ist die Hauptthese des
„Schwarzbuchs“ im letzten Kapitel.
Ablesbar war diese Kulmination in einer stetig
steigenden strukturellen Massenarbeitslosigkeit und
Unterbeschäftigung im globalen Maßstab. Das
entsprechende Absinken der realen gesellschaftlichen Mehrwertmasse
machte sich an der Oberfläche als stetiger Rückgang
der realen Massenkaufkraft geltend. Das schien allerdings den
nominellen Profiten zunächst wenig anhaben zu können.
Diese speisten sich jedoch immer weniger aus realer Mehrwertproduktion,
sondern zunehmend aus sich auftürmenden Schuldengebirgen mit
immer neuen Umschuldungen und aus einer
„substanzlosen“ Finanzblasen-Ökonomie der
geradezu explodierenden Aktienpreise. Das Kredit- und
Spekulationssystem der Finanzmärkte hatte schon bei den
früheren periodischen Krisen die Rolle einer
vorübergehenden Simulation real nicht mehr ausreichend
stattfindender Verwertung gespielt; die Kredit- und Spekulationsblasen
waren jedoch stets nach wenigen Jahren geplatzt, um dem
nächsten Schub realer Verwertung auf neuer technologischer
Grundlage Platz zu machen. Weil dieser Schub aber unter den Bedingungen
der 3. industriellen Revolution ausblieb, mauserte sich die
Finanzblasen-Ökonomie zum vermeintlichen strukturellen
Dauerzustand eines sogenannten „finanzgetriebenen“
Wachstums.
Im Grunde genommen hatte die simulative
Reproduktion des Kapitalismus durch Kreditblasen schon in den 70er
Jahren am Ende des Wirtschaftswunders begonnen, damals in Form eines
aufgeblähten Staatskredits gemäß der
wirtschaftspolitischen Doktrin des Keynesianismus. Das nicht mehr aus
realer Mehrwertproduktion qua Steuereinnahmen abgeschöpfte
staatliche Kreditgeld floss in infrastrukturelle Investitionen des
Bildungs- und Gesundheitswesens sowie in sozialstaatliche
Gratifikationen. Damit wurde bereits Kaufkraft erzeugt, die keine
substanzielle Grundlage hatte. Da diese simulative Kaufkraft
unmittelbar in die jeweiligen nationalen
Währungsräume eingespeist wurde, beflügelte
sie eine Inflation mit teilweise zweistelligen Wachstumsraten im Westen
und Hyperinflationen in den peripheren Ländern. Diese im
„Schwarzbuch“ relativ knapp thematisierte
Entwicklung einer „Stagflation“ (steigende
Inflation bei sinkenden Wachstumsraten) war es, die den Startschuss
für die „neoliberale Revolution“ gab. Der
Neoliberalismus erkannte aber nicht die mangelnde reale
Mehrwertproduktion als Ursache, sondern wollte allein die seiner
Ansicht nach ausgeuferte Staatstätigkeit verantwortlich
machen, um stattdessen die angeblichen
„Selbstheilungskräfte des Marktes“ zu
entfesseln. Die seitherige radikale Deregulierung der
Arbeitsmärkte verschärfte aber nur das Absinken der
Massenkaufkraft durch die Kreation von Billiglohn-Sektoren bei
weiterhin hoher Arbeitslosigkeit, während die ebenso radikale
Deregulierung der Finanzmärkte die substanzlose Blasenbildung
nur vom Staatskredit auf die Aktienmärkte verlagerte.
Ende der 90er Jahre strebte diese Form des
„fiktiven Kapitals“ (Marx) ihrem Höhepunkt
zu. Nicht nur Investment-Banken und Geldkapital-Fonds, sondern auch
Industriekonzerne trieben die simulativen Gewinne durch die Beteiligung
an der Finanzblasen-Ökonomie in ungeahnte Höhen. Der
Abbau von Beschäftigung wurde dadurch ein wenig gebremst, aber
die reale Anwendung von Arbeitskraft erschien nur noch als Nebeneffekt
der „New Economy“. Gleichzeitig wurde ebenso
simulative Kaufkraft nicht mehr vorwiegend durch den Staatskredit,
sondern durch eine rasch ansteigende private Verschuldung und relativ
breite Streuung von Aktienbesitz trotz sinkender Reallöhne auf
den Weg gebracht. Die Gesellschaft spaltete sich auf in eine wachsende
Massenarmut von Herausgefallenen und Billiglöhnern einerseits
und eine partielle direkte oder indirekte Teilhabe am
„finanzgetriebenen“ Wachstum andererseits. Der
Kleinspekulant und der kleine Schuldenkünstler mutierten zum
Leitbild der Individualisierung. Das „Schwarzbuch“
endet mit der Beschreibung dieser Situation und mit der scheinbar
kühnen Prognose, dass sich die ganze falsche Herrlichkeit nach
einer nicht genau bestimmbaren Inkubationszeit in Rauch und
Trümmer auflösen wird.
Die deutsche intellektuelle
Öffentlichkeit nahm das „Schwarzbuch“ zwar
als eine Art Menetekel wahr (schließlich durfte man sich in
der Welt des virtualisierten Kapitalismus stets unverbindlich
„offen“ für allerhand esoterisches
„Querdenken“ zeigen), ohne jedoch die gestellte
Prognose wirklich ernst zu nehmen. Zu golden war die Zeit für
ein ahistorisches Denken des im Aktienboom fiebernden
Mittelschichtsbewusstseins, als dass man darin mehr als den
Unterhaltungswert einer sozialphilosophischen Geisterbahnfahrt erkennen
wollte. Kaum drei Jahre nach dem Erscheinen des Buchs brach dann die
„New Economy“ in einem globalen Crash zusammen. Das
Aktienkapital der Internet-Klitschen mit wenigen
Beschäftigten, das die Börsenkapitalisierung von
großen Industriekonzernen erreicht hatte, verschwand
großenteils von der Bildfläche; die
dazugehörigen Börsensegmente der „neuen
Märkte“ wurden aufgelöst. Insgesamt brachen
die globalen Aktien-Indizes um die Hälfte bis zwei Drittel
ihres fiktiven Werts ein. Die Folge war eine ebenso globale
Rezession, weil die aus den Finanzblasen stammende Kaufkraft zu
versiegen begann.
