Erschienen in: Helmut Thielen (Hg.): Der Krieg der Köpfe – Vom Golfkrieg zur neuen Weltordnung, Bad Honnef 1991, S.149–159. Dieser Text schneidet bereits einige Aspekte des Buches »Weltordnungskrieg« von 2003 an. Im Frühjahr 2021 erscheint eine Neuauflage von »Weltordnungskrieg« bei zu Klampen: https://zuklampen.de/buecher/sachbuch/philosophie/bk/1039-weltordnungskrieg.html. Die Krise, die aus dem Osten kamWider die Illusion vom »Sieg« des Westens und seiner MarktwirtschaftRobert Kurz Berühmt ist die Prophezeiung, die Alexis de Tocqueville vor mehr als 150 Jahren aussprach: »Es gibt heute auf der Erde zwei große Völker, die – von verschiedenen Punkten ausgehend – zum selben Ziel vorzurücken scheinen: die Russen und die Angloamerikaner […] Sein Ziel zu erreichen, baut der Amerikaner auf das private Interesse und läßt die Kraft und die Vernunft des einzelnen wirken, ohne sie zu dirigieren. Der Russe drängt gewissermaßen die ganze Macht der Gesellschaft in einen Menschen zusammen. Freiheit ist dem einen der Antrieb, Knechtschaft dem anderen. Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, verschieden ist ihr Weg; und doch, nach einem geheimen Plan der Vorsehung, scheint jeder von ihnen berufen, dereinst die Geschicke der halben Erde zu lenken.« Oft wurde diese Prophezeiung in der Nachkriegsepoche der beiden »Supermächte« bewundernd zitiert. Jetzt, am Ende dieser Epoche, scheint sich das amerikanische Prinzip gegen das russische, das westliche gegen das östliche durchgesetzt zu haben. Sind es nunmehr die USA allein, die ab sofort die Geschicke der ganzen Erde lenken? Ist es der Antrieb der marktförmigen Freiheit, der von nun an bis in die Ewigkeit die One World des totalen Geldes regulieren wird? Merkwürdigerweise scheinen die Amerikaner und die westlichen Ideologen der Marktfreiheit ernsthaft an diese Option zu glauben, obwohl die Ereignisse auch ganz anders gelesen werden können. Die Rede vom Systemsieg des Westens impliziert eine – gelinde gesagt – unvollständige Beschreibung der wirklichen Weltlage. Es hätte zu denken geben sollen, daß auf das Ende des west-östlichen Systemkonflikts nicht der Kantsche ewige Friede einer marktförmigen Weltgesellschaft folgte, sondern sich mit dem zweiten Golfkrieg, dem jugoslawischen Bürgerkrieg, den bewaffneten Konflikten in der zerbrechenden Sowjetunion und weltweiten regellosen Fluchtbewegungen vielmehr ein Zeitalter des Weltbürgerkriegs (Carl Schmitt) mit verworrenen Fronten anzukündigen scheint. Keineswegs war es allein der Osten, der von Systemzusammenbrüchen ereilt wurde. Schon ein Jahrzehnt früher hatte der Zusammenbruch des Südens begonnen, jener entkolonialisierten Großregionen, die in der Epoche der Supermächte als Dritte Welt firmierten und durchaus in der Mehrzahl von prowestlichen Entwicklungsregimes beherrscht wurden. Für den größten Teil Afrikas, Lateinamerikas und Asiens wurde die Integration in den Weltmarkt zur sozialökonomischen Katastrophe, die kein Ende mehr nimmt und bereits apokalyptische Zustände hervorgetrieben hat. Nur wenige »Schwellenländer« konnten Erfolge vorweisen, freilich nicht im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, sondern lediglich mit einseitig exportorientierten High-Tech-Weltmarktfabriken, die als bloß insulare Fremdkörper nicht imstande sind, die Mehrheit der Bevölkerung zu integrieren. WeltarmutSchon jetzt werden die entwurzelten Massen des Globus zur Bedrohung für die schrumpfenden Normalitäts- und Wohlstandsinseln des Westens. Der Fundamentalismus der gedemütigten moslemischen Welt ist kein Traditionalismus, sondern eine »postmoderne« Erscheinung: die zwangsläufige ideologische Reaktion auf die gescheiterte westliche Modernisierung. Nicht nur im Maghreb vor der euopäischen Haustür beginnt ein soziales Erdbeben zu