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Postmodernes Subjekt, Demokratie & Antisemitismus


Erschienen in EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Heft 6, 2009

Robert Kurz

DIE KINDERMÖRDER VON GAZA

Eine Operation „Gegossenes Blei“ für die empfindsamen Herzen

Bilder trügen nicht, vor allem die Bilder von Kinderleichen. Tote Kinder, verstümmelte Kinder, verängstigte und weinende Kinder, mit großen Augen aus Verbandsbinden in die Kamera starrende Kinder, inmitten einer klagenden Menge getragene kleine Särge, ihr Leid zum Himmel schreiende Mütter – dieser über die Bildschirme flimmernde Anblick verdichtet sich zu einer ungeheuren Anklage gegen die jüdischen Kindermörder von Gaza. Herodes war ein gutmütiger Kinderfreund dagegen. Die Wahrnehmung des mehrwöchigen Krieges in Gaza zwischen Israel und der Hamas hat sich wie bei keinem früheren Konflikt auf diese scharf gestochene Evidenz zusammengezogen: Die Juden sind Kindermörder. Das ahnt man seit mehr als tausend Jahren; jetzt ist es vor den Augen der Weltöffentlichkeit bewiesen. Nicht zuletzt ein bestimmter Teil der Linken wurde von einem überwältigenden Sentiment gegen den kindermörderischen Staat Israel ergriffen und mitgerissen, das keinen weiteren Gedanken mehr duldet. Bist du für den israelischen Kindermord von Gaza oder dagegen? Na also. Jetzt weiß man, wo die Judenfreunde moralisch stehen.

Gleichzeitig läuft gewohnheitsmäßig nebenher die Erörterung, dass der Krieg des 21. Jahrhunderts mehr denn je ein medialer Krieg der Bilder ist. Es besteht ein klares Bewusstsein darüber, wie man sich tief im Herzen hat rühren lassen von den Bildern, die unter Kontrolle des Hamas-Regimes nach außen dringen durften. Und fast schon augenzwinkernd wird festgestellt, dass dieses in den Poren der Bevölkerung von Gaza verschanzte Regime den Krieg der Bilder bereits gewonnen habe. Da ist man aus voller Seele dabei, man ist mitgewonnen. Es wurden ohne jeden Zweifel wirklich Kinder getötet, oder etwa nicht? Und die wenigen guten Juden sagen es ja selber, die letzten aufrechten Friedensfreunde Israels, deren Stellungnahmen nicht nur in bestimmten Teilen der linken Presse durchgereicht werden. Sie sind auf eine kleine Minderheit zusammengeschmolzen, sogar in der israelischen linksintellektuellen Szene. Aber mit ihnen kann man die moralische Wucht der Empörung über den jüdischen Kindermord teilen und so in einem Aufwasch beweisen, dass es nie und nimmer um Antisemitismus geht. Kann es ein perfekteres Alibi geben?

Wir haben es ganz offensichtlich mit einem doppelbödigen oder sogar mehrfachbödigen Syndrom zu tun, in dem nichts ist, wie es scheint. Es geht hier darum, dass kleine Kinder bei Kriegshandlungen getötet werden, und es geht nicht darum. Die Tatsache hat etwas Grauenhaftes; und das Grauen speist sich noch vor jeder moralischen Erwägung aus den Bildern des Leidens, die eine reale Erfahrung repräsentieren und Empathie auslösen, jedenfalls soweit noch nicht jede Gefühlsregung abgetötet ist. Eine derart empathische Empfindung kann in den abstrakten Imperativ übersetzt werden: Du sollst nicht kleine Kinder umbringen. Wenn davon auszugehen ist, dass dieser Imperativ „eigentlich“ einen allgemeinen Konsens darstellt, dann fragt sich, warum es trotzdem immer wieder geschieht; und sei es als Nebenwirkung gewaltsamer Konflikte. Hier fängt die Doppelbödigkeit an, denn nichts geschieht ohne Bedingungszusammenhang; und darin nehmen die Empathie und der moralische Imperativ einen keineswegs selbstverständlichen Stellenwert ein, der an den Tag gebracht werden muss, weil er auf etwas ganz anderes verweist. Das Missverhältnis von Gefühl und Verstrickung, von Moral und Geschichte droht gerade bei diesem Dauerkonflikt, der einen Brennpunkt in der zum Zerreißen gespannten Situation der kapitalistischen Weltgesellschaft bildet, auf bestimmte Weise in einen fatalen instrumentellen Zusammenhang gerückt zu werden.

Die Doppelbödigkeit des Gegenstands, sein gleichzeitig lokaler und weltgesellschaftlicher, historischer und aktueller, verschiedene Ebenen verschränkender Charakter und die zwielichtige Art des Bezugs darauf lassen erkennen, dass es sich um einen mehrdimensional vermittelten Stellvertreter-Konflikt handelt, dessen globale Wahrnehmung auf bestimmte Weise gefiltert und aufgeladen ist, der deshalb auch fernab von den Ereignissen eine eigentümliche Brisanz gewinnt und in dem gerade bei den unmittelbaren Konfliktparteien selbst mehr zum Ausdruck kommt als ein gewöhnliches Aufeinanderprallen feindlicher Kräfte, wie es sonst in den Krisenregionen des Weltkapitals zu beobachten ist. Der Begriff des Stellvertreter-Konflikts stammt aus dem Kalten Krieg und bedeutete in diesem Zusammenhang nichts anderes als die Einordnung von regional begrenzten „heißen“ Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen in den Ost-West-Gegensatz, wobei die „Supermächte“ USA und Sowjetunion als jeweilige Waffenlieferanten und als Schutzmächte auf dem diplomatischen Weltparkett agierten. Schon damals war der Nahost-Konflikt mit einer historisch vermittelten zusätzlichen Qualität in diese Weltkonstellation eingelagert.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Kriegs hat sich der Charakter des Stellvertreter-Konflikts gerade im Nahen Osten verschoben und ist auf spezifische Weise nicht nur in eine Neuinterpretation der globalen Konstellation eingegangen, sondern auch in die Wahrnehmung und Interpretation des zusehends verschärften Krisenprozesses. Beide Seiten stehen nicht nur für sich, sondern gleichzeitig für etwas anderes, das sich mehr denn je nicht auf die Einordnung in ein äußerliches Machtverhältnis reduziert, sondern mit gesellschaftlichen Positionen und politischen oder theoretischen Identitäten verbunden ist; nicht zuletzt bis in die Auseinandersetzungen der Kapitalismuskritik hinein, die ihr altes Bezugssystem verloren hat. In der Linken stehen sich dabei eine mehr oder weniger heftige „israelkritische“ Haltung und ein auf historische Analogien beschränkter, mechanisch-definitorischer Antisemitismus-Vorwurf gegenüber. Diese Konfrontation hat den alten Rahmen des „Antiimperialismus“ längst gesprengt, obwohl das den Akteuren meistens nicht bewusst ist.

Auf die neue Qualität des Stellvertreter-Konflikts hat Roswitha Scholz mit Bezug auf die heftige Polemik innerhalb der Linken seit den Terroranschlägen des 11. September in mehreren Texten hingewiesen, die offenbar schnell wieder in Vergessenheit gerieten. So stellte sie in ihrem Buch „Differenzen der Krise – Krise der Differenzen“ (2005) fest, es sei „längst erkennbar, dass der Israel-Palästina-Konflikt gewissermaßen eine Stellvertreterposition im Kontext eines Unbehagens an der entpersonalisierten Globalisierung einnimmt. Die Diskriminierung der Palästinenser wird dabei zur Projektionsfläche genommen, um scheinbar legitim >beherzt< antizionistisch/antisemitisch sein zu dürfen und zugleich gutmenschig die Mißstände und Auswüchse der Globalisierung anzuprangern. Dabei hat angeblich weder das eine noch das andere – dem eigenen Selbstverständnis nach – etwas mit Antisemitismus zu tun“; und sie warnt vor „moralisierenden Zuschreibungen“. Inzwischen haben sich sowohl die globale Konstellation als auch der Nahost-Konflikt weiter verändert und im Zusammenhang mit dem aktuellen Kriseneinbruch zugespitzt. Anlässlich des Gaza-Konflikts kommt nun die ganze unverdaute Problematik in einer affektiv besetzten Weise hoch, die nichts Gutes ahnen lässt.

Aus den genannten Gründen beschäftigt sich der folgende Text weniger mit der unmittelbaren Konfliktsituation im Nahen Osten und der Verschiebung der Fronten im Weltordnungskrieg, obwohl diese Aspekte natürlich berührt werden (eine genauere Analyse hinsichtlich des Zusammenhangs von Weltwirtschaftskrise und einer veränderten Position der USA unter der Obama-Administration muss einer besonderen Untersuchung vorbehalten bleiben). Hier geht es in erster Linie um die Wahrnehmung des Nahost-Konflikts und insbesondere des Gaza-Kriegs in der globalen und vor allem der deutschen Linken vor dem Hintergrund einer emotionalen und ideologischen Verarbeitung der neuen Weltkrise. Ich habe weitgehend auf Zitate verzichtet und mich auf die Analyse der Argumentationsstrukturen beschränkt. Das Material bilden die Äußerungen in der linken (aber auch der bürgerlichen) Presse und in den zahllosen Blogs, die sich auf Israel und den Gaza-Konflikt äußerst konträr bezogen haben.

Moralische Asymmetrie und historische Analyse

Das gilt nicht nur für die historischen sozialen Aufstände, Revolutionen und bewaffneten Kämpfe, sondern auch für die Bewertung von Kriegen, denen stets sogenannte unschuldige Zivilisten und erst recht noch unschuldigere Kinder zum Opfer fielen. Die modernen industrialisierten Kriege kennen kein externes Schlachtfeld kämpfender Männerhorden mehr. Ohne sich dem Mitgefühl für das Leiden zu verweigern, ohne einem „Kampf als inneres Erlebnis“ zu frönen oder im Gegensatz zur abstrakten Humanität ebenso abstrakt die Gewalt zu verherrlichen, war für kritische Theorie und soziale Bewegungen immer die konkret-historische Analyse in der Haltung zu bewaffneten Konflikten bestimmend. Über die ethisch-moralische Position kapitalistischer Eliten und Medien in dieser Frage brauchen wir kein Wort zu verlieren.

Natürlich gibt es im gesamten Nahost-Konflikt keine waffenlose und pazifistische Partei. In Gaza standen der israelischen Militärmaschine keine unschuldigen Kinder gegenüber; noch nicht einmal überhaupt friedfertige Menschen. Die Kassam-Brigaden als militärische Organisation der Hamas sind stolz darauf, den Tod zu bringen und den Tod zu suchen; sie gehören zur Avantgarde der Selbstmordattentäter in israelischen Städten. Es wäre ein leichtes, umgekehrt auf die von Sprengladungen zerfetzten oder von Raketen getroffenen jüdischen Kinder zu verweisen. Aber mit einer solchen moralischen Gegenbuchhaltung wäre nichts erklärt; sie würde sich auf dieselbe Ebene begeben. Der Saldo einer wechselseitigen Verrechnung von Kinderleichen könnte womöglich sogar zugunsten der Hamas aufgelistet werden; aber nur weil deren Raketen bis jetzt noch überaus primitiv sind, was kaum einen moralischen Vorteil darstellen dürfte. Die Gegenüberstellung von 20 und 200 Leichen wäre gerade im moralischen Sinne gegenstandslos.

So weit wollen die linken Friedensfreunde nicht gehen. Sie sind irgendwie auch gegen die Raketenangriffe der Hamas, sagen sie; obwohl man sich dann tatsächlich nicht entblödet, die jeweilige Leichenquantität zumindest als flankierendes Argument der Bewertung anzuführen. Die Begründung bleibt so im moralischen Niemandsland stecken. Und die uralte Frage, wer angefangen hat, kann genauso wenig geklärt werden wie bei Prügeleien auf dem Schulhof. Aber derartige ins Leere führende Erörterungen lenken nur ab von den eigentlichen Fragen: Warum nämlich das moralische Empfinden erst durchschlagend wird, die Bilder erst ans Herz gehen und einen unüberhörbaren Aufschrei auslösen, wenn es sich um von jüdischen Waffen getötete Kinder handelt; und warum die unverdünnte Moral selbst bei Leuten mit kritischem Anspruch der Bewertung durch eine konkret-historische Analyse hier eher aus dem Weg geht, ja den Verweis darauf sofort als Zynismus und Herzlosigkeit brandmarkt. Die eigene Parteilichkeit gegen Israel muss sich so nicht mehr begründen, ja nicht einmal mehr als solche zugegeben werden.

Dass es sich bei dem Krieg in Gaza wie bei der gesamten Konfrontation im Nahen Osten um einen nicht nur ideologisch, sondern gewissermaßen auch psychohistorisch aufgeladenen Stellvertreter-Konflikt handelt, kann im Vergleich mit der inhaltlichen und moralischen Einschätzung anderer Kriege der Vergangenheit und Gegenwart unschwer festgestellt werden. Die meisten Linken und Liberalen halten es nach wie vor für gerechtfertigt, dass die Alliierten im 2. Weltkrieg Nazi-Deutschland in Schutt und Asche gelegt haben, obwohl dabei zweifellos hunderttausende von Zivilisten einschließlich Kindern getötet oder schwer verletzt wurden. Soweit sich inzwischen die Deutschen als unschuldige Auch-Opfer entdecken, ist der legitimatorische Gehalt dieser Neubewertung ziemlich durchsichtig. Der Hinweis auf das Legitimationsproblem soll nicht den 2. Weltkrieg und den Nahost-Konflikt historisch-inhaltlich analogisieren. Vielmehr geht es darum, die assoziative Inszenierung moralischer Impulse anhand eines aus der historischen Konstellation herauspräparierten Tatbestands, dass nämlich Kinder durch Kriegshandlungen ums Leben kommen, als eine keineswegs fraglose Vorgehensweise kenntlich zu machen. Vielleicht würden es noch nicht einmal die tränenreichsten deutschen Opferideologen wagen, die seit 1944 haushoch überlegenen alliierten Truppen einfach unter den Gesichtspunkt des Kindermords zu subsumieren.

Ein solcher Maßstab versagt sogar bei Kriegen, die zumindest von der gewöhnlichen Linken als ungerechte bestimmt werden. Das Vorgehen etwa der türkischen Armee in den Kurdengebieten hat immer wieder Opfer unter der Zivilbevölkerung und auch von Kindern gefordert. Jede Woche werden in Afghanistan Bergdörfer, in denen sich der Vermutung nach Taliban-Soldaten aufhalten sollen, von amerikanischen Bomben und Raketen getroffen; und regelmäßig sind die zivilen Opfer in der Überzahl und es können anklagend aufgebahrte Kinderleichen besichtigt werden. In diesen Fällen werden solche Opferbilder im Rahmen der Kritik am türkischen Ethno-Nationalismus bzw. am Krisenimperialismus des westlichen Weltordnungskrieges zwar für die Delegitimierung dieser Kriege herangezogen, aber eben im Kontext einer Argumentation, die sich auf einen übergeordneten Zusammenhang des Konflikts und dessen Bewertung bezieht, also das Problem nicht auf die moralische Präsentation jener Opferbilder reduziert; wie verkürzt die Analyse dabei auch sein mag, soweit etwa gegen die türkische autoritäre Staatsräson bloß ein komplementärer kurdischer Ethno-Nationalismus und eine anachronistische Nationsbildung oder gegen den Krieg in Afghanistan bloß ein obsoleter alter Antiimperialismus geltend gemacht wird. Dennoch hat sich dabei nie ein derart heftiger und fokussierter Affekt durchgesetzt, der ohne ausgewiesenen inhaltlichen Bezug auf die Konfliktkonstellation moralisch triumphierend immer wieder die Bilder von Kinderleichen vorzeigt, wie sie für die Bewertung Israels als Konfliktpartei um die Welt gingen.

Das gilt sogar für den Irak-Krieg 2003, bei dem bestimmt hundertmal mehr Kinder umkamen als in Gaza. Auch eine Kritik, die eher antiamerikanisch als kapitalismuskritisch grundiert war, reduzierte damals ihre Bewertung nicht mit solcher Emphase auf Kindermord und Kriegsverbrechen an einer unschuldigen Zivilbevölkerung. Ganz zu schweigen von undurchsichtigen Bürgerkriegen in zerfallenden afrikanischen Staaten wie im Kongo oder in Ruanda, bei denen sogar ganz bewusst Kinder mit Handfeuerwaffen oder Macheten abgeschlachtet werden. Diese realen Ereignisse erscheinen in der Wahrnehmung, als fänden sie auf einem anderen Planeten statt; es gibt hier in der Welt keine historisch und ideologisch präformierte Parteinahme. Dennoch oder gerade deswegen ist die Empathie dabei schon einigermaßen abgestumpft, wenn diese Bilder ebenso die Medien durchwandern wie die aus Gaza; vor allem gibt es keine erregte Täterbestimmung mit einer politisch-moralischen Zuschreibung.

Wenn also die Rolle der Gewalt in der Geschichte in allen anderen Fällen nicht abstrakt negiert, sondern das unmittelbare Leiden und Mitleiden in einen vermittelten historischen Bewertungszusammenhang gebracht wird oder sogar nicht einmal mehr besonders anrührt, jedenfalls nicht in der politischen Szene, dann muss es sich bei der Aburteilung des israelischen Angriffs auf Gaza um einen anderen Maßstab handeln als einen moralisch-ethischen, der aber nicht oder nicht vollständig offen gelegt wird. Die moralische Unmittelbarkeit verdeckt einen Drang, der zwar aus der weltgesellschaftlichen Vermitteltheit des Stellvertreter-Konflikts herrührt, aber verschleiert bleibt und nur verdruckst und schief im Bewusstsein erscheinen darf. Dieser Drang wird schlagartig erhellt durch eine Aussage von Anselm Jappe im Kontext der innerlinken Auseinandersetzungen seit dem 11. September, die sinngemäß lautet: „Die Kurden haben das Pech, dass sie nicht von Israel unterdrückt werden“. Genauer könnte man die Differenz in den Konfliktbewertungen nicht auf den Punkt bringen. Diese moralische Asymmetrie ist erklärungsbedürftig.

Die affektive Gewalt des kollektiven antijüdischen Unbewussten

Die Tiefendimension dieses Syndroms zeigt sich an der Vermittlungslosigkeit, mit der sich entlang dieser Linie gerade in der Linken Brüche oder Spaltungen vollziehen und erbitterte Feindschaften konstituieren, die anlässlich des Kriegs in Gaza noch weit heftiger als bei früheren Waffengängen im Nahen Osten innerhalb von Tagen oder sogar Stunden alle früheren Fronten hinter sich gelassen haben und vor keinem Zusammenhang halt machen. So fand ein Artikel mit einer keineswegs inhaltlich unvermittelten proisraelischen Schlussfolgerung, den ich für eine brasilianische Tageszeitung geschrieben hatte, ein promptes Echo bei einigen Leuten, die sich an der von mir mitvertretenen wertkritischen Theoriebildung interessiert gezeigt hatten. Ein bisheriger Unterstützer des Trägervereins teilte mit, er werde seine letzte Spende an medico international umleiten, nachdem er „mit Entsetzen“ diesen Artikel gelesen habe. Ein Leser kündigte vorsorglich sein Abonnement der Theoriezeitschrift EXIT, obwohl er „nicht davon ausgehe“, dass dieser Artikel die Meinung aller EXIT-Autoren wiedergebe und er von der Redaktion eine „Distanzierung“ erwarte. Schließlich legte ein brasilianischer Autor des Verlags, in dem EXIT erscheint, dessen Leitung in einem Gift und Galle spuckenden Brief indirekt nahe, die Theoriezeitschrift am besten gleich ganz aus dem Programm zu nehmen.

Zahlenmäßig fallen diese Reaktionen nicht ins Gewicht, und für Larmoyanz gibt es keinen Anlass; angebotene Feindschaften soll man annehmen. Bemerkenswert ist allerdings, dass hier 4000 Zeichen eines Zeitungsartikels zu einem aktuellen Ereignis genügen, um spontan einen umfangreich ausformulierten theoretischen Inhalt über Bord gehen zu lassen. Wie Hegels Marktfrau die gesamte Existenz der mäkelnden Kundin samt Kind und Kindeskind unter den „faulen Fisch“ subsumiert, so wird eine in 20 Jahren erarbeitete theoretische Position, eine ganze Theoriezeitschrift und übrigens auch der Persönlichkeitscharakter des Autors mit Bezug auf frühere Konflikte einer einzigen proisraelische Schlussfolgerung untergeordnet. Wenn auch noch die Bemerkung folgt, dass ein schon länger gehegtes Unbehagen hinsichtlich der Interpretation politisch-ökonomischer Kategorien kein Anlass für eine Kündigung gewesen sei, einige Sätze aus besagtem Artikel aber schon, dann scheint auf, welche affektive Abstraktionsleistung dabei vorliegt.

