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EXIT! - Eine programmatische Selbstdarstellung


Kapitalismuskritik für das 21. Jahrhundert

Mit Marx über Marx hinaus: Das theoretische Projekt der Gruppe „EXIT!“

Der hier vorgelegte Text versucht, in einer Art „Momentaufnahme“ den Theoriebildungsprozess zusammenzufassen, wie er sich bis heute aus dem auf dieser Internetseite vertretenen gesellschaftskritischen Ansatz entwickelt hat. Er soll neu Interessierten als eine erste Orientierung dienen. Er ist programmatisch, freilich nicht im Sinne eines politischen Programms, das eine „Linie“ festlegt, sondern im Sinne eines theoretischen Programms, das es in vieler Hinsicht erst noch auszufüllen gilt.

Seit Ende der 80er Jahre erleben wir weltweit nicht nur den Todeskampf von Marxismus, Sozialismus, Arbeiterbewegung und nationalen Befreiungsbewegungen. Auch der klassische bürgerliche Welfare-Staat löst sich auf, das keynesianische Paradigma ist nur noch Nostalgie, und die Regimes der „Entwicklung“ in der Dritten Welt verfallen auch in ihren prowestlichen Varianten. Ebenso wenig haben die nostalgischen Revivals der Dritte-Welt-Revolutionsromantik noch eine welthistorische gesellschaftliche Eigenperspektive. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um Abfallprodukte der Globalisierung wie das allein von der Explosion des Ölpreises gesponserte vulgärmarxistische Caudillo-Regime von Chavez in Venezuela, das sich mit dem antisemitischen Islamismus verbündet, oder um ethno-populistische Strömungen wie diejenige der mexikanischen Zapatistas, die das gegenstandslos gewordene nationale Entwicklungsprogramm in eine basisdemokratische folkloristische Selbstverwaltung des Elends verwandelt haben.

Im weltgesellschaftlichen Maßstab werden die alten linken Paradigmen von Reform und Revolution im herkömmlichen Verständnis hinfällig, weil es keinen Horizont staatlich organisierter Regulation und Transformation mehr gibt. Überall hissen die übrig gebliebenen Institutionen des ehemaligen sozialen Interessenkampfes die weiße Fahne der Kapitulation. Der Begriff der „sozialen Reform“ hat sich in sein Gegenteil verwandelt und ist semantisch von der neoliberalen Gegenreform besetzt worden, die Schritt für Schritt sämtliche sozialen Errungenschaften, Sicherungssysteme und öffentlichen Dienste auf ihren immer schon darin enthaltenen repressiven Kern reduziert. Das neoliberale Paradigma ist keine distinkte Position mehr, sondern parteiübergreifender Konsens bis weit in die Linke hinein, die nur noch kraftlose Modifikationen oder als Scheingegensatz rückwärtsgewandte Ideologien einer vergangenen Epoche formulieren kann. Deshalb fällt die Gegenwehr immer schwächer aus; selbst große Streiks und aufflackernde Massenbewegungen enden regelmäßig mit Niederlagen und Resignation.

Wie es scheint, hat der Kapitalismus auf der ganzen Linie gesiegt. Und das nicht etwa bloß als äußere repressive Macht, sondern im Inneren der Subjekte selbst. Das scheinbare „Naturgesetz“ des Marktes und die negative Universalität der Konkurrenz werden als unüberschreitbare Bedingungen menschlicher Existenz erlebt, obwohl die Resultate verheerend, demütigend und unerträglich sind. Je deutlicher es wird, dass diese planetarische Ordnung der Gesellschaft auf soziale und ökologische Selbstzerstörung hinausläuft, desto verbissener klammern sich die Individuen an den Kategorien und Kriterien dieser negativen Form von Vergesellschaftung fest, die sie verinnerlicht haben. In demselben Maße, wie sich die bürgerliche Vernunft in jene Barbarei auflöst, vor der Marx gewarnt hatte, verweigert das gesellschaftliche Denken kritische Reflexion und beschwört eine kapitalistische „Zivilisation“, deren positiver Fortschritt häufig nur ideologisch behauptet und imaginiert wurde. Auch die militärische Gewalt der kapitalistischen Weltpolizei löst nicht die Probleme, sondern verstärkt eher das destruktive Chaos und die Perspektivlosigkeit (wie im Irak seit der Intervention 2003). Der Kapitalismus hat nur in Form seiner eigenen Krise gesiegt, die aber zur Krise der berühmten „handelnden Subjekte“ selbst geworden ist und deshalb keinen Weg der sozialen Emanzipation mehr öffnet. Die neue Qualität der Krise paralysiert die Kritik, statt sie zu mobilisieren.

Diese Paradoxie verlangt nach einer Erklärung. Im deutschsprachigen Raum hat sich seit Ende der 80er Jahre eine theoretische Position herausgebildet, die sich diesem Problem stellt. Dabei wurde der Versuch unternommen, die „linke Geschichte“ von 150 Jahren Marxismus und Arbeiterbewegung kritisch aufzuarbeiten. Die Gruppe „EXIT!“ um die gleichnamige Theoriezeitschrift begreift sich selbst als Resultat dieser Bemühungen und betreibt ihre aktuelle Weiterentwicklung. „EXIT!“ setzt sich dabei gewissermaßen von innen heraus mit dem Marxismus auseinander, um die Marxsche Theorie in eine neue Gestalt zu transformieren, die in den Horizont des 21. Jahrhunderts eintreten kann. Deshalb müssen unbarmherzige Fragen an das marxistische Denken gestellt werden. Der Marxismus gilt doch als die theoretische Gestalt der Kapitalismuskritik par excellence. Warum gerät er selber ausgerechnet zusammen mit dem Gegenstand seiner Kritik in seine bisher schwerste Krise? Warum findet er keine Antwort auf die neue Weltsituation an der Schwelle des 21. Jahrhunderts? Warum wirkt sein ganzer Begriffsapparat so hoffnungslos veraltet?