grollen, das mit keinerlei marktwirtschaftlichen Sprüchen mehr aufgehalten werden kann. Und fehlt in Lateinamerika vorerst eine entsprechende antiwestliche Ideologieproduktion, so ist es dort die nicht weniger furchterregende Drogenmafia, die mit ihren Dollarmilliarden für Millionen von Menschen zur einzigen Quelle von Geldeinkommen und für die Andenstaaten zum Stützpfeiler auf dem Weltmarkt geworden ist. Lächerlich die moralische Empörung der westlichen offiziellen Gesellschaft, die durch ihre eigenen sozialen und menschlichen Defizite den Drogenmarkt erst geschaffen und die gerade das Geldeinkommen (in den USA als soziale Duftmarke sogar auf die Visitenkarte gedruckt) zur einzigen Lebensbedingung gemacht hat. Im Unterschied zu den desillusionierten Massen des Südens glauben diejenigen des Ostens zwar noch an die westliche Verheißung, weil sie bis gestern in einem vermeintlichen Gegensystem buchstäblich eingesperrt waren und die andere Welt offenbar wirklich naiv nach den Bildern des Werbefernsehens beurteilten. Aber wenn sich herausstellt, daß der Westen sie gar nicht integrieren kann, daß sie »draußen vor der Tür« eines menschenwürdigen Lebens bleiben sollen, wie die Massen des Südens, dann könnte sich die unausweichliche Enttäuschung auf noch weitaus gewaltsamere Weise entladen als in den Formen des Fundamentalismus oder der Drogenmafia. Schon ist die erste Begeisterung über die Formalprozedur freier Wahlen abgeklungen und die Beteiligung daran z.B. in Ungarn auf das Niveau der USA abgesunken (unter 30 Prozent). Die deutsche Wiedervereinigung droht sich zur Dauerkrise auszuwachsen statt zur »neuen Weltmachtposition«. Und die Szenen von Bari, dicht neben Urlauberstränden ließen den furor unbewältigbarer Armut aufblitzen, der sich an keine »Gesetze der Marktwirtschaft« halten wird. 400 Millionen nach Lebensstandard hungernde Menschen wird man nicht mit je einem Hemd, einer Hose und umgerechnet 70 DM abspeisen können, wie es die italienischen Behörden versuchten. Besserung wird erwartet, Hilfe versprochen; das »verlorene Jahrzehnt« für die gewaltige Masse der Weltarmut in der Weltvergesellschaftung des Geldes soll neuer marktwirtschaftlicher Prosperität weichen. Aber die leeren Worte mögen den Menschen des Ostens bald ganz genauso klingen wie die Verheißungen des Stalinismus für eine imaginäre Zukunft, mit der die endlosen Leiden der Gegenwart gerechtfertigt wurden. Wenn der globale Süden schon grausamen Schiffbruch erlitten hat mit der glorreichen Weltwirtschaft des Westens, warum sollte es jetzt dem Osten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs besser ergehen? Wenn die Millionenmassen Afrikas und Lateinamerikas ebensowenig »neue Märkte« hervorbringen konnten wie diejenigen des indischen Subkontinents, warum sollte die Marktwirtschaft dann im Osten erfolgreicher sein? Vielleicht tut sich ein ganz anderes als das blauäugig erwartete Szenario auf: nämlich die absolute Unfähigkeit der modernen kapitalistischen Vergesellschaftung, die überwältigende Mehrzahl der globalen Menschheit in ihren Reproduktionsprozeß aufnehmen zu können. Der absolutistische Anspruch, daß die ganze Erde den westlichen Gesetzen von Markt, Konkurrenz, Geld und Demokratie folgen soll, müßte sich dann auf die peinlichste Weise blamieren. Die ultima ratio einer gewaltsamen Polizeiverwaltung des Planeten, wie sie in der UNO-Aktion gegen den Irak versucht wurde, kann wohl kaum als Perspektive einer »Völkerfamilie« gelten. Ohnehin handelte es sich hier eher um den vielleicht letzten und weitgehend irrationalen Kraftakt einer untergehenden Weltmacht, die sich kaum weniger totgerüstet hat als ihr östlicher Widerpart und lediglich dank der internationalen Finanzmärkte ihren Abgesang länger hinauszögern kann. Hinter der Hybris der USA, der