Alle theoretische Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Entwicklung des Kapitalismus wird nichtig und gegenstandslos, wenn das Herzblut gegen den jüdischen Kindermörderstaat in Wallung gerät. Solche Einzelfälle sind symptomatisch für die gesamte Auseinandersetzung um den Krieg in Gaza, was zunächst auf eine emotionale Verschiebung gegenüber der bisherigen Streitkonstellation seit 2001 hindeutet. Die zunehmend unterbelichtete historisch-inhaltliche und analytische Begründung verfällt nahezu vollständig, um einer Art Gesinnungsjustiz des moralischen Ausnahmezustands zu weichen, die aus dem Bauch heraus reagiert und an die begründungslose und begründungsunfähige Dezision eines Carl Schmitt erinnert. Genauer gesagt: Als Begründung ist sich die im Bewusstsein unvermittelte emotionale Befindlichkeit selbst genug, um in einer schwer zu bewältigenden weltideologischen Krisensituation die eigene Parteinahme zu legitimieren, die meist sogar keine sein soll, weil sie sich scheinbar unabhängig vom bedingten Konfliktgegenstand Luft zu machen versucht und diesen zu transzendieren beansprucht.

Der Grund dieser Befindlichkeit muss verdrängt werden; deshalb erscheint sie als blinder Affekt, der umso rigoroser und keinen Widerspruch mehr duldend auftritt, je mühsamer er sich nachträglich mit einer moralisch reduzierten, aber keineswegs allgemeinen und ungeteilten Argumentation einkleidet. Ein kollektives Unbewusstes kann hier in der Weise zum Ausdruck kommen, wie Micha Brumlik von einem „unbewussten Judenhass“ spricht, der die Gesellschaft bis in die Linke hinein durchdringt. Die antijüdische projektive Verarbeitung der Leiden und Zumutungen in der Modernisierungsgeschichte, der in Europa schon eine christliche Vorgeschichte entspricht, hat ihre Ablagerungen auch im Unbewussten hinterlassen; etwa durch intergenerative Übertragungen schon im kindlichen Wahrnehmungshorizont. Dieser unbewusste Affekt ist keineswegs deckungsgleich mit den ebenso projektiven ideologischen Rationalisierungen und kann dazu sogar gegenläufig sein. Dem ideologischen, aber eben auch unbewussten Topos vom Juden als negativen Übermenschen komplementär sind die Topoi vom Schwarzen als Untermenschen im kolonialen Kontext und vom Zigeuner als Gegenbild des „ausgestoßenen Eingeschlossenen“ in den westlichen Gesellschaften selbst, die genauso im Unbewussten verankert sind, noch bevor sie als ideologische Muster in bestimmten Lagen an der Oberfläche des Bewusstseins erscheinen.

Es ist zu erwarten, dass sich im Prozess der Konstitution einer kapitalistischen Weltgesellschaft durch den historischen Kolonialismus und die Entwicklung des Weltmarkts hindurch Elemente dieser Topoi auch in anderen Weltregionen als projektive Verwerfungen im kollektiven Unbewussten niedergeschlagen haben. So kann der Gegenaffekt im Verhältnis zum kolonialen oder postkolonialen, rassistisch vermittelten „Weißsein“ im früher so genannten Trikont und anderswo ebenfalls die Form eines „unbewussten Judenhasses“ annehmen, wenn dieses „Weißsein“ in einem sozusagen osmotischen Transfer ursprünglich innereuropäischer Projektionen unbewusst mit der psychohistorisch aufgeladenen Figur des Juden identifiziert wird. Das oftmals gespannte Verhältnis von diskriminierten Schwarzen und Juden in den USA ist vielleicht ein Hinweis darauf. Im Nahen Osten und im sogenannten islamischen Raum amalgamiert sich ein derart vermittelter „unbewusster Judenhass“ besonders leicht mit gewöhnlichen kapitalistischen Interessengegensätzen, historischen Belastungen und schon frühzeitig übernommenen ideologischen Mustern des längst weltweiten Antisemitismus, die kulturell und historisch unterschiedlich gefärbt sind.

Wie die Deutschen den Juden Auschwitz nicht verzeihen können, so können die Araber und andere den Juden den europäischen Kolonialismus nicht verzeihen. Das ist nicht dasselbe, aber beides gehört einer weltgesellschaftlichen Bandbreite des kollektiven antijüdischen Unbewussten an, das je nach Lage immer wieder an die Oberfläche der Haltungen und Meinungen durchdringt. Vermittelt über die Existenz Israels kann „das Jüdische“ zur Chiffre für westlich-“weiße“ kolonialistische Unterdrückung schlechthin werden. Unbewusst erwartet wird, dass sich die Juden ihre Existenz selber nicht verzeihen können, weil diese in reflexiv schwer zugänglichen Tiefen der Empfindung stellvertretend geworden ist für eine verinnerlichte Zumutungsgeschichte von mehr als 200 Jahren. Wenn die Juden stattdessen als bewaffnete kapitalistische Macht diese Existenz als staatliche behaupten, einschließlich der üblen sozialen Defizite, schmutzigen Maßnahmen und moralischen Dilemmata unter solchen universellen Konkurrenzverhältnissen, die für sich genommen unerträglich sind, dann entlädt sich der „unbewusste Judenhass“ noch vor dem Übergang in bewusste Ideologie als affektive Gewalt der moralischen Projektion; stellvertretend für die Kritik an den zu Grunde liegenden Weltverhältnissen, die auch die eigenen sind.

Deshalb wird hier ein anderer moralischer Maßstab angelegt als anderswo oder derselbe abstrakte Maßstab mit größerem Nachdruck und stärkerer emotionaler Kraft. Dass die historischen Bedingungsgründe unterschiedlich und sogar gegensätzlich sind, ist dem Unbewussten egal, weil es eben ist, was es ist, nämlich um Widersprüche nie verlegen; noch weniger als die offene Ideologiebildung. So kommt es in der Unmittelbarkeit der bewaffneten Konfrontation zur moralischen großen Koalition gegen die Kindermörder von Gaza über historische, soziale, politische, theoretische und ideologische Gräben hinweg.

Die Schwierigkeit besteht wohl darin, die Tiefendimension des „unbewussten Judenhasses“ in ihrem Unterschied zur antisemitischen Ideologie wie in ihrer gleichzeitigen Verschränkung mit dieser dingfest zu machen, und beides zusammen in seinen historischen Verwerfungen, Verwicklungen und widersprüchlichen Zusammenhängen ans Licht zu bringen. Eine davon bestimmte inhaltlich-historische Bewertung des Konflikts erfordert allerdings eine Distanz zur moralischen Unmittelbarkeit, die nicht jenseits der Empathie mit menschlichen Opfern liegt. Die Differenz von „unbewusstem Judenhass“ und antisemitischer Ideologie kann natürlich kein Grund zur Verharmlosung oder Entschuldigung sein. Sie erklärt aber, warum der moralische Affekt gegen die Kindermörder von Gaza meist mit einem ebenso wütenden Affekt gegen den Vorwurf des Antisemitismus einhergeht. Die antiisraelische Erregung besetzt ein Moment, das nicht immer eine zumindest abstrakte Kritik des ideologischen Antisemitismus und seiner rationalisierenden Begründungen etwa in ökonomischer Hinsicht ausschließt. Die Verschränkung mit dem „unbewussten Judenhass“ verweist aber auf eine fließende Abstufung des Übergangs zu antisemitischen Stereotypen und ideologischen Mustern, die bei der moralischen Aufwallung gegen die Kriegshandlungen Israels stillschweigend in Kauf genommen werden oder in der Erregung plötzlich durchbrechen.

Soviel ist klar: Wenn und soweit sich die moralische Asymmetrie in den Reaktionsweisen auf diese spezifische Konfrontation aus einem kollektiven Unbewussten speist, ist sie keinerlei Argumentation zugänglich, noch weniger als bewusste antisemitische, rassistische, antiziganistische oder sexistische Ideologien, denen das Unbewusste stets vorgelagert ist. Sie kann nur in ihrem projektiven Gehalt aufgezeigt und bekämpft werden. Gerade das macht diejenigen rasend, die sich davon überrollen und wegtragen lassen. Es gehört zu den reifsten Leistungen eines abwiegelnden und inhaltslosen Vermittlungsverhaltens, ausgerechnet deshalb die Warnung auszusprechen, man solle die derart Erregten nicht noch mehr reizen, indem man ihren Zustand analysiert, damit sie nicht vollends durchdrehen. Die Verhaltenskontrolle ist sowieso schon flöten gegangen; da macht es auch nichts mehr aus, das unbewusste Moment der affektiven Überbordung anzustrahlen, gerade wenn diese in der Gegenreaktion den immanent angelegten ideologischen Inhalt bis zur Kenntlichkeit durchdringen lässt. Dann herrschen wenigstens klare Bewusstseinsverhältnisse. Oder wollen die Besänftiger etwa behaupten, die kommunikative Gewalt einer Analyse des antijüdischen Unbewussten könnte an sich unschuldige Moralisten in den Antisemitismus treiben?

Der Doppelcharakter des Staates Israel

Sowohl der moderne Rassismus als auch der moderne Antisemitismus speisen sich ursprünglich aus der europäischen Aufklärungsideologie des 18. Jahrhunderts. Der Rassismus bildete sich in Verbindung mit der äußeren Kolonialgeschichte als Konstrukt eines nicht-weißen Untermenschen aus, dem erst noch zivilisatorische Manieren beigebracht werden müssten; in der inneren Kolonisierung figurierte er im Konstrukt des „faulen Negers“ als Projektion in der Erziehung zur „Arbeit“. Diese Projektion war nicht universell, sondern partikular durch die Zuschreibung von Gegenbildern unerwünschter und angeblich rückständiger Eigenschaften, wie sie in anderer Weise auch den Antiziganismus kennzeichnet. Elemente dieser rassistischen Zuschreibungen konnten sich in der Modernisierungsgeschichte gerade als partikulare der Form nach universalisieren. So haben sich vielfach gebrochene Rassismen in aller Welt über den ursprünglichen europäischen Aufklärungsrassismus hinaus entwickelt, nicht nur gegenüber Nachbarpopulationen oder Migranten aller Art, sondern auch auf innerstaatlicher Ebene in Verbindung mit Konkurrenzverhältnissen und Entwicklungsgefällen; bekanntlich etwa von Norditalienern gegenüber Süditalienern. Auch in Israel wird seit langem ein Rassismus europäischer gegenüber nichteuropäischen Juden sowie der Juden insgesamt gegenüber arabischen Israelis thematisiert.

Der moderne Antisemitismus hatte dagegen zunehmend einen an sich universellen Charakter durch eine projektive Zuschreibung auf die Negativität des Kapitalverhältnisses überhaupt. Darin besteht sein komplementäres Verhältnis zu den vielfach ausdifferenzierten rassistischen Ideologien. In demselben Maße, wie die realen Kategorien des „abstrakten Reichtums“ verinnerlicht wurden und als Naturbedingungen erschienen, setzte die moderne antisemitische Ideologiebildung ein, die im Anschluss an die vormodernen christlichen Judenpogrome nunmehr „das Jüdische“ schlechthin verantwortlich machte für die Gewalt der gesellschaftlichen Realabstraktion und die damit verbundenen sozialen Leiden. Diese Projektion konnte zwar ebenfalls für immanente Konkurrenzverhältnisse mobilisiert werden, aber sie ging gleichzeitig aufs Ganze der gesellschaftlichen Konstitution; so gibt es etwa kein partikular-rassistisches, aber eben ein universell-antisemitisches Phantasma der Weltverschwörung. Die antisemitische Projektion machte die Juden als das nicht unterwertige, sondern bedrohlich überwertige „Andere“ zum Abstoßungsobjekt von Nationsbildungen und einer phantasmatisch-aggressiven Interpretation kapitalistischer Modernisierung über Europa hinaus. Gerade deshalb konnte sich der Judenhass im Zuge der Weltmarktentwicklung durch ganz verschiedene kulturelle Kontexte hindurch auch im kollektiven Unbewussten verankern.

Aufgrund dieser Geschichte ist das Verhältnis der jüdischen Staats- und Nationsbildung zum Kapitalismus objektiv und einschließlich der unbewussten Momente ein gebrochenes. Der Staat Israel gewinnt so einen Doppelcharakter. Er kann einerseits als Staat nur das Kapitalverhältnis reproduzieren wie jeder andere und dessen Widersprüche nach innen und außen durchlaufen; und andererseits repräsentiert er als „Jude unter den Staaten“ den immanenten Gegensatz zum antisemitischen Syndrom der Moderne, auch wenn die Juden selber in ihrer staatlichen Existenz eigentlich nur normal unter Normalen im Sinne kapitalistischer Subjektivität sein wollen. Ihre volle Durchschlagskraft hat diese Staatsbildung in ihrem Doppelcharakter erst durch den Holocaust gewonnen.

Der davon bestimmte weltgesellschaftliche Status Israels enthält verschiedene Aspekte, die nicht gleichrangig sind. So gehörte zur Gründungsgeschichte die Rolle der Kibbuzim, deren genossenschaftliche Form den emanzipatorischen Ideen im Kontext von sozialen Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geschuldet ist. In der seitherigen weltkapitalistischen Entwicklung konnte dieses Paradigma nicht standhalten; seine Transformation zu einer praktischen Kritik der Warenform auf der Ebene der gesellschaftlichen Synthesis ist ausgeblieben. Zweifellos sind die Kibbuzim in Israel verfallen und spielen heute keine Rolle mehr bzw. haben sich in Marktunternehmen aufgelöst. Weder ist aber dieser Verfall speziell der Entwicklung in Israel anzulasten noch hängt daran der Doppelcharakter dieses Staates. Von größerer Bedeutung für diesen Charakter ist Israel als stets offener Zufluchtsort für die vom globalen Antisemitismus verfolgten Juden. Dieser Aspekt bleibt bestehen, aber er wird von zwei Seiten her in Frage gestellt. Zum einen verwandeln die Selbstmordattentate, die zunehmenden Raketenüberfälle und überhaupt das Bewusstsein, von grundsätzlich feindlichen Kräften umgeben zu sein, die Zufluchtsstätte gleichzeitig in einen Ort der existentiellen Unsicherheit. Es wäre aber paradox, ausgerechnet diese Grundunsicherheit gegen den Doppelcharakter Israels ins Feld zu führen; im Gegenteil folgt daraus die Berechtigung und Notwendigkeit eines auch militärischen Vorgehens gegen diese Bedrohung.

Zum andern ist der permanente Konflikt mit einer innerisraelischen Verhärtung verbunden, in der nationalistische und ultra-orthodoxe Fanatiker Auftrieb bekommen. Für zugewanderte Juden mit linken und säkularen Ansprüchen kann diese Tendenz zur Zumutung werden; hinzu kommt eine soziale und ökonomische Unsicherheit im Hinblick auf die Kostenlast der Selbstbehauptung in einer feindlichen Umwelt, die sich im Zuge der Weltkrise verschärft. Wenn deswegen manchen jüdischen Menschen das Leben in Israel unsicherer erscheint als etwa in den USA oder in Westeuropa, verweist das auf den schon immer prekären Status dieses Staates, dementiert aber nicht grundsätzlich dessen Doppelcharakter, der ja gerade darin besteht, dass der Grund seiner Konstitution sich im Widerspruch zu seiner kapitalistischen Form befindet (also nicht allein in seiner prekären Funktion als Zufluchtsort besteht). Im übrigen kann sich die Situation auch in Westeuropa und anderswo schnell ändern, wenn weitere schwere Kriseneinbrüche die antisemitische Mordideologie abrufen; Angriffe auf Synagogen und Wohnungen von jüdischen Bürgern gibt es jetzt schon (z.B. in Frankreich).

Israels Doppelcharakter kann daher gar nicht aus pragmatischen Gründen einer empirischen Unsicherheit in Frage gestellt werden; er folgt aus dem Gegensatz zur materiellen Gewalt der antisemitischen Krisenideologie im Weltkapitalismus überhaupt und bleibt insofern bestehen, solange dieses Weltverhältnis besteht. Wenn sich dieses gesellschaftliche Verhältnis katastrophisch auflöst und die staatliche abstrakte Allgemeinheit überall zu „failed states“ mutiert, kann auch Israel davon nicht unberührt bleiben. Es ist möglich, dass Israel in der Weltkrise zerstört wird, sowohl von außen als auch von innen; das würde allerdings bedeuten, dass sein Doppelcharakter dem Krisenprozess nicht standhalten kann, keineswegs aber, dass er nicht an sich gegeben ist. Für einen möglichen Untergang in der allgemeinen Barbarisierung gibt es zwar leider gute Gründe; aber deswegen unvermittelt und vorrangig diesen Doppelcharakter zu negieren, liefe darauf hinaus, implizit den Standpunkt der Israelfeinde zu unterstützen, die das allgemeine Problem stellvertretend an der Existenz des Judenstaats dingfest machen wollen. Aus der Perspektive radikaler Kritik kann der drohende Zerfall in barbarische Verhältnisse nicht ausgerechnet zuerst und exemplarisch gegen den Doppelcharakter Israels geltend gemacht werden. Dieser Zusammenhang ist schon seit längerem von verschiedenen Seiten theoretisch und historisch dargestellt worden, und verstärkt in der krisenhaften globalen Polarisierung der letzten zehn Jahre; aber er wird immer wieder ausgeblendet, um stattdessen Israel identitär in diese Polarisierung einzuordnen.

Die positive und die negative Identifizierung Israels mit dem Weltkapital

Einerseits wird Israel positiv und eindimensional mit seinem Charakter als kapitalistischer Staat und als Bestandteil des Weltkapitals identifiziert, auch indem es Protektion im Kontext strategischer Interessenkonstellationen seitens der westlichen Kernstaaten erhält. Obwohl sich diese Protektion grundsätzlich nicht aus der Einsicht in den Doppelcharakter des jüdischen Staates speist, wird sie ideologisch von den bürgerlichen Eliten und Medien des Westens für die Legitimation des Weltkapitals instrumentalisiert, um in den Verlaufsformen der Weltkrise seit der 3. industriellen Revolution jegliche Kapitalismuskritik als per se schon antisemitisch zu denunzieren; was allerdings populistische Tendenzen der politischen und medialen Klasse nicht hindert, gleichzeitig bei Bedarf kaum verhüllt an den „unbewussten Judenhass“ und antisemitische Stereotype zu appellieren, um etwa Widersprüche der Krisenverwaltung akzeptabel zu machen. Die positive Identifikation Israels mit dem Weltkapital ging im letzten Jahrzehnt bis in den Teil der Linken hinein, der sich ursprünglich gerade aus der Einsicht in den Doppelcharakter dieses Staates heraus mit der israelischen Selbstbehauptung solidarisch erklären wollte, durch diese Identifikation aber die Dialektik des Verhältnisses verfehlt. In mehreren Schüben ging dieser Teil der Linken unter verschiedenen Labels zu einer abstrakt „prowestlichen“ Position über, im deutschsprachigen Raum unter dem (außerhalb seiner spezifischen Genese missverständlichen) Namen der sogenannten „Antideutschen“.

Andererseits wird Israel von Teilen der Linken und der globalisierungskritischen Bewegung ebenso eindimensional, aber negativ als Staat des Weltkapitals identifiziert und sein Doppelcharakter erst recht ausgeblendet, nur andersherum. Mit anderen Worten: Die als herrschend und unwiderruflich wahrgenommene ideologische Legitimation des Krisenkapitalismus, die dessen Kritik per se als antisemitisch ausgibt, erscheint umgekehrt als Gegenlegitimation, sich im Namen eines „Antikapitalismus“ grundsätzlich gegen Israel zu wenden und dessen bewaffnete Macht als integrales Moment der weltkapitalistischen militärischen Krisenverwaltung zu bestimmen. Eine ohnehin bereits verkürzte Kapitalismuskritik, die meist phänomenologisch reduziert bleibt, dockt so im Grunde genommen wie der politische und mediale Populismus oder sogar fast schon als dessen Bestandteil an den „unbewussten Judenhass“ und antisemitische Stereotype an.

Der Vorwurf des Antisemitismus wird dabei zurückgewiesen; aber nur deswegen, weil er bereits ausschließlich unter dem Aspekt erscheint, eine legitimatorische Affirmation der herrschenden Ordnung zu sein. Dass die Analyse und Kritik der Wirkmächtigkeit eines kollektiven antijüdischen Unbewussten und von Versatzstücken antisemitischer Ideologie in der politischen Linken und in sozialen Bewegungen auch und gerade aus der Perspektive einer radikalen Kritik des Kapitalfetischs möglich und notwendig ist, wird diskursiv nicht mehr zugelassen; zuletzt gedeckt durch den moralischen Affekt gegen die Kindermörder von Gaza, der selbst schon dem Syndrom einer Verdrängung des wirklichen Zusammenhangs angehört.

Die positive und die negative Identifikation Israels mit dem Weltkapital bestätigen sich wechselseitig. Der Nahost-Konflikt wird auf diese Weise in der Zuspitzung der kapitalistischen Weltkrise mehr denn je zum Stellvertreter-Konflikt, dem aber nicht mehr die Konstellation der Nachkriegsgeschichte seit 1945 zugrunde liegt. Die scheinbar festgefügten Lager der Weltgesellschaft haben sich im Krisenprozess weitgehend aufgelöst oder umgruppiert. Die Polarisierung ist politisch-ökonomisch diffus geworden, weil sich das globale warenproduzierende System selber in Zersetzung befindet. Deshalb werden die Gegensätze weniger politisch-ökonomisch als vielmehr kulturalistisch formuliert, ohne es wirklich zu sein; etwa in der Diktion eines Samuel Huntington, aber auch umgekehrt seitens eines postmodernen Islamismus.