Die Problemlage ist nicht völlig neu, auch wenn sie sich erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugespitzt hat. Schon seit den 60er Jahren war absehbar, dass das traditionelle marxistische Paradigma erschöpft ist und der kapitalistischen Entwicklung nicht mehr folgen kann. Zwar schienen die sich mehr oder weniger marxistisch legitimierenden nationalen Befreiungsbewegungen der 3. Welt gerade erst ihrem Höhepunkt zuzustreben (in Wirklichkeit sollten sie bald danach erlöschen). Unübersehbar begann aber der bürokratische Staatssozialismus des Ostens seine innere Entwicklungsfähigkeit und äußere Anziehungskraft einzubüßen. Ebenso deutlich war bereits zu erkennen, dass die westliche Arbeiterbewegung nach mehr als einem Jahrhundert ihrer Wirksamkeit keine Kraft mehr hatte und zum historischen Auslaufmodell wurde.

Aus der Sicht von „EXIT!“ war die sogenannte Neue Linke im Kontext der Studentenbewegung von 1968 noch nicht in der Lage, den neuen Problemhorizont zu erfassen und ein anderes, weiter gehendes Paradigma der Kapitalismuskritik zu entwickeln. Sie beschränkte sich im wesentlichen darauf, das historische Material des bisherigen Marxismus und Anarchismus zu sichten, einige Varianten und Subströmungen des alten Linksradikalismus noch einmal als eine Art Gespenster-Revue zu „inszenieren“ und das ganze Spektrum der traditionellen Organisationsformen im Miniaturformat von Sekten zu wiederholen. Die umfangreiche Literatur des 70er-Jahre-Marxismus war größtenteils nicht originell, kaum mehr als ein Nachklang von Kommentaren zu einer bereits abgestorbenen Geschichte in Gestalt von politischen und akademischen Fleißarbeiten. Heute verstaubt sie in den Bibliotheken.

Ebenso deutlich grenzt sich „EXIT!“ vom sogenannten postmodernen Denken ab, das parallel und in Vermittlung mit der Neuen Linken versuchte, ausgerechnet durch eine „Abrüstung der Theorie“ den traditionellen Marxismus zu überwinden. Mit dem pejorativen Begriff der „Großtheorie“ wurden die wichtigsten Gedankengebäude des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere der Marxismus, unter den Verdacht des Totalitarismus gestellt. An die Stelle angeblich totalitärer Begriffe des gesellschaftlichen Ganzen mit ihrer Differenz von Wesen und Erscheinung sollte ein nicht-essentieller phänomenologischer Relativismus treten; die Kritik der politischen Ökonomie wurde durch den „Kulturalismus“ ersetzt, die reale Analyse durch den Kult der Virtualität. Der Postmodernismus wurde zur Modetheorie der 80er und 90er Jahre; auch eine ganze Generation von jüngeren Linken ist damit aufgewachsen. Aber diese Theorie scheint erst recht nicht geeignet, die Kapitalismuskritik auf die Höhe des 21. Jahrhunderts zu bringen. Der real totalitäre „Terror der Ökonomie“ hat den postmodernen Kulturalismus und dessen phänomenologische Verkürzung der kritischen Theorie vollständig blamiert. Die jüngsten Versuche, den Arbeiterbewegungsmarxismus postmodern umzudeuten (so das „postoperaistische“ Denken von Hardt/Negri oder John Holloway), haben die alten Kategorien bloß in eine andere Nomenklatur eingekleidet und quasi-existentialistisch subjektiviert; die damit verbundene „Theologisierung der Kritik“ geht mit einer inhaltlich perspektivlosen Selbst-Ästhetisierung der Bewegungen und dem Warten auf „das Ereignis“ einher, das an die Stelle inhaltlicher Kriterien für eine emanzipatorische Umwälzung tritt.

EXIT!“ hat einen ganz anderen Weg beschritten: zurück zur Kritik der politischen Ökonomie, aber nicht im traditionellen Sinne des „Arbeiterbewegungsmarxismus“. Stattdessen geht es um jene Dimension der Marxschen Theorie, die in der bisherigen Linken entweder völlig ausgeblendet blieb oder bei einer Minderheit von fortgeschrittenen theoretischen Reflexionen bestenfalls in ein abstrakt „philosophisches“ Räsonnement verbannt und hinsichtlich der praktischen Wirksamkeit in eine imaginäre Zukunft ausgelagert wurde: nämlich um die Kritik des modernen Fetischismus, um die Kritik der Warenproduktion als System, um die Kritik der „Verwertung des Werts“ (Marx) als „automatisches Subjekt“ (Marx) der Gesellschaft.

