exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 18 - Inhalt und Editorial
Français (palim-psao.fr): Crise et Critique de la société marchande : Exit 18: Éditorial, lettre ouverte et appel aux dons Italiano: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 18 - Indice ed Editoriale Português (obeco-online.org): exit! Crise e Crítica da Sociedade das Mercadorias nº 18 sai na Primavera de 2021 – Índice e Editorial
exit! Nr. 18 erschien im Frühjahr 2021 im zu Klampen Verlag. Erhältlich für 22€ im Buchhandel (ISBN 9783866747890) oder im Abo. Inhalt
Editorial, offener Brief und SpendenaufrufIm ›Corona-Jahr‹ 2020 hat sich der Krisenverlauf weiter verschärft. Corona trifft mitten hinein in die Krise des Kapitalismus. Besonders dramatisch wirkt sich das in den kaputt gesparten und ökonomisierten Gesundheitssystemen aus, aber noch mehr da, wo Menschen in den Krisenregionen vollends schutzlos dem Virus und den Auswirkungen der im Zuge der ›Pandemiebekämpfung‹ getroffenen Maßnahmen ausgeliefert sind. Zudem ist Corona keineswegs aus ›heiterem‹ Himmel über die Welt hereingebrochen, sondern steht im Zusammenhang mit der kapitalistischen Herrschaft über die Natur. Was den Ausbruch der Pandemie angeht, spricht vieles für die sog. Zoonose, eine Infektion, die von Tieren auf den Menschen übertragen werden kann. Mit der voranschreitenden Krise des Kapitalismus wird es – trotz aller ›ökologischer Rhetorik‹ – immer schwieriger, die Natur und damit auch Tiere vor dem Verwertungsprozess und damit vor der Zerstörung durch das Kapital zu schützen. Mit zunehmender Substanzlosigkeit des Kapitals wächst der Druck, die natürlichen Grundlagen des Lebens noch mehr dem Verwertungsprozess zu unterwerfen. Fleischproduktion, Handel mit Wildtieren, Vernichtung der Arten, Zerstörung des Regenwalds etc. befeuern die Übertragung von Viren. Für die Verbreitung sorgen globale Handels- und Reisewege. In den westlichen Zentren stößt das Virus auf Demokratien, die alles auf den Versuch gesetzt haben, der kriselnden Akkumulation des Kapitals wieder auf die Sprünge zu helfen und die sozialen Auswirkungen der Krise in Gestalt von für die Verwertung des Kapitals ›überflüssigem Menschenmaterial‹, das neben sozial Deklassierten vor allem bei Migranten/-innen sichtbar wird, mit autoritär-repressiven Maßnahmen bis hin zum demokratisch legitimierten Ausnahmezustand zu bekämpfen. Insofern fallen die Corona-Maßnahmen mit der Wende vom liberalen zum autoritären Pol demokratisch-kapitalistischer Vergesellschaftung zusammen. Nun unterscheiden sich die Corona-Maßnahmen – trotz berechtigter Kritik im Einzelnen (partielle Inkonsistenz der Maßnahmen, Verharmlosung der ›Kollateralschäden‹1 u.a.) – von den gewohnten autoritären ›Reaktionsmustern‹ sowohl dadurch, dass das Virus kein Phantom, sondern gefährliche Realität ist, als auch dadurch, dass sie – entgegen dem Trend – gefährdete Menschen und Gruppen schützen sollen, die als Kranke und Alte zum nicht (mehr) verwertbarem Humankapital gehören. Das hat nichts damit zu tun, dass den Regierungen plötzlich ein humanitäres Licht aufgegangen wäre, sondern damit, dass die Funktionsfähigkeit des Systems dadurch aufrechterhalten werden soll, dass – im zweiten ›Lockdown‹ bei Verwahrung der Kinder in Kitas und Schulen – weiter gearbeitet und konsumiert werden kann bzw. soll, während die Einschränkungen in privaten Bereichen ebenso wie in der Gastronomie, im Event- und Kulturbetrieb das Virus ausbremsen und das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen sollen (wobei die Kapazitäten des ›wettbewerbsorientierten Gesundheitssystems‹ offenbar als ›Naturkonstanten‹ angesehen werden). Dabei bietet Corona die Möglichkeit, bestimmte Tendenzen verstärkt anzugehen. Dies betrifft u.a. die sog. Digitialisierung, deren Agitatoren und Rechtfertigungsideologen die Lösung aller Probleme versprechen. Als Ausweis besonderer ›Dringlichkeit‹ der Digitalisierung bietet