Der Kapitalismus drohte mit unabsehbaren Folgen
auf seine realen Verwertungsgrundlagen reduziert zu werden. Um die in
Sichtweite gerückte innere Schranke der Verwertung noch einmal
hinauszuschieben, traten die staatlichen Notenbanken auf den Plan,
allen voran die US-Notenbank Fed unter ihrem Chef Alan Greenspan. Mit
einer konzertierten drastischen Senkung der Leitzinsen sollten die
erschlafften Finanzblasen neu aufgepumpt werden. Der Erfolg war
tatsächlich durchschlagend. Indem die Notenbanken die
Schleusen der Geldschöpfung öffneten, konnte eine
weltweite Kreditkrise verhindert werden und die Aktienmärkte
begannen sich zu erholen, obwohl der Mangel substantieller
Mehrwertproduktion weiterhin bestehen blieb. Um das
„finanzgetriebene“ Wachstum zu retten, so
hieß es in den USA, müsse man notfalls Geld in rauen
Mengen „aus dem Hubschrauber abwerfen“.
Allerdings waren diese Maßnahmen bereits
der Sündenfall des Neoliberalismus, der die
inflationsträchtige Expansion des Staatskredits am Ende des
Nachkriegsbooms auf eine „Politik des billigen
Geldes“ durch die Notenbanken zurückgeführt
hatte. Die neoliberale Doktrin des sogenannten Monetarismus wollte dem
Einhalt gebieten und die Geldschöpfung der Notenbanken auf
eine Menge begrenzen, die nicht über die von
kaufkräftiger Nachfrage bestimmte Gütermenge
hinausgehen sollte. Das war genehm, solange sich damit soziale
Restriktionen gegen die Arbeitslosen und Unterbeschäftigten
rechtfertigen ließen. Jetzt aber wurde die monetaristische
Doktrin über Bord geworfen, weil sich die autonome Potenz des
Kredit- und Spekulationssystems zur Kreation von „fiktivem
Kapital“ erschöpft hatte. Die Rettung der
Finanzblasen-Ökonomie gelang nur, soweit sie nun von der
Geldschöpfung der Notenbanken genährt wurde. Damit
war bereits wieder der „Faktor Staat“ in Form einer
expansiven Geldpolitik der Notenbanken zur entscheidenden Instanz
geworden.
Weder die autonome Aufblähung der
Finanzmärkte mit Hilfe der neoliberalen Deregulierung noch
deren Regeneration durch die Geldflut der Notenbanken seit
2001erzeugte reale Werte mit Arbeitssubstanz.
Diese „asset inflation“
(Vermögensinflation) trat nur deshalb nicht als schnelle
Entwertung des Geldes in Erscheinung, weil sie im Unterschied zum
Staatskredit nicht direkt in die nationalen
Währungsräume als Kaufkraft floss, sondern vermittelt
über globale Verkettungszusammenhänge des
Finanzkapitals; etwa als Export von Kredit- und Spekulationskapital
zwischen den verschiedenen Währungsräumen. Die
Realisierung der inflationären Potenz wurde auf diese Weise
aber nur verzögert.
Zunächst kreierte die Öffnung
der Geldschleusen fiktive Kaufkraft in einer neuen Dimension.
Zusätzlich zu der erneuerten Aktienblase bildete sich eine
ebenso beispiellose Immobilienblase in verschiedenen Ländern
und Weltregionen; so innerhalb der EU in Spanien,
Großbritannien und Irland, in Teilen Asiens und vor allem in
den USA, wo ein breit gestreutes und kreditfinanziertes Wohnungs- und
Hauseigentum der Mittelklasse als Basis dienen konnte. Da die Preise
der entsprechenden Eigentumstitel von Monat zu Monat weit über
die Kreditkosten hinaus stiegen, konnten die Hypotheken exzessiv
für den Konsum beliehen werden. Mehr noch: Das billige
Kreditgeld der Notenbanken wurde von den Geschäftsbanken in
Erwartung stetig weiter steigender Häuserpreise als Hypotheken
an neue Häuslebauer ohne jedes Eigenkapital weitergegeben. Auf
diese Weise entstand mit den USA als Zentrum ein noch mehr von den
Realeinkommen entkoppeltes „Konsumwunder“. Alan
Greenspan wurde als „Magier“ des billigen Geldes
gefeiert.
Die Masse der mit solchen Mitteln „aus
dem Hubschrauber abgeworfenen“ Kaufkraft war so
groß, dass sie nach der kurzen Rezession im Gefolge des
Dotcom-Crashs eine globale Defizitkonjunktur überraschenden
Ausmaßes anschieben konnte. In diesem Zusammenhang trat eine
eigenartige globale „Arbeitsteilung“ in ihr
Reifestadium ein, die jedem volkswirtschaftlichen Lehrbuch Hohn
spricht. Die USA als politisch-militärische Garantiemacht des
Weltkapitals wurden auch zum Zentrum der Globalisierung. In diesen
vermeintlich „sicheren Hafen“ strömte der
Löwenanteil des Anlage suchenden globalen Kredit- und
Spekulationskapitals. Nur deshalb behielt der Dollar seine Funktion als
Weltgeld, obwohl er 1973 als letzte Währung seine
Goldkonvertibilität aufgeben musste. So konnte nicht nur der
gewaltige „militärisch-industrielle
Komplex“ (Eisenhower) trotz niedriger Sparquoten finanziert
werden, sondern auch ein unaufhörlich wachsendes
Handelsdefizit. Da sich in den USA die fiktive Kaufkraft konzentrierte,
begannen sie die globalen Warenströme anzusaugen. Schon in den
90er Jahren hatten alle Weltregionen
Handelsüberschüsse gegenüber der letzten
Weltmacht aufzuweisen. Während überall die
Binnenmärkte relativ austrockneten und der Export boomte, war
es in den USA genau umgekehrt. Dort trug der Konsum 80 Prozent der
Konjunktur, während der Export relativ dazu ein Rinnsal blieb.
Die Dollarflut Greenspans brachte nun das Fass dieses
ökonomischen „Ungleichgewichts“ zum
überlaufen.