Überhaupt liefert das postmoderne Denken gerade in dem Maße umso mehr die ideologische Matrix von Konfliktinterpretationen, wie sein wirklicher gesellschaftlicher Hintergrund in Gestalt der Finanzblasen-Ökonomie sich auflöst und die Weltkrise in eine neue Qualität eintritt. Da der postmoderne Durchgang in der Linken die Kritik der politischen Ökonomie fast gegenstandslos gemacht hat, virtualisiert sich auch der „Antikapitalismus“ zu einem diffusen und weitgehend begriffslosen Gebilde, das in vielfältiger Weise ideologisch anschlussfähig ist bzw. Ideologien der vergangenen Epoche als Retro-Versionen in teilweise bizarren Mischungen auflegt. Umso mehr wird der Nahost-Konflikt als Stellvertreter-Konflikt aufgeladen, weil er in der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) einen vermeintlich griffigen Anhaltspunkt zu bieten scheint, an dem sich die diffuse Polarisierung dingfest machen lässt.

In der veränderten Krisenkonstellation bildet die Konfrontation eines westlichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der globalen Krisenverwaltung mit einem sogenannten Terrorismus, der hauptsächlich in den Erscheinungen der islamistischen Barbarei gesehen wird, zwar einen zentralen Aspekt der Polarisierung innerhalb des sich zersetzenden Weltkapitals; dazwischen schieben sich aber auch andere „multipolare“ Gegensätze. Indem die Fokussierung auf den Nahost-Konflikt die destruktive Komplexität wieder auf eindeutige Identifikationen zu bringen scheint, rückt der Status von Israel fatalerweise erst recht in den Mittelpunkt. Dabei verschieben sich die Interpretationsmuster noch einmal, indem sie gewissermaßen auf die lokale Konfrontation eingeengt werden. Der Charakter des Stellvertreter-Konflikts kehrt sich um; er erscheint nicht mehr primär als Ausdruck eines übergeordneten weltkapitalistischen Zusammenhangs, der eben unübersichtlich geworden ist, sondern dieser Zusammenhang erscheint seinerseits als Ausdruck des unmittelbaren Konflikts Israels mit seinen Nachbarn bzw. wird in dessen Formen wahrgenommen, um sonst nicht mehr haltbare politische Identitäten zu retten und auf dieser Ebene der Unmittelbarkeit zu reformulieren und auszutragen.

Unmögliche Anforderungen einer Realparadoxie

Das erfordert auch eine zweite Einsicht, auf welcher Ebene des Bewusstseins diese erste Einsicht in den Doppelcharakter Israels überhaupt möglich ist. Als kapitalistischer Staat unterliegt Israel zwingend einer entsprechenden Staatsräson. In dieser kann sein historisch und weltgesellschaftlich bedingter Doppelcharakter jedoch nur sehr vermittelt erscheinen, wenn überhaupt. Für die Agenturen dieser Räson ist der Antisemitismus als konstitutive Bedingung zwar natürlich irgendwie bewusst; aber nur äußerlich, nicht als Moment einer kritisch-emanzipatorischen Kritik, die daher auch nicht erkenntnisleitend ihr Handeln bestimmen kann. Die begriffliche Erkenntnis des widersprüchlichen Status Israels kommt aus einer Reflexion, wie sie den Repräsentanten einer kapitalistischen Staatsmaschine kaum möglich ist und deshalb auch in Israel selbst auf die theoretische Sphäre beschränkt bleiben muss. Weder dort noch anderswo in der Welt gibt es eine gesellschaftliche Kraft, in deren Handeln diese Einsicht als solche eingegangen wäre. Um das möglich zu machen, müsste sich eine transnationale und eingriffsmächtige Bewegung konstituieren, deren praktisches Ziel eine Weltgesellschaft jenseits der modernen Fetischverhältnisse ist; davon sind wir weit entfernt.

So zerfällt der an sich gegebene historische und weltgesellschaftliche Doppelcharakter Israels in zwei gegensätzliche Bewusstseinsmomente. Für die Agenturen und Repräsentanzen Israels als Staat existiert praktisch nur die gewöhnliche kapitalistische Staatsräson mit allen Konsequenzen, die allerdings im Unterschied zu jeder anderen Staatsräson das antisemitische Syndrom als äußere Feindbestimmung vorfindet. Für die kritische Reflexion existiert dagegen nur die theoretische Einsicht in den Doppelcharakter Israels, die nicht in jener Staatsräson unmittelbar aufgehen kann, sondern diese ihrerseits als äußere Bedingung vorfindet. Es kommt also darauf an, diese widersprüchlichen und gegensätzlichen Momente, in denen der Status Israels für das jeweils unterschiedliche Bewusstsein erscheint, nicht durcheinander zu werfen.

Das bedeutet, dass hier ein Spannungsverhältnis besteht, das sich nicht identitär auflösen lässt. Weder ist jedes Handeln gemäß der israelischen Staatsräson per se schon im Namen des Kampfes gegen den globalen Antisemitismus unbesehen zu unterstützen noch kann dieses Handeln umgekehrt einfach unter seine kapitalistische Qualität subsumiert werden und damit per se schon deren Kritik verfallen. Das sind genau die extremen Punkte, an denen die kritische Einsicht kippt und entweder qua bloß identitärer Israel-Solidarität in die Identifikation mit dem Kapitalverhältnis selbst umschlägt oder qua Kritik am kapitalistischen israelischen Staatshandeln in eine „Israelkritik“ schlechthin, die sofort anschlussfähig für den „unbewussten Judenhass“ und antisemitische ideologische Zuordnungen wird.

Die kritische Einsicht in den Doppelcharakter Israels enthält das Moment, dass jede kapitalistische Staatsräson wiederum selber in sich widersprüchlich ist, einschließlich der Gefahr der Selbstzerstörung. Israel ist also auch von innen heraus gefährdet im Sinne seiner Bedeutung als Gegengewicht zum Antisemitismus und dessen Ursachen, indem es nämlich wie jeder Staat in sich jene schon angesprochenen, heute durchaus sichtbaren und verstärkt wirksamen autoritären, sozialdarwinistischen, rechtsradikalen, nationalistischen, militaristischen usw. Tendenzen entwickelt und unter den verschärften globalen Krisenbedingungen seine eigene Potenz der Barbarisierung hervorbringt. Eine kritisch-emanzipatorische Herangehensweise kann die Auseinandersetzung mit solchen unvermeidlichen Erscheinungen nicht aussparen, wenn das Potential der Gesellschaftskritik nicht von der Realparadoxie des Status Israels verschlungen werden soll, um diese in eine blinde Affirmation noch der übelsten kapitalistischen Zustände und Handlungsformen aufzulösen, bloß weil diese auch israelische sind. Damit ginge gerade die Begründung für die Solidarität mit Israel gegen den Antisemitismus verloren und damit auch die Einsicht in den Doppelcharakter dieses Staates.

Der Widerspruch kann aber auch genau andersherum einseitig und damit falsch aufgelöst werden. Wie der kritisch-emanzipatorische Ausgangspunkt erlischt und der Doppelcharakter Israels verfehlt wird, wenn alle Konsequenzen der kapitalistischen Daseinsbedingung dieses Staates einer unmittelbaren Affirmation unterliegen, so wird dieser Doppelcharakter erst recht verfehlt, wenn umgekehrt Israel ebenso unmittelbar dem Maßstab einer kritisch-emanzipatorischen Denk- und Handlungsweise genügen soll. Dann verwandelt sich die Realparadoxie in unmögliche Anforderungen an eine kapitalistische Staatsräson, die keine mehr sein soll, ohne dass die gesellschaftlich-historischen Bedingungen dafür überwunden wären. Bewusst oder unbewusst wird unterstellt, dass Israel nicht wie ein Staat, sondern wie eine Bewegung radikaler Kritik agieren müsse.

Die Solidarität mit Israel schlägt so in ihr Gegenteil um, indem ausgerechnet diesem Staat mehr als jedem anderen jedes gewöhnliche Staatshandeln im Feld der krisenhaften politisch-ökonomischen Weltverhältnisse angekreidet wird. Alle negativen kapitalistischen Erscheinungen Israels in sozialer, politischer und ideologischer Hinsicht erscheinen dann unter der Hand als ebenso viele Gründe gegen die Existenz dieses Staates, weil er den unmöglichen Anforderungen eines scheinheiligen kritisch-emanzipatorischen Gewissens nicht genügt.

Die abstrakte und bloß noch legitimatorisch beteuerte Solidarität mit Israel gegen den Antisemitismus wird so in jeder konkreten Konfrontation des Nahost-Konflikt zum Grund, den Bannstrahl gegen das wirkliche Israel zu richten. Dass etwa das israelische Staatshandeln in einer typischen Fehleinschätzung ursprünglich die Hamas gegen die damals noch dominierende Fatah aus taktischen Gründen gefördert hatte, gilt ebenso als grundsätzliche Schuld und verfällt der Anklage wie taktische Bündnisse mit der autoritären Türkei und überhaupt jede politische Verwicklung in die undurchsichtigen Verhältnisse des nahöstlichen Hexenkessels; ganz zu schweigen von den strategischen Bündnissen mit den USA und der westlich-kapitalistischen Welt. Während die seit langem antiisraelische Haltung eines Großteils der globalen Linken kaum als Bedingungsgrund anerkannt wird, denunziert das falsche kritische Gewissen die israelische Politik als durchgängig reaktionär und im Bunde mit allen autoritären Regimes, gestützt vom Weltkapital; ganz so, als dürfe die israelische Staatsräson ihre Selbstbehauptung nur in Verbindung mit den schwachen, um nicht zu sagen jämmerlichen Kräften einer verkürzten Kapitalismuskritik in der Region und in der ganzen Welt finden. Im Nahen Osten ist die marxistisch inspirierte Kritik weitgehend aufgerieben worden, und die modernisierungsideologischen laizistischen Strömungen waren schon in ihrer historischen Genese auch antisemitisch eingestellt (etwa die Organisationen der alten Baath-Partei in Syrien und im Irak). Der Staat Israel kann nicht im Ernst auf eine längst obsolete bürgerliche „Fortschrittlichkeit“ in der Region oder gar auf ein Handeln verpflichtet werden, das mit der ideologisch regressiven globalen Linken konform gehen soll.

Diese absurden Anforderungen spitzen sich zu, sobald es um militärische Interventionen geht. So wenig jedes militärische Agieren der israelischen Staatsmaschine per se blind als Ausdruck der Selbstbehauptung gegen den Antisemitismus gut zu heißen ist, so wenig kann es per se als Ausdruck repressiver und reaktionärer Politik negiert werden, wenn die Einsicht in den Doppelcharakter Israels überhaupt eine Bedeutung haben soll. Unabhängig von den konkreten Verhältnissen und deren Veränderung gelten dann israelische Militärschläge immer schon als eigentlich selbstzerstörerische Maßnahmen. Damit vollendet sich jene unmögliche Anforderung, die Israel auf ein Verhalten jenseits jeder Staatsräson verpflichten will und gerade dadurch wiederum selber den kritisch-emanzipatorischen Anspruch verliert, den es ausgerechnet an diesen Staat unmittelbar stellt.

Die Dialektik dieses falschen Anspruchs läuft ebenso auf eine Liquidierung der jüdischen Staatlichkeit hinaus wie bei den offenen Israelfeinden und Antisemiten, denn unter den realen Verhältnissen des Nahost-Konflikts in einer krisenkapitalistischen Welt kann die militärische Dimension der Selbstbehauptung gar nicht in bloßer Latenz gehalten werden. Indem die abstrakte Anerkennung des Existenzrechts Israels die konkrete Bedingung einer israelischen Staatsräson verleugnet, verwandelt sich die adjektivische Bestimmung der „kritischen Solidarität“ mit Israel in eine Leerformel und die spezifische Kritik an bestimmten kapitalistischen Erscheinungsformen in eine grundsätzliche „Israelkritik“, die von einer grundsätzlichen Israelfeindschaft nicht mehr zu unterscheiden ist und wie diese letztlich mit dem asymmetrischen moralischen Affekt legitimiert wird.

Die israelische Staatsräson in den Kriegen gegen Hamas und Hisbollah

Das ist ein entscheidender Unterschied zu den Ansprüchen der alten Fatah bzw. PLO, der auch nicht damit weggewischt werden kann, dass Israel durch frühere Fehleinschätzungen im Kontext seiner Staatsräson eigentlich der Verursacher dieser Entwicklung sei; womit übrigens wieder jene unmögliche Anforderung geltend gemacht wird und darüber hinaus sogar das alte antisemitische Stereotyp, dass die Juden selber schuld am Antisemitismus wären, bloß weil sie genauso defizitär handeln wie alle anderen auch. Die Gleichsetzung der neuen bewaffneten und islamistisch-antisemitisch munitionierten Machtgebilde Hisbollah und Hamas mit den Steine werfenden Jugendlichen der früheren Intifada in den besetzten Gebieten ist nicht nur kontrafaktisch, sondern auch bereits Ausdruck einer Wahrnehmungsverschiebung, von der die veränderten Machtverhältnisse in Palästina und im Libanon verharmlost oder sogar mit Sympathie betrachtet werden und die einem anderen Begründungszusammenhang in der neuen Qualität des Stellvertreter-Konflikts angehört.

Hamas und Hisbollah haben nicht nur in aller Offenheit die Vernichtung Israels zu ihrem obersten Ziel erklärt, an dem es niemals Abstriche geben könne, sondern sie haben sich unter Protektion des Iran auch für den „asymmetrischen Krieg“ aufgerüstet und diesen tatsächlich geführt. Damit wurde eine neue militärische Situation geschaffen, denn die leicht zu produzierenden Raketen primitiver Bauart, die auch durch die löchrigen Kontrollnetze geschmuggelt werden, konnten immer größere Teile Israels erreichen, einen gewissen Blutzoll fordern und die dortige Bevölkerung traumatisieren. Inzwischen werden diese Milizen vom Iran auch mit präziseren Waffen, Boden-Luft-Raketen etc. ausgerüstet. Außerdem haben sich Hisbollah und Hamas als bewaffnete Regimes in der jeweiligen sogenannten „Zivilgesellschaft“ eingegraben und die schwache Souveränität sowohl des Libanon als auch der palästinensischen Autonomiebehörde unter Abbas faktisch ausgehebelt. Auf dieser politisch-militärischen Grundlage können sie im Sinne ihres obersten Ziels taktisch operieren und einen langen Atem gewinnen, um bei allfälligen Einbrüchen der Verhältnisse, wie sie im Kontext der globalen Krisenschübe zu erwarten sind, ihrer Absicht der Vernichtung des Staates Israel näher zu kommen.

An diesem Punkt angelangt, musste sich die eigenständige Staatsräson Israels angesichts der erklärten bewaffneten Feindkonstellation an seinen Grenzen zwangsläufig militärisch manifestieren. Diese Konstellation hat nichts mehr mit der früheren Intifada in den besetzten Gebieten zu tun; und die militärische Intervention kann auch nicht mehr in derselben Weise kritisiert oder sogar unter für Israel selbstzerstörerische Kriegsverbrechen subsumiert werden wie etwa die Angriffe auf palästinensische Flüchtlingslager im Libanon während der 80er Jahre. Deshalb ist der Krieg gegen Hamas und Hisbollah auch nicht allein darauf zurückzuführen, dass rechtskonservative, nationalistische, „bellizistische“ und im übrigen unter Korruptionsverdacht stehende Parteien die Regierung stellen, wie nicht nur antiisraelische Linke suggerieren möchten. Jede israelische Regierung, auch eine linksdemokratisch geführte, gegen nationalistische Hardliner oder ultraorthodoxe Fanatiker eingestellte, hätte derselben Staatsräson nachkommen müssen, für die weder der Raketenbeschuss und die islamistische Aufrüstung an den Grenzen akzeptabel ist noch Hamas und Hisbollah anerkennungsfähig sein können.

Dann könnte Israel nämlich gleich das Postulat seiner Vernichtung als eine Position im Rahmen der allgemeinen Meinungsfreiheit und des Aushandelns anerkennen. Das ist auch der Grund, warum die israelische Friedensbewegung zusammengeschmolzen ist und die prinzipiellen Pazifisten sowie nur noch vereinzelte Linksintellektuelle in Israel, die gegen diesen Krieg Stellung genommen haben, als hätte sich nichts verändert, ihre weitgehende Isolierung beklagen. Sie überlassen der israelischen Rechten das Feld, wenn sie vor der veränderten Situation pazifistisch kapitulieren und einen unmöglichen Frieden mit Hamas und Hisbollah beschwören, die dazu schon aufgrund ihrer ideologischen Existenzbedingung gar nicht bereit sein können. Das heißt natürlich nicht, dass der Rechtsruck in Israel gutzuheißen wäre. Im Gegenteil ist diese Wendung als solche genauso zu kritisieren wie überall sonst, und in diesem Punkt kann den dagegen positionierten Linksintellektuellen selbstverständlich recht gegeben werden. Es ist aber etwas ganz anderes, wenn das militärische Vorgehen gegen Hamas fälschlich allein auf den politischen Rechtsruck zurückgeführt und dessen notwendige Kritik zum Vorwand genommen wird, jegliche israelische Militäraktion gegen die Hamas-Barbarei zu denunzieren. In Wirklichkeit wird eben diese Aktion als solche völlig zu Recht auch von der großen Mehrheit der innerisraelischen Kritiker dieser politischen Rechtswende mitgetragen. Es ist fatal, solche überwiegenden Stimmen aus dem linken und liberalen Spektrum Israels gar nicht mehr zu erwähnen, weil man eben auf jeden Fall Israels Militäraktion grundsätzlich verurteilen will und diese bequemerweise allein den Rechten zuschreibt.

Vermengt wurde diese Zuschreibung nachträglich auch mit der innerisraelischen Kritik an der Art der Kriegführung, wie sie teilweise von wehrpflichtigen Soldaten erhoben wurde. Dabei ging es um bestimmte Befehlsstrukturen und Vorgehensweisen; eine Kritik, wie sie ähnlich schon beim Feldzug gegen die Hisbollah geäußert wurde und einen Niederschlag in Untersuchungskommissionen fand. Öffentlich geäußerter Widerstand gegen blinden Gehorsam und rassistisch motivierte Gräueltaten, die in diesem Fall nicht aus den Kriegszielen selbst folgen, ist immer legitim. Wenn man solchen Kritiken von unmittelbar Beteiligten zustimmen kann, darf aber nicht verschwiegen werden, dass es sich dabei großenteils eben um eine Beurteilung des taktischen Vorgehens und um ein Aufdecken von militärisch nicht zu rechtfertigenden Maßnahmen handelte (wie es übrigens auf der Gegenseite nie möglich wäre), keineswegs um eine prinzipielle Verurteilung des Krieges gegen die islamistischen Machtgebilde überhaupt. Diese innerisraelische Auseinandersetzung außerhalb Israels zum Zeugnis für den illegitimen Charakter der Militäraktionen insgesamt zu machen, heißt sie verfälschen und ideologisch zu instrumentalisieren; wieder einmal nach dem Motto: Die Juden sagen es ja selber.

Dabei gibt es gute Gründe, warum auch die Mehrzahl der israelischen Linken im weitesten Sinne inzwischen Militäroperationen und deren Zielsetzung nicht mehr grundsätzlich ablehnt. Hatte nämlich die alte, „antiimperialistisch“ formulierte Absicht des palästinensischen Nationalismus und der arabischen Staatenwelt, die Juden „ins Meer zu treiben“, in Israel schon eine harte militärische Positionierung über alle politischen und ideologischen Lager hinweg formiert, so ist kaum verwunderlich, dass sich jetzt Ähnliches wiederholt. Diese ehemals im Kontext des „Antiimperialismus“ enthaltene Vernichtungsabsicht war in der globalen Linken aber noch heftig umstritten gewesen und später selbst von den Hardlinern aufgegeben worden; jetzt wird ihre Reformulierung seitens Hamas bzw. deren iranischem Protektor von den antiisraelisch Erregten stillschweigend hingenommen. Darin besteht das Wesen der veränderten Wahrnehmung.

Kein Staat der Welt würde eine solche Kräfteverschiebung in seiner Sichtweite dulden, solange er die Macht dazu hat. Wenn diese Verschiebung noch nicht eine kritische Masse erreicht hat, die den Feind in die Lage versetzt, sein erklärtes Ziel unmittelbar in die Tat umzusetzen, sondern die eigene Militärmacht mittelfristig überlegen bleibt, wäre dieser Sachverhalt in der Regel der Anlass, die jeweilige Feindregion rechtzeitig und rücksichtslos schlicht dem Erdboden gleich zu machen. Dafür ließen sich beliebige Beispiele aus der Modernisierungsgeschichte heranziehen, und oft mit geringerer Veranlassung. Solche Maßnahmen als an sich barbarisch zu kennzeichnen, hat nur das Recht, wer damit die gesellschaftlich-historische Konstitution als solche kritisiert und diese nicht stellvertretend an Israel anprangert. Erst jenseits davon, also jenseits einer Weltgesellschaft von Kapital und Staat, würde das Machtverhältnis einschließlich des Doppelcharakters Israels gegenstandslos werden.