sich die Klage über den Ausfall der Bildung, besonders für sozial benachteiligte Kinder, an. Die Not kann jetzt erst recht zur Tugend gemacht werden. Vor allem für die Zeit nach Corona kann schon einmal die Verschärfung des Ausnahmezustands eingeübt werden. Das gilt auch im Blick auf sich abzeichnende Konturen einer autoritären Gesundheitspolitik. Sie wird mehr und mehr darauf ausgerichtet sein, die Gesellschaft gegenüber künftigen Gesundheitsrisiken belastbar, flexibel und widerstandsfähig zu machen. Es ist eine Politik der Immunisierung gegenüber vorhersehbaren Krisen (anthropogener Klimawandel, soziale Massenverelendung usw.). Sie werden als ein Verhängnis akzeptiert, das nicht abgewendet werden kann und vor denen es nur die Möglichkeit von Schutzmaßnahmen zu geben scheint. Unter dem Primat präventiver Resilienz kann dann alles das, was Corona befördert und künftige Ausbrüche von Infektionen befeuern wird, in den bekannten Krisenprozessen weiterlaufen: Die Herrschaft über die Natur, Züchtung und Verwertung von Tieren, Globalisierung und Mobilität für Produktion und Handel usw., alles unter der abstrakten Herrschaft des irrationalen kapitalistischen Selbstzwecks. Ihn gilt es, auf Biegen und Brechen und um jeden Preis zu erhalten – auch wenn es völlig illusorisch ist. Dabei kann an das angeknüpft werden, was in der Corona-Krise mit gutem Gewissen durchgesetzt wurde, um einen permanenten Notstand zu etablieren: So wurde die Einschränkung von Grundrechten durch gesundheitspolitische Maßnahmen begründet. Es wurde bzw. wird mithilfe von Dekreten ›durchregiert‹ – Es schlägt die ›Stunde der Exekutive‹.2 Zugleich muss daran erinnert werden dass für die permanente Verschärfung des Sicherheitsapparates durch Polizeigesetze, flächendeckende Kameraüberwachung (Stasi 2.0) usw. keineswegs erst eine Pandemie nötig war bzw. ist.3 Die Transformation der ›liberalen Demokratie‹ in einen militanten Polizeistaat, in dem die Polizei durch ihre stets erweiterten Befugnisse machen kann, was sie will, ist Möglichkeit und Kern der bürgerlichen Demokratie selbst. Um mit jedem Problem ›fertig‹ zu werden, war man wiederholt bereit, alles der ›Sicherheit‹ aufzuopfern. Sicherheit sei schließlich ein »Supergrundrecht«, so der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich 2013. Die Demokratie macht in ihrem ›Umgang mit Widersprüchen‹ ihren repressiven Kern sichtbar. Brechen Riots aus, die oft nur in inhaltsleerem Randalieren bestehen (wie in Stuttgart im Juni), so wird dies nicht als Ausdruck der Irrationalität und Sinnlosigkeit der bürgerlichen ›Normalität‹ selbst begriffen. In einer Haltung der grundsätzlichen Reflexionslosigkeit wird sich über solche Gewaltausbrüche echauffiert. Man zeigt sich ›empört‹ und ›schockiert‹. Ganz anders dagegen wird Polizeigewalt beurteilt. Diese sei ›gerechtfertigt‹ und ›notwendig‹, ja ›verhältnismäßig‹. Außerdem müsse der Staat beim ›Widerstand gegen die Staatsgewalt‹ hart durchgreifen.4 Dies gilt vor allem dann, wenn das ›Privateigentum‹ durchgesetzt werden soll: Dazu werden auch mal 1500 Polizisten mobilisiert, um gerade mal knapp 20 Menschen (!) aus einem besetzten Haus zu ›entfernen‹ (Berlin, Liebigstraße 34 am 9.10.2020). Der ›richtige Gebrauch‹ der Grundrechte besteht in der ›besten aller Welten‹ eben darin, das ›Bestehende‹ anständig und brav zu affirmieren. Jede Debatte über Gewalt bei Demonstrationen und Protesten ist daher vollkommen sinnlos, wenn die ›legitime‹ oder legitimierte Gewalt der Polizei zum ›Rechtsstaat‹ verklärt wird und Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Rassismus, soziale Ungleichheit, Wohnungsnot usw. außerhalb des Diskurses verbleiben. Dass die bürgerliche Gesellschaft selbst in ihrem ›Normalgang‹ zutiefst gewaltvoll ist, durch soziale Ausschlüsse und Rassismus u.a., wird in diesen scheinheiligen Gewalt-›Debatten‹ verdrängt. Oder externalisiert: So sei der Rassismus in den USA zwar ein Problem, in