Diese Tiefendimension der gesamten Moderne in die Reflexion aufzunehmen, hat zur Konsequenz, die basalen Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems nicht mehr als positive ontologische Gegenstände zu verstehen wie der traditionelle Marxismus, sondern sie als negative und historische Gegenstände einer radikalen Kritik zu unterziehen. Zunächst gilt dies für die ökonomischen Kategorien im engeren Sinne, also die betriebswirtschaftliche Rationalität, die „abstrakte Arbeit“ (Marx) und deren Ausdrucksformen Wert, Ware, Geld und Markt. Befreiung ist erst jenseits dieser Kategorien denkbar, nicht „in“ und „mit“ ihnen. Der traditionelle Marxismus wollte die Kategorien des warenproduzierenden Systems nicht überwinden, sondern sie bloß „politisch“ moderieren. Aber die Politik und ihre institutionellen Daseinsformen Staat, Demokratie und Nation bilden nur den anderen Pol des modernen Fetisch-Systems, der durch die juristische Form der bürgerlichen Subjekte konstituiert wird. Die ökonomischen und die politisch-juristischen Kategorien sind die zwei Seiten derselben Medaille. Das moderne Subjekt aller Klassen ist ein Schizo-Subjekt, gespalten in homo öconomicus und homo politicus, in Bourgeois und Citoyen. Die Linke wollte immer nur den Bourgeois durch den Citoyen bändigen, den Markt durch den Staat steuern, die Ökonomie der „abstrakten Arbeit“ durch die Politik regulieren, die Subjekte des Geldes durch die Nation formieren. Es kommt aber darauf an, beide Seiten des modernen Fetischismus gleichermaßen abzuschaffen, statt immer nur die eine Seite gegen die andere auszuspielen.

Gewonnen wird so eine Perspektive, die sich nicht mehr bloß auf den immanenten soziologischen Gegensatz der „Klassen“ von Lohnarbeit einerseits und Repräsentanz des Kapitals andererseits beschränkt, sondern das gemeinsame Bezugssystem dieser Klassen ins Visier nimmt. Das Obsoletwerden dieses gemeinsamen Formzusammenhangs manifestiert sich aktuell auch im Absturz der neuen Mittelklasse, die ein Produkt der negativen kapitalistischen Vergesellschaftung war. Der nostalgische Bezug auf den alten Klassenkampf ideologisiert weitgehend nur die immanenten Betroffenheits-Interessen der abstürzenden Mittelklasse, die das vergangene „Arbeits“-Paradigma noch einmal für sich reklamieren möchte (auch in neo-utopischen Versionen), statt den kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus ins Visier zu nehmen und im Unterschied zur alten Arbeiterbewegung darüber hinauszudenken.

Hatte der traditionelle Klassenkampf-Marxismus nur die äußerliche juristische Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalisten problematisiert, so thematisiert „EXIT!“ die zugrunde liegende gesellschaftliche Form des „automatischen Subjekts“. Der Mehrwert ist dann kein positiver Gegenstand mehr, den die einen haben und die anderen nicht haben, den man einklagen oder wegnehmen könnte. Vielmehr handelt es sich um einen alle handelnden Subjekte übersteigenden irrationalen Selbstzweck. „Verwertung des Werts“ bedeutet die kybernetische Rückkoppelung des Werts auf sich selbst, als eine Art gesellschaftliche Maschine. Wie der Wert als Form der endlosen Akkumulation, so wird die „abstrakte Arbeit“ als deren Inhalt ebenso zum irrationalen Selbstzweck, gleichgültig gegenüber jeder sozialen und materiellen Qualität.

Der traditionelle Marxismus hat Form und Inhalt des modernen Fetischismus zu ontologischen, transhistorischen Bedingungen gemacht, zur angeblichen conditio humana. Es kommt aber darauf an, diese Kategorien zu historisieren und damit ihre Überwindung überhaupt erst denkbar zu machen. Die Kapitalismuskritik des traditionellen Marxismus beschränkte sich auf die Kritik der äußerlichen juristischen Hülle des Privateigentums, während Form und Inhalt der kapitalistischen Reproduktion selbst kritiklos positiviert wurden. Wert und „abstrakte Arbeit“ als „Arbeit“ überhaupt, als „Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn“ (Marx), bleiben jedoch nicht als ontologische Grundlage „nach dem Kapitalismus“ übrig, wie es eine auf die juristische Form und die Distribution verkürzte Kritik des Mehrwerts nahe legt; vielmehr bilden „Arbeit“ und „Wert“ das Dasein des Mehrwerts und damit des Kapitals oder des „automatischen Subjekts“ selbst. Nicht die gerechte Verteilung des Werts, sondern seine Abschaffung als irrationale Form eines destruktiven „abstrakten Reichtums“ (Marx) muss das Programm der Kritik sein. Nicht der „Standpunkt der Arbeit“ und der „Stolz auf die Wertschöpfung“ führen über den Kapitalismus hinaus, sondern im Gegenteil die radikale Kritik an den modernen „Realabstraktionen“ von Arbeit und Wert.