Nun hat Israel seine Militärmaschine gar nicht mit dieser ultimativen Option eingesetzt, obwohl diese gegen die beiden handtuchschmalen Feindregionen technisch tatsächlich möglich wäre. Sieht man davon ab, könnte Israel in diesem begrenzten Raum bei Einsatz aller Mittel auch den „asymmetrischen Krieg“ gewinnen. Darin besteht ein militärischer Unterschied zu den Weltordnungskriegen des Krisenimperialismus, die unkontrollierbare Großräume unter Kontrolle halten wollen, in denen sie fast nur ihre überlegene Feuerkraft aus der Luft einsetzen können, während eine „asymmetrische Kriegführung“ am Boden unmöglich Quadratkilometer für Quadratkilometer aufzurollen ist, weil dafür weder die zahlenmäßige Stärke noch die Logistik hinreicht. In den engen Räumen an seinen Grenzen könnte Israel dagegen die Hisbollah- und Hamas-Milizen durchaus im Häuser- und Straßenkampf ausräuchern, zumal kein weiterer sozialökonomischer oder politischer Kontrollanspruch im Sinne eines übergeordneten systemischen Interesses jenseits der eigenen Staatsräson zwingend besteht. Allerdings wäre diese Option nicht nur mit ebenfalls hohen Opferzahlen der dortigen Bevölkerung verbunden, sondern auch mit hohen eigenen Verlusten.

Antiisraelische Weltmeinung und ideologische Zersetzung der Linken

Dabei fiel auch die Parteinahme einer Mehrheit der globalen Linken ins Gewicht. Man könnte meinen, dass die schon weitgehende Identifikation Israels mit dem Weltkapital und seiner globalen Krisenverwaltung sich hier zumindest in dem Sinne relativieren ließe, dass die Differenz zwischen dieser Zuordnung und den von Israel auf eigene Rechnung geführten Kriegen gegen lokale Feinde, die den festen Willen zu seiner Vernichtung als Staat haben, wenigstens aufscheinen würde. Das genaue Gegenteil war der Fall. Der alle sonstigen Konfliktbewertungen übertreffende Affekt gegen die Kindermörder von Gaza ließ schon ahnen, dass von Israel im eigenen Interesse geführte Militäraktionen gegen Gebilde wie Hamas und Hisbollah im Grunde genommen eine viel größere Wut hervorrufen als der krisenimperialistische Weltordnungskrieg. Hinter der moralischen Asymmetrie, die scheinbar die inhaltliche Bewertung in einem affektiv besetzten rein humanitären Gesichtspunkt verschwinden lässt, kommt aber alsbald die politische und, wenn man das sagen kann, die historisch-analytische Asymmetrie zum Vorschein, in der die Parteinahme klare ideologische Konturen gewinnt.

Für einen ethisch-moralischen Pazifismus, wie er in Israel und anderswo tatsächlich existiert, kann die Parteinahme gegen die israelische Staatsräson nur eine quantitative „Unverhältnismäßigkeit“ in der militärischen Rüstung bzw. bei deren Einsatz geltend machen und einen friedlichen Ausgleich beschwören. Dieses verständliche Verlangen muss den veränderten Charakter der Konfrontation ausblenden. Die damit verbundene emotionale Verzweiflung wurde aber gerade in den Teilen der Linken, die von einem keineswegs pazifistischen Motiv getrieben werden, in eine ganz andere Wut transformiert, die der Umkehrung des weltkapitalistischen Stellvertreter-Konflikts bzw. seiner Verengung auf die lokale Konfrontation geschuldet ist. Daraus resultiert eine Differenzierung in der Kriegsgegnerschaft, die von der nur scheinbaren affektiven Identität verdeckt wird; nämlich zwischen einem auf die lokale Situation bezogenen Friedens- und Ausgleichsprogramm einerseits, das aus einem vergangenen Bedingungszusammenhang stammt und aktuell unwahr geworden ist, und einem militanten Programm israelfeindlicher Hardliner andererseits, das die lokale Situation zur Tragfläche eines „Antikapitalismus“ macht, in dem sich die ideologische Zersetzung der Linken widerspiegelt.

Es ist frappierend, mit welcher Geschwindigkeit sich unter den linken Gegnern der israelischen Militärintervention diese Hardliner-Fraktion quer zu allen bisherigen Strömungen und Lagern konstituiert hat und innerhalb weniger Wochen alle Hemmungen gegenüber bislang noch eher als inakzeptabel empfundenen Vergleichen oder Gleichsetzungen Israels mit den Akteuren von Völkermorden, mit sämtlichen großimperialen Kriegsherren, ja sogar mit dem NS-Staat fallen gelassen wurden. In solcher Intensität kannte man das zuvor nur von Rechtsradikalen und Holocaust-Leugnern. Die Maßlosigkeit, mit der Israel anlässlich des Grenzkriegs gegen die Hamas geradezu zum Feind der Menschheit erklärt wird, schlägt sich in dem Verlangen nach einem Kriegsverbrecher-Tribunal gegen die israelische Regierung und die Offiziere der israelischen Armee ebenso nieder wie in einem Aufruf von Naomi Klein, einer Ikone der globalisierungskritischen Bewegung, israelische Waren weltweit zu boykottieren, der die Nazi-Parole „Kauft nicht beim Juden“ unverblümt neu formuliert und von einer Riege namhafter linker Professoren im britischen „Guardian“ unterstützt wurde.

Der „unbewusste Judenhass“ als Grundlage verbindet sich mit den Momenten antisemitischer Stereotype in der verkürzten und diffus gewordenen Gesellschaftskritik zu einem „Antikapitalismus“, der den Judenstaat nicht mehr bloß als Bestandteil des Weltkapitals identifiziert, sondern endgültig in die Stellvertreter-Position für das Kapitalverhältnis überhaupt rückt und diese Projektion an der unmittelbaren lokalen Konfrontation abarbeitet. Für dieses nicht mehr hilflose Bewusstsein ist die Feindschaft gegen Israel zum zeitgemäßen Fokus aller gesellschaftlichen Leidensimpulse geronnen. Spätestens seit dem Gaza-Krieg wird nicht mehr bloß der Doppelcharakter Israels verfehlt, sondern unmissverständlich der historische Antisemitismus von sich selbst als links verstehenden Leuten auf die Höhe des 21. Jahrhunderts gehoben. Und die angebliche „kritische Solidarität“ mit Israel, die diesen Umschlag nicht wahrhaben will, wird zur Ressource einer solchen antisemitischen Formierung, indem sie das Adjektiv „kritisch“ zur Substanz ihrer Bewertung macht und in eine affektiv-moralische Aburteilung einstimmt, die längst ganz andere Beweggründe flankiert.

Eine „dritte Position“, die keine ist

Innerhalb der Linken wendet sich diese bloß abwiegelnde Position auch gegen die „kommunikative Gewalt“ aufeinander einprügelnder „Extreme“ der Konfliktbewertung. Man möchte diese Konfrontation am liebsten ausblenden oder wegzappen, wie angeblich zart besaitete Kreaturen des Mittelschichtsbewusstseins die schlimmen Nachrichten nicht mehr anschauen wollen, um sich in der heilen Welt eines Habermasianischen „herrschaftsfreien Diskurses“ wenigstens unter linken Szene-Figuren wohlfühlen zu können und einander „Argumente zu schenken“, die den Gegenstand überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Diese Haltung ist umso doppelbödiger, als sie jene antiisraelische Parteinahme durchaus transportiert, die eigentlich keine sein will, und das inhaltliche Problem in einer formalen wechselseitigen Anerkennung von bloßen Meinungsäußerungen ersäuft, um sich dabei von hinten durch die Brust ins Auge durchsetzen zu können. Da ist doch der ehrliche Schusswaffengebrauch vorzuziehen.

Eine solche Pseudo-Vermittlung vergisst, dass die vermittelnde Reflexion keine Emulsion von Wasser und Öl oder keine scheinhafte Neutralität in Bezug auf einender ausschließende Extreme sein kann, sondern den abstrakten politischen, moralischen oder überhaupt äußerlichen Gegensatz transzendieren muss, um auf einer anderen Ebene zu einer umso schärferen Polarisierung zu gelangen. Das gilt ganz besonders für den Anspruch einer „dritten Position“ hinsichtlich der krisenkapitalistisch immanenten globalen Gegensätze seit Beginn der neuen Weltordnungskriege. In der Auseinandersetzung der Linken um die gesamtimperialen Militärinterventionen der globalen Krisenverwaltung unter Führung der USA war dieser Anspruch schon seit den Jugoslawien-Kriegen der 90er Jahre formuliert worden. Er bezog sich jedoch auf eine ganz andere Argumentation, als sie jetzt von etlichen linken Moderatoren mit ihrer pseudo-vermittelnden Attitude hinsichtlich des Gaza-Konflikts geltend gemacht wird.

Die ursprüngliche Argumentation ging davon aus, auf der Ebene des weltgesellschaftlichen Widerspruchs die Polarisierung zwischen einer abstrakt „prowestlichen“, den globalen Krisenkapitalismus zumindest als kleineres Übel affirmierenden Position einerseits und einer „antiimperialistischen“ Parteinahme für die Objekte der Interventionskriege wie zuerst den serbischen Nationalismus und dann die islamistische Barbarei andererseits grundsätzlich zurückzuweisen. Die Begründung bestand darin, dass es sich dabei um zwei Seiten derselben Medaille handelt; nämlich um einen Widerspruch innerhalb des globalen Krisenkapitalismus, der auf beiden Seiten nur die Auflösungsprozesse des Weltsystems repräsentiert und deshalb nicht mehr nach einer Seite für eine emanzipatorische Perspektive besetzt werden kann wie noch der 2. Weltkrieg gegen das deutsche NS-Regime oder andererseits der Vietnam-Krieg in den 60er Jahren.

Den Hintergrund bildete die krisentheoretische These, dass die historische Akkumulationsbewegung des Kapitals in der 3. industriellen Revolution an eine absolute innere Schranke stößt. Deshalb werden sowohl die Perspektive einer Fortsetzung der wie immer zu reformierenden kapitalistischen „Zivilisation“ des Westens als auch die Perspektive einer eigenständigen staatskapitalistischen „Entwicklung“ in der Peripherie des Weltmarkts historisch gegenstandslos. Auf beiden Seiten kommt die gewaltsame, barbarische Grundlage des modernen warenproduzierenden Patriarchats zum Vorschein. Die Schlussfolgerung war, dass sich zunächst in der Sphäre der theoretischen Öffentlichkeit eine den immanenten Widerspruch transzendierende Gegenposition konstituieren muss, die eine radikale Kritik des kapitalistischen Formzusammenhangs nicht mehr im Namen vorläufiger Dringlichkeiten zurückstellt, sondern direkt zum Ausgangspunkt einer analytisch begründeten Konfliktbewertung macht, auch wenn sie aktuell keine praktische Eingriffsmacht entfalten kann.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Was nun aber in indirekter Anlehnung an diese Argumentation anlässlich des Gaza-Konflikts als angebliche „dritte Position“ daherkommt, verdreht die Begründung bis zur Unkenntlichkeit, und zwar in doppelter Weise. Zum einen wird sozusagen methodisch das Problem verfehlt, indem man sich in der Konfliktbewertung bloß agnostisch und gut postmodern relativistisch verhält. Eine wirkliche Gegenposition zur immanenten Polarisierung kann diese aber nicht relativieren, sondern muss sie eben durch einen übergeordneten Gesichtspunkt transzendieren. Das Resultat kann nicht darin bestehen, dass man beiden Seiten irgendwie eine relative Berechtigung zugesteht, sondern dass sie gleichermaßen von einem anderen Standpunkt aus bekämpft und überwunden werden. Das gilt eben nicht nur für die Weltordnungskrieger, sondern auch für deren islamistische und sonstige Gegner. Deshalb war auch nicht von einer relativistischen „dritten Position“ die Rede, sondern von einer „dritten Kraft“, die eine zur offiziellen Konfrontation quer liegende Front zu eröffnen hätte. Das ist so ziemlich das Gegenteil einer bloß moderierenden Haltung.

Zum andern entstellt die falsche „dritte Position“ den ursprünglichen Argumentationszusammenhang auch inhaltlich völlig, indem sie die Kritik an einer Parteinahme in der Polarisierung zwischen dem globalen Krisenkapitalismus und dessen eigenen Zerfallsprodukten unmittelbar auf die Polarisierung zwischen Israel und Hamas bzw. Hisbollah sowie deren Protektor Iran überträgt. Damit wird die Einsicht in den Doppelcharakter Israels, wie sie von Anfang an Bestandteil jener kritischen Analyse war, die den falschen Gegensatz auf der Ebene des Weltkapitals transzendieren sollte, sozusagen mit einer beiläufigen Handbewegung gelöscht. Israel erscheint einfach auf einer Seite des barbarischen Zerfalls der kapitalistischen „Zivilisation“ bzw. wird der darin angelegten immanenten Polarisierung unmittelbar subsumiert. Damit verliert die so geltend gemachte „dritte Position“ ihre kritisch-analytische Kraft und wird mit der vordergründig negierten falschen, immanenten Polarisierung in dem Punkt identisch, dass sie genau wie deren Vertreter Israel nur noch als Bestandteil oder Repräsentanz des Weltkapitals identifiziert. Notwendige Folge ist, dass der weltweite Antisemitismus als tief sitzende und bis ins Unbewusste reichende Krisenideologie aus der Konstitution des jüdischen Staates weggekürzt wird.

Damit werden auch die inneren Widersprüche Israels nur noch eindimensional wahrgenommen und den gewöhnlichen kapitalistischen Verhältnissen gleichgesetzt, sodass deren Vermittlung mit dem antisemitischen Syndrom verschwindet und dieses nur noch äußerlich und abstrakt abgewehrt wird; jedenfalls soweit man selber noch nicht zu offen antisemitischen Interpretationen übergegangen ist. Das zeigt sich etwa daran, dass der in Israel selbst thematisierte Rassismus gegenüber nichteuropäischen Juden und vor allem gegenüber arabischen Israelis oder den benachbarten Palästinensern gern und sozusagen mit schiefem Grinsen verwechselt wird mit der „ethnischen“ Selbstbehauptung Israels als Judenstaat. Diese konstitutive Bedingung der Staatsgründung erscheint nur noch als ein Ethno-Nationalismus unter vielen, der auf der allgemeinen Ebene solcher Ideologisierungen zu kritisieren wäre.

Verbunden ist damit oft die Forderung, Israel solle die „ethnische“ Selbstlegitimation aufgeben, seine Staatlichkeit nur noch als abstrakte politische Allgemeinheit begründen und womöglich die Nachkommen der ehemaligen palästinensischen Flüchtlinge, die auf die Nachbarstaaten verteilt in künstlichen Ghettos gehalten werden, „zurückkehren“ lassen und als stimmberechtigte Staatsbürger anerkennen. Auf diese Weise wären natürlich die Juden eine Minderheit in Israel, was geradezu hämisch als nun einmal unvermeidliche Folge einer demokratischen Legitimation deklariert wird. Dass die „ethnische“ Konstitution Israels wie die Staatsgründung überhaupt eine vom globalen Antisemitismus aufgezwungene ist und dass sich Juden aus vielen Ländern, die dort eigentlich ein längst säkulares und nicht-ethnisches Selbstverständnis entwickelt hatten, von ihren eigenen Mitbürgern zum ethnischen, „rassischen“ oder religiösen Fremdkörper gestempelt wurden und deshalb Israel als ihren Staat verstehen mussten, wird ausgeblendet und so die konstitutive Bedingung auf den Kopf gestellt. Die Juden in ihrer spezifisch jüdischen Staatlichkeit erscheinen so unvermittelt als besonders schlimme Finger eines „rassischen“ Nationalismus bzw. als Ethno-Freaks, die auf eine Stufe zu stellen wären etwa mit dem kulturalistischen Nationalismus und mit tribalistischen Regimes in aller Welt als Zerfallsprodukten der Weltkrise oder gar mit der Bluts- und Abstammungsbegründung deutscher Staatlichkeit. Die Rabulistik solcher Argumentationen ist so offensichtlich wie ihr antisemitischer Gehalt. Für eine kritisch-historische Analyse dagegen ist der jüdische Charakter Israels als historisches und weltgesellschaftliches Resultat unabdingbar, solange diese Welt eine kapitalistische ist, während die Kritik an rassistischen Affekten europäisch-“weißer“ Juden oder ultraorthodoxer Fanatiker gegenüber ihren Mitbürgern auf einem anderen Blatt steht und innerhalb Israels genauso zu unterstützen ist wie anderswo.

Ebenso eindimensional und den Doppelcharakter des Judenstaats negierend verfährt die pseudo-vermittelnde „dritte Position“ hinsichtlich der äußeren Widersprüche Israels. Dessen Selbstbehauptung einschließlich militärischer Interventionen, deren Vermittlung mit dem globalen Antisemitismus verschwindet, wird abstrakt gleichgesetzt mit dem Postulat von Hamas und Hisbollah, den Judenstaat von der Landkarte zu tilgen und sich in diesem Sinne für den „asymmetrischen Krieg“ zu rüsten. Die inhaltliche Verzerrung des historischen Zusammenhangs verbindet sich dabei mit der relativistischen Methode: Beide Seiten wären irgendwie gleichermaßen zu verurteilen, weil identisch in ihrem Charakter als Krisenprodukte des Weltkapitals, oder sie hätten andererseits irgendwie gleichermaßen ihr „Recht“ auf der Ebene des lokalen Konflikts. Der postmoderne Relativismus überführt sich hier besonders drastisch seiner Absurdität, denn diese Bewertung sagt nur, dass Israel ein bisschen weniger existieren und Hamas ein bisschen weniger Israels Vernichtung anstreben soll. Genausogut könnte man verlangen, dass der Kapitalismus ein bisschen weniger kapitalistisch, der Antisemitismus ein bisschen weniger antisemitisch und die Feliden ein bisschen weniger fleischfressend sein sollen.

Weil diese Absurdität theoretisch-analytisch und argumentativ nicht zu bewältigen ist, flüchten sich ihre Vertreter folgerichtig in den moralischen Affekt gegen die Kindermörder von Gaza und in eine die kritische Reflexion plattwalzende „herzhafte“ Emotionalität, die den „unbewussten Judenhass“ mobilisiert und damit aber auch das Dementi ihrer unwahren „Neutralität“ gleich mitliefert. Da die so formulierte „dritte Position“ ihre angeblich vermittelnde Haltung auf die abstrakte Einzelheit des lokalen Konflikts beschränkt, läuft sie politisch auf die Schlussfolgerung hinaus, dass Israel Hamas und Hisbollah als „Faktizität“ anerkennen und in ihren jeweiligen Territorien gewähren lassen müsse. Damit enthüllt sie sich als nicht nur affektiv-moralische, sondern auch als ordinär politische und letztlich militärische Parteinahme gegen Israel. Eine nicht-relativistische Transzendierung kann gar nicht auf der Ebene der lokalen Einzelheit stattfinden, schon gar nicht dieser, sondern nur auf der Ebene der weltgesellschaftlichen Polarisierung. Wenn aber in diesem Sinne einzig die Kritik der kapitalistischen Fetisch-Konstitution als solcher das Maß der Konfliktbewertung ist, dann muss in diese der historische und ideologische Bedingungszusammenhang eingehen, also auch die Einsicht in den Doppelcharakter Israels. Schon allein aus diesem Grund verbietet sich eine äußerliche Pseudo-Neutralität in den Konflikten des Judenstaats mit Hamas und Hisbollah, die ja auch faktisch nicht haltbar ist.

Ebenso wie bei der Differenz zwischen rassistischen Äußerungen und dem jüdischen Charakter Israels gilt es einen grundsätzlichen Unterschied zu machen zwischen einem selber religionsfanatischen bzw. nationalistischen Expansionsdrang etwa der Siedlerbewegung, die für Israel auch zu einer schweren inneren Belastung geworden ist, und der Konfrontation mit den neuen, antisemitisch aufgeladenen islamistischen Machtgebilden an den Staatsgrenzen. Wie der innere Rassismus und mit diesem verbunden hat sich auch die „großisraelisch“-nationalistische Siedlerbewegung, die sogar mittels Wohnraumpolitik keineswegs nationalistisch gesinnte israelische Familien quasi zwangsrekrutiert, auf der gewöhnlichen Ebene kapitalistischer Konstitution entwickelt. Davon wird aber der Doppelcharakter Israels nicht berührt. Hier einen Kausalzusammenhang mit dem Aufkommen von Hamas und Hisbollah herzustellen und diese Mächte zu legitimieren, ist aber nicht nur faktisch falsch, weil es im Libanon keine jüdischen Siedler gibt und die Siedlungen in Gaza sogar aufgegeben wurden. Vielmehr kommt dabei abermals die alte antisemitische Denkfigur zum Ausdruck, dass die Juden letztlich selber schuld seien am Judenhass, weil sie nicht die besseren Menschen sind und es bei ihnen genau solche Arschlöcher gibt wie anderswo.

Entscheidend für eine Bewertung der Grenzkriege Israels gegen seine existentiellen Feinde ist deren Charakter im Kontext der veränderten regionalen Situation und die Einbettung des Konflikts in eine ideologische weltgesellschaftliche Stellvertreter-Funktion. Indem die schwache, relativistische „dritte Position“ in beiden Fällen und besonders deutlich im Gaza-Krieg sowohl diesen Charakter als auch jenen Zusammenhang verleugnet, macht sie sich trotz gegenteiliger Behauptungen gemein mit dem weltweiten Antisemitismus, dessen Äußerungen in den Manifestationen der Kriegsgegner sie ja keineswegs zufällig duldet oder übergeht. Deshalb will sie auch nicht wahrhaben, dass die Selbstbehauptung Israels quer zu den Fronten des kapitalistischen Weltordnungskriegs liegt, obwohl sich dieser Sachverhalt immer deutlicher abzeichnet.