Deutschland aber gäbe es angeblich nur ›Einzelfälle‹. Wie absurd, dass hierzulande sich niemand in Donald Trump wiederzuerkennen vermochte, der die Antifa zu einer Terrororganisation erklären wollte5 und damit mit der Staatsdoktrin der BRD (Extremismustheorie, Anti-Antifaschismus)6 konform ging. Der Buhmann ist immer der andere. Grotesk ist der Aufwand, den die BRD und ihre Repressionsorgane (selbst der MAD ist damit beschäftigt) betreiben, um sogenannter Adbuster, also Leuten, die Plakate satirisch abändern, habhaft zu werden.7 Anhand der Verfolgungswut gegen Adbusting, im Unterschied zum lahmen Aufklärungswillen betreffs rechtsradikaler Netzwerke innerhalb der Polizei und der Bundeswehr (NSU 2.0, Hannibal, Nordkreuz usw.), sieht man einmal mehr, wo die Prioritäten der ›Sicherheitsbehörden‹ liegen.8 Business as usual ist auch, dass mit zweierlei Maß gemessen wird: Während rechte Demos ohne große Schwierigkeiten, trotz Verstößen gegen Auflagen, ablaufen können, wie die ›Corona-Demo‹ Ende Oktober in Berlin, werden linke Demos brutal zusammengeknüppelt, wie etwa jene in Ingelheim, eine Demonstration gegen die Nazi-Partei »Die Rechte«.9 Offenbar gilt die Lebensweisheit: ›Wer sich Nazis entgegenstellt, trifft keinen freundlichen Polizisten‹. Der Teufel weiß wieso. Ebenso wenig sind auch dies ›Einzelfälle‹: Der Feind steht links und genauso werden Antifaschisten von der Polizei auch behandelt: Als Feinde, denen mit Pfefferspray und Schlagstock die Logik von ›Recht und Ordnung‹ konkret gemacht wird. Der Umgang mit Flüchtlingen zeigt, worin die ›demokratischen Werte‹ schlussendlich bestehen.10 Darin sind sich Faschisten und Demokraten einig. Der Unterschied besteht offenbar nur noch darin, dass die werten Demokraten sich einen Schleier an Humanität auferlegen, mit dem sie dann die rassistischen Positionen der AfD zu kritisieren meinen, was sie aber nicht daran hindert, am Ende doch das zu tun, was sie der AfD ideologisch vorwerfen. Das Fleisch, von dem sie sich vorgeblich abwenden, ist ihr eigenes. Von ihrem eigenen verdrängten und unverstandenen Schatten werden sie schließlich eingeholt. Es ist die bürgerliche Gesellschaft selbst, die ihr angebliches Gegenteil schafft. Nun bleiben die Corona-Maßnahmen nicht unwidersprochen. Als besonders wirkmächtig haben sich dabei nicht Einsprüche gegen die sozialen und psychologischen Folgen oder Kritiken gegen die Ökonomisierung des Gesundheitssystems erwiesen11, sondern die querfrontlerischen bzw. verschwörungsideologischen ›Hygiene‹- und ›Querdenken-Demonstrationen‹.12 Dass diese Demonstrationen eine recht große Resonanz hatten, hat auch damit zu tun, dass der sog. Mainstream, die ›bürgerliche Mitte‹, sich mehr und mehr nach rechts verschoben hat. Dies zeigen zum einen rassistische Diskurse (AfD, Pediga), die darauf abzielten, die »Grenzen des Sagbaren auszuweiten« (Gauland). Das ist offensichtlich gelungen, bedenkt man z.B., dass Die Zeit 2018 allen Ernstes Pro und Contra diskutierte, ob Flüchtlinge gerettet werden sollten. Rechts ist dort, wo die Mitte ist, kann man mit Kurt Lenk formulieren.13 Zum anderen gibt es längst eine Reihe von Publizisten, die die Krise (bzw. was sie darunter verstehen) auf reaktionäre Weise zum Thema machen. So erscheint ein Bestseller nach dem anderen. Hier rächt sich die Ignoranz der Linken, vom ›Kollaps der Modernisierung‹, von der ›Inneren Schranke‹, von ›kategorialer Kritik‹ und von Krisentheorie nichts wissen zu wollen und sich allen Debatten stur verweigert zu haben.14 Es kostet wohl zu viel an Reflexionsfähigkeit, um sich eingestehen zu können, jahrelang nur Scheiße geredet zu haben (man erinnere sich etwa an das antideutsche Pamphlet »Der Theoretiker ist der Wert«15). In diese ›Lücke‹ stoßen nun allerlei rechte Obskuranten mit ihren reaktionären ›Krisendeutungen‹. Der rechtslibertäre Markus Krall etwa, dessen Ausführungen ins Wahnhafte reichen, glaubt, Deutschland stehe kurz