Der schon vorher überproportionale
pazifische Defizitkreislauf zwischen den USA und Asien begann
heiß zu laufen. China und Indien stiegen vor diesem
Hintergrund zu neuen „Wachstumsstars“ auf. Gerade
in den chinesischen Exportwirtschaftszonen konzentrierten sich die
Investitionen westlicher Konzerne, um von dort aus in erster Linie den
US-Markt zu beliefern. In der Kombination von Billiglohn und
importierten High-tech-Produktionskomponenten entstanden Millionen
industrieller Arbeitsplätze. Für die
oberflächlichen Beobachter auch marxistischer Provenienz galt
das als neuer Schub substantieller Mehrwertproduktion; nur dass diese
sich eben von den westlichen Industrieländern nach Asien
verlagert hätte. Wird da nicht wirklich Arbeitskraft in neue
Wertmassen verwandelt? Die Produktion der chinesischen und sonstigen
asiatischen Exportindustrie ist genauso „real“ wie
die Produktion der Bauindustrie im Gefolge des Immobilienbooms. Aber
die Grundlagen und Voraussetzungen werden nicht von Kaufkraft aus
realer Wertschöpfung gebildet, sondern von Kaufkraft als
Abfallprodukt einer Finanzblasen-Ökonomie, die sich inzwischen
primär aus den immer billiger gefüllten
Liquiditäts-Töpfen der Notenbanken bedienen muss.
Deren Kompetenz zur Geldschöpfung ist aber rein formal;
regulär kann sie nur die substantielle Wertschöpfung
der Warenproduktion in der Geldform ausdrücken. Deshalb ist
die jüngste Geldschwemme irregulär und hat nur das
Recycling von „fiktivem Kapital“ in scheinbar reale
Nachfrage verstärkt. Die davon genährte
Weltkonjunktur steht auf tönernen Füßen und
kann gerade nicht selbsttragend sein.
Als der pazifische Defizitkreislauf seit 2005 auch
die europäische Konjunktur mitzunehmen begann, wollte man den
glorreichen Aufschwung schon bis weit ins 21. Jahrhundert hochrechnen.
Nicht zuletzt die deutsche Exportwirtschaft ritt auf dieser Welle; von
der Autoindustrie mit ihren überall von den Neureichen
begehrten protzigen Nobelkarossen bis zum Maschinenbau, der sich durch
die Lieferung von Produktionskomponenten für die asiatischen
und andere Exportwalzen eine goldene Nase verdiente. Dass es sich dabei
um ein allerdings grandioses Strohfeuer handelte, war an einigen
Erscheinungen abzulesen. Das „Ungleichgewicht“ der
einseitigen Exporte schlug sich in asiatischen Dollarguthaben von
astronomischer Größenordnung nieder, verwaltet von
Staatsfonds. Diese Geldmenge, die eine Finanzblase eigener Art
darstellt, muss sich auf irgendeine Weise entladen. Gleichzeitig kehrte
auf dem Höhepunkt der Defizitkonjunktur das vermeintlich
gebannte Gespenst der Inflation zurück. In den USA und in der
EU schossen die Inflationsraten weit über den Zielkorridor
hinaus; in China, anderen asiatischen Ländern und Osteuropa
erreichten sie ein zweistelliges Wachstum. Auf der sozialen Ebene
klaffte die Spaltung der Gesellschaft noch weiter auf. Die
Restriktionen der Armutsverwaltung verschärften sich
überall, in der BRD besonders forciert durch die
Hartz-IV-Gesetzgebung. Während jeder reguläre
Aufschwung nach einiger Zeit auch die unteren Schichten erfasst, kam
die neue Defizitkonjunktur beim Großteil der
Bevölkerung nicht an. Nur eine minoritäre
exportindustrielle „Arbeiteraristokratie“ merkte
etwas davon. Der viel bejubelte Abbau der Arbeitslosigkeit schlug sich
hauptsächlich in einer erzwungenen Ausdehnung der
prekarisierten Billiglohn-Beschäftigung oder der
unterbezahlten Zeit- und Leiharbeit nieder. Kein Wunder, dass der
Binnenmarkt so trocken blieb wie zuvor.
Auf die Rückkehr der Inflation reagierten
die Notenbanken einschließlich der US-amerikanischen mit
einer allmählichen Erhöhung der Leitzinsen. Das
konnte doch nicht verkehrt sein, wenn die voreilig als
Selbstläufer ausgerufene Konjunktur so schön brummte.
Dass die Verhältnisse anders lagen, zeigte sich alsbald an den
nicht vorhergesehenen Folgen. Die von den Geschäftsbanken
weitergegebene moderate Zinssteigerung brachte die Immobilienblase
binnen zwei Jahren zum Platzen. Schon 2006 verebbte der
US-Immobilienboom. Immer mehr Haus- und Wohnungsbesitzer konnten ihre
Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen. Aus der anschwellenden Lawine von
Insolvenzen entwickelte sich bis zum Herbst 2008 eine globale
Finanzkrise, die sich innerhalb weniger Wochen als die
größte aller Zeiten entpuppte. Über
sogenannte Verbriefungen waren nämlich die im Kern von Anfang
an faulen Hypothekenkredite in Pakete von Finanzderivaten verpackt
worden, die selbst die damit befassten Banker nach eigenem
Eingeständnis nicht mehr durchschauten. Diese Pakete wurden
weltweit gestreut und zum Hebel für unrealistische
Renditeversprechen gemacht. Erst als mit Lehman Brothers eine der
größten US-Investmentbanken kollabierte, kam das
wahre Ausmaß des Debakels ans Licht. Die Schockwellen
breiteten sich von Island bis Kasachstan noch in die hintersten Winkel
des globalen Finanzsystems aus.
Seit der neoliberalen Deregulierung hatte eine
ganze Reihe von Finanzkrisen und Börsencrashs die globale
Defizitökonomie begleitet, die aber weltregional oder sektoral
begrenzt blieben und jedes Mal mit Müh und Not wieder
eingedämmt werden konnten. Jetzt aber hat das Problem eine
neue Dimension angenommen, die weit über den Dotcom-Crash von
2001 und dessen Auswirkungen hinausgeht. Die Hypothekenkrise
lässt sich nicht mehr sektoral eingrenzen, sondern ist zum
Katalysator für die längst fällige
„Kernschmelze“ des globalen Kreditsystems geworden.