Vor diesem Hintergrund firmiert der theoretische Ansatz von „EXIT!“ oft unter dem Label „Wertkritik“ oder „Arbeitskritik“. Aber in diesem Zusammenhang allein erschöpft sich der moderne Fetischismus nicht; eine auf Wertform und Arbeitssubstanz beschränkte Kritik wäre selber noch verkürzt und reduktionistisch. Es geht auch darum, den metaphysischen Charakter aller modernen Gesellschaft und ihres „automatischen Subjekts“ in die Kritik einzubeziehen. Darauf deutet schon der Marxsche Fetisch-Begriff hin. Der Fetischismus des modernen warenproduzierenden Systems bildet nicht nur eine „Analogie“ zu religiösen Vorstellungen, wie es bei Marx heißt, und er kann auch nicht als bloße „Ideologie“ im Sinne eines „Verschleierungen“ aufsitzenden Denkens gefasst werden, sondern er ist eine selber metaphysische und gleichzeitig reale Konstitution der Gesellschaft und ihrer materiellen wie kulturell-symbolischen Reproduktion. Die Moderne hat in ihren gesellschaftlichen Beziehungen die Metaphysik nicht überwunden, wie sie selber glaubt, sondern sie nur aus der alten religiösen Verankerung in der Transzendenz heruntergeholt in eine rein irdische Immanenz; sie ist nicht „postmetaphysisch“, sondern gegenüber den alten agrarischen Formationen in einer neuen Weise „realmetaphysisch“. Die Religion wurde als himmlisches Steuerungsprinzip der Reproduktion nur abgelöst und zur „privaten Glaubenssache“ gemacht, um an ihre Stelle das nicht weniger metaphysische irdische Steuerungsprinzip des Kapitalverhältnisses zu setzen. Das „automatische Subjekt“ des modernen warenproduzierenden Systems ist nicht die befreite menschliche Vernunft, sondern das Paradox einer in Form der Wertabstraktion blind prozessierenden „immanenten Transzendenz“, die jenseits menschlicher Bedürfnisse und jenseits der physischen Welt bleibt, sich aber diese Bedürfnisse und diese Welt zum äußeren Material gemacht hat. Darin eingeschlossen ist eine neue Qualität von Destruktivkraft, die über alle selbstzerstörerischen Potenzen früherer Fetischformationen hinausgeht.

Die kritische Dechiffrierung der modernen Realmetaphysik schließt eine radikale Kritik an der Aufklärung als der philosophisch-ideologischen Grundlage alles modernen Denkens ein. Die Aufklärung war nicht nur von Grund auf repressiv, indem sie die Ideen lieferte für die Disziplinierung der Menschheit zur „abstrakten Arbeit“ und zur damit verbundenen umfassenden Menschenkontrolle, wie Foucault phänomenologisch gezeigt hat. Sie war auch maßgeblich beteiligt an der Konstitution des modernen schizoiden Subjekts, indem sie die realmetaphysischen Formen zur positiven Vernunft erhob und die kapitalistische Umwälzung als Geschichtsmetaphysik des „Fortschritts“ darstellte.

Der traditionelle Marxismus war nicht viel mehr als ein Wurmfortsatz der bürgerlichen Aufklärung; wie den Mehrwert wollte er auch das ideelle „bürgerliche Erbe“ einklagen, um es weiterzuführen statt damit zu brechen. Was der Marxismus von der Aufklärung „geerbt“ hat, ist gerade die falsche Ontologisierung der basalen Kategorien kapitalistischer Vergesellschaftung. Die politische Illusion der Linken bestand im wesentlichen darin, die bürgerlichen Ideale der Aufklärung gegen die bürgerliche Wirklichkeit einzuklagen, statt diese Ideale als positive Ideologie dieser negativen Wirklichkeit zu enthüllen. Die Ansätze zu einer Aufklärungs- und Subjektkritik in den postmodernen Theorien andererseits konnten nicht über den Marxismus hinausführen, weil sie kulturalistisch reduziert blieben und die Kritik der politischen Ökonomie nicht weiterentwickelten. Indem die postmoderne Kritik sich an den Kategorien vorbeimogeln wollte und gerade diese entscheidende Dimension als angeblichen „Ökonomismus“ beiseite schob, statt darin die fetischistische Realmetaphysik der Moderne zu erkennen, blieb sie phänomenologisch verkürzt und in der kapitalistischen Ontologie gefangen. Deshalb sind die meisten Postmodernen auch zum bürgerlichen Subjekt und zu einer oberflächlichen Politik zurückgekehrt.

Die Weiterentwicklung der Marxschen Theorie von einem positivistischen zu einem radikal kritischen Verständnis der modernen gesellschaftlichen Kategorien und ihres Zusammenhangs kann nicht bei einem abstrakt-universalistischen Verständnis stehen bleiben. Dieses würde selber noch die moderne Realmetaphysik reproduzieren. Vielmehr geht es darum, auch die positive Universalität des aufklärerischen Anspruchs zu destruieren. Der moderne Sexismus, der Rassismus und der Antisemitismus sind grundsätzlich im Denken der Aufklärung selbst enthalten, weil sie sich strukturell auf das realmetaphysische moderne warenproduzierende System beziehen, indem sie dessen Widersprüche destruktiv verarbeiten.

Das „automatische Subjekt“ ist keineswegs geschlechtsneutral, sondern hat vielmehr ein bestimmtes Geschlechterverhältnis zur wesentlichen Voraussetzung. Wie die Moderne die Metaphysik als Gesellschaftsverhältnis nicht überwunden, sondern neu konstituiert hat, so hat sie auch den patriarchalen Charakter des „christlichen Abendlands“ nicht überwunden, sondern neu konfiguriert und versachlicht. Moderne patriarchale Herrschaft ist nicht als äußerliches soziologisches Verhältnis zu verstehen, das im Gegensatz zum abstrakten Universalismus der Warenform stehen würde und in diesem aufgehoben werden könnte, sondern sie bildet ein zentrales Moment dieses Universalismus selbst. Alle Momente der gesellschaftlichen Reproduktion, des persönlichen Lebens und der sozialen Beziehungen, die nicht in der abstrakten Logik des Werts aufgehen oder sich nur widerwillig und unter Verlust ihres ganz eigenen Charakters in die abstrakte Logik des Werts einordnen lassen (Kinderbetreuung, „Hausarbeit“, „Liebes- und Beziehungsarbeit“, sozio-psychische Pufferfunktionen usw.), wurden vom ökonomisch-politischen Universum abgespalten und historisch als „weiblich“ definiert. Kapitalismus ist also nicht bloß der Zusammenhang seiner kategorialen Formen, sondern immer auch ein Prozess der Abspaltung. Das Verhältnis des Werts ist gleichzeitig ein Verhältnis der Abspaltung bestimmter Momente der sozialen Reproduktion, und erst beides zusammen kann den kritischen Begriff der modernen Gesellschaft bilden. Der Wert und sein Subjekt sind strukturell männlich bestimmt. Damit wird über Marx hinaus das moderne Geschlechterverhältnis auf derselben begrifflichen Ebene wie das Kapital selbst dargestellt und ist kein bloß untergeordnetes Anhängsel mehr.