Die Ablehnung des Weltordnungskriegs gegen den Irak war auch deshalb richtig, weil damit erst der relative Aufstieg des Iran zur politisch-militärischen Regionalmacht und die Verschiebung der Konstellation an den Grenzen Israels möglich wurde. Diese Einsicht wird von den prowestlich umgefallenen Linken wie hierzulande den „Antideutschen“ beharrlich verweigert, obwohl sich ihre Einschätzungen von 2003 restlos blamiert haben. Vor diesem Hintergrund wird auch das Auseinandertreten der Interessen der USA bzw. Westeuropas im Kontext des Weltordnungskriegs einerseits und des israelischen Selbstbehauptungs-Interesses andererseits nicht auf sich warten lassen. Die positive oder negative Identifikation Israels mit dem Weltkapital beginnt sich faktisch zu dementieren und dürfte die einschlägigen Ideologien in Erklärungsnot bringen.

Schuld und Sühne oder historisch vermittelte radikale Kritik?

Diese Erscheinung wird selbstverständlich auf ein spezifisch deutsches Schuldbewusstsein zurückgeführt. Eine sich besonders raffiniert gebende Argumentation versucht nun den vermuteten Zusammenhang und damit die Shoa zu instrumentalisieren, um daraus erst recht eine Parteinahme gegen Israel zu destillieren. Wie der Mond bei Christian Morgenstern figuriert dabei die Erinnerung an den Holocaust und der Bezug auf den Antisemitismus überhaupt in der aktuellen Konfliktbewertung als „spezifisch deutscher Gegenstand“. Soweit es deshalb in der deutschen Linken auch proisraelische Stellungnahmen gibt, gelten sie abwertend als Ausdruck eines „linksdeutschen“ Schuldkomplexes. Geradezu mitleidig wird der proisraelisch oder auch nur vorsichtig zurückhaltend auftretenden Minorität der deutschen Linken etwa von italienischen, französischen oder lateinamerikanischen Vertretern eines israelfeindlichen „Antikapitalismus“ attestiert, sie sei eben noch immer von anachronistischen Schuldgefühlen gebeutelt und sollte endlich mit der ewigen Sühnerei Schluss machen, um die Juden als kriegsverbrecherisches Tätervolk zu entdecken, Gaza als riesiges Konzentrationslager und den Krieg gegen die Hamas als Holocaust an unschuldigen Palästinensern. Diese Zuschreibung spricht nicht nur einem Martin Walser aus dem Herzen, der aus selbigem schon lange keine Mördergrube mehr macht; sie durfte auch von dem syrischen Diktator Assad in einem „Spiegel“-Interview den Deutschen insgesamt wohlwollend nahe gelegt werden.

Eins zu eins übernommen wird diese Analogie in der deutschen Linken nur, soweit sie schon keine mehr ist; nämlich von den Hardlinern jenes offen antisemitischen „Antikapitalismus“, der sich von der Gesinnungsgenossenschaft in anderen Ländern bestätigt fühlt. Dagegen kommt eine verwandte Denkfigur bei anderen „israelkritischen“ Teilen der Linken auf eigentümlich verbogene Weise daher. Zwar wird dabei nicht Israel umstandslos mit dem NS-Regime gleichgesetzt, aber umgekehrt seinen lokalen Feinden in Gestalt von Hamas und Hisbollah ein gewisser Bonus hinsichtlich des nationalsozialistischen Holocaust attestiert. Das Argument lautet, diese und überhaupt die arabisch-islamistischen Israelfeinde hätten ja immerhin nicht jenes Menschheitsverbrechen begangen, und deshalb dürfe man sie dafür auch nicht indirekt verantwortlich machen oder sie in diesen Zusammenhang einordnen. Gerade die Palästinenser müssten quasi die deutsche Schuld ausbaden. Die Deutschen sollten also mit ihrer eigenen Schuld umgehen, statt diese nun stellvertretend an den Palästinensern abzureagieren. Mit der antisemitischen Hardcore-Version berührt sich diese Argumentationsfigur insofern, als darin ausgesprochen oder unausgesprochen der Gedanke enthalten ist, die Juden als ehemalige Opfer hätten sich nun eben ihrerseits in kindermörderische Täter verwandelt.

Dabei werden allerdings der weltweite, in ganz unterschiedliche Kontexte eingeschriebene „unbewusste Judenhass“, die daraus hervorgehenden und damit zusammenhängenden antisemitischen Ideologiebildungen sowie die entsprechend aufgeladenen Konflikte sowohl im Nahen Osten als auch hinsichtlich der aktuellen weltkapitalistischen Krisensituation ausgeblendet, um das Problem sorgfältig auf den spezifisch deutschen Zusammenhang von Schuld und Sühne einzugrenzen. Auf diese Weise erscheint die mörderische Qualität des Antisemitismus in einem hauptsächlich vergangenheitsbezogenen Licht und wird nur mit einer etwas anderen Akzentuierung als bei Ernst Nolte „historisiert“, während alle gegenwärtigen Erscheinungsformen dieses Syndroms eher einer milden Beurteilung unterliegen oder außerhalb Deutschlands als geradezu unwesentlich gelten. So aber wird kein Schuh daraus. Es geht überhaupt nicht in einem Verständnis bürgerlicher Moral um Schuld und Sühne allein, sondern um eine radikale Kritik der konstitutiven objektiven Bedingungen und der subjektiven (unbewussten wie ideologischen) Verarbeitungsweisen, aus denen heraus einmal Auschwitz möglich wurde. Die deutsche Schuld und deren Abrechnung kann nicht von dieser radikalen Kritik getrennt werden, wenn man nicht bei einer demokratischen „Vergangenheitsbewältigung“ und einem billigen Gedenktourismus landen will.

Soll also Adornos Diktum ernst genommen werden, alles zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederhole, so ergibt sich daraus eine doppelte Aufgabe. Zum einen ist es notwendig, das Weiterwirken des antisemitischen Syndroms in der deutschen demokratischen Weltmarktgesellschaft zu analysieren, seine veränderten Erscheinungsformen nach, trotz und sogar wegen Auschwitz aufzudecken und nicht zuletzt zu untersuchen, was sich in dieser Hinsicht unter dem Eindruck der neuen Weltkrise zusammenbraut; in der BRD und Österreich aufgrund der Geschichte mit anderen Akzentuierungen als in anderen Ländern. Das ist nicht nur das Gegenteil einer salbungsvollen und selbstgerechten bürgerlichen „Vergangenheitsbewältigung“, sondern dazu gehört gerade die Thematisierung des Bewusstseins, mit dem auch hierzulande der Nahost-Konflikt wahrgenommen wird und in eine neue Stellvertreterposition bei der affektiven und ideologischen Verarbeitung der krisenkapitalistischen Leidenserfahrung rückt.

Dabei erweist sich die Doppelbödigkeit und geradezu die Unwahrheit der oben skizzierten Argumentationsfigur. Denn zum andern kann sich eine Auseinandersetzung mit dem antisemitischen Syndrom, die dieses nicht steril „historisiert“, unter den Bedingungen der Globalisierung und der neuen Weltkrise keinesfalls auf den spezifisch deutschen Kontext beschränken. Auch das macht den Unterschied von radikaler Kritik und bürgerlich-moralischer „Vergangenheitsbewältigung“ aus. Eine kritische Gegenwartsbewältigung muss den globalen Charakter von „unbewusstem Judenhass“ und neuen antisemitischen Ideologiebildungen einbeziehen. Dass sich Auschwitz nicht mechanisch wiederholt, heißt ja noch lange nicht, dass das Denken, das dahin geführt hat, nicht auch anderswo auf anderer Grundlage und in einer anderen kulturell-ideologischen Konfiguration ausgebrütet werden könnte, gerade weil es sich nicht auf Deutschland und Mitteleuropa eingrenzen lässt. Es gilt also, die Auseinandersetzung mit dem spezifisch deutschen Weiterwirken dieses Syndroms mit der Kritik und Analyse seines Auftauchens in anderen Kontexten zu verbinden.

Hier hat eine Interpretation großen Schaden angerichtet, die von Enzensberger bis zu den „Antideutschen“ überall nur die „Wiedergänger Hitlers“ entdecken wollte. Ahmadinedschad ist so wenig ein Wiedergänger Hitlers wie Saddam Hussein, der Iran des beginnenden 21. Jahrhunderts ist nicht das Deutschland der Weltwirtschaftskrise und der Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen ist kein „Umma-Sozialismus“ analog zum NS. Gerade an solchen plumpen Gleichsetzungen, die auf einer schlechten identitätslogischen Abstraktion beruhen und deren Vertreter bloß ein Sammelsurium von begrifflich-analytisch unvermittelten empirischen Scheinbelegen zusammentragen, konnte sich jene ihrerseits falsch historisierende Argumentationsfigur mästen, die dann umgekehrt ausgerechnet Israel mit dem NS gleichsetzt oder wenigstens mit Berufung auf das deutsche Menschheitsverbrechen das spezifische antisemitische Syndrom im Nahen Osten oder in anderen Weltregionen verharmlost.

Denn um eine Verharmlosung handelt es sich, wenn in dieser Hinsicht eine Art Unschuldsvermutung in Bezug auf die Regimes von Ahmadinedschad, Hamas und Hisbollah ausgesprochen wird. Der Antisemitismus hat hier im Kontext der Globalisierung und der postmodernen ideologischen „Religionismen“ (Roswitha Scholz) ein eigenständiges Amalgam ausgebildet. Dass dieses sich auf die jüdische Staatlichkeit Israels mit einem kulturell-“religionistischen“ Abstoßungsaffekt konzentriert statt auf eine pseudo-“naturwissenschaftliche“ Rassenkunde, macht ja gerade die Spezifik seiner Vernichtungsideologie aus, die im übrigen mit der Erklärung des aktuellen Kriseneinbruchs aus einer finanzkapitalistischen jüdischen Weltverschwörung, wie sie Ahmadinedschad formuliert hat, auch wieder an das klassische europäische Muster und dessen weltweite Verbreitung anschließt. Auch das wird von den historischen Relativisten verharmlost, obwohl es offensichtlich und dokumentarisch belegt ist.

Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und ihrem Weiterwirken unter veränderten Bedingungen ist also zwar analytisch zu trennen von der Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen eines postmodernen Antisemitismus als kapitalistischer Krisenideologie in anderen kulturell-historischen Kontexten wie im Nahen Osten, aber diese verschiedenen Manifestationen sind gleichzeitig als Bestandteile eines globalen Gesamtsyndroms und in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander hinsichtlich des nahöstlichen Stellvertreter-Konflikts zu bestimmen. Jene verharmlosende Unschuldsvermutung dagegen macht Deutschland genauso zum Nabel der Welt wie ihr Gegenpart, nur eben wieder andersherum.

Das Resultat ist ein anderes, als man vorgibt. Denn die treuherzig beschworene historische Unschuld der Palästinenser und der islamistischen Regimes ignoriert nicht nur deren Charakter; sie verweist auch weniger auf die historische Schuld Deutschlands, sondern vielmehr auf eine aktuelle Schuld der israelischen Selbstbehauptung gegen diese seine staatliche Vernichtung proklamierenden Regimes. Die direkte oder indirekte Bestimmung der Juden als kindermörderisches „Tätervolk“ rückt nicht die deutsche historische Schuld in den Mittelpunkt, sondern relativiert diese gerade auf eine ziemlich unanständige Weise. Genau in diesem Sinne bezieht sich auch der offen antisemitische Hardcore-“Antikapitalismus“ auf den Stellenwert des Holocaust.

Eine besonders bizarre Wendung nimmt die hier zum Gegenstand gemachte Argumentationsfigur, wenn damit die jüdische Staatsgründung hinsichtlich ihrer geographischen Lage mit ebenso treuherzigem Augenaufschlag problematisiert wird. Der iranische Präsident Ahmadinedschad hat bekanntlich nicht nur den Holocaust geleugnet, sondern auch noch nachgelegt: Wenn es schon ein deutsches Verbrechen an den Juden gegeben haben sollte, was er nicht glaubt, dann müsste wenigstens der Staat Israel als adäquate Sühne nach Deutschland verlegt werden. Dieser „Vorschlag“ ist natürlich weder ernst gemeint noch ernst zu nehmen, sondern propagandistische Rhetorik im Sinne des Vernichtungswillens gegen den realen jüdischen Staat. Das Blogger-Stammtischgeplapper und sonstige mediale Äußerungen der „israelkritischen“ Linken haben sich nicht entblödet, dieses rhetorische Spiel mit einer „Geschichtskorrektur“ nach dem Muster der Science Fiction gelegentlich als einen „im Grunde berechtigten“ Gedanken zu bezeichnen, auch wenn er nicht realisiert werden könne.

Das „Gedankenexperiment“, Israel aus seiner realen Geschichte und geographischen Lage zu entwurzeln, um den Verlauf des 20. Jahrhunderts zu begradigen, ein Ärgernis aus der Welt zu entfernen und dem Nahen Osten Frieden zu schenken, muss man nur einmal durchspielen, um seine ganze Perfidie zu erkennen. Wie könnte man sich eine solche Entwurzelung vorstellen? Die Juden des ehemaligen Staates Israel müssten dann natürlich ihre überflüssig gewordenen Kampfflugzeuge, Raketen, Panzer, Geschütze und Handfeuerwaffen, die für sie sowieso immer besonders unangebracht waren, bei der UNO abliefern; und erst recht ihre noch viel weniger verhältnismäßigen Atombomben bei der Internationalen Atomenergiebehörde, die das ganze Arsenal fachgerecht entschärft und verschrottet. Vielleicht wäre dann auch der Iran dafür zu gewinnen, doch noch auf ein Atomwaffenprogramm zu verzichten.

Von den auf diese Weise friedlich gewordenen Hamas- und Hisbollah-Milizen mit Suppe versorgt, wäre es den Juden erlaubt, ihre uralte Geduld wieder zu entdecken und auf gepackten Koffern und Seesäcken zu warten, bis die sühnebereiten Deutschen kommen, um sie zu ihrem Reservat in Mecklenburg-Vorpommern zu verfrachten. Dort könnten sie frei von jeder Bedrohung durch selbstgebastelte Raketen aus Dänemark oder Polen unbeschwert der jüdischen Folklore frönen, z.B. der allseits beliebten Klezmer-Musik, und sich ein bescheidenes, aber ausreichendes Einkommen durch den Tourismus verschaffen; nicht zuletzt aus den arabischen Emiraten, deren Herrenkaste ja immer reisefreudiger und neugieriger auf die Bräuche in der weiten Welt wird. Aber wahrscheinlich lehnen die undankbaren Juden auch diesen Vorschlag zur Güte wieder ab, weil sie einfach keinen Frieden machen wollen.

Dieses Gedankenspiel, das vordergründig die deutsche Schuld instrumentalisiert, ist in mehrfacher Hinsicht hinterfotzig. Das antijüdische kollektive Unbewusste macht sich dabei Luft, indem die bewaffnete staatliche Existenz Israels als eigentlicher Stein des Anstoßes weggedacht wird, um die Juden wenn nicht in ihre angestammte Opferrolle zurückzuführen, so sie doch in einer antisemitisch angereicherten Krisenwelt zu einer harmlosen und hilflosen geduldeten Existenz zu verdammen. So hätte man sie gern; womöglich noch mit der netten Vorstellung, ihnen gegenüber die Position eines herablassenden paternalistischen Beschützers einzunehmen, womit dann aller Verdacht eines antisemitischen Ressentiments ausgeräumt wäre. Der Gipfel aber ist es, dass in dieser gemütlichen Phantasie die deutsche „Sühne“ gerade darin besteht, das Programm von Hamas und Hisbollah zu realisieren. Auf diese Weise hätten sich dann alle historisch und aktuell Beteiligten selbst behauptet, mit Ausnahme der Juden. Gründlicher kann man das Problem nicht aufarbeiten, wenn auch eben nur in der Phantasie, die sich so unmissverständlich zu erkennen gibt.

Ein Herz für das Scharia-Regime

Tatsächlich weigerte sich auch der scheinbar bloß kriegsgegnerische Teil der Linken, der nicht mit dem offen antisemitischen „Antikapitalismus“ konform gehen will, in seiner Verurteilung des Gaza-Kriegs auf eine verbissen-schiefmäulige Weise, den antisemitischen Charakter der Hamas ernst zu nehmen. Man tut so, als würde man selbstverständlich keineswegs einfach Partei für dieses Regime ergreifen; aber im gleichen Atemzug wird dessen antisemitische Vernichtungsabsicht systematisch heruntergespielt. Es handle sich ja eigentlich gar nicht um einen eliminatorischen Antisemitismus, der hier sein Haupt erhebe, sondern nur um eine Art Übertreibung legitimer Interessen, an der übrigens Israel wiederum selber durch seine Konfrontationspolitik mitschuldig sei. Man dürfe nicht die Charta der Hamas auf die Goldwaage legen, sondern Israel müsse nur den Kompromiss durch Anerkennung der Faktizität suchen; dann würden sich die Vernichtungsabsichten schon relativieren und ein Aushandlungsprozess könne in Gang kommen. Das Haupthindernis für eine Zähmung der antisemitischen Hamas-Ideologie seien die Kriegstreiber in Israel.

Um den Stellenwert dieses Gesäusels ermessen zu können, genügt ein Blick auf die affektiven Reaktionen derselben Leute, sobald die erklärte Absicht der Hamas auch nur andeutungsweise gegen sie selbst gerichtet wird. In dem schon erwähnten Artikel (eigentlich nur ein Kommentar) für eine brasilianische Zeitung zum Gaza-Krieg mit proisraelischer Schlussfolgerung hatte ich die Vernichtung von Hamas und Hisbollah als Voraussetzung für eine Verbesserung der Situation bezeichnet, d.h. die Auflösung dieser Machtgebilde, die Zerschlagung ihrer Logistik und die Entwaffnung ihrer Milizen, wie man hätte annehmen können. Bemerkenswert ist, welche Reaktion das Substantiv „Vernichtung“ in diesem Zusammenhang bei etlichen Kommentatoren hervorrief. Selbst in Stellungnahmen, Blogs etc. mit angeblich kritischer Haltung gegenüber Hamas wurde dieses Wort so augenblicklich wie besinnungslos assoziativ aufgeladen und als schwere Entgleisung wahrgenommen. Während also der unzweideutig formulierte Begriff der Vernichtung in der Deklaration der Hamas gegen den jüdischen Staat als unernst und harmlos erscheint, nimmt dasselbe Wort bezüglich der Hamas wie von selbst den Geruch des Holocaust und aller großen Verbrechen der Modernisierungsgeschichte an, als würde damit die physische Auslöschung der Menschen in islamischen Ländern überhaupt propagiert. Die scheinbar feinfühlige Empfindlichkeit und Hellhörigkeit wird hier zur Dumpfheit und Finsternis des Bewusstseins selbst; zum bloßen Mittel, um das roheste Urteil in der Sache als Ausdruck der Kultiviertheit erscheinen zu lassen. Krasser und verräterischer könnten die Asymmetrie der Konflikt-Interpretation und die uneingestandene gefühlsmäßige Parteinahme für das antisemitische Regime in Gaza nicht zum Ausdruck kommen.

Dieselbe verkniffene Rabulistik in der Charakterisierung dieses Regimes setzt sich bei der Bewertung der inneren Machtverhältnisse fort. Selbst die Tatsache, dass die Hamas in Gaza durch einen blutigen Bürgerkrieg gegen die Fatah zur diktatorischen Alleinherrschaft gelangte und den anomischen Kriegszustand benutzte, um die konkurrierenden Kader der ehemaligen Intifada reihenweise zu ermorden, wird in ein unwahrscheinlich mildes Licht getaucht. Die ehemals als antiimperialistische Kraft bejubelte Fatah sei eben völlig korrupt geworden, die Kriminalität sei ausgeufert und unter der Hamas habe man sich immerhin wieder sicher auf der Straße bewegen können; ein fatales Argument, das schon immer für die populistische Rechtfertigung autoritärer Notstandsregimes einschließlich des Faschismus und des NS bemüht wurde.

Wenn die gewöhnliche Korruption vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Auflösungsprozesse in einen fanatischen Tugendterror umschlägt, sollte man erwarten, dass eine solche Entwicklung aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive unmöglich als Verbesserung gelten kann. Aber eine sogenannte Linke, von der die Verhältnisse total unter die affektive Verurteilung der israelischen Militärschläge subsumiert wurden, musste auch ihr Herz für das Scharia-Regime entdecken, das in Gaza wie anderswo die Frauen auf spezifische Weise einem „postmodern verwilderten Patriarchat“ (Roswitha Scholz) unterwirft, Homosexualität verfolgt und marxistisches Denken mit dem Tode bedroht. Die schamlose Legitimierung der Hamas als „Ordnungsmacht“ zeigt nur an, wie eine derart räsonierende Linke ihre gesellschaftskritische Seele verkauft hat.