vor einer »öko-sozialistischen Diktatur«, die nur noch durch eine »bürgerliche Revolution« verhindert werden könnte.16 Gemeinsam ist diesen reaktionären Krisendeutern, dass sie meinen, der Kapitalismus könne sich wieder aufrappeln, u.a. durch eine Reform des Geldsystems, z.B. durch Golddeckung. Gold sei nämlich »die ultimative Krisenversicherung«, so Max Otte (Mitglied der ›Werteunion‹, Veranstalter des ›Neuen Hambacher Festes‹, Gast bei Ken Jebsen und Befürworter einer ›bürgerlichen Koalition‹ mit der AfD).17 Es ist klar, dass damit diejenigen angesprochen sind, die überhaupt über ein nennenswertes Vermögen verfügen und befürchten, es durch den Krisenprozess zu verlieren. Der Mittelstand kriegt kalte Füße und schwitzt den Extremismus der Mitte aus. Damit ist das Gruselkabinett lange nicht komplett. In diesen Kreisen ist ein gewisser Thorsten Schulte, der »Silberjunge«, unterwegs, ein Geschichtsrevisionist übelster Art (der mit »Fremdbestimmt« einen weiteren Bestseller vorgelegt hat), selbstverständlich Gast bei Ken Jebsen, der vor dem Bundeskanzleramt am 1.8. in Berlin das Folgende sprach: »Wir können uns von diesem satanischen (!) Regierungssystem, das dort in diesem Bundeskanzleramt herrscht, nur absetzen, und ich bete zu Gott und Jesus Christus, und das ist keine PR-Maßnahme, ich habe hier einen Rosenkranz. […] Jesus Christus ist auf unserer Seite. Und ich sage es deutlich. Ihr seid heute alle Zeuge des Beginns, das meine ich sehr sehr ernst, der Apokalypse (!) […]. Und deshalb halte ich euch dieses Kreuz hier hin, ihr satanischen Wesen (!) da drin. Wir werden mit der Liebe und dem Weg Gottes dazu beitragen, dass wir zur Selbstbestimmung kommen […] Und wir werden mit dem Weg der Liebe dieses System zu Fall bringen.« Hier paart sich das sich schon länger entfaltende autoritäre Bedürfnis im Zuge der »dezisionistisch-autoritären Wende«18 der Postmoderne mit verschwörungideologischem Wahn, zusammengemengt mit einem schwulstigen religiösen bzw. religionspopulistischen Jargon.19 Eine derartige, mit missionarischer ›Frömmigkeit‹ umgarnte Rede, passt zum Gesamtbild Schultes und der Seinen, schließlich quellen »Verschwörungstheoretiker […] geradezu über vor Mitteilungsbedürfnissen und missionarischem Überzeugungseifer«.20 Mit »Q-Anon« bekommt eine besonders bizarre Verschwörungstheorie zunehmend Einfluss (auch auf den deutschen Anti-Corona-Demos), die von Donald Trump auch noch gepuscht wurde. So positionierten sich mehrere (es sollen um die 60 gewesen sein) Wahlkandidaten und Wahlkandidatinnen der Republikaner für den Kongress als Anhänger von »Q« (Marjorie Taylor Greene wurde tatsächlich in den Kongress gewählt). Trump gilt in diesem Verschwörungswahn als jemand, der den ›deep state‹ (der aus einem ›Netzwerk von pädophilen Eliten‹ bestehe) bekämpfe, welcher in unterirdischen Verliesen entführte Kinder foltere und töte, um aus ihnen das Adrenalinderivat Adrenochrom für ein ›Jugendelixier‹ herzustellen. Die Parallele zur antisemitischen Ritualmordlegende ist offensichtlich. Wo Verschwörungswahn sich ausdrückt, ist der Antisemitismus nicht weit, wie es in der Corona-Krise wieder überaus deutlich wurde: »So stimmt beispielsweise rund jede fünfte Person in England mehr oder weniger der Ansicht zu, Juden hätten das Virus geschaffen, um die Wirtschaft kollabieren zu lassen und ein Geschäft aus der Situation zu machen«. Auch konnte man antisemitische Selbstviktimisierungen auf den Anti-Corona-Demonstrationen in Deutschland beobachten, sogenannter ›Impfgegner‹, die sich offenbar als die ›Juden von heute‹ halluzinierten, die T-Shirts mit Judenstern (!) trugen, auf denen »ungeimpft« (!!) geschrieben stand.21 Damit ist offensichtlich, dass die Impfgegner in ihrem affektiven Wahn, keineswegs eine Kritik des medizinischen Apparates (etwa im Sinne einer Kritik des Zurückfahrens des medizinischen Versorgung aus ›Kostengründen‹) liefern können. Das macht auch der