Das über Jahrzehnte hinweg aufgetürmte
Schuldengebirge kommt über den globalen
Verkettungszusammenhang des substanzlosen Finanzkapitals unaufhaltsam
ins Rutschen. Nicht umsonst ist der Begriff
„Finanzkrise“ zum „Wort des Jahres
2008“ gekürt worden. Beim bloßen Wort
eines Jahres, das man schnell wieder vergisst, wird es aber nicht
bleiben.
Die hier skizzierten Zusammenhänge, deren
Analyse nahtlos an die Argumentation des
„Schwarzbuchs“ anschließt, sind
augenscheinlich von den medialen, politisch-ökonomischen und
wissenschaftlichen Eliten überhaupt nicht wahrgenommen oder
völlig verdrängt worden. Anders lassen sich die
groben Fehleinschätzungen nicht erklären, wie sie
nach den „schwarzen Montagen“ im Oktober 2008
abgeliefert wurden. Obwohl bereits die deutschen Landesbanken und
halbstaatliche Mittelstandsbanken dick in der Tinte saßen,
wähnten die deutsche Kanzlerin Merkel und ihr Finanzminister
Steinbrück das Problemzentrum immer noch jenseits des
Atlantik, während man selber „gut
aufgestellt“ sei. Aber sie mussten sich schnell eines
Besseren belehren lassen. Inzwischen ist klar geworden, dass eine
bloße konzertierte Senkung der Leitzinsen und eine
Geldschwemme der Notenbanken wie nach 2001 bei weitem nicht mehr
genügt. Dafür ist das Kind schon zu tief in den
Brunnen gefallen. Deshalb muss der Staat über den
Sündenfall des Monetarismus in Form einer expansiven
Geldschöpfung der Notenbanken hinaus als „letzte
Instanz“ des Kapitalismus in Aktion treten. Die
Finanzblasen-Ökonomie verlagert sich endgültig von
den deregulierten Finanzmärkten zurück auf den
Staatskredit. Über Nacht ist der Neoliberalismus zur
ideologischen Makulatur geworden.
Die staatlichen Rettungspakete für das
marode Bankensystem belaufen sich Ende 2008 in den USA auf 8 Billionen
Dollar und in den Kernstaaten der EU auf umgerechnet 2,2 Billionen
Dollar. Auch in anderen Ländern sind ähnliche
Rettungsaktionen angelaufen. Strukturiert sind diese Pakete in
Bürgschaften für Bankkredite an Privatkunden,
staatliche Kredite direkt an Banken und Versicherungen sowie die
Teilverstaatlichung von Banken durch den Aufkauf von faulen Krediten
und entwerteten Finanzaktien. Noch hofft man, dass diese
unvorstellbaren Summen nicht wirklich abgerufen werden, indem die
nominelle Staatsgarantie so viel
„Vertrauensbildung“ schafft, dass die
„normalen“ Finanztransaktionen von selber wieder in
Gang kommen, die Kurse der Wertpapiere wieder steigen und die Banken
den in Anspruch genommenen staatlichen Kredit verzinst
zurückzahlen können. Das ist aber völlig
unrealistisch, weil mit den Rettungspaketen keinerlei
zusätzliche reale Wertschöpfung in Gang gebracht
wird, deren Fehlen ja die objektive Ursache der Finanzkrise war. Die
Katze beißt sich in den Schwanz: Der Staat müsste
selber enorme Kredite bei eben dem Finanzsystem aufnehmen, dessen
gähnende Bilanzlöcher er auf diese Weise stopfen
soll. Dieser Versuch einer Quadratur des Kreises kann nur auf
den Kollaps der Staatsfinanzen hinauslaufen; und zwar in dem
Maße, wie die Summen der Rettungspakete tatsächlich
fällig werden.
Das eigentlich zu Grunde liegende Problem der
mangelnden realen Mehrwertproduktion unter den Bedingungen der neuen
Produktivkräfte liegt außerhalb der offiziellen
Betrachtungsweise. So konnte die abermalige grobe
Fehleinschätzung entstehen, dass die befürchtete
„Rückwirkung“ der Finanzkrise auf die
boomende Scheinkonjunktur vielleicht glimpflich ausfallen werde. Aber
diese Konjunktur war ja gerade durch das Recycling von
„fiktivem Kapital“ in die
„realökonomische“ Nachfrage
geschürt worden, die damit selber einen virtuellen Charakter
angenommen hatte. Zusammen mit der simulativen Kapitalakkumulation
kommt auch die simulative Kaufkraftmaschine zum Stehen. Die
industriellen Auftragsbestände brechen mit atemberaubender
Geschwindigkeit weg, angefangen von der Autoindustrie und ihren
Zulieferbetrieben über die Metallindustrie bis zum
Maschinenbau und im sekundären Dienstleistungssektor. Auch die
Hoffnung auf China und Indien als Ersatzlokomotiven der Weltkonjunktur
erweist sich als illusionär. Die Kapitalinvestitionen in die
Gürtel der Exportzonen waren unselbständig und in den
Defizitkreislauf mit den USA eingebunden. Seit Dezember 2008 schrumpft
das vom einseitigen Export induzierte asiatische Wachstum dramatisch
und lässt soziale Verwerfungen ahnen, die jede
„Weltmacht“-Ambition dementieren. Die sich
abzeichnende größte Weltwirtschaftskrise seit den
30er Jahren des vorigen Jahrhunderts droht die Dollarguthaben der
Staatsfonds bis zur Lächerlichkeit zu entwerten.
Derselbe Verkettungszusammenhang wie im
Finanzsystem wird sukzessive in der gar nicht mehr so realen
„Realökonomie“ destruktiv abgearbeitet.