So ist es kaum noch verwunderlich, dass man auch die soziale Ader des segensreichen Hamas-Regimes entdeckt und billigt. In dieser Hinsicht findet dieselbe konträre Identifikation statt wie bei der Einordnung des Konflikts in die weltkapitalistische Polarisierung. Während eine prowestlich-“antideutsche“ Interpretation die islamistischen sozialen Netzwerke als angeblichen „Umma-Sozialismus“ qua falscher Identitätslogik unmittelbar mit dem NS gleichsetzt, möchten die Hamas-Verharmloser darin umgekehrt eine Art positiven Quasi-“Sozialismus“ womöglich der glorreichen Multitude erkennen. In Wirklichkeit handelt es sich weder um eine sozialstaatliche rassistische Volksgenossenschaft noch um eine auch nur im entferntesten emanzipatorische Transformation der zerbrechenden Reproduktionsverhältnisse, sondern um einen spezifischen Paternalismus der islamistischen Barbarei und ihrer ideologisch fanatisierten Warlords. Diese Kehrseite des Scharia-Regimes speist sich einzig und allein aus den in Koffern nach Gaza geschmuggelten Geldspenden der ägyptischen Moslem-Bruderschaft und der iranischen Ayatollahs, flankiert von UNO-Hilfswerken, die unter die harte Kontrolle der Hamas geraten sind. Finanziert wird damit der Sold der Milizen als „soziale“ Reproduktion ebenso wie eine sporadische Armenspeisung und ein Schulwesen, für das der islamistische Antisemitismus zum Hauptfach geworden ist. In diesem ideologisch durchdrungenen autoritären Suppenküchen- und Almosen-Paternalismus eine positive „soziale Verankerung“ der Hamas zu sehen, gehört zu den reifsten Leistungen linksdemokratischer Verkommenheit.

Es darf nicht fehlen, dass auch der bürgerliche Demokratiefetisch für die Verteidigung der Hamas bemüht wird. Immerhin habe sie bei freien Wahlen die Mehrheit errungen und sei damit zum authentischen Ausdruck des palästinensischen Volkswillens in Gaza geworden; eine Argumentation, die sich vordergründig auf dem Reflexionsniveau des 18. Jahrhunderts bewegt. Damit könnte man natürlich jede frei gewählte Notstandsdiktatur für legitim befinden. In Wahrheit erweist sich in diesem wie in anderen Fällen die Demokratie als „leere Form“, die qua numerischem Volkswillen jeden beliebigen Inhalt annehmen kann. Dann müssten auch die Euthanasie, die Rassengesetze oder die Steinigung gerechtfertigt werden, wenn sie nur qua Mehrheitsbeschluss sanktioniert worden sind.

Hinter der Anerkennung einer formalen Legitimation der Hamas kommt wieder die uneingestandene Sympathie mit den Inhalten ihrer mörderischen Ideologie zum Vorschein. In Wahrheit bedeutet die Mehrheitsentscheidung für die Hamas in Gaza einzig und allein, dass es hier keine an sich unschuldige Zivilbevölkerung gibt. Inzwischen häufen sich allerdings die Berichte über verzweifelte Versuche von Teilen der Bevölkerung in Gaza, sich ihrem Missbrauch als menschliche Schutzschilde durch die Hamas-Milizen zu entziehen, während letztere diesen Widerstand als „Feigheit“ und „Kollaboration“ denunzieren, um dagegen den islamistischen Tugendterror mittels Einschüchterung und Hinrichtungen zu mobilisieren. Wie schön, dass diese Vorgehensweise wenigstens von linken Friedensfreunden unter dem Gesichtspunkt der demokratisch gesicherten Legitimität betrachtet wird.

Determinismus des Bewusstseins und Heldenrolle

Die Logik dieser Argumentation läuft darauf hinaus, den Menschen in Gaza letztlich jede Entscheidungsfreiheit in ihrer Reaktion auf die soziale Not abzusprechen. Hier liegen sie darnieder, sie können nicht anders. Eigentlich brauchen sie weniger Brot als eine ideologische Identität, wie sie Hamas bedient. Bemerkenswert an dieser deterministischen Legitimierung ist, dass sie von einer Linken kommt, die ansonsten schnell bei der Hand ist mit dem Vorwurf des „Objektivismus“; etwa hinsichtlich der Krisentheorie. In der Empfindsamkeit für das Hamas-Regime darf man hingegen besten Gewissens aus dem Bauch heraus objektivistisch argumentieren.

Der ideologische Determinismus setzt sich fort in der Beurteilung der möglichen Kriegsfolgen, was die Bewusstseinslage der palästinensischen Bevölkerung angeht. Selbst noch derjenige Teil der linken Gegner des Kriegs gegen die Hamas, der dieses Regime etwas weniger verharmlost und im Namen einer „kritischen Solidarität“ mit Israel dem Judenstaat wenigstens im Prinzip das Recht auf militärische Selbstverteidigung zugesteht, erliegt dieser deterministischen Denkweise; meistens flankiert durch den doch wieder verharmlosenden Hinweis auf die immer noch gegebene militärische Überlegenheit Israels, während die islamistische bewaffnete Formierung an den Grenzen halb so wild sei und die Raketenüberfälle nur Nadelstiche wären. Die Ausschaltung oder auch nur schwere Schädigung der Hamas würde bloß immer neue Hasspotentiale hervorbringen, Israel könne den Krieg der Bilder und der Geister politisch nur verlieren und durch die inneren Folgen der Militärschläge nur seine Selbstzerstörung befördern.

Die logische Struktur dieser Argumentation besteht darin, dass jeder konsequente Einsatz militärischer Mittel gegen die neuen bewaffneten Machtgebilde des Islamismus in der unmittelbaren Nachbarschaft als Meilenstein auf dem Weg einer Selbstzerstörung Israels interpretiert und damit das abstrakt zugestandene Recht auf eine eigene Militärmacht faktisch negiert wird; ohnehin ein tiefer Wunsch des „unbewussten Judenhasses“. Die Konsequenz könnte nur sein, dass Israel Hamas und Hisbollah aus Gründen der fairen Chancengleichheit höchstens mit Handfeuerwaffen angreift oder gleich ganz auf die militärische Option verzichtet und diese Regimes gewähren lässt, bis sie mit besseren Waffen versorgt sind (was ja bereits tatsächlich geschieht). Es versteht sich, dass diese Denkfigur gar nichts mit der innerisraelischen Kritik an illegitimen Momenten der militärischen Vorgehensweise zu tun hat.

Die unterstellte Determination immer neuer Hasspotentiale schlägt sich klammheimlich auf deren Seite und impliziert die apriorische Vergeblichkeit aller Versuche, die Regimes des antisemitischen Islamismus anders als durch umarmende Anerkennung zu bekämpfen. So gesehen wäre die islamistische Barbarei am besten dadurch zu „besiegen“, dass Israel der bewaffnete Arm abgehackt wird und letzten Endes seine Existenz zur Disposition steht. Das determinierte Bewusstsein könnte ja nur Ruhe geben, wenn der Gegenstand seines Zorns von der Bildfläche verschwindet. Die angebliche Sorge um die Selbstzerstörung Israels läuft auf eine Variante der prinzipiellen Israelfeindlichkeit hinaus. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass jeder israelischen Regierung durch weltpolitische Interventionen die Hände gebunden werden, dass die Weltmeinung mit tatkräftiger Mithilfe der linken Friedensfreunde immer von neuem gegen jede Militäraktion des Judenstaats aufgebracht wird und die palästinensische Bevölkerung auf jeden Schlag gegen Hamas und Hisbollah gar nicht anders als durch eine umso stärkere Identifikation mit der islamistischen Barbarei reagieren kann, dann wird Israel freilich zwangsläufig immer verlieren.

In diesem Fall erweist sich allerdings die Sorge der freundlichen Israelkritiker als klassische Self-fulfilling-prophecy. Ein derart abstrakter Determinismus müsste dann auch auf radikale Gesellschaftskritik angewendet werden. Wenn nämlich jede Reaktion nur eine umso stärkere Gegenreaktion hervorruft, jeder Kampf gegen die Hydra dieser immer neue Köpfe wachsen lässt, jede Ideologiekritik ihren Gegenstand nur bestärkt, dann kann man es gleich ganz bleiben lassen, weil das Fetisch-Bewusstsein eben restlos determiniert und man selber bloß krank ist. Der „ewige Frieden“ käme so einzig in Form einer bedingungslosen Kapitulation vor den nun einmal real existierenden Faktizitäten zustande. Die Welt ist alles, was der Fall ist; und der antisemitische Islamismus ist genau wie das Weltkapital ziemlich der Fall, während das Ärgernis Israel anscheinend weniger determiniert sein soll. Was man sonst nicht gelten lassen kann, ohne sich selbst aufzugeben, für diesen besonderen Fall darf es Gültigkeit haben, weil der Determinismus hier die bequemste Ausrede bildet, um die gefühlige antiisraelische Parteinahme zu bemänteln.

So sind viele linke Israelkritiker keineswegs für die Hamas, woher denn. Sie meinen ja nur, dass man den islamistischen Antisemitismus nicht dramatisieren und dieses Regime nicht „dämonisieren“ soll, dass es halt eine „Ordnungsmacht“ gegen die Korruption, immerhin sozial verankert und im übrigen der authentische Ausdruck des demokratischen Volkswillens sei, dass die leidenden Palästinenser gar nicht anders könnten als ideologische Hasspotentiale aufzuladen und Israel sowieso nur verlieren und sich selbst zerstören würde, wenn es die seine Vernichtung anstrebenden Mächte nicht in Ruhe lässt; aber das alles ist doch beileibe keine Parteinahme für die Hamas. Man sagt ja nichts, man redet ja bloß. Die Behauptung, dass dieses Räsonnement von „Verständnis“ für das postmoderne antisemitische Scharia-Regime trieft, ja geradezu danach stinkt, muss mit ehrlicher Empörung zurückgewiesen werden. Das beweist natürlich nur, dass hier eine Entscheidung vorliegt, die sich nicht mehr begründen kann und will, sondern nur noch krampfhaft nach Rechtfertigungen sucht, deren offenkundiger Unwahrheit man sich nicht schämen muss, weil der bewusstlose Wille schon vor jeder Begründung alles geregelt hat.

Die empfindsamen Herzen dürfen sich so nicht nur gegen die jüdischen Kindermörder von Gaza empören, sondern auch deren Feinden etwas abgewinnen. Jedes Stück, das einen Schurken hat, braucht ebenso einen Helden; so ist das nun einmal. Wie von selbst und mehr oder weniger offen gesteht man den Hamas- und Hisbollah-Milizen und ihren ideologischen Einpeitschern die Heldenrolle zu. Imaginativ figurieren sie als stolze „Kämpfer“ wie aus einem Karl-May-Roman, denen auch der deutschlinke Kara ben Nemsi seine Bewunderung nicht versagen kann. So wurde für ihre Darstellung in der bürgerlichen Presse wie auch in linken Kommentaren der Terminus des „Widerstands“ entdeckt, der aus dem Vokabular der sozialen Kämpfe stammt. Derselbe Begriff wurde übrigens in Teilen der linken Presse schon für die islamistischen Bombenleger unter der US-Besatzung im Irak bemüht, obwohl diese gleichzeitig Fraktionen eines Bürgerkriegs darstellen und hauptsächlich die berühmte Zivilbevölkerung getroffen haben, darunter zahlreiche Kinder.

Soweit derartige Imaginationen von „Kämpfern“ und „Widerstand“ anlässlich der Reaktionen auf den Gaza-Krieg auch in die uneingestandene Parteinahme einer vordergründigen Äquidistanz gleichermaßen gegenüber Israel und der Hamas eingegangen sind, dementieren sie die angebliche „dritte Position“ erst recht. Nicht aus einer Neuformulierung kritischer Theorie und einer Krisenanalyse der Weltgesellschaft, sondern aus vortheoretischen Affekten und emotionalen Befindlichkeiten heraus treten in der globalen Linken Gebilde wie Hamas und Hisbollah oder andere ähnliche Erscheinungen imaginativ an die Stelle des alten Begriffsapparats von „Befreiungskampf“, „sozialem Widerstand“ und sogar „Sozialismus“ oder werden irgendwie damit verbunden, so grotesk diese Zuordnung auch offensichtlich ist. Eine derartige ideologische Verwahrlosung der Linken, die weit über die Hardliner-Fraktion des offen antisemitisch gewordenen „Antikapitalismus“ hinausgeht, ist erklärungsbedürftig; sie kann auch nicht mehr einem bloßen Fortwirken des obsolet gewordenen alten „Antiimperialismus“ geschuldet sein.

Der Stellvertreter-Konflikt und die Demoralisierung der Kapitalismuskritik

Zwar wurde diese Kehrseite derselben Konfrontation wahrgenommen und zumindest oberflächlich rezipiert; sie ist aber in der damaligen Polemik wohl unterbelichtet geblieben, sonst wäre es nicht möglich, dass jetzt der Gaza-Krieg von etlichen Rezipienten auf derselben Ebene gesehen wird wie der gesamtimperiale Weltordnungskrieg und die proisraelische Schlussfolgerung als Übergang zu prowestlich-“antideutschen“ Positionen. Deshalb wird aus dieser Sicht auch die jüngste proisraelische Stellungnahme als „Bellizismus“ denunziert, obwohl dieser Begriff in den Auseinandersetzungen seit 2001 eindeutig auf den Weltordnungskrieg bezogen war und weder einem prinzipiellen Pazifismus geschuldet war noch einer prinzipiellen Ablehnung jeder militärischen Intervention Israels gegen den antisemitischen Islamismus, der sich allerdings erst nach dem Irak-Krieg seit 2003 zu bewaffneten poststaatlichen Mächten an den israelischen Grenzen aufplustern konnte.

Wie schon die methodische und inhaltliche Verwirrung des Begriffs einer „dritten Position“ gezeigt hat, wird nun die Kritik des Weltordnungskriegs zusammengeschlossen mit einer „Israelkritik“, die das antisemitische Syndrom verharmlost und den Doppelcharakter Israels ausblendet oder faktisch nicht mehr gelten lässt. Die polemische Auseinandersetzung mit den „Antideutschen“ hatte sich dagegen gerichtet, Israel positiv mit dem Weltkapital zu identifizieren und jede Kritik des Weltordnungskriegs als „antisemitisch“ zu denunzieren. Das galt auch für die Kritik an einer rassistischen Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung, an der nationalistischen Siedlerbewegung oder am Fanatismus der Ultraorthodoxen in Israel, die von den „Antideutschen“ in ihrer manichäischen Denkweise ebenfalls als „Antisemitismus“ verbucht wurde.

Es ist aber etwas ganz anderes, wenn inzwischen die scheinbare Rezeption dieser Kritik an gewöhnlichen kapitalistischen Erscheinungen und Ideologiebildungen, wie sie auch innerhalb Israels anzutreffen sind, umschlägt in eine generelle „Israelkritik“ und die angebliche „kritische Solidarität“ in eine affektive Verurteilung des Gaza-Kriegs, der keinesfalls kausal auf innerisraelische Defizite zurückgeführt werden kann. Es geht dabei allerdings nicht nur um eine Ignoranz hinsichtlich der veränderten Machtverhältnisse und Konfliktkonstellationen im Nahen Osten, sondern auch um jene Wahrnehmungsverschiebung in der Linken, die einem ideologischen Erdrutsch gleichkommt. Das gilt für die bereits skizzierte Wahrnehmung sowohl Israels als auch seiner lokalen Feinde. Dabei behalten nicht die „Antideutschen“ recht, sondern sie haben mit ihrer ideologisch verzerrten Interpretation zu dieser Entwicklung beigetragen.

Schon die im Unterschied zu der hier vertretenen Position bloß in anachronistischer Weise „antiimperialistisch“ auftretende Kritik des Weltordnungskriegs seit 2001 hatte den islamistischen Antisemitismus verharmlost oder sogar selber mit antisemitischen Stereotypen argumentiert. Was zu Recht als eine bis weit in die globalisierungskritische Bewegung hineinreichende „verkürzte Kapitalismuskritik“ und als „struktureller Antisemitismus“ bezeichnet wurde, hat sich seither im Eiltempo weiter transformiert. Längst stehen sich in der Haltung zum Nahost-Konflikt nicht mehr eine klar umrissene „alt-antiimperialistische“ und eine „antideutsche“ Position gegenüber. Während sich die „Antideutschen“, soweit ich sehe, weitgehend zerlegt und in alle möglichen und unmöglichen Richtungen (bis hin zum offenen Neoliberalismus) differenziert haben, geht die Wahrnehmungsverschiebung hinsichtlich der Stellvertreter-Funktion dieses Konflikts inzwischen quer durch das übrige linke Spektrum, wobei der antiisraelische Affekt und die halb klammheimliche, halb offene Sympathie mit Hamas nur noch eine gewisse Schnittmenge mit dem alten „Antiimperialismus“ aufweisen, darin aber keineswegs aufgehen. Allzu offensichtlich ist der Impuls einer ohnehin schon immer fragwürdigen „nationalen Befreiung“ in Palästina ebenso wie in der gesamten ehemaligen „Dritten Welt“ historisch gegenstandslos geworden. Es geht nicht mehr so sehr um dieses heute nur noch anachronistische Paradigma aus der vergangenen Epoche, sondern eher um die ideologische Verarbeitung der neuen weltgesellschaftlichen Situation. Eben deshalb gibt es so gut wie keine linke Gruppierung oder Strömung mehr, die davon nicht erfasst wäre.

Diese Polarisierung innerhalb der Linken im weitesten Sinne anlässlich des Gaza-Kriegs lässt sich nicht aus einer besonderen Qualität dieses Konflikts erklären, sondern nur als irrational aufgeladene Reaktion auf den völlig unerwarteten globalen Kriseneinbruch von historischer Tragweite. Es ist kein Zufall, dass der heftige antiisraelische Affekt in der „heißen“ Phase des Kriegs sich wenige Wochen nach den „schwarzen Montagen“ an den Weltbörsen entzündete und mit einer dramatischen Ausweitung der sogenannten Finanzkrise einherging. Damit verbunden waren das klägliche Ende der als neoliberal bezeichneten Ära und der Bush-Administration. Der Bezug auf den Krieg gegen die Hamas und die mühsam unter dem Deckel gehaltene Krisenpanik scheinen sich im unsicheren Intermundium zwischen Bush und Obama gerade in den Köpfen eines an sich selbst irre gewordenen linken Bewusstseins zu einem paranoiden Gesamtzustand verschmolzen zu haben.

Angesichts der heraufdämmernden neuen Weltwirtschaftskrise stößt zusammen mit dem Kapitalfetisch, seiner Verwertungsbewegung und der dieses Weltverhältnis synthetisierenden bürgerlichen Vernunft auch das selber in die kapitalistische Modernisierungsgeschichte eingebundene Denken der Linken an seine historische Schranke; jetzt aber eben in der Unmittelbarkeit des aktuellen Ereignishorizonts. Die niemals überwundene kapitalistische Aufklärungsvernunft in den marxistischen bzw. links-postmodernen Theoremen und Ideologien zerfällt in ihre inneren polaren Gegensätze, die auf dem Boden dieser „objektiven Gedankenformen“ (Marx) nicht aufzuheben sind. Wie eine substantiell längst demoralisierte Kapitalverwertung in den letzten zwanzig Jahren nur noch als virtuelles Phänomen der Finanzblasen-Ökonomie fortwesen konnte, so konnte sich in dieser Zeit auch eine längst ebenso demoralisierte Kapitalismuskritik nur noch im geistigen Koma einer vermeintlich die alten Paradigmen fortschreibenden Virtualität am Scheinleben erhalten. Beides gehört zusammen und stürzt deshalb jetzt gemeinsam ins Bodenlose bzw. erweist sich als unwahr und unwirklich.

Die Gespenster der Linken hatten die Theorie einer objektiven inneren Schranke der Verwertung vehement zurückgewiesen, weil sie unbewusst ihrer Gebundenheit an den fetischistischen Formzusammenhang Rechnung trugen; von der Ontologie der „Arbeit“ über die Subjekt- und Politikform bis zum versachlichten Geschlechterverhältnis des modernen warenproduzierenden Patriarchats. In demselben Maße, wie dieser Formzusammenhang an der historisch reif gewordenen Dynamik seines objektiven inneren Selbstwiderspruchs zerbricht, enthüllt sich auch gewaltsam sein Wesen als „automatisches Subjekt“ (Marx) einer negativen und destruktiven Vergesellschaftung. Die Linke hatte zentrale Elemente der Marxschen Kritik ausgeblendet und die basalen Fetischformen der Moderne immer ontologisiert oder höchstens als bloße „Verschleierung“ eines „eigentlichen“ Sachverhalts wahrgenommen, der wesentlich in subjektiven Willensverhältnissen von Ausbeutung und Herrschaft bestehen sollte, statt diese als bloße Funktionen des sozial übergreifenden Fetischverhältnisses zu erkennen. Wenn es nun auf einer überreifen Entwicklungsstufe dieses Verhältnisses historisch zum Treffen kommt, weiß diese Linke peinlicherweise nicht einmal mehr, was „das Kapital“ überhaupt sein soll.

Dementsprechend erbärmlich sind die Vorstellungen einer gesellschaftlichen Transformation. Das alte Programm einer „sozialistischen“ bloßen Verstaatlichung der kapitalistischen Kategorien, wie es im Kontext „nachholender Modernisierung“ entstanden war, hat sich historisch erledigt; die aktuellen Verstaatlichungs-Maßnahmen eines desperaten Krisenpragmatismus haben damit nichts zu tun und werden auch nicht ernsthaft in einem solchen Sinne wahrgenommen. Was in der Epoche des virtualisierten Kapitals an linken Programmatiken übrig blieb, waren ein blutarmer Rest-Keynesianismus aus der Mottenkiste der Volkswirtschaftslehre und ein dünner Aufguss der neo-kleinbürgerlichen Alternativökonomie (genossenschaftliche Nischenproduktion usw.), flankiert womöglich durch Geldpfuschereien á la Silvio Gesell oder die Illusion eines (letztlich wieder keynesianisch bestimmten) staatlichen Grundeinkommens. Gerade solche Kümmerformen einer „sozialistischen“ Programmatik konnten nur in Zeiten der Finanzblasen-Ökonomie vor sich hin welken, insofern im Bewusstsein der Virtualität „alles möglich“ schien, vor allem das albernste.