Verschwörungstheoretiker und Antisemit Christoph Hörstel (der immer wieder Sprecher auf der antisemitischen Al-Quds-Demo22 zu Berlin ist) überaus deutlich, der allen Ernstes von der »Virus-Ideologie« sprach, d.h. Viren selbst seien Hörstel zufolge nur eine Erfindung dubioser Machenschaften! Anders als ihre Anhänger/-innen vielleicht glauben mögen, bieten »Verschwörungstheorien […] niemals alternative Gegenentwürfe zum geltenden Common Sense einer Gesellschaft [...] sondern knüpfen vielmehr opportunistisch an vorherrschende Meinungen an«.23 Oder sie reformulieren den ›Mainstream‹, etwa durch ›Suche‹ nach Antwort auf die ermüdende und natürlich alles ›erklärende‹ Phrase, cui bono? Auch die Corona-Pandemie und die Maßnahmen dagegen werden in diesem Sinne verstanden. Ernst Wolff beispielsweise (mehrfacher Gast bei Ken Jebsen, Redner auf Ivo Saseks verschwörungsideologischer ›Anti-Zensur-Konferenz‹ 2019) beurteilt den Lockdown folgendermaßen »Der Lockdown war mit Sicherheit nichts anderes als der bewusst herbeigeführte Vorwand für die möglicherweise letzte große Rettungsaktion des bestehenden Finanzsystems«.24 Resultat dieser ›Subjektivierung der Krise‹ ist nichts anderes als eine konformistische Revolte. Von einer Kritik der Verwertungsbewegung des Kapitals und wie diese die Entstehung und Verbreitung von Pandemien begünstigt (global verkettete Warenströme, Umweltzerstörung, ›kosteneffizientes Gesundheitssystem‹ u.a.) ist bei diesen ›Querdenkern‹ nichts zu sehen. Von Verschwörungsideologen aller Art wird der Kapitalismus (bzw. das Geld, die Arbeit usw.) nicht kritisiert, sondern erst recht naturalisiert.25 Dass sie sich ausgerechnet als ›alternativ‹ oder gar als ›kritisch‹ gerieren, erscheint als ein sehr schlechter Scherz, bei dem einem/einer das Lachen im Halse stecken bleibt. Hierbei ist zu betonen, dass die ›linke Szene‹ vom verschwörungstheoretischen Wahn keineswegs frei ist.26 Dabei ist eine solche Denke nicht allein in stalinistischen Sekten wie der MLPD zu verorten, sondern äußert sich auch bei diversen linken ›Neoliberalismuskritikern‹, wird doch von diesen unterstellt, der Neoliberalismus sei mehr oder weniger eine Art hinterlistiger Putsch gewesen, der durch eine ›richtige‹ Politik wieder aus der Welt geschafft werden könnte.27 Der bei diesen ›Querdenken-Demonstrationen‹ und in anderen Zusammenhängen oft aufgeführte Begriff der ›Querfront‹ wirft allerdings mehr Fragen auf als er wirklich beantwortet. Dass linke und rechte und bürgerliche Positionen zu konvergieren scheinen, liegt nicht daran, dass ›Allianzen‹ zwischen distinkten Lagern angegangen werden (im Unterschied zu ›Querfrontbestrebungen‹ in der Weimarer Republik), sondern vielmehr daran, dass das ihnen gemeinsame kategoriale Bezugsfeld an historische Grenzen stößt und sie daher allesamt in ihrer Obsoletheit verwildern. Oder in den Worten von Robert Kurz: »Rechte, linke und liberale Ideologeme sind ebenso wenig mehr eindeutig abgrenzbar, wie bürgerliche, kleinbürgerliche und proletarische Positionen. Keine dieser nur noch scheinhaften Alternativen kann mehr eigenständig ein historisches Feld markieren, keine in gedanklicher Kohärenz bei sich bleiben. Der in allen Lagern, die schon keine mehr sind, sich breit machende müde Pragmatismus und Eklektizismus verrät die schiere Hilflosigkeit angesichts der von den bisher geläufigen Denkschulen und Interpretationsmustern nicht mehr erfaßbaren weltgesellschaftlichen Entwicklung. Diese gemeinsame Hilflosigkeit, die jede klare Distinktion der theoretischen und politischen Inhalte zusammenbrechen läßt, verweist auf den Niedergang des gemeinsamen historischen Bezugssystems«.28 Man kann hier also von einer Paralyse des Bewusstsein reden. Eine Gesellschaft, die zu einer kritischen Distanz zu sich selbst nicht fähig ist, und deren Subjekte den Kapitalismus bar aller kritischer Reflexion, als unhintergehbares Schicksal imaginieren, begünstigt irrsinnige