Der abstrakte Universalismus der Moderne erweist sich so in Wirklichkeit als androzentrischer Universalismus; in Wertform und Arbeitssubstanz, in Demokratie, Politik und modernes Recht ist männliche Suprematie eingeschrieben. Auch wenn Frauen nie ausschließlich auf die Sphäre der Privatheit und die abgespaltenen Momente beschränkt waren, sondern vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in die öffentlichen Sphären von „abstrakter Arbeit“ und Politik integriert wurden, blieb dort dennoch ihre Position insgesamt eine untergeordnete. Nicht nur in der bürgerlichen Privatheit, sondern ebenso in der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die geschlechtliche Abspaltung wirksam. Auch in den Bereichen von Politik und Ökonomie werden den Frauen weitgehend Funktionen sozialpsychologischer Abpufferung von Spannungen zugewiesen; auch hier gelten sie als kulturell-symbolisches „Zeichen“ für die zu domestizierende „Natur“. Immanent-empirisch bedeutet das: Sie werden im Durchschnitt schlechter bezahlt, gelangen seltener in Führungspositionen und müssen doppelt so viel leisten wie Männer, um halb so viel Anerkennung zu bekommen. Gleichzeitig bedeutet die Einbeziehung von Frauen in die offizielle Gesellschaft von Ökonomie und Politik nicht, dass ihre Zuständigkeit für die abgespaltenen Tätigkeiten und Beziehungen im Raum der Privatheit überwunden und auf Männer und Frauen gleichmäßig verteilt wird. Stattdessen erleben Frauen in der Regel eine doppelte Belastung, indem sie zugleich für Lohnarbeit und häusliche Reproduktionstätigkeiten zuständig sind. Der Feminismus hat daraus die falsche Konsequenz gezogen, lediglich die immanente Gleichstellung der Frauen einzuklagen, statt das der geschlechtlichen Asymmetrie zu Grunde liegende Wert-Abspaltungsverhältnis als solches radikal zu kritisieren. Da der androzentrische Charakter der Moderne in die Wesensstruktur selbst eingeschrieben ist, kann er auf dem Boden der universellen Warenform nicht durchbrochen werden.

Der abstrakte Universalismus der Moderne ist nicht nur ein androzentrischer, sondern auch ein westlicher. Wie ein großer Teil der nicht-westlichen Menschheit im Weltsystem der Warenproduktion marginal blieb und aufgrund des historischen Rückstands über niedrige Stufen der kapitalistischen Entwicklung nicht hinauskam, so war auch die globale Verallgemeinerung der westlichen Subjektform mit einer destruktiven sozio-kulturellen Tendenz und einer sowohl materiellen als auch symbolischen „Zweitklassigkeit“ verbunden.

Die universelle Konkurrenz, wie sie dem modernen warenproduzierenden System inhärent ist, ruft in den handelnden Subjekten das Bedürfnis nach Feindbildern hervor. Wo die Schwelle zur Kritik der modernen Realmetaphysik nicht überschritten wird, verarbeiten die Subjekte ihre Leidenserfahrung in Projektionen auf Gegensubjekte, die als „Untermenschen“ (Farbige) oder als „negative Übermenschen“ (Juden) konstruiert werden. Die Ideologien des Rassismus und Antisemitismus sind so ebenso wie die Ideologie des Sexismus strukturell auf die moderne Realmetaphysik bezogen. Das universalistische Subjekt ist wesentlich ein männlich-weißes-westliches Subjekt (MWW). Die Verallgemeinerung der Form dieses MWW-Subjekts führt zu vielfachen Brechungen im Bewusstsein der außereuropäischen Menschheit und der Migranten, wobei neue Mischungen von Sexismus, Rassismus oder „Ethnizismus“ und Antisemitismus entstehen.

Auch im Hinblick auf das männlich-weiße-westliche Subjekt und den androzentrischen Universalismus blieb die traditionelle Linke innerhalb des Horizonts der modernen Realmetaphysik. Der Marxismus der Arbeiterbewegung war in seinem Selbstverständnis androzentrisch und reproduzierte die geschlechtliche Abspaltung ebenso wie die „abstrakte Arbeit“. Er war gleichzeitig seinem Ursprung nach weiß und westlich, den farbigen und außereuropäischen Menschen gegenüber bestenfalls paternalistisch und vielfach anfällig für rassistische Ideologeme. Vor allem blieb der traditionelle Marxismus weitgehend blind für die Gefahr des Antisemitismus, weil er dessen strukturellen Bezug auf die kapitalistische Realmetaphysik nicht erkennen konnte. Die marxistische Kritik am Sexismus, Rassismus und Antisemitismus kam nicht über den unwahren Universalismus der bürgerlichen Aufklärung hinaus; deshalb blieb sie hilflos. Und auch in dieser Hinsicht konnte der postmoderne Kulturalismus die Defizite nicht überwinden, sondern nur verstärken. Die phänomenologisch verkürzte postmoderne Kritik am Sexismus, Rassismus und Antisemitismus blieb im „Kult der Differenz“ stecken, ohne die gesellschaftlichen Grundlagen dieser Ideologien in den Widersprüchen des „automatischen Subjekts“ herauszuarbeiten.