Auch hier ruft das kapitalistische Bewusstsein den Staat als
„deus ex machina“ an. Zusätzlich zu den
Rettungspaketen für den Finanzsektor sollen
Konjunkturprogramme in ähnlicher
Größenordnung gestartet werden. Während in
den USA die neugewählte Obama-Administration in aller
Gemütsruhe ein staatliches Investitionsprogramm von rund einer
weiteren Billion Dollar verkündet, um neue Rettungspakete
für die bankrottierende US-Auitoindustrie gefeilscht wird und
der französische Präsident Sarkozy eine
Verstaatlichung von Schlüsselindustrien ins Gespräch
bringt, ziert sich die deutsche Bundesregierung noch und fabuliert
weiter von einer Sanierung der Staatsfinanzen. Aber schon melden die
deutsche Autoindustrie und ihre Leasing-Banken dieselben
Rettungsansprüche an.
So viel „Rettung“ war nie. Nur
ist und bleibt es unerfindlich, woher das Geld dafür kommen
soll. Zwar wird die Inflation zunächst durch den Absturz der
Weltkonjunktur gebremst, was ein schwacher Trost ist. Auch der
Staatskredit, der in das schwarze Loch der Bankbilanzen
geschüttet wird, kann nicht als inflationäre fiktive
Nachfrage in Erscheinung treten, obwohl seine Finanzierung in den
Sternen steht. Aber es geht ja hauptsächlich um den
folgerichtigen Zusammenbruch der globalen Kaufkraft. Darin besteht das
kapitalistische Grunddilemma. Steuersenkungen wie gegenwärtig
in Großbritannien führen sich ad absurdum, sobald
die angebahnte Weltwirtschaftskrise gleichzeitig die Steuereinnahmen
als Basis für den Staatskredit rapide wegschmelzen
lässt. Wenn der Staat als „letzte Instanz“
die absterbende Nachfrage erwecken soll, muss er gegen alle
Vorsätze die Notenpresse anwerfen. Das „Abwerfen von
Geld aus Hubschraubern“ wird dann nicht mehr durch die
finanzkapitalistischen Institutionen gefiltert, sondern die Notenbanken
müssen direkt aus dem Nichts geschöpftes formales
Geld an den Staat überweisen.
Die deutsche Debatte über
„Konsumgutscheine“ von 500 Euro für jeden
erwachsenen Bürger lässt ahnen, wohin die Reise geht.
Die eingefleischten Marktwirtschaftler wissen gar nicht, was sie sagen,
wenn sie zu Recht behaupten, dass solche Maßnahmen verpuffen.
Auf Dauer gestellt müssen sie die Hyperinflation entfesseln.
Das ist nur eine andere Form der „Entwertung des
Werts“ als die Entwertung von überflüssiger
Arbeitskraft oder von industriellen
„Überkapazitäten“. Die
systemkonforme Alternative könnte allerdings einzig darin
bestehen, den Kapitalismus als gesellschaftliches Verhältnis
so zu negieren, dass die Mehrzahl der Menschheit mangels
„Finanzierungsfähigkeit“ verhungern muss.
Aber diese Option, die im Kriterium der „regulären
Finanzierbarkeit“ lauert, ist nicht nur aus legitimatorischen
Gründen unmöglich. Der Kapitalismus bleibt auf eine
ineinandergreifende „gesellschaftliche
Gesamtarbeit“ (Marx) angewiesen, die seine Akkumulation
trägt. Zwar ist absehbar, dass die staatliche Krisenverwaltung
den Widerspruch bis zur letzten Konsequenz ausagiert und das
unbrauchbar gewordene Menschenmaterial auf immer dünnere
Hungerrationen auch um den Preis von blutigen Aufständen
setzen will. Aber damit kann der ökonomische Selbstwiderspruch
des Kapitals nicht bewältigt werden. Die realparadoxe Logik
der „Verwertung des Werts“ erlischt an ihrer
inneren Schranke, die niemand wahrhaben möchte.
Wenn 2009 die historische Krise des Weltkapitals
manifest wird, kann der zwanzigste Jahrestag des realsozialistischen
Zusammenbruchs keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Das Ende
des östlichen Staatskapitalismus war nur eine Etappe in der
Krise des Weltmarkts. Der zweite Epochenbruch dementiert nicht den
ersten, sondern bildet dessen Fortsetzung; das
„Schwarzbuch“ war genau auf dem Scheitelpunkt
zwischen den beiden historischen Zäsuren erschienen. Die
Siegeseuphorie der westlichen Ideologen unterlag einer optischen
Täuschung. Nicht eine staatsbürokratische Modulation
der kapitalistischen Vergesellschaftung war das Problem, sondern deren
basaler Formzusammenhang selbst, der im Osten genauso existiert hatte.
Ungewollt ist der „liberale“ Marktkapitalismus dort
angelangt, wo er seinen vermeintlichen Gegenpart vermutet hatte. Wenn
von einem „Wallstreet-Kommunismus“ oder einem
„Finanzmarkt-Sozialismus“ die Rede ist, verweist
das auf die kapitalistische Staatsillusion, der auch die traditionelle
Linke anheimgefallen ist. Der Staat kann aber nur die immanenten
Widersprüche des Kapitalismus auf eine allgemeinere Ebene des
Geldsystems erheben, ohne sie wirklich zu bewältigen. Mit der
Rückverlagerung auf den Staatskredit befindet sich das
Weltkapital unversehens in einer ähnlichen Lage wie die
zahlungsunfähig gewordene staatskapitalistische
Planbürokratie der DDR 1989 und der Sowjetunion 1991. Aber im
Unterschied zu diesem weltregionalen Block kann sich der
„authentische“ westliche Kapitalismus nicht in eine
höhere Ordnung des warenproduzierenden Weltsystems
auflösen, weil er diese selber ist.