ganzen Menschheit eine »neue Weltordnung« diktieren zu wollen, von der ihr Präsident nicht einmal eine nebelhafte Vorstellung entwickeln konnte, steht gar keine entsprechende ökonomische und technische Macht mehr. Aber auch kein anderes Zentrum ist in der Lage, an die Stelle der USA zu treten; am allerwenigsten ein Europa, das schon sichtbar in den östlichen Krisenstrudel hineingezogen wird und mit dem islamischen Pulverfaß an den Küsten seines Hausmeeres nicht fertig wird. Schon ein zweiter Kraftakt wie der gegen Saddam Hussein könnte ruinös werden; die Welt aber ist voll von selbsterzeugten Monstern des Westens, die sich unter dem Druck erbrechender und scheiternder Modernisierung zu verselbständigen beginnen. Der PyrrhussiegSchließlich übertönen die westlichen Siegesfanfaren nur mühsam die Tatsache, daß die reale Integrationskraft der Marktwirtschaft auch nach innen längst abgenommen hat, selbst wenn vorerst nach dem Kollaps des Ostens keine formulierbare Alternative mehr zu existieren scheint. Schon seit den 70er Jahren ist die westliche Weltmarktbewegung im Unterschied zur Nachkriegsprosperität der Wirtschaftswunderjahre nicht mehr fähig, auch nur die Menschen der OECD-Regionen in vollem Umfang mitzunehmen. Immer mehr »Verlierer« werden innerhalb des Westens selber zurückgeworfen auf jenes Armutsniveau, dem der Osten gerade zu entfliehen versucht. Ganze Länder und Regionen sind bereits zur »Dritten Welt in der Ersten Welt« geworden, und Millionen westlicher Bürger unterscheiden sich in ihrem realen Lebensniveau nur unwesentlich von den Massen des Ostens. Nie zuvor war die soziale Kluft in den USA so groß wie heute; unaufhaltsam wachsen die Armutsflecken auf Großbritanniens Landkarte. Selbst in der Spitze der Weltmarktpyramide schnellen die Obdachlosenzahlen von Monat zu Monat nach oben; und die angeblichen Supergewinner Japans leben in ihrer Mehrheit fast schon wie Labormäuse. Der Sieg der Marktwirtschaft scheint identisch zu werden mit der Verslumung der Welt. Das alles sind keine bloßen Schönheitsfehler mehr in der One World westlicher Konkurrenzökonomie. Die Siegesfeier dementiert sich selbst, wenn die Leichen zwischen den Tischen liegen. Nicht allein die Sowjetunion hat verloren, sondern die Epoche der »Supermächte« überhaupt ist zu Ende gegangen. Und nicht allein die Planwirtschaft des Ostens hat versagt, sondern genauso die Marktwirtschaft des Westens. Nur ein Bewußtsein, das stur in der untergehenden alten Konstellation weiterdenkt, kann hier einen »Sieger« ausrufen wollen. Möglicherweise sind also die »gemeinsamen Geschäftsgrundlagen« des modernen Weltsystems ins Wanken geraten. Es lohnte ein Nachdenken darüber, zu welchem »selben Ziel« eigentlich Tocqueville in seiner politisch-ökonomischen Vision Ost und West gleichermaßen »vorrücken« sah. Nicht die identische Banalität bloßer Machtansprüche, gestützt durch Großressourcen, kann von einem Analytiker dieses Ranges gemeint sein, sondern eher die gemeinsame, damals noch als dunkel empfundene Basisform dessen, was heute allgemein »Modernität« genannt wird. Nicht einander ausschließende Prinzipien standen sich gegenüber, sondern nur verschiedene Wege in ein und dieselbe Vergesellschaftungsform der Moderne. Bekanntlich hatten die USA keinen feudalen oder sonstwie prämodernen, vorkapitalistischen Unterbau abzutragen und umzumodeln. Das »private Interesse« und die »Vernunft des einzelnen« konnten unmittelbar auf ihren eigenen Grundlagen wirken. Diese Nullpunktsituation fehlte aber nicht nur in Rußland, sondern auch in Europa und der restlichen Welt überhaupt. Hier nahm die »Modernisierung« daher immer eine etatistische, absolutistische oder dirigistische (und oft staatsökonomische) »Durchsetzungsform« an. Die zwangs- und kriegswirtschaftlichen Strukturen