Wenn die Herausbildung von destruktiven Ideologien nur im Kontext der modernen Realmetaphysik verstanden werden kann, so manifestieren sich diese dennoch keineswegs „objektiv“ und quasi naturgesetzlich. Ideologie folgt nicht automatisch aus den gesellschaftlichen Formen von Wert, „abstrakter Arbeit“ und patriarchalem hierarchischem Geschlechterverhältnis, sondern sie ist eine eigenständige negative Leistung des Bewusstseins. Das Bewusstsein bezieht sich dabei zwar auf seine gesellschaftlichen Voraussetzungen, aber nicht in einem bloßen „Reflex“, zu dem es quasi gezwungen wäre, sondern als negative Entscheidung (Dezision). Individuen und Institutionen als Träger von Ideologien sind somit auch für die daraus folgenden menschenfeindlichen Handlungen verantwortlich zu machen. Man ist nicht objektiv bedingt ideologisch (sexistisch, rassistisch, antisemitisch), wie man objektiv bedingt „Geld verdienen“ oder Waren kaufen muss. Deshalb ist nicht nur Ideologie möglich, sondern auch Ideologiekritik und radikale Kritik der Verhältnisse.

Das Apriori von Ideologie ist die affirmative Verarbeitung der Existenzprobleme im Kapitalismus. Die verinnerlichten kapitalistischen Lebensbedingungen werden nicht in Frage gestellt, sondern die gesellschaftlichen Widersprüche (auch die eigenen inneren Widersprüche des Subjekts) werden im Zuge der universellen Konkurrenz durch Projektion nach außen abgewehrt. So ist es nicht allein die objektive Dynamik des Selbstwiderspruchs im „automatischen Subjekt“, von der die kapitalistische Entwicklung und deren Krise bestimmt wird, sondern darin gehen immer gleichermaßen die subjektiven und ideologischen oder kritischen Verarbeitungsweisen ein. Erst beides zusammen macht den realen gesellschaftlichen Prozess aus.

Ideologie kann die objektive Dynamik des „automatischen Subjekts“ nicht stoppen oder in eine andere Richtung lenken. Als eigenständiges Moment kann sie aber die tatsächlichen Verlaufsformen mitbestimmen und manchmal sogar entscheidend prägen. So bildete sich die nationalsozialistische „deutsche Volksgemeinschaft“, in deren Zentrum Auschwitz stand, zwar vor dem Hintergrund der großen Krise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dennoch waren der Nationalsozialismus und seine Verbrechen kein objektives Resultat der Krise, sondern ein Produkt subjektiven ideologischen Willens der Deutschen. Dieser Wille manifestierte sich gleichzeitig keineswegs jenseits der Logik des Werts. Im Gegenteil: Das auf dem Weltmarkt reüssierende Nachkriegsdeutschland konnte von der fordistischen Modernisierung des Nationalsozialismus profitieren. So drückte die NS-Ideologie der realen Geschichte von Krise und Modernisierung in Deutschland ihren unverwechselbaren Stempel auf und legte eine in dieser Entwicklung enthaltene „äußerste Möglichkeit“ offen. Kritische Theorie ist deshalb heute nur noch als kritische Theorie nach Auschwitz formulierbar.

Die neue theoretische Position von „EXIT!“ wäre unvollständig, wenn sie sich nicht selbst erklären könnte. Das bedeutet die Anforderung, den eigenen historischen Standort zu bestimmen. Wir sind nicht klüger als unsere Vorgänger in der Kapitalismuskritik, sondern wir befinden uns in einer anderen, fortgeschrittenen historischen Situation. Es geht nicht darum, eine endgültige, absolute, „dekontextualisierte“ Wahrheit zu verkünden, sondern dem neuen historischen Kontext Rechnung zu tragen und ein neues theoretisches Paradigma zu entwickeln, das der vor uns liegenden Epoche entspricht.

Aus dieser Sicht gehören die alte westliche Arbeiterbewegung, der traditionelle Marxismus, die bisherige politische Linke, der untergegangene staatsbürokratische „Realsozialismus“ des Ostens sowie die Bewegungen und Regimes „nationaler Befreiung“ des Südens allesamt noch der Aufstiegs- und Durchsetzungsgeschichte des modernen warenproduzierenden Systems und seiner Realmetaphysik an. Alle diese Bewegungen gingen nicht über die kapitalistische Ontologie hinaus, sondern sie reflektierten nur die historische Ungleichzeitigkeit innerhalb dieser Ontologie. Es handelte sich im wesentlichen um Prozesse einer nachholenden Modernisierung. Die „unvollendeten Momente“ des noch nicht ausgereiften warenproduzierenden Systems wurden „links“ besetzt; die Linke wurde zum Motor der kapitalistischen Modernisierung selbst.