In den ersten Schüben der
heraufdämmernden großen Weltwirtschaftskrise Ende
2008 dominieren immer noch die ideologischen Illusionen, die den
historischen Charakter der inneren Schranke kapitalistischer
Vergesellschaftung unbedingt verkennen wollen. Plötzlich soll
der ehemalige „Magier“ Alan Greenspan den
Sündenbock spielen. In einer Verkehrung von Ursache und
Wirkung werden einerseits die neoliberale Deregulierung und
andererseits die Dollarschwemme der US-Notenbank für den
Kriseneinbruch verantwortlich gemacht. Diese Argumentation ist grotesk
inkohärent, denn mit der Kritik an der Öffnung der
Geldschleusen meldet sich noch einmal das doktrinäre
neoliberale „Gewissen“ zu Wort, während es
sich andererseits durch die Kritik an der Deregulierungspolitik von
zwei Jahrzehnten selber dementiert. In Wirklichkeit geht es gar nicht
um die politische Form der Regulation, sondern um die mangelnde
Verwertungssubstanz selbst. Hätte es die Enthemmung der
Finanzmärkte nicht gegeben, wäre das
„finanzgetriebene“ Wachstum von Anfang an nicht
möglich gewesen; und hätte Greenspan den Monetarismus
nicht aufgegeben, wäre der Zusammenbruch schon einige Jahre
früher gekommen. In ihrer Verzweiflung machen die Notenbanken
jetzt erst recht genau das, was gleichzeitig an Greenspan gescholten
wird.
Da sich an den Verwertungsbedingungen in der Folge
der 3. industriellen Revolution nichts geändert hat, sind alle
Prognosen der Wirtschaftsinstitute über eine
„Erholung“ nach ein oder zwei Jahren
ökonomischer Depression aus der Luft gegriffen. Solche
Überlegungen speisen sich mangels Einsicht in den inneren
Selbstwiderspruch des Kapitals einzig und allein aus einem vagen
konjunkturellen Erwartungshorizont. Wir haben es aber längst
nicht mehr mit einem klassischen Konjunkturzyklus zu tun, der nun
wieder mit den Mitteln einer exhumierten keynesianischen
Staatsintervention zu bewältigen wäre. Dass es der
Staat nicht richten kann, zeigt sich schon an der Preisgabe der ohnehin
aufgeweichten Ziele einer Begrenzung von Schadstoff-Emissionen im Namen
der Arbeitsplätze, die trotzdem wegbrechen werden. Auch die
2007 gekürte „Klimakanzlerin“ Merkel will
von den guten ökologischen Vorsätzen nicht mehr viel
wissen. Der Staat ist nur die zusammenfassende Instanz von
„abstrakter Arbeit“ und Mehrwertproduktion; er kann
der Logik seiner Voraussetzungen nicht entkommen. Wenn er angesichts
der ökonomischen Krise in der Bewältigung der
äußeren Naturschranke versagen muss, gilt dasselbe
für die innere ökonomische Schranke. Darüber
hinaus hat die Globalisierung der Betriebswirtschaft und die
Konstitution eines Weltkapitals in der Epoche der 3. industriellen
Revolution und der Finanzblasen-Ökonomie den formalen Rahmen
staatlicher Regulation längst durchbrochen. Die
Zauberlehrlinge der modernen Voodoo-Ökonomie sind auch deshalb
mit ihrem Latein am Ende, weil es auf der Weltebene unter
kapitalistischen Bedingungen keine zusammenfassende Instanz geben kann.
Die Geschichte des Kapitalismus war die Geschichte
der sogenannten Modernisierung, deren Inhalt darin bestand, die Welt
nach kapitalistischen Kriterien zuzurichten und der blinden Dynamik
einer konkurrenzgesteuerten Produktivkraftentwicklung zu unterwerfen.
Der verblichene „Realsozialismus“ vulgo
Staatskapitalismus machte da keine Ausnahme. Seine spezifische
bürokratische Regulationsweise auf Basis derselben
ökonomischen Kategorien war nur dem Problem einer
„nachholenden Modernisierung“ an der Peripherie des
Weltmarkts geschuldet. Die Optik des bloß
oberflächlich vorhandenen
„Systemkonflikts“ ist historisch gegenstandslos
geworden. Das Ende der „nachholenden
Modernisierung“ war nur der Vorschein vom Ende der
Modernisierungsgeschichte selbst. Die chinesische
Exportindustrialisierung hatte schon keine nationalökonomische
Grundlage und Entwicklungsperspektive mehr; sie bestand in der
Amalgamierung von staatsbürokratischen Restbeständen
und Elementen eines brutalen neoliberalen Billiglohn-und
Minderheits-Kapitalismus mit Hilfe westlicher Investitionen, der seine
kurzlebigen Erfolge nur im fragilen Zusammenhang der globalen
Finanzblasen-Ökonomie feiern durfte. Der Zusammenbruch der
Defizitkonjunktur trifft die in Wahrheit schmalen Export-Segmente der
vermeintlichen Schwellenländer am härtesten;
wahrscheinlich mit ähnlicher Wucht wie die von allen
kapitalistischen Kernstaaten am meisten einseitig exportorientierte
Gesellschaft der BRD. China kann weder zu einer
„demokratischen Weltmarktnation“ mutieren, wie es
vielfach erhofft wurde, weil die Voraussetzungen dafür im
Orkus der Geschichte verschwinden; noch gibt es die
Möglichkeit einer Rückkehr zum nationalen
Staatskapitalismus, der an das Paradigma „nachholender
Modernisierung“ in einer vorvergangenen Epoche gebunden war.
Nicht die „Rettung“ des
Unrettbaren wird inflationär, sondern das
„Ende“ der modernisierungsgeschichtlichen Konzepte.
Das gilt auch für die sogenannte Postmoderne, deren Titel
schon immer ein Etikettenschwindel war. Die entsprechenden
philosophischen, ästhetischen und politischen Denkmuster im
Wissenschaftsbetrieb und in eher symbolischen sozialen Bewegungen der
Mittelschichtsjugend haben allesamt die politisch-ökonomischen
Systemgrundlagen der Moderne nicht hinter sich gelassen, sondern sie
nur ausgeblendet und verdrängt. Die Kritik der politischen
Ökonomie war kein Thema mehr. Die harte negative
Objektivität der ökonomischen Kategorien wurde in
eine subjektive „Offenheit“ für alles und
jedes umdefiniert. „Anything goes“ war die Parole.
Die Geschichte sollte virtuell verfügbar sein. Wahrheit galt
als „produzierbar“ und
„verhandelbar“, ohne einen unverhandelbaren Grund
in den Verhältnissen zu haben.