Schon mitten im neuesten großen Krisenschub räsonierte der Rechtsphilosoph Uwe Justus Wenzel noch über einschlägige Perspektiven anlässlich des 200. Geburtstags des (antisemitischen) Utopisten Proudhon: „Hat nicht die amerikanische Notenbank...den Leitzins unlängst so gut wie auf Null gesenkt? Wenn das noch der Geist des Kapitalismus ist, dann der eines genossenschaftlichen, eines postkapitalistischen Kapitalismus, wie ihn Pierre-Joseph Proudhon sich ausgemalt hat“ (Neue Zürcher Zeitung, 15.1.09). Hier darf nicht gelacht werden, denn so sieht es allen Ernstes auch im Doppelkopf des keynesianisch-alternativökonomischen Bewusstseins einer theoretisch wie praktisch demoralisierten Kapitalismuskritik aus. Natürlich weiß oder ahnt man trotzdem, dass die neue Qualität der Weltkrise mit diesem ganzen ideellen Plunder in Kürze Schluss machen wird.

Die einzige Erleichterung verspräche noch die Präsentation von Sündenböcken, Schuldigen, gierigen Ausbeutern und Herrschaftssubjekten etc. Daran herrscht zwar kein Mangel, aber gleichzeitig macht sich im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein schon eine Reflexion bemerkbar, die einen solchen Reduktionismus in gewisser Weise blamiert und auf den versachlichten Charakter des Desasters hinweist. Angesichts der kapitalistischen Entwicklungs- und Krisenreife ist das wahrlich keine große Kunst mehr. Sogar die dümmsten Linken müssen diesem Gesichtspunkt irgendwie Rechnung tragen. Wenn die Einsicht in die systemische Dimension der Krise nicht als Kritik der Fetisch-Konstitution formuliert wird, kann sie aber nur in eine affirmative Schicksalsergebenheit münden. Andererseits ist es ja die demoralisierte linke Kapitalismuskritik selbst, die den Rubikon nicht überschreiten will, weil sie identitär an die basalen Fetischformen gebunden ist undfürchtet, sich vom dazugehörigen Normalbewusstsein zu weit zu entfernen.

An diesem Punkt kam wie gerufen die Möglichkeit, am Gaza-Konflikt die eigene Erbärmlichkeit emotional abzureagieren. Die sonst eher blamabel gewordene Subjektivierung der Systemkrise konnte in der affektiven moralischen Besetzung dieses Konflikts sozusagen indirekt noch einmal abgerufen werden, indem in einer geistigen Übersprungshandlung der Krieg in Gaza imaginativ eine Stellvertreter-Funktion für die Krisenbedrohung annahm und in diesem Kontext der Judenstaat stellvertretend für das Kapitalverhältnis überhaupt gesetzt wurde; nicht nur bei den Vertretern eines offen antisemitisch gewordenen „Antikapitalismus“, sondern abgestuft, aber aus demselben Affekt heraus, auch bei einem Großteil der sich davon (noch) distanzierenden Linken. In psychoanalytischer Hinsicht könnte man davon sprechen, dass die historisch verfallende Linke ihren Selbsthass und ihre Selbstverachtung angesichts ihres Versagens in der neuen Systemkrise auf den Staat Israel projiziert und sich damit entlastet. Wenn mit fortschreitender Weltkrise auch der bewaffnete Konflikt Israels mit Hamas und Hisbollah fortschreitet, kann in dieser projektiven Verarbeitung ein zunehmender affektiver Anti-Israelismus helfen, die Defizite einer nicht mehr theoretisch begründbaren subjektivistischen Kapitalismuskritik zu bemänteln.

Umgekehrt lässt sich derselbe projektive Mechanismus auch an der merkwürdig positiv aufgeladenen Haltung zu den poststaatlichen islamistisch-antisemitischen Regimes an den israelischen Grenzen dechiffrieren. Um diesen Zusammenhang begreiflich zu machen, ist eine kursorische Skizze des ideologisierten sozialen Trägersubjekts von traditioneller und postmoderner Kapitalismuskritik erforderlich. Der linken Subjektivierung des Kapitals im Sinne eines bloßen Ausbeutungswillens der „herrschenden Klasse“ gemäß ihrer „Verfügungsgewalt“ entsprach stets die Konstruktion eines ontologisch fixierten Gegensubjekts der ewigen „Arbeit“, die nur äußerlich vom Kapital (verstanden als Gruppe von Subjekten) unterjocht worden sei. Damit wurde die „Arbeit“ nicht als spezifisch kapitalistische Realabstraktion erkannt und die moderne Fetisch-Konstitution völlig missdeutet. Das paradoxe „objektive Subjekt“ der Arbeiterklasse konnte „an sich und für sich“ nur die Charaktermaske des „variablen Kapitals“ sein; und die historische Arbeiterbewegung hat sich zum Ärger von Marx auch nie anders verhalten. Der soziale Gegensatz von Kapital und Arbeit markierte also keine ontologische Begründung der Kapitalismuskritik, sondern stellte in der Form des Klassenkampfs nur die immanente Bewegungsform des Kapitalfetischs dar. Emanzipatorisch wäre nur ein Durchbrechen des gemeinsamen Formzusammenhangs; und dazu hat es bis jetzt nicht gereicht.

Statt die falsche, affirmative Fragestellung eines ontologisierten „objektiven Subjekts“ zu erkennen und zurückzuweisen, hat die neue Linke seit 1968 die alte Formel nur immer wieder hin- und hergewendet. Wenn dabei zunehmend alle möglichen Surrogatsubjekte bemüht wurden, von den „Völkern“ der Peripherie über die „Randgruppen“ (Herbert Marcuse) in den Zentren bis zu den Frauen gemäß einer „Weiblichkeits“-Ontologie oder den Trägern einer imaginären Subsistenzökonomie, so verwies das auf ein Obsoletwerden des alten Subjekts der „Arbeit“, ohne dass die dabei aufscheinende Problematik reflektiert worden wäre. Das Verblassen einer Ontologie der „Arbeit“ und der empirische Verfall des darauf bezogenen objektiven Klassensubjekts stellten aber nur die Kehrseite der absoluten inneren Schranke der Verwertung dar, wie sie mit der 3. industriellen Revolution erreicht wurde. Die scheinbare Tragfähigkeit des Klassenkampf-Paradigmas hatte ihre Grundlage in der Fähigkeit des Kapitals zur schrankenlosen Akkumulation, d.h. der Verwandlung von „Arbeit“ in Mehrwert. Der Verfall von „Arbeit“ und Klassenkampf war daher identisch mit dem Verfall der realen Mehrwertproduktion und damit des gemeinsamen fetischistischen Bezugssystems.

Statt diesen Zusammenhang zu realisieren, hat zumindest der in den jüngsten Bewegungszeiten einflussreiche Postoperaismus eine völlig leere Ontologie des imaginierten objektiven Gegensubjekts in Gestalt der sogenannten „Multitude“ kreiert, die alles und nichts bedeutet. Dieser Endpunkt und begriffliche Tiefpunkt des alten Paradigmas ist mit nichts mehr vermittelt und kann daher mit nahezu beliebigen Inhalten oder Äußerungen kapitalistischer Zerfalls-Subjektivität gefüllt und mit Bedeutung aufgeladen werden. Gleichzeitig verbirgt sich hinter dem Niedergang des arbeitsontologischen Klassenkampf-Denkens mit all seinen imaginativen Surrogaten und Verirrungen das durchaus handfeste immanente Konkurrenzinteresse einer bestimmten sozialen Lage, die erst in allerjüngster Zeit teilweise offen gelegt wird. Der kapitalistische Vergesellschaftungsprozess hatte eine breite neue Mittelschicht mit akademischen Qualifikationen hervorgebracht, deren ökonomische Existenz von der Abschöpfung realer Mehrwertproduktion abhängig ist. Mit dem Verfall der Arbeitssubstanz hängt diese Existenz wie die gesamte kapitalistische Reproduktion in der Luft und konnte in den letzten 30 Jahren nur durch den Staatskredit und die Finanzblasen-Ökonomie verlängert werden.

Den sozialen Veränderungen aufgrund des schleichenden Krisenprozesses entsprechend stellten die Linke und die sogenannten neuen sozialen Bewegungen seit 1968 bis heute soziologisch im wesentlichen eine Mittelschichtsbewegung dar, die zunächst intellektuell an die obsolete Ideologie des Arbeiterbewegungsmarxismus anschließen wollte, aber durch die Imagination von Surrogaten des alten „objektiven Subjekts“ hindurch in Wirklichkeit zunehmend ihr ideologisiertes Eigeninteresse zum Maß der Dinge machte. In der beginnenden neuen Weltwirtschaftskrise, die alle Widersprüche schlagartig verschärft und zur Kenntlichkeit bringt, schlägt der Übergang von der Prekarisierung zum Absturz des akademisch qualifizierten Humankapitals als manifeste Mittelschichtsideologie durch, die alle Furien eines neo-kleinbürgerlichen Krisenbewusstseins zu entfesseln droht.

Wenn an die Stelle der radikalen Kritik an Wertform, Kapitalfetisch und kapitalistischem Geschlechterverhältnis die prekarisierten Überlebensinteressen der Mittelschichten treten und damit windige rest-keynesianische und alternativökonomisch-neoproudhonistische Konzepte, dann muss das schreiende Defizit dieses zurückweichenden Denkens, das sich selber nicht anschauen kann, phantasmatisch verkleidet werden. Das durchaus präsente klassisch kleinbürgerliche Erklärungsmuster der Krise aus „Exzessen“, aus der „Gier“ von Finanzhaien usw., das Züge eines strukturellen oder sogar manifesten Antisemitismus aufweist, sich jedoch am kenntlich gewordenen systemisch-sachlichen Charakter der Krise bricht, bedarf einer zusätzlichen Projektion, die es im nahöstlichen Stellvertreter-Konflikt findet.

Das obsolete Interesse des qualifizierten Humankapitals, die postmoderne Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats und die klammheimliche Sympathie für die bärtigen Antisemiten des bewaffneten palästinensischen Islamismus, deren Kader ebenfalls Mittelschichts- und Basar-Existenzen sind, verschmelzen zu einer eigenartigen ideologischen Legierung. So möchte der europäische hausfrauisierte Mittelschichtsmann unter dem verschärften Krisendruck in den Hamas-“Kämpfern“ eine geradezu heroische verwandte Seele entdecken, auch wenn die Referenz dabei nicht mehr Karl Marx, sondern eher Karl May ist. Auf diesem Niveau darf sich dann die nicht-pazifistische Militanz wieder geltend machen. Eine räudig gewordene linke Ideologie projiziert in die Machtgebilde von Hamas und Hisbollah krampfhaft eine „soziale“ Qualität hinein; bis hin zu Blogger-Äußerungen, die in der Hamas wählenden Bevölkerung von Gaza oder in dem Regime selbst sogar die „Pariser Kommune“ von 1871 wiedererkennen wollen. Eine schlimmere Verblendung ist kaum denkbar; aber die historischen Analogieschlüsse werden eben umso hemmungsloser, je mehr sie nur noch gefühlsmäßig auf die Ausweglosigkeit des eigenen Denkmusters reagieren.

Hinter der eingestandenen oder uneingestandenen bizarren Identifikation mit der islamistischen Barbarei einschließlich ihrer romantisierenden Affekte verbirgt sich allerdings auch eine durchaus handfeste Option des mittelschichtsideologisch verbogenen Bewusstseins in der Linken. Wenn Hamas und Hisbollah sowohl in den Legitimationsmustern der globalen Linken als auch im bürgerlichen Mainstream zunehmend als „Ordnungsmächte“ im krisenhaften Zerfall von Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden, so verweist das auf eine bestimmte affirmative Reaktionsweise an der historischen Schranke des Kapitalismus, für den man keinen zureichenden Begriff mehr hat. Die Kaminträumereien über eine gelingende Re-Regulierung der Finanzmärkte und illusionäre neo-keynesianische Sozialverträglichkeits-Strategien ebenso wie über alternativ-ökonomische Konzepte einer Scheinbewältigung verweisen auf ein klammheimliches Andocken wachsender Teile der Polit- und Bewegungslinken an die kapitalistische Krisenverwaltung und womöglich deren Vergabe von Geldern und Posten. Eine etatistische und neo-autoritäre Wende in diesem Sinne zeichnet sich durchaus ab. Die Identifikation mit dem Aspekt der „Ordnungsmacht“ an den islamistischen halbstaatlichen Regimes kann diese Tendenz ideologisch legitimieren und als eine Art „soziale Bewegung“ ausgeben; vielleicht in der Hoffnung, dass die Krisenverwaltung in den Zentren noch größere Mittel locker machen kann als die Moslem-Bruderschaft oder der Iran.

Wie sich die kleinbürgerliche Wut auf das Finanzkapital, von dem das ganze schöne Weitervegetieren in den kapitalistischen Kategorien kaputt gemacht wird, stellvertretend im Affekt gegen den jüdischen Kriegsverbrecher- und Kindermörderstaat Luft machen will, so verschafft sich die Wut über das eigene Dasein als historisch verfallende Jammergestalt Genugtuung an der gefühlsmäßigen Identifikation mit einem „Widerstand“ gegen die jüdische Militärmacht, dessen Köpfe intellektuell immerhin so hohl sind wie die eigenen. Es wirkt sogar psychisch entlastend, wenn dabei das Phantasma an die Stelle der kritischen Theorie tritt, denn nur so kann man sich in die Pose einer „sozialen Alternative“ werfen, deren Inhalte der aus dem Unbewussten entlassene Judenhass und die Option einer immanenten „Ordnungsmacht“ bilden, an deren imaginierten Fleischtöpfen man sich als prekäre Kader mit nur noch diffus linken Ansprüchen mitlaben möchte.

Anti-Israelismus – die Matrix eines neuen Antisemitismus

Verändert hat sich auch die antisemitisch aufgeladene ökonomische Krisenideologie im engeren Sinne, nicht nur weil sie ihren nationalökonomischen Bezugsraum verloren hat. Weltweit war schon vor dem neuen Kriseneinbruch das neo-kleinbürgerliche Erklärungsmuster für die Krisenprozesse auf dem Vormarsch, das bekanntlich das Verhältnis von Ursache und Wirkung auf den Kopf stellt, die Finanzblasen nicht aus der inneren Schranke der realen Verwertung herleitet, sondern umgekehrt diese aus jenen, und die Misere schließlich im offen antisemitischen Hardliner-“Antikapitalismus“ auf den jüdischen Charakter des Finanzkapitals und letztlich auf eine jüdische Weltverschwörung zurückführt. Dieses Moment bildet natürlich die größte Übereinstimmung mit dem klassischen Antisemitismus; neu ist aber seine ungleiche und dennoch sich zu einem Gesamtsyndrom verbindende Ausformulierung in der Weltgesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Außerhalb der kapitalistischen Zentren baut sich die antisemitische Krisenerklärung dem abstrakten Inhalt nach mit einer ähnlichen Kohärenz auf wie in Europa und in Nordamerika während der Zwischenkriegszeit. Die schon erwähnte hemmungslos antisemitische Deutung der großen Finanzkrise durch den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad wird nicht nur im islamischen Bogen von Südostasien bis zum Maghreb genauso unverblümt aufgegriffen, sondern auch in Lateinamerika, Osteuropa, Russland und sogar in Afrika. Diese umfassende Internationale des ökonomischen Antisemitismus, die so in der früheren Weltwirtschaftskrise noch nicht existiert hatte, könnte mit schwarzer Ironie als letzte Welle „nachholender Modernisierung“ bezeichnet werden, die nur noch in der Übernahme der alten antisemitischen Krisendeutung besteht.

In Europa und auch schon ansatzweise in Nordamerika findet sich diese Deutung zwar ebenfalls wieder; der offen antisemitische „Antikapitalismus“ von „links“ verschmilzt dabei immer mehr mit entsprechenden rechtsradikalen Verarbeitungsmustern. Gleichzeitig trägt aber ein Großteil der metropolitanen Linken demselben Muster in einer gebrochenen und differenzierten Weise Rechnung, um den nahe liegenden Antisemitismus-Vorwurf weiterhin empört zurückweisen zu können. In Bezug auf die globalisierungskritische Bewegung kommt dieses Syndrom mehrdimensional zum Vorschein. Offen antisemitische Krisenerklärungen werden einerseits kritisiert, andererseits aber nicht mit harten Sanktionen belegt, sondern faktisch weiterhin abwiegelnd geduldet; gerade in Verbindung mit den affektiven Reaktionen auf den nahöstlichen Stellvertreter-Konflikt. Dabei kommt eine zusätzliche Verwerfung ins Spiel, indem ein bestimmter Teil der Linken diese Duldung anprangert und sich damit aus dem Schneider wähnt, gleichzeitig jedoch einen Eiertanz vollführt hinsichtlich der rein ökonomischen „verkürzten Kapitalismuskritik“, die sich wie bei einem Großteil von Attac auf das Finanzkapital kapriziert. Dieser Sachverhalt bedarf einer genaueren Beleuchtung.

Wenn Attac-Vertreter unter dem Eindruck der hereinbrechenden globalen Finanzkrise mit der Parole „Schließt das Spielkasino!“ hausieren gingen, lässt sich daran unschwer jene Verkehrung von Ursache und Wirkung erkennen, wie sie für die aktuell gängige Deutung nicht nur in der globalisierungskritischen Bewegung, sondern auch in der VWL und in den bürgerlichen Medien typisch ist. Wenn nur die „Exzesse“ der Finanzblasen-Ökonomie bereinigt und die Finanzmärkte wieder einer straffen Regulation unterworfen werden, so die Illusion, könnte die vermeintliche Realökonomie sich berappeln und der Investitionsfluss wieder in „normale“ Arbeitsplätze gelenkt werden. Die Einsicht, dass die tiefere Ursache der Krise in einer mangelnden realen Mehrwertproduktion besteht, kann allerdings auch in der Restlinken nicht völlig negiert werden, soweit sie sich überhaupt noch Elemente der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu eigen macht; auch wenn deren Rezeption völlig ausgeleiert ist und der Charakter der Krise als historische Schranke der Verwertung negiert wird. Bis in den wissenschaftlichen Beirat von Attac hinein finden sich so Argumentationen, die jene verkehrte, oberflächliche Krisenerklärung zumindest ansatzweise als „verkürzte Kapitalismuskritik“ bezeichnen. Die Frage ist allerdings, wie damit umgegangen wird.

In den innerlinken Auseinandersetzungen seit den 90er Jahren wurde der Begriff der „verkürzten Kapitalismuskritik“ wie erwähnt oft als „struktureller Antisemitismus“ charakterisiert. Dabei kommt es nicht auf die Wortwahl an; man könnte etwa auch von einem Proto-Antisemitismus sprechen. Seine Berechtigung hat dieses Attribut darin, dass in der Modernisierungsgeschichte eine ursprünglich klassisch kleinbürgerliche, z.B. proudhonistische Kritik des zinstragenden Kapitals bzw. des Kreditsystems (statt einer Kritik der Produktionsweise als solcher) ebenso durchgängig mit antisemitischen Ideologien verbunden war wie die falsche Erklärung der Krise aus Spekulationsblasen auf Basis dieses Kreditsystems. Dieser Zusammenhang ist so offensichtlich, dass er fast schon jedem Kind bekannt sein könnte.

An diesem Punkt nun setzt wieder eine eigenartige linke Rabulistik ein, die den Zusammenhang sowohl erkennt als auch ausblendet. Einerseits wird trotz Ableugnung einer erreichten historischen Schranke des Kapitalismus der Charakter der „verkürzten Kapitalismuskritik“ benannt und sogar vorsichtig auf die „Gefahr“ eines darin angelegten antisemitischen Deutungsmusters aufmerksam gemacht. Andererseits wird der Begriff des „strukturellen Antisemitismus“ mit der Begründung abgelehnt, dass nicht „jede“ derart verkürzte Kapitalismuskritik schon antisemitisch sei. Man spielt also mit der Bedeutungsschwankung zwischen der rein ökonomischen falschen Krisenerklärung und dem offenen Antisemitismus, um den offensichtlichen inneren Zusammenhang zu verschwiemeln. Das Resultat ist eine ähnlich scheinheilige Unschuldsvermutung wie hinsichtlich des antisemitischen Islamismus; ist diese dort historisch begründet, so hier ökonomisch. Die Ideologiebildung wird in beiden Fällen verharmlost.