In diesem Sinne ist die Oktoberrevolution gewissermaßen als die „französische Revolution des Ostens“ zu begreifen. Es ging nicht um die Überwindung der kapitalistischen Kategorien, sondern im Gegenteil um ihre „nachholende“ gesellschaftliche Installation; übrigens mit ganz ähnlichen staatskapitalistischen Methoden wie einige Jahrhunderte zuvor im Westen. Auch die späteren nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt folgten diesem Muster. Diese Interpretation darf nicht auf den naturwissenschaftlich-technologischen Aspekt im Sinne einer nachholenden Industrialisierung reduziert werden. Vielmehr ging es auch um die Installation der gesellschaftlichen Formen eines warenproduzierenden Systems, also um die Ablösung persönlicher Verpflichtungen durch die Monetarisierung und Ökonomisierung aller Beziehungen, um den Übergang von agrarischen Traditionen zu bürgerlichen Subjekt- und Rechtsformen, um die Durchsetzung (statt Abschaffung) der „abstrakten Arbeit“ und der modernen geschlechtlichen Abspaltung. Der emanzipatorische Horizont dieses Prozesses war nichts anderes als der „Kampf um Anerkennung“ innerhalb der kapitalistischen Ontologie, und zwar um Anerkennung der peripheren und abhängigen Regionen als eigenständige nationale Subjekte des Weltmarkts.

Dasselbe gilt letztlich für die westliche Arbeiterbewegung. Hier ging es nicht um nationale, sondern um soziale Anerkennung, und zwar um die juristische Anerkennung der Lohnarbeiter als formale Subjekte innerhalb des warenproduzierenden Systems. Die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf das Besitzbürgertum beschränkte offizielle Bürgerlichkeit musste auf alle Gesellschaftsmitglieder ausgedehnt werden; nur so konnte sich das „automatische Subjekt“ die gesamte gesellschaftliche Reproduktion unterordnen und einverleiben. Das Schizo-Subjekt von Bourgeois und Citoyen wurde durch den Kampf um Koalitions- und Versammlungsfreiheit, Streikrecht, allgemeines und gleiches Wahlrecht etc. auf die Lohnarbeiter übertragen. Dadurch wurde die Arbeiterbewegung „politikfähig“ und „staatsfähig“. Der Preis dafür war die Verinnerlichung der "abstrakten Arbeit", die vollständige Unterwerfung unter das selbst geschaffene "automatische Subjekt" und dessen Gesetzmäßigkeiten sowie die Verallgemeinerung des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses. Der bisherige Begriff des „Sozialismus“ lässt sich in allen seinen Varianten auf den „juristischen Überschuss“ dieses historischen „Kampfes um Anerkennung“ innerhalb der kapitalistischen Kategorien zurückführen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass diese historische Beschränkung der Kritik eine absolut zwangsläufige war; sie war bloß eine faktische. In den sozialen Konflikten seit dem späten 18. Jahrhundert gab es mehrfach Momente einer Spannung gegenüber den Anforderungen von „abstrakter Arbeit“ und geschlechtlichem Abspaltungsverhältnis; aber diese Spannung wurde immer wieder in der Falllinie einer Weiterentwicklung der modernen Realmetaphysik aufgelöst. Was gibt uns die Berechtigung, zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur theoretisch ein neues Paradigma zu entwickeln, sondern auch auf eine Vermittlung mit der gesellschaftlichen Praxis zu hoffen? Die Antwort auf diese Frage findet sich darin, dass die Position von „EXIT!“ auch eine neue Theorie der kapitalistischen Krise einschließt.

Alle bisherigen Krisen waren Durchsetzungskrisen des Kapitalverhältnisses, das noch einen historischen Entwicklungsraum vor sich hatte. Eben deshalb konnten die sozialen Bewegungen den jeweils nächsten Schub der Akkumulation positiv besetzen und waren nicht zu einer kategorialen Kritik der gesellschaftlichen Formen gezwungen. Mit der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik stößt das Kapital jedoch an seine von Marx vorausgesagte absolute innere Schranke. Die „abstrakte Arbeit“ als Substanz des Kapitals wird durch den kapitalistischen Prozess selbst in einem derartigen Ausmaß überflüssig gemacht, dass die bisherigen Mechanismen der Kompensation erlöschen. Genau das ist der Grund, warum der traditionelle Marxismus zusammen mit dem Gegenstand seiner Kritik selber eine Krise neuer Qualität erlebt. Der globale Schub von Verarmung und Verelendung bis in die kapitalistischen Zentren hinein und der Absturz der neuen Mittelklasse können nicht mehr in Begriffen des alten „Klassenkampfs“ vom „Standpunkt der Arbeit“ beantwortet werden. Die kategoriale Krise verlangt jetzt erstmals eine kategoriale Kritik, und darauf ist das selber modernisierungs-ideologisch beschränkte marxistische Denken nicht vorbereitet.

Kategoriale Krise heißt, dass es sich nicht mehr bloß um eine konjunkturelle ökonomische Krise oder um einen Strukturbruch beim Übergang zu einem neuen „Akkumulationsmodell“ handelt. Wie sich im krisenhaften Prozess der Globalisierung zeigt, wird jetzt die immanente Schranke der „abstrakten Arbeit“ auch zur Krise der Politik und der Formen von Staat, Demokratie und Nation. Bourgeois und Citoyen, die beiden Seelen in der Brust des Schizo-Subjekts, fallen irreversibel auseinander. Darin eingeschlossen ist eine elementare Krise geschlechtlicher und vor allem männlicher Identität. Eine Flut von sexistischer Gewalt, Mobbing gegen Frauen und eine Mobilmachung androzentrischer Ideologien im planetarischen Ausmaß sind die Folge. Während sich der „Modernisierungs-Feminismus“ mangels Begriff der in die moderne Formgenese eingeschriebenen geschlechtlichen Abspaltung ein immanentes Abschleifen der Geschlechterhierarchie vormacht, wird nun in den um sich greifenden konservativen Krisenideologien „die Frau“ als kostenlose Bewältigungs-Ressource und Instanz der „Mütterlichkeit“ abgerufen, die den sozialen Zerfall auffangen und auf deren Rücken er ausgetragen werden soll. Ebenso verbreiten sich rassistische, „ethnizistische“ und antisemitische Stimmungen wie ein Lauffeuer.