oder anachronistische ›Weltdeutungen‹ aller Art. Der immer mehr um sich greifende Verschwörungswahn komplettiert die Paralyse. Dabei steigt die »Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien […] offensichtlich immer dann an, wenn die Auffassung überhand nimmt, dass keinerlei Chance mehr für eine eigenständige, selbstbestimmte Lebensgestaltung bestehen und stattdessen rundum nur noch anonyme Mächte im Geheimen schalten und walten. In solchen ausweglos erscheinenden Drucksituationen, die beispielsweise durch sozialen Abstieg und eine drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation hervorgerufen sein können, eröffnen Verschwörungstheorien einen trügerischen Königsweg zur Deutung kompliziertester Zusammenhänge und vermitteln das sichere Gefühl, endlich Bescheid zu wissen, was rund um einen herum und mit einem selbst geschieht [...]«.29 Es ist klar, dass es keinesfalls genügt, Verschwörungstheorien und ihren Anhängern mit Argumenten und Fakten zu begegnen, wie dies an verschiedenen Stellen versucht wird. Dabei ist zu betonen, dass eine Kritik des Verschwörungswahns unzureichend oder gar falsch bleibt, wenn ihm eine instrumentelle Vernunft entgegengesetzt wird, die sich als die ›Binnenvernunft‹ der selbst zutiefst irrationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise erweist. Je haltloser und je auswegloser alle ›Krisenbewältigungsstrategien‹ werden, umso weniger dürften sich Verschwörungswahn und ›bürgerliche Vernunft‹ (bzw. ihre verwilderten Derivate) unterscheiden. Das gilt umso mehr, je weniger sich eine ›Normalität‹ aufrechterhalten oder simulieren lässt. Daran wird sich auch nach der Wahl Joe Bidens zum Präsidenten der USA nichts ändern. Vielmehr ist mit einer weiteren Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche zu rechnen. Gleiches ist von den autoritären ›Reaktionsmustern‹ des sog. ›Rechtsstaates‹ zu erwarten. Das ›Einüben‹ des Ausnahmezustands während Corona wird seine Früchte noch früh genug zeigen. Es bleibt die Notwendigkeit in diesen Zeiten einer Verwilderung des Bewusstseins, die gesellschaftlichen Verhältnisse nach wie vor und jetzt erst recht auf den Begriff zu bringen. Damit dies auch in Zukunft möglich bleibt, bitten wir auch in diesem Jahr darum, uns weiterhin mit Spenden zu unterstützen. Wie unser Beitrag dazu in dieser Ausgabe der exit! aussieht, dokumentieren die hier veröffentlichten Texte. Der Text »Das Ende des Westens in der Corona-Krise« von Tomasz Konicz zeichnet die Umbrüche der US-Hegemonie sowie deren sukzessive Erosion innerhalb des zerfallenden westlichen Bündnissystems vor dem Hintergrund des historischen Krisenprozesses der sich schubweise entfaltenden inneren Schranke des Kapitals nach. Ausgehend von der gut 40 Jahre zurückliegenden Transformation der ökonomischen Basis der hegemonialen Stellung Washingtons, die durch das Auslaufen des fordistischen Nachkriegsbooms und die hiernach einsetzende Krisenperiode der Stagflation ausgelöst wurde, sowie der Modifizierung der militärischen Rolle der US-Militärmaschinerie nach dem Ende des ›Kalten Krieges‹ gegen den 1989 kollabierenden Staatssozialismus, wird die zentrale Rolle der globalen Defizitkreisläufe samt der Finanzialisierung des Kapitalismus bei der Aufrechterhaltung der Hegemonie der USA bis 2008 betont. Mit dem Krisenschub von 2008 setzen sich aber – so die zentrale These des Textes – die Momente der Krisenkonkurrenz auch innerhalb des Westens durch, sodass es gerade der Wirtschaftsnationalismus der Trump-Administration war, der den Zerfall des Westens und den endgültigen Zusammenbruch der amerikanischen Hegemonie beschleunigte. Ein zurück zum Status quo ante Trump sei demnach nicht mehr möglich. Der historische Krisenprozess sei so weit vorangeschritten und nicht zuletzt durch Corona befeuert worden, dass jedweder Versuch der westlichen Zentren, ›Stabilität‹ zu erlangen, sich als vergeblich erweisen werde. Das Ziel des