Überhaupt gewann die Ideologie der
„Virtualität“ (auch in Bezug auf das
virtuelle „second life“ im Internet), der
„Kontingenz“ und „Ambivalenz“
eine hegemoniale Position. Der fetischistische „reale
Schein“ des modernen warenproduzierenden Systems
verklärte sich zur eigentlichen
„immateriellen“ Realität,
einschließlich der „immateriellen Arbeit“
in den Bestsellern eines Antonio Negri. Ökonomische Basis war
die Zirkulationssphäre des ewigen Kaufens und Verkaufens,
während das Substanzproblem der „abstrakten
Arbeit“ nur in dem Sinn obsolet schien, dass es in den
weiterhin kapitalistischen Verhältnissen keine Bedeutung mehr
hätte. Der Begriff der „Substanz“ verfiel
generell dem Verdikt, ein überholtes metaphysisches Konzept zu
sein. Aber dieser „Antisubstantialismus“ oder
„Antiessentialismus“ rechnete nicht mit dem
realmetaphysischen Charakter der kapitalistischen
Selbstzweck-Ökonomie, die auf der stets gesteigerten
Verwertung von Arbeitskraft als Grundlage des systemnotwendigen
„Wachstums“ beruht und sich davon nicht
emanzipieren kann. Das ist eben kein Gegenstand, der im universellen
Basar des Weltmarkts verhandelbar wäre.
Die soziale Basis bestand nicht nur in den
Gelegenheitsspekulanten und kleinen Schuldenkönigen, sondern
auch in den Downloader-Existenzen, perspektivlosen
Mittelschichtssprößlingen mit illusionären
Ambitionen und den hoffnungsvollen Erben fordistischer
Geldvermögen, die gerade zu verdampfen beginnen. Das
unübersehbar als Produkt des virtuellen
Finanzblasen-Kapitalismus kenntlich gewordene postmoderne Denken, das
schon im Prolog des „Schwarzbuchs“ kritisiert wird,
blamiert sich an der harten Krisenrealität, die jetzt durch
keinen medialen Berufsoptimismus mehr verdrängt werden kann.
Auch das einschlägige soziologische Konzept einer
„reflexiven Modernisierung“ (Ulrich Beck) hat sein
Verfallsdatum überschritten, weil mit dem regulativen
Sozialstaat seine Voraussetzung zerfällt. Die Postmoderne
erweist sich als eine Art Hanswurstiade oder Farce am Ende der
Modernisierungsgeschichte, nicht als deren Überwindung.
Wenn es sich bei der Krise des Weltkapitals nicht
um ein konjunkturelles Phänomen, sondern um einen neuen
Epochenbruch höheren Grades handelt, dann steht damit mehr zur
Disposition als Arbeitsplätze und Geldeinkommen. Die Grenzen
des modernen warenproduzierenden Systems sind auch die Grenzen seiner
Vernunft, die zu historisieren ist. Es gibt keine transhistorische
Vernunft, die im Kapitalismus zu sich gekommen wäre. Jede
historische Formation bildet ihre spezifische Vernunftform aus, die
nichts anderes ist als eine Synthetisierung der Weltwahrnehmung und des
Verhältnisses zur Welt auf der Grundlage der jeweiligen
Reproduktionsweise. Die Vernunft der Aufklärung, von der das
moderne Denken zehrt und aus der das moderne Wissenschaftssystem
hervorgegangen ist, bildete (mit Vorläufern im Protestantismus
und in der frühmodernen Philosophie) jene elementaren Raster
der Reflexion und des Handelns in der Welt aus, die sowohl ontologisch
als auch erkenntnistheoretisch und ethisch dem Formzusammenhang des
kapitalistischen Verwertungsimperativs entsprechen. Diese
synthetisierende Vernunft als „Geld des Geistes“
hat sich historisch hoffnungslos überlebt und kann ihre
eigenen Hervorbringungen nicht mehr beherrschen.
Kein bloßer Nebenaspekt dieser
historisch begrenzten Vernunft ist es, dass sie in anderer Weise als
ihre patriarchalischen Vorgänger eine spezifisch
„männliche“ Denk- und Handlungsform
enthält. Die scheinbar universellen und insofern auch
geschlechtsneutralen politisch-ökonomischen Kategorien des
Kapitals und die Rationalität des damit verbundenen
Wissenschaftsbetriebs stellen in Wahrheit nur einen
„androzentrischen Universalismus“ dar. Die von
Anfang an männlich bestimmte Universalität der
„abstrakten Arbeit“ und die dazugehörige,
alle gesellschaftlichen Sphären durchdringende historische
Vernunft gehen in sozialer Hinsicht nicht nur damit einher, dass Frauen
bis heute auf allen Ebenen von Ökonomie, Politik, Wissenschaft
und Kultur im Durchschnitt eher untergeordnete Positionen zugewiesen
bekommen. Gleichzeitig wurden an den weiblichen Teil der Gesellschaft
auch diejenigen Momente der sozialen Reproduktion delegiert, die nicht
in der Logik von „abstrakter Arbeit“ und
Mehrwertproduktion aufgehen können (familiale
Tätigkeit oder „Hausarbeit“,
Kindererziehung, Pflege und Betreuung im Nahbereich, allgemeine
„Bemutterungsfunktionen“ etc.). Diese Momente sind
von der offiziellen Gesellschaftlichkeit abgespalten, erscheinen nicht
im universalistischen Kategoriensystem und gelten als minderwertig,
insofern sie sich nicht in Geld darstellen lassen. Das so konstituierte
„geschlechtliche Abspaltungsverhältnis“
(Roswitha Scholz) hat zusammen mit der kapitalistischen Dynamik eine
Geschichte durchlaufen, in der es sich immer neu konfigurierte, ohne in
seinem Kern überwunden zu werden.