In dieser weltgesellschaftlichen Krise die kategoriale Kritik am modernen warenproduzierenden System und seiner Realmetaphysik zu entfalten, heißt für „EXIT!“ nicht, kurzfristige Konzepte zur Krisenbewältigung auszuarbeiten und sie im ideellen Straßenhandel anzubieten. Kritik muss prinzipiell negativ sein, und nur aus der grundsätzlichen Negation heraus kann eine alternative Praxis entstehen. Es geht darum, den Einsatz der menschlichen Ressourcen und Möglichkeiten in neuen gesellschaftlichen Institutionen bewusst zu organisieren statt blind den „Gesetzen“ einer fetischistischen „zweiten Natur“ zu folgen. War die kategoriale Kritik in der Vergangenheit eine nicht eingelöste Möglichkeit, so wird sie jetzt zur Überlebensnotwendigkeit. In dieser neuen historischen Situation wird Ideologiebildung umso gefährlicher und Ideologiekritik umso notwendiger (ohne auf die Analyse der objektiven Krisendynamik zu verzichten). Denn aus der fundamentalen Krise des modernen Wert- Abspaltungsverhältnisses folgt nicht zwangsläufig die Befreiung vom Fetischismus; diese ist vielmehr handelnden Menschen aufgegeben. Ebenso ist der Weg in die Barbarei und in den "gemeinsamen Untergang" (Marx) möglich. Der Ausgang ist offen.

Die Negativität ist umso mehr gefordert, als die Kritik der modernen Ontologie die Kritik des ontologischen Denkens überhaupt einschließt. Es gibt keinen positiven ontologischen Boden, auf dem gebaut werden könnte. Wie es kein Zurück zur Aufklärung, zu den bürgerlichen Revolutionsmythen und zum „Arbeiterstaat“ gibt, so gibt es erst recht kein Zurück zu einer idealisierten Vormoderne. Die Theorie von „EXIT!“ lehnt jede Agrarromantik ab, wie sie z.B. bei der postsituationistischen Linken in Frankreich als ideologische Reaktion auf das Ende des traditionellen Marxismus grassiert. Ebenso wenig können die den Frauen zugeordneten Tätigkeiten, psychischen Eigenschaften und kulturell-symbolischen Zuschreibungen, das zum "Männlichen" komplementär Gedachte, positiv als das "ganz Andere" besetzt werden. Frauen sind nicht die besseren Menschen, und das ihnen Zugeschriebene bedeutet ebenso eine zwanghafte Reduktion menschlicher Möglichkeiten wie die Unterordnung unter den kapitalistischen Produktionsprozess.

Es bleibt die Frage zu stellen, in welcher Beziehung der neue theoretische Ansatz von „EXIT!“ zur Marxschen Theorie steht. Es handelt sich weder um „Orthodoxie“ noch um „Revisionismus“, sondern um eine heterodoxe Weiterentwicklung. Aus dieser Sicht ist von einem „doppelten Marx“ zu sprechen, indem sich bei Marx zwei verschiedene und widersprüchliche Stränge der Argumentation nachweisen lassen: einerseits eine positive Theorie der Modernisierung, die das Kapital als „notwendige“, noch nicht abgeschlossene Entwicklung begreift und dieser sogar eine „zivilisatorische Mission“ zuschreibt; und andererseits eine kritische Theorie des modernen Fetischismus, also des zugrunde liegenden kategorialen Zusammenhangs. Arbeiterbewegung und nationale Befreiungsbewegung konnten nur mit dem ersten, dem „positivistischen“ Marx einer Theorie noch nicht abgeschlossener Modernisierung in der Hülle der kapitalistischen Kategorien etwas anfangen, während sie den anderen Marx, den kategorialen Kritiker, praktisch verschwinden ließen und eigentlich gar nicht verstehen wollten. Für „EXIT!“ kommt es umgekehrt darauf an, gerade den zweiten Strang der Marxschen Argumentation aufzugreifen und mit den Begriffen der modernen Realmetaphysik und des geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses weiterzuentwickeln, also mit Marx über Marx hinaus zu denken.

Es versteht sich von selbst, dass der neue theoretische Ansatz von „EXIT!“ die heftigsten Reaktionen der Abwehr seitens des restlichen traditionellen Marxismus einschließlich der postmodernen Varianten hervorgerufen hat. Die zunächst auf den deutschsprachigen Raum beschränkte Debatte um „Arbeitskritik“ und „Wert-Abspaltungskritik“ hat sich inzwischen auf die romanischen Länder ausgeweitet. Übersetzungen wichtiger Texte von „EXIT!“-Autorinnen und -Autoren sind in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal, in Brasilien, Mexiko und Argentinien erschienen, inzwischen sogar in China und in Japan. Umso notwendiger erscheint es, diese neue Formulierung und Weiterentwicklung der Marxschen Theorie auch im angelsächsischen Raum bekannt zu machen. Die Gruppe um "EXIT!" ist überzeugt davon, dass das neue theoretische Paradigma "in der Luft liegt", und hofft darauf, dass sich auch unabhängig von ihr ähnliche Ansätze und Elemente überall in der Welt entwickeln werden. Die Debatte hat gerade erst begonnen, und sie muss so transnational werden wie das Kapital selbst, wenn das kritische Denken seine Paralyse überwinden will.




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