Textes »Das Wachstum und die Krise der brasilianischen Wirtschaft im 21. Jahrhundert als Krise der Arbeitsgesellschaft: Commodity-Blase, fiktives Kapital und Wert-Abspaltungs-Kritik« von Fábio Pitta ist es, die Phänomene des ökonomischen Wachstums in Brasilien ab 2003 und die ökonomische Krise nach 2012/2013 in Verbindung zu setzen mit der durch das fiktive Kapital gespeisten Finanzblasenwirtschaft als Moment der globalen Reproduktion des zeitgenössischen Kapitalismus in seiner fundamentalen Krise. Der Text geht von einer Kritik an brasilianischen Autoren aus, die die Krise nur in Hinblick auf die ›Rückständigkeit‹ Brasiliens analysieren. Eine Blase der Finanzmärkte von Rohstoffderivaten, die zu einem erheblichen Preisanstieg führte, trieb die brasilianischen Exporte sowie die Verschuldung des Landes an. Dies ermöglichte eine Konkurrenz um die Schulden zwischen den Unternehmen der sogenannten ›realen Wirtschaft‹, was zu einer Beschleunigung der Entwicklung der Produktivkräfte führte, zu einem Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einer Verdrängung von lebendiger Arbeit aus den Produktionsprozessen – das geschieht in Brasilien schon seit den 1970ern, hat sich aber in jüngster Zeit weiter intensiviert. Solche Prozesse konnten sich nur bis zum Platzen der Rohstoffblase zwischen 2011 und 2014 halten, als Folge des Platzens der globalen Finanzblase 2008, die in diesem Text, von Robert Kurz ausgehend, unter den Bestimmungen des fiktiven Kapitals und der simulierten Akkumulation begriffen wird. Ab 2012 gibt es in Brasilien eine hohe öffentliche und private Verschuldung, Massenarbeitslosigkeit, weit verbreitete Firmenpleiten, politische Instabilität und den Aufstieg des Rechtsradikalismus, was die gesellschaftliche Verwilderung und die Gewalt an Frauen, Schwarzen, Indigenen und Landarbeitern verschärfte. Der Text verteidigt schließlich die Notwendigkeit der radikalen Wert-Abspaltungs-Kritik, die in ihrer Kritik des Kapitals, der Ware und der Arbeit auf eine Überwindung dieser gesellschaftlichen Vermittlung zielt. Der Text von Thomas Meyer liefert einen weiteren Beitrag der Artikelreihe »Alternativen zum Kapitalismus – Im Check«.30 In diesem werden die Postwachstumsbewegung und die Commons unter die Lupe genommen. Dabei wird deutlich, dass diese angeblichen Alternativen zum Kapitalismus nicht nur weit von einer kategorialen Kritik entfernt, sondern anschlussfähig an eine repressive Krisenverwaltung sind. Mit Konzepten wie etwa ›Regionalgeld‹ wird auf Surrogate von Markt und Staat zurückgegriffen, um den Kapitalismus zombieartig zu verlängern. Die Notwendigkeit, den Kapitalismus auch ›praktisch‹ in Frage zu stellen ist zwar heute größer denn je, etwa über ein Infragestellen der ›Finanzierbarkeit‹, jedoch liefern Postwachstums- und Commonsbewegung nicht viel mehr als eine ›Alternative‹ im sozialen Elend der Krise; entscheidenden Punkten, wie der Frage nach der gesellschaftlichen Synthesis, wird nicht nachgegangen. Im Anschluss an die Neuveröffentlichung von Robert Kurz’ Text über den automobilen Wahn in der letzten exit! (Springe 2019) beleuchtet Thomas Koch in dem Beitrag »Zur Aktualität von Robert Kurz’ ›Freie Fahrt ins Krisenchaos‹« neuere und zugespitzte Entwicklungen des Automobilismus, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe und der Umweltbewegungen. Welche Optionen stecken in den ›Zukunftsvisionen‹ von Elektromobilität oder dem autonomen Fahren und technologischen Lösungen angesichts der globalen Kontrollverluste, die mit den Stichworten Corona und Klima verbunden sind? Kritisch reflektiert werden auch die Entwicklungen, die sich mit dem sogenannten Abgasskandal und dessen Projektion auf ein realitätsfernes Management im Kernland des Automobilismus vollzogen haben. Andreas Urban erörtert in seinem Beitrag kulturell-symbolische Aspekte der »Verwilderung des Patriarchats« (Roswitha Scholz). Ausgegangen wird dabei vor allem von