Während in den Zeiten der kurzlebigen
Nachkriegsprosperität und des expandierenden Staatskredits
einige dieser sozialen Felder in öffentliche Institutionen der
Sozial-, Pflege- und Betreuungsarbeit transformiert wurden, die auch
wieder überproportional weiblich besetzt waren, hat der
neoliberale Finanzblasen-Kapitalismus diese Bereiche als
lästige Kostenfaktoren bereits eingeschnürt und
abgebaut. Der finanzkapitalistische Krisen-Keynesianismus kann in
dieser Hinsicht nicht neu durchstarten, bloß weil der Staat
wieder das Szepter übernimmt. Im Gegenteil drohen gerade die
„weichen“ sozialen Institutionen vollends unter die
Räder zu kommen. Obwohl Frauen in den
Bildungsabschlüssen mit Männern
gleichgezogen haben, entwertet die Krise ihre spezifischen
Qualifikationen im Rahmen des sich auflösenden Sozialstaats am
schnellsten und delegiert sie aus öffentlich bezahlten
Funktionen wieder an die viel beschworene „kostenlose
Mütterlichkeit“. Die weibliche Arbeitskraft wird auf
neue Weise in die Zange genommen, indem sie nicht einfach
„zurück an den Herd“ gehen, sondern
außerdem noch (gerade bei Alleinerziehenden) als
„Geldverdienerin“ im Billiglohnsektor herhalten
soll, die der Armutsverwaltung nicht zur Last fällt.
Da die epochale Krise der „abstrakten Arbeit“ auch
eine Krise der modernen Männlichkeit ist, kehren weltweit auf
verschiedenen Niveaus des gesellschaftlichen Zerfalls in modifizierter
Form militante patriarchale Verhaltensmuster zurück, an die
sich sogar viele Frauen auf der Suche nach Halt klammern, obwohl die
abverlangte Doppelrolle kaum lebbar sein kann.
Die Agonie des androzentrischen Universalismus
bürgerlicher Vernunft ist nicht nur in geschlechtlicher
Hinsicht weit mehr als eine Angelegenheit in der dünnen
Höhenluft philosophischen und wissenschaftlichen Denkens. Nach
Marx handelt es sich um „objektive Daseinsformen“,
denen ebenso „objektive Gedankenformen“
entsprechen, wie sie in einem historischen Prozess durch die
kapitalistische Domestikation des
„Menschenmaterials“ verinnerlicht worden sind und
ohne theoretische Reflexion auch das Alltagsbewusstsein bestimmen.
Deshalb kann es keine selbstläufige soziale Emanzipation von
den absurden Zumutungsverhältnissen geben. Die innere Schranke
der herrschenden Daseinsformen wird zuerst in den
dazugehörigen gesellschaftlichen Gedankenformen verarbeitet.
Daraus speisen sich sowohl die grassierenden illusionären
Bewältigungskonzepte als auch ideologische Projektionen der
Ausgrenzung und der Suche nach Sündenböcken. Je
dramatischer sich die ökonomische Weltsituation zuspitzt,
desto hemmungsloser wird in der Krisenkonkurrenz das destruktive
ideologische Reservoir der Modernisierungsgeschichte
geplündert; von sexistischen bis zu nationalistischen,
rassistischen und antisemitischen Deutungsmustern. Nicht zuletzt die
„anständige Mitte“ vergisst alle
oberflächlichen Toleranzpostulate, wenn es ihr selber an den
Kragen geht.
Das „Schwarzbuch“ endet daher
ein wenig elegisch, weil es keine soziale Kraft in Sichtweite hat, der
die soziale Emanzipation von diesen Verhältnissen zugetraut
werden könnte. Daran hat sich auch zehn Jahre später
nichts geändert. Die entscheidende Botschaft ist aber, dass
dem Kapitalismus eine objektive Potenz zur Selbstzerstörung
innewohnt, die sich auch dann realisiert, wenn niemand mit ihm Schluss
machen will. Das musste der Skandal gerade für ein
„kapitalismuskritisches“ Denken sein, das dem
feindlichen Gesellschaftssystem schon immer die Fähigkeit zur
stetigen Regeneration bescheinigen wollte, sofern nicht ein
Willenssubjekt auftaucht, das den Drachen erlegt. Darin besteht die
Grundüberzeugung einer an die Modernisierungsgeschichte
gebundenen Gesellschaftskritik, die sich selbst ebenso wie ihren
Gegenstand missversteht. Sie glaubt an das ewige Leben des Kapitalismus
aus sich heraus vor allem deswegen, weil sie selber in seinen
politisch-ökonomischen Kategorien und seiner historisch
begrenzten Vernunft befangen ist. Die bisherige Linke steht genauso
hilflos vor der inneren Schranke der Verwertungsmaschine wie die
kapitalistischen Eliten.
Schien 1999 die große Krise des
Weltsystems noch in nebelhafter Ferne zu liegen, so ist sie jetzt
empirisch handgreiflich geworden. Die Billionensummen der staatlichen
Stützungsaktionen können aufgrund ihrer
zeitverzögerten Wirkung die globale Depression schon nicht
mehr auffangen. Zwar ist es durchaus möglich, dass nach einem
schweren Einbruch die aus dem Nichts geschöpfte formale
Geldmasse eine von der Inflation geheizte Scheinkonjunktur entfesselt.
Aber ein fiktives Wachstum, das in naher Zukunft mit rapider
Geldentwertung verbunden ist, lässt sich nicht noch einmal
über mehr als ein Jahrzehnt durchhalten. Es wird sicher eines
langen und qualvollen Prozesses bedürfen, um die
„objektiven Gedankenformen“ des modernen
warenproduzierenden Patriarchats abzustreifen und zu einer anderen
Vernunft zu gelangen. Soll die Gesellschaftskatastrophe
eingedämmt werden, erfordert der neue Epochenbruch dennoch
schon kurzfristig praktische Maßnahmen, die der
kapitalistischen Rationalität zuwider laufen. Wenn General
Motors zahlungsunfähig werden kann, ist das auch bei den
großen Transportunternehmen und Lebensmittelketten
möglich. Es ist nicht mehr undenkbar, dass die Menschen sogar
in den Zentren vor leeren Supermarktregalen stehen. Mangels
„Finanzierbarkeit“ kann auch die medizinische
Versorgung storniert, Wasser und Strom abgestellt oder der Wohnraum
für Millionen gekündigt werden, obwohl alle
materiellen Ressourcen vorhanden sind. Will die kapitalistische
Menschheit sich nicht selber zum Schicksal des Tantalos verdammen, der
ewigen Hunger und Durst leiden muss, weil reichliche Speisen und
Getränke durch Zauberhand vor seinem Zugriff
zurückweichen, so muss sie eine Transformation in Angriff
nehmen, die den konkreten Reichtum von seiner abstrakten Form befreit.
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