Letztlich macht sich in dieser Verharmlosung ein politischer Opportunismus in Bezug auf das Massen- und Bewegungsbewusstsein geltend. Selbst noch eine etwas reflektiertere Linke möchte es nicht mit ihrer vermeintlichen Klientel verderben, um „Einfluss“ zu erhalten oder zu gewinnen. Die notwendige Ideologiekritik bleibt daher flach und wird halb zurückgenommen. Darin erscheint allerdings auch der soziale Charakter der Linken als Mittelschichtsbewegung. Die in anderer Weise verkürzte Kapitalismuskritik des alten Arbeiterbewegungsmarxismus wies zwar Schnittmengen mit der antisemitischen Ideologie auf, ohne dieser aber zu erliegen. Voraussetzung dafür war das Programm eines „proletarischen“ Staatskapitalismus, der die finanzkapitalistische Vergesellschaftung beerben sollte (so bei Hilferding), statt die negative Qualität der Entwicklung aus dem Finanzkapital zu erklären und antisemitisch umzudeuten. Indem nun die Diskurshegemonie des Mittelschichtsbewusstseins nur die Kehrseite des Verfalls von alter Arbeiterbewegung und realer Kapitalakkumulation darstellt, ist der Damm gegenüber den neo-kleinbürgerlichen Krisenerklärungen und entsprechenden falschen, mit dem Antisemitismus kompatiblen Bewältigungskonzepten gebrochen. Dies kann aber „nach Auschwitz“ nur in einer differenzierten, verdrucksten und ideologisch hinhaltenden Weise zum Ausdruck kommen.

Wir finden so ein breites Spektrum von „verkürzter Kapitalismuskritik“, „strukturellem Antisemitismus“, offenem Antisemitismus und einer in diesem Dunstkreis gefangenen und gewissermaßen nach Luft schnappenden Restlinken vor, die sich damit zwar nicht bedingungslos gemein machen möchte, gleichzeitig aber selber unaufhaltsam in diese Richtung drängt, weil sie keine grundsätzliche Gegenposition mehr formulieren kann und die Transformation zu einer tiefer gehenden Kritik der modernen Fetischverhältnisse versäumt hat. In der weltregionalen Ausdifferenzierung hat die brutal offene antisemitische Krisenerklärung ihren Schwerpunkt in der Peripherie des Weltmarkts. In den Zentren ist sie (noch) minoritär; hier findet sie ihr Pendant bis jetzt in jenem „strukturellen Antisemitismus“, der in der globalisierungskritischen Bewegung mehrheitsfähig ist und von Teilen der Restlinken zumindest verharmlost oder verleugnet wird. Ergänzt wird diese Haltung durch eine Verharmlosung des islamistischen Antisemitismus und ähnlicher Ideologiebildungen in anderen peripheren Regionen, die teilweise sogar als „bündnisfähig“ wahrgenommen werden.

Neu am neuen Antisemitismus ist so erstens die Verschiebung des Bezugsfelds in der Globalisierung des Krisenkapitalismus; zweitens der damit verbundene Verlust und die Virtualisierung des Ausgangspunkts der Abstoßung im Auflösungsprozess der nationalen und ethnischen Identitäten; drittens die ideologisch gebrochene Involvierung der globalen Linken in die antisemitisch anschlussfähige falsche Krisenerklärung, verbunden mit Verharmlosungsstrategien. Darin bestehen jedoch nur die äußeren sozialen, ökonomischen und historischen Bedingungen des neuen Antisemitismus. Wesentlich ist aber die veränderte Konsequenz all dieser Ideologiebildungen. Neu im Vergleich zum klassischen Antisemitismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind vor allem der historische Hintergrund des Holocaust und die Existenz des bewaffneten jüdischen Staates.

„Nach Auschwitz“ kann das ökonomisch-ideologische Gesamtsyndrom im Kontext der falschen Krisenerklärung nicht mehr mit derselben Geradlinigkeit in das Postulat der Judenvernichtung münden. Zwar ist der spezifisch islamistische Antisemitismus etwa des Holocaust-Leugners Ahmadinedschad ebenso wie die einschlägige physische Vernichtungsabsicht in der Hamas-Charta nahe an das abstrakte Vernichtungspotential herangerückt, wenn auch in einem anderen ideologischen Zusammenhang. Aber die Vernichtungsabsicht konzentriert sich weniger auf die jüdischen Populationen in der Welt schlechthin, sondern wesentlich auf den Staat Israel. Der eliminatorische Gesichtspunkt des neuen Antisemitismus hat sich auf diese staatliche Existenz verschoben. Hier nun kommt der Charakter des Stellvertreter-Konflikts in seiner letzten Konsequenz zum Vorschein.

Wenn sich diese Tendenz weiterhin mit dem Vokabular des „Antizionismus“ artikuliert und zumindest in Teilen der Linken den Antisemitismus-Vorwurf zurückweist, so ist das irreführend. Der sogenannte Zionismus war die Legitimation für die eigenständige moderne Nationalstaatsbildung der Juden als Reaktion auf den Antisemitismus. Der darauf wiederum ideologisch reagierende Antizionismus hatte völlig verschiedene Beweggründe. So gibt es einen jüdischen Antizionismus speziell ultra-orthodoxer Provenienz, der aus der gegenaufklärerischen Tradition in den religiösen Körperschaften des Judentums herrührt und den modernen säkularen Staat aus einer bloß reaktionären Position verdammt. Innerhalb Israels bildet gerade dieser ultra-orthodoxe Antizionismus in seiner postmodernen Transformation ein eigenständiges Potential der Barbarei, in vielen Äußerungen durchaus vergleichbar mit dem postmodernen Islamismus. Andererseits gibt es einen traditionsmarxistischen Antizionismus speziell trotzkistischer Provenienz, der gerade von säkularen jüdischen Linken getragen wird. Darin steckt ein sozusagen ehrenwerter Anti-Nationalismus, der sich aus dem gerade im Trotzkismus hochgehaltenen Gedanken der „Weltrevolution“ speist und sich im jüdischen Kontext gegen den „eigenen“ (zionistischen) Nationalismus wendet; allerdings wie im traditionellen Marxismus überhaupt ohne zureichende Reflexion der globalen antisemitischen Ideologie als Konstitutionsbedingung für den jüdischen Staat und dessen Doppelcharakter.

Den bedeutendsten historischen Stellenwert hatte allerdings der palästinensische und arabisch-islamische Antizionismus, der sich in den alten „antiimperialistischen“ Kontext einer nachholenden Modernisierung einordnete und auf dieser Grundlage mit Elementen des traditionsmarxistischen Denkens verbinden konnte. Auf die darin angelegten Verwerfungen und Widersprüche kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Was den spezifisch palästinensischen Antizionismus der alten PLO angeht, so lief er auf eine alternative arabisch-palästinensische Nationsbildung hinaus. Es ist nun evident, dass sich auf demselben Territorium nicht zwei gegensätzliche Nationalstaaten konstituieren können; deshalb auch jene ursprüngliche Absicht, die Juden „ins Meer zu treiben“. Die Bewertung dieses faktisch unwahr gewordenen Konflikts aus der Sicht radikal-kritischer Theorie ist eindeutig. Der Legitimation der jüdischen Staatsgründung als Reaktion auf den globalen Antisemitismus und dem daraus resultierenden Doppelcharakter Israels entspricht auf der palästinensischen Seite keinerlei adäquate Gegenlegitimation. Der Begriff einer „palästinensischen Nation“ ist wie bei den arabischen Nationsbildungen überhaupt rein synthetisch und bildet in diesem speziellen Fall nur eine formale Reaktion gegen die jüdische Staatsgründung.

Unter den Bedingungen des globalisierten Krisenkapitalismus ist eine palästinensische Staatsgründung vollends obsolet; sie wird nur noch ideologisch und aus Interessengründen der entsprechenden Apparate und Eliten aufrecht erhalten. Die einzig mögliche Lösung bestünde darin, den Palästinensern innerhalb Israels Autonomie zuzugestehen, den ghettoisierten Nachkommen der Flüchtlinge in den umliegenden Ländern endlich die jeweilige Staatsbürgerschaft zu geben und die Palästinensergebiete außerhalb Israels den benachbarten arabischen Staaten einzuverleiben; ebenfalls mit Autonomie-Status. Dass eine „Nation“ das höchste der Gefühle und geradezu Lebenszweck sein soll, ist für die palästinensische Bevölkerung so absurd und anachronistisch wie für die kurdische; zumal sich die Nationen in großen Weltteilen auflösen und tribalisieren. Der jüdische Staat ist selber eine Notlösung aus einem weltgesellschaftlichen Zusammenhang heraus, wofür es eben kein palästinensisches Pendant gibt. Wie der Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah in Gaza beweist, zerfällt der palästinensische Staat schon vor seiner möglichen Gründung. Poststaatliche barbarische Regimes wie Hamas und Hisbollah haben überhaupt keine Existenzberechtigung.

Die skizzierten Positionen des Antizionismus haben allesamt ihr historisches Verfallsdatum überschritten; und sie waren allesamt von Anfang an reaktionär oder defizitär. Wenn nun die „israelkritische“ Linke mit ihrer üblichen Rabulistik pseudo-treuherzig zu bedenken gibt, dass Antizionismus ja nicht dasselbe sei wie Antisemitismus, dann ist das nicht einmal mehr die halbe Wahrheit. Sieht man von der selber schon postmodern transformierten antizionistischen Ideologie der Ultra-Orthodoxen in Israel selbst ab, so ist die Vokabel eigentlich gegenstandslos geworden. Wenn heute seitens der islamistischen Regimes, aber auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit des Westens und nicht zuletzt in der globalen Linken eine „antizionistische“ Ideologie formuliert wird, so gehört diese ausschließlich der Funktion des Stellvertreter-Konflikts unter den neuen Krisenverhältnissen an. Deren projektive Verarbeitung in Bezug auf den lokalen Konflikt müsste besser als postmoderner Anti-Israelismus bezeichnet werden. Dabei geht es in Wirklichkeit längst nicht mehr um den alten jüdisch-trotzkistischen Antinationalismus, und auch nicht mehr um eine palästinesische Nationsbildung, sondern um Israel als Projektionsfläche und Abstoßungspunkt eines regressiven „Antikapitalismus“, der dem neuen Antisemitismus „nach Ausschwitz“ seine Verlaufsform gibt.

Durch die offen antisemitischen Ideologiebildungen, die „verkürzte Kapitalismuskritik“, den damit verbundenen „strukturellen Antisemitismus“ und all die linken Verharmlosungsimpulse hindurch fokussiert sich also das Gesamtpotential des neuen Antisemitismus auf die erklärte Israelfeindschaft. Hier dürfen die Masken fallen, weil man das sonst mehr oder weniger diffuse Syndrom als moralischen Affekt gegen die Kindermörder von Gaza ausdrücken und damit einer sonst nicht im Klartext formulierbaren Befindlichkeit Luft machen kann. Wie der klassische Antisemitismus ein breites Spektrum vom tief sitzenden Abscheu, der Diskriminierung und der Enteignung über das spontane Pogrom bis zur Vernichtungspolitik umfasste, so der neue Antisemitismus ein entsprechendes Spektrum von der moralischen Asymmetrie in den Konfliktbewertungen und der Aburteilung der israelischen militärischen Staatsräson über die grundsätzliche „Israelkritik“ bis zur Vernichtungsabsicht gegen den Judenstaat. Der Anti-Israelismus ist zur adäquaten Matrix eines ideologisch übergreifenden Antisemitismus des 21. Jahrhunderts geworden, auch wenn er sich gerade in der Linken nicht als solcher zu erkennen geben will. In dieser Matrix kann sich die klassische kleinbürgerliche Krisendeutung verstecken und ihre regressive Militanz auf einem Ersatzfeld austoben. Die Einsicht in diesen Zusammenhang bildet unter den veränderten Weltverhältnissen die Messlatte von Ideologiekritik, gerade wenn sie von der fundamentalen Negation der kapitalistischen Fetischformen ausgeht.

Die Linke als Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der pseudo-“realpolitische“ Schulterschluss mit den Krisenverwaltern des Weltkapitals im Namen der Israel-Solidarität hatte eine verheerende Wirkung; er führte nicht nur dazu, wie diese jede Kapitalismuskritik per se als „antisemitisch“ zu denunzieren, sondern lieferte im Umkehrschluss eine Legitimation für die kritisierten regressiven Tendenzen. Statt eine notwendige Polarisierung innerhalb der Linken zu eröffnen, wurde diese zum hermetischen anti-zivilisatorischen Block erklärt, während man sich selbst die absurdesten „Bündnispartner“ suchte; von der Springer-Presse bis zum CSU-Fossil Peter Gauweiler. Die umgekehrten Hardliner dieser Wende mauserten sich wie alle Konvertiten zu einer besonders fanatischen Truppe, die ihren Glauben an Freiheit, Gleichheit, Bentham täglich und stündlich beweisen muss.

Dass große Teile der Restlinken im Zusammenhang von affektivem Anti-Israelismus, phantasmatischen Projektionen und Verharmlosungspolitik gegenüber den Elementen des globalen Antisemitismus auf eine geradezu unheimliche Weise zu ihrem eigenen Gegenteil mutieren und sich ihres historischen Überhangs uneingelöster emanzipatorischer Ansprüche entledigen, ist unmöglich vom Standpunkt einer Verteidigung des Kapitalismus als „Zivilisationsmacht“ aus zu kritisieren. Dagegen kann vielmehr nur dann zureichend Front gemacht werden, wenn diese ideologischen und unbewussten Haltungen oder Verarbeitungsweisen als Folge eines Mangels an radikaler Kritik der kapitalistischen Fetisch-Konstitution kenntlich gemacht werden.

Derselbe Mangel bzw. die Preisgabe radikaler Kritik ist allerdings ja auch bei den prowestlichen „Antideutschen“ festzustellen, nur eben seitenverkehrt. Wie die Weltordnungskrieger des westlichen Krisenimperialismus und die islamistische Barbarei zwei Seiten derselben Medaille darstellen, so auch die antiisraelische Linke und die prowestlichen „antideutschen“ Konvertiten. Gemeinsam ist ihnen nicht nur die Demoralisierung der Kapitalismuskritik, die im einen Fall neo-kleinbürgerlich abstürzt und im andern „vorläufig“ oder endgültig zurückgenommen wird, sondern auch das Ersticken am „bürgerlichen Erbe“ der Aufklärungsvernunft. Der Arbeiterbewegungsmarxismus hatte dieses „Erbe“ bis zum Erbrechen gepflegt, gerade weil er nie an die Kritik der modernen Fetisch-Konstitution herankam. Wenn jetzt deren innere Polarität in die Luft fliegt und der feindliche Gegensatz von Partikularismus (Nation, Ethnie, „Kultur“) und Universalismus (Arbeit, Wertform) nicht mehr im Gleichgewicht gehalten werden kann, muss eine in diesem Denkhorizont gefangene Linke ihr letztes Gefecht gegen sich selbst austragen.

Die Transzendierung dieses unbegriffenen Gegensatzes kann nur darin bestehen, den geschlossenen Horizont von Fetisch-Konstitution und Aufklärungsvernunft in der Linkenaufzusprengen und grundsätzlich wie in Bezug auf den nahöstlichen Stellvertreter-Konflikt einen neuen Standpunkt zu eröffnen jenseits von verkürzter Kapitalismuskritik und bürgerlicher Zivilisationsduselei; damit aber auch jenseits von Anti-Israelismus und bloß abstraktem Pro-Israelismus als Identifikation mit dem Weltkapital; eine falsche Israel-Solidarität, die nicht einmal den aktuellen Verlaufsformen standhalten kann, in denen die israelische Staatsräson und die Interessen der globalen Krisenverwaltung auseinanderzutreten beginnen. Das bedeutet auch, in der Auseinandersetzung mit der Restlinken eine andere Vorgehensweise zu entwickeln, in der die Kritik des Anti-Israelismus gleichzeitig den uneingelösten emanzipatorischen Anspruch gegen das globale kapitalistische Fetischverhältnis reformuliert.

Hinsichtlich des nahöstlichen Stellvertreter-Konflikts ist der Schattenriss dieser Polarisierung insofern zu erkennen, als die Gegensätze und Brüche anlässlich des Gaza-Kriegs in der Linken die Konstellation der Jahre nach 2001 hinter sich gelassen haben und sich unabhängig von der Haltung zu den prowestlichen Konvertiten äußern. Mag die Distanz zu den „Israelkritikern“ sich auch durch ein mehr oder minder großes Spektrum von Gruppen, Strömungen oder Parteien ziehen, in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägt und insgesamt minoritär sein, so existiert hier doch eine Sollbruchstelle, in die der Keil getrieben werden muss. Dabei ist es allerdings ebenso bemerkenswert wie problematisch, dass diese Polarisierung fast ausschließlich auf der Ebene der unmittelbaren Konfliktwahrnehmung stattfindet und gerade deshalb emotional aufgeladen ist; vor allem seitens der antiisraelisch Erregten. Die falsche Unmittelbarkeit dieser Polarisierung zeigt sich daran, dass sie innerhalb der verschiedensten Positionen und nicht zwischen diesen stattfindet.

Wollte man den Sachverhalt wiederum durch ein Gedankenspiel illustrieren, so könnte man auf den alten linken Anspruch der „internationalen Solidarität“ zurückgreifen, deren klassischer Träger allerdings verloren gegangen ist. Der stärkste Ausdruck dieses Anspruchs war die Unterstützung bewaffneter Kämpfe in anderen Ländern; man denke nur an die „Internationalen Brigaden“ im spanischen Bürgerkrieg. Überträgt man solche Manifestationen als Gedankenexperiment auf die heutige Situation der Linken, so würden sich als „Internationale Brigaden“ im Namen einerseits der „Israel-Solidarität“ und andererseits der „Palästina-Solidarität“ Mitglieder ein und derselben Gruppen, Strömungen etc., die vor kurzem noch befreundet waren, mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen. Eine agnostische oder relativistische Haltung ist hier nicht mehr möglich; wer diese einzunehmen versucht, wird völlig zu Recht von beiden Seiten unter Feuer genommen, weil der Widerspruch eben kein zufälliger und oberflächlicher ist.

So etwas geschieht nicht zum ersten Mal; aber noch nie war die aufbrechende Konfrontation derart unvermittelt. Verliefen frühere Auseinandersetzungen anhand derEreignisgeschichte stets mehr oder weniger deutlich entlang heranreifender Gegensätze in der allgemeinen Gesellschaftsanalyse und der damit verbundenen Fraktionierung, so bleibt die Bewertung des Nahost-Konflikts den theoretischen oder politischen Positionen auffällig äußerlich. Der Konfliktgegenstand und seine Erscheinungsformen wie der Gaza-Krieg kommen im Bewusstsein nicht über den Status der abstrakten Einzelheit hinaus, wie ja schon die affektive Aufladung in ihrem Missverhältnis zur historischen Analyse gezeigt hat.

Es ist aber nicht möglich, ohne Verschränkung mit einer Reflexion des gesellschaftlichen Ganzen allein an der unausgewiesenen konträren Bewertung eines unmittelbaren Ereigniszusammenhangs den Bruch zu vollziehen, der bloß emotional-affektiv nahe gelegt wird und einen schalen Geschmack zurück ließe. Als „absolute Sprödigkeit der Einzelheit“ (Hegel) kann dieser unmittelbare Gegenstand für sich keine umfassende gesellschaftskritische Position stiften und damit eine Polarisierung nicht wirklich tragen. Deshalb erscheint die Linke in ihrem Bezug auf den Stellvertreter-Konflikt wie Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“; die verschiedenen Positionen stehen in der pro- oder antiisraelischen Haltung sich selbst als ihrem unvermittelten Anderen gegenüber, ohne sich über diese gegensätzliche Einzelheit selber transzendieren zu können.

Der Nahost-Konflikt steht daher auch stellvertretend für den unausgegorenen Selbstwiderspruch einer Linken, die ihrer Verunsicherung nicht auf den Grund gehen will und insgesamt von der stets verleugneten Krisendynamik überrollt wird. Das betrifft bis zu einem gewissen Grad sogar die hier vertretene, als Wertkritik firmierende Position einer noch nicht zureichend gelungenen Transformation des traditionellen linken Denkens; vor allem in oberflächlichen Rezeptionen. Wenn nur die Thematisierung der gesellschaftlichen Formabstraktion und die Theorie einer objektiven Krisenschranke aufgegriffen werden, die analytische und ideologiekritische Weiterentwicklung dagegen ausgeblendet oder beliebig bleibt, kann eine bloß abstrakte Wertkritik mit allen möglichen ideologischen Versatzstücken aus der Erbschaft der Herkunftsgeschichte ihrer Rezipienten amalgamiert werden; und die Sollbruchstelle könnte dann ganz ähnlich wie bei anderen Strömungen ganz unvermittelt der nahöstliche Stellvertreter-Konflikt bilden.

Aber im Sinne einer Transformation über das obsolet gewordene alte Bezugssystem der Linken hinaus kann gerade die radikale Kritik von Kapitalfetisch und bürgerlicher „Vernunft“ am allerwenigsten bei der abstrakten Einzelheit eines solchen stellvertretenden Konfliktgegenstands stehen bleiben. Dieser Gegenstand ist vielmehr statt als Form des unvermittelten Gegensatzes aus der „konkreten Totalität“ von Geschichte und Krise des Kapitals heraus zu entwickeln, soweit dies begrifflich und analytisch überhaupt möglich ist. Es geht also nicht darum, in dieser Hinsicht falsche Kompromisse in jener relativistischen Diktion zu schließen, die „leere Meinung“ (Hegel) gegen „leere Meinung“ unaufgelöst gelten lassen möchte. Vielmehr gilt es zu einer Klärung zu gelangen, in der die Sache nicht affektiv, sondern inhaltlich ausgewiesen behandelt wird; sowohl hinsichtlich der veränderten Situation des Nahostkonflikts selbst als auch seiner ideologischen Stellvertreter-Funktion unter den neuen Krisenbedingungen.




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