diversen gesellschaftlich viel diskutierten Veränderungen auf der Ebene des Geschlechterverhältnisses, insbesondere postmodernen Tendenzen der Aufweichung von Geschlechternormen und -identitäten. So ist es etwa in den letzten Jahrzehnten zu einer zunehmenden Normalisierung weiblicher Berufskarrieren und einem Vordringen von Frauen in gesellschaftliche, insbesondere wirtschaftliche und politische Spitzenpositionen gekommen. In diesen Kontext gehören u.a. auch politische Maßnahmen zur Gleichstellung von Männern und Frauen (Frauenquoten etc.). Auf der anderen Seite erfahren Männer, u.a. durch solche Entwicklungen im Bereich der Geschlechterverhältnisse, aber auch durch zunehmende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, empfindliche Einschnitte in ihre historisch gewachsene hegemoniale Position und damit auch in ihre männliche Identität – Tendenzen, die in jüngerer Zeit im Sinne einer ›Männlichkeitskrise‹ verhandelt werden. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die These, dass derartige Veränderungen, im Gegensatz zu gängigen (feministischen) Einschätzungen, nicht als Indizien für eine zunehmende Aufweichung oder gar Überwindung historisch gewachsener patriarchaler und androzentrischer Strukturen betrachtet werden können, sondern vielmehr als Hinweise auf deren sukzessive Verwilderung in der fundamentalen Krise des Kapitalismus und der ihm zugrunde liegenden Wert-Abspaltungsverhältnisse. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass Geschlechterhierarchien sowohl auf materieller als auch symbolischer Ebene weiterhin nahezu ungebrochen reproduziert werden, wenn auch teilweise in anderer Form. Von Robert Kurz ist der Aufsatz »Die Demokratie frißt ihre Kinder« von 199331 auf Portugiesisch bei Consequência erschienen: A Democracia devora seus Filhos, Rio de Janeiro 2020, mit einem Vorwort von Roswitha Scholz.32 Auf Französisch sind erschienen eine Neuauflage von Anselm Jappe: Guy Debord, bei La Découverte, Paris 2020, sowie die zweite und dritte Ausgabe der Zeitschrift Jaggernaut – Crise et critique de la société capitaliste-patriarchale, bei Crise & Critique, Albi 2020, mit Texten u.a. von Claus-Peter Ortlieb; von Robert Kurz: L’industrie culturelle au XXIe siècle – De l’actualité du concept d’Adorno et Horkheimer (ebd.)33; des Weiteren ein Sammelband zur Corona-Krise: De virus illustribus – Crise du coronavirus et èpuisement structurel du capitalisme (ebd.). Dieser Band zeigt auf, dass die neue Weltwirtschaftskrise keine Folge des Virus ist, sondern schon vorher angefangen hatte. Er untersucht die Schwierigkeiten, den Kapitalismus noch einmal anzuwerfen sowie die Schwankungen der Staaten zwischen der ›Rettung der Wirtschaft‹ und der ›Rettung der Bevölkerungen‹ und zeigt die spezifischen Folgen, auch in Hinsicht auf die Wert-Abspaltung, in einem Land wie Brasilien auf. Die neuen Überwachungstechniken werden analysiert und die Frage diskutiert, ob zumindest das ökologische Bewusstsein Nutzen aus dieser Krise ziehen kann. Das Buch Béton – Arme de construction massive du capitalisme von Anselm Jappe (bei L’Echappée, Paris 2020) untersucht die Rolle des Betons, der wesentlich weniger Kritik als andere massiv gebrauchte Materialien wie Plastik oder Erdöl erfährt. Nach der Zusammenfassung seiner Geschichte und seiner Folgen wird aufgezeigt, dass dieses Material als die ›konkrete‹ Seite der Wertabstraktion betrachtet werden kann: die von Marx erwähnte ›Gallerte‹ des Werts materialisiert sich in dem stets gleichen Beton, Quantität ohne Qualität, der die Vielfältigkeit des Bauens in der Welt zugunsten einer einförmigen, auf dem Beton beruhenden Architektur eingeebnet hat. Im Schmetterling-Verlag ist von Tomasz Konicz erschienen: Klimakiller Kapital – Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört, Wien/Berlin 2020. Thomas Meyer für die exit!-Redaktion im November 2020.
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