des merkantilistischen Absolutismus versanken nur in der Geschichte, um in der Weltkriegsepoche und im keynesianischen Rüstungs- und Sozialstaat modifiziert wiederzukehren. Sogar die USA blieben in ihrer zunehmend defizitären und parasitären Weltmachtrolle davon nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verschont (wie die dort seit langem ergebnislos schwelende innere Debatte über die Last der »permanenten Kriegswirtschaft« dokumentiert). Die scheinbar marktradikalen »Reaganomics« haben sogar mit dem Rüstungsboom der 80er Jahre eine »heimliche Staatswirtschaft« gigantischen Ausmaßes zusätzlich geschaffen, die nur um den Preis schwerster Friktionen wieder zurückgeführt werden könnte. Die abstrakte Knechtschaft der Staatsökonomie und die abstrakte Freiheit der Marktökonomie bedingen sich gegenseitig und wechseln sich ab in der historischen Akzentsetzung von Modernisierungsschüben. Die »russische« Knechtschaft im Sinne Tocquevilles wäre also gar nichts Antiwestliches, sondern vielmehr der russische Weg der Verwestlichung; und nicht nur der russische, sondern, historisch betrachtet, der nichtamerikanische Weg überhaupt. In ganz Europa ging die westliche Freiheit durch staatsterroristische Zwangsjacken verschiedenster Couleur hindurch: von Cromwell bis Robespierre, von Napoleon bis Bismarck, Hitler übrigens nicht zu vergessen. Stalin fällt überhaupt nicht aus dieser Reihe, die eben eine Reihe von zwar je verschiedenen und in sich widersprüchlichen Stationen, aber Stationen eines Identischen ist. Sollte dieses Identische als solches benannt werden, so wäre es jenseits seiner Oberflächenbegriffe von »Staat« und »Markt« (oder »Knechtschaft« und »Freiheit«) mit dem zum wiederholten Male voreilig totgesagten Karl Marx als ein System abstrakter Arbeit zu definieren. Dieser seltsame, vom Arbeiterbewegungs- und Sowjetmarxismus nie in seiner kritischen Potenz mobilisierte, sondern selber affirmativ aufgenommene Terminus verweist auf jenes von Tocqueville geahnte »selbe Ziel«, auf die eigentliche Basisform der Modernität. Diese abstrakte Arbeit der Moderne, in ihrem Funktionsmechanismus als »Selbstbewegung des Geldes« (Marx) bestimmt, unterscheidet sich von allen anderen geschichtlichen Reproduktionsformen fundamental. Der Reichtum wird nicht mehr konkret als »sinnlicher« definiert, sondern abstrakt als »unsinnlicher«, vergespenstigt bis zum puren elektronischen Buchungsimpuls. Die sinnlichen Bedürfnisse müssen sich den abstrakten Gesetzen der Selbstverwertung des Geldes unterwerfen. Die abstrakte, betriebswirtschaftliche Vernutzung von Arbeitskraft und Naturstoffen, ohne Rücksicht auf den sinnlichen Inhalt, verlangt die Zurichtung der Menschen für diesen ihnen äußerlichen Zweck. Insofern ist die Marktfreiheit eine kaum geringere Knechtschaft als die Staatsbürokratie, weil die »Vernunft des einzelnen« apriori schon in die (ideologisch zum »Menschenwesen« schlechthin gemachten) Zwangsgesetze des Geldes eingekerkert wird. Nicht diese gesellschaftliche Abstraktionsmaschine als solche hat der Arbeiterbewegungs-Marxismus kritisiert, der selber noch dieser Welt angehört, sondern bloß deren vermeintlich »ungerechten« Verteilungsmechanismus in dieser als selbstverständlich vorausgesetzten Form. Gewiß hatte diese Modernität ihre emanzipatorischen Seiten. Sie hat sogar die sinnlichen Bedürfnisse selber ungeheuer erweitert, allerdings nicht bewußt, sondern blind dem abstrakten Verwertungszweck folgend. Deswegen war derselbe Prozeß aber seit seinem Beginn auch immer von ungeheuren Zerstörungen begleitet. Er konnte überhaupt nur so lange »gut«gehen (sofern dieser Euphemismus erlaubt ist), so lange er noch Durchsetzungs- und Ausdehnungsspielräume gegen die vormoderne Bedürfnisarmut und »Unterentwicklung« besaß. Aber schon die »russische« Form der Verwestlichungs-Knechtschaft zeigt im Rückblick sein Prekärwerden an. Erkennbar folgte auch die Sowjetökonomie der Basislogik abstrakter Arbeit. Aber im Unterschied zu Westeuropa konnte die »absolutistische«, kasernenökonomische Durchsetzungsform nicht mehr abgeschüttelt oder modifiziert werden. Der Grund dafür scheint in der höheren Entwicklungsstufe des globalen Gesamtsystems zu liegen: jeder »newcomer« muß mit immer höherem Kapitaleinsatz einsteigen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging das nur noch durch eine zementierte, auf Dauer angelegte staatliche Zentralisation der abstrakten »Wertbildungsprozesse«. So gesehen wäre allerdings das Sowjetsystem kein »Protosozialismus« (Rudolf Bahro), sondern eher umgekehrt ein »Protokapitalismus« zu nennen, der es aber nicht mehr bis zur Reife der Verwestlichung bringen konnte. Die Konkurrenz des Binnenmarktes mußte ausgeschaltet bleiben, um der äußeren Weltmarktkonkurrenz zeitweilig standhalten zu können. Ein von seinem eigenen inneren Regulationsmechanismus der Marktkonkurrenz entbundenes System abstrakter betriebswirtschaftlicher Vernutzung aber taugt offenbar nur dazu, die rohesten Strukturen von Industrialisierung in dieser Form der Modernität aus dem Boden zu stampfen (Alphabetisierung, Elektrifizierung, Montanindustrien, Eisenbahnbau usw.). Jenseits davon muß es in Stagnation übergehen. Dieses Schicksal erlitten noch vor der Sowjetökonomie die »Entwicklungsländer« der Dritten Welt, die auch in ihren prowestlichen Versionen notgedrungen auf Fünfjahrespläne, Staatsökonomie und subventionierte Industrialisierungsprojekte gesetzt hatten. Der inzwischen auf seinen eigenen, höherentwickelten Grundlagen längst wieder davongeeilte Westen konnte dadurch nicht eingeholt werden. Die meisten Industrialisierungsversuche verharrten entweder von vornherein unter dem globalen, von den Spitzenreitern bestimmten Produktivitätsniveau oder sie fielen rasch wieder dahinter zurück. Über den Weltmarkt aber blieben die protomodernen oder »halbmodernisierten« Strukturen der diversen Nachzügler mit den westlichen Ökonomien zwangskompatibel. Das Resultat war ein verheerendes: über den Verfall der terms of trade (das Verhältnis von Export- und Importpreisen) stürzten die unterproduktiven Ökonomien in die Schuldenkrise mit anschließender De-Industrialisierung – zuerst des (weniger politisch-militärisch abgeschotteten) Südens, jetzt auch des Ostens. Es ist ein einzigartiger Zynismus, mit dem die westlichen Experten heute die diversen Zusammenbruchsökonomien dazu auffordern (bzw. über die internationalen Finanzinstitutionen dazu zwingen), sich durch möglichst radikalen Abbau der Staatswirtschaft, durch Deregulierung und Privatisierung zu »öffnen«. Diese »Dr.-Eisenbart-Kur« kann nur mit dem Exitus der Patienten enden, weil ihre schon mit staatsökonomischem Schutz nicht mehr konkurrenzfähigen Industrien dadurch nur umso schneller niederkonkurriert und abrasiert werden. Die mikroelektronische Revolution hat die Kapitalintensität der Produktion und vor allem den erforderlichen Kapitaleinsatz für die Vorauskosten von Entwicklung und infrastrukturellen Rahmenbedingungen nicht vermindert, sondern schwindelerregend erhöht. Die Teilnahme- bzw. Startbedingungen der globalen Konkurrenz sind für die Schwächeren noch schlechter geworden. Statt nach Jahrzehnten des ewigen Investierens in die extensiven Grundstrukturen der Schwerindustrie endlich zum Konsum übergehen zu können, müßten den Menschen für weitere Jahrzehnte die gewaltigen Investitionsmittel für die intensiven Strukturen der Computerisierung bzw. Robotisierung aus den Rippen geschnitten werden. Das ist nicht durchhaltbar. Die westliche Konkurrenzlogik führt sich gerade in ihrem »Sieg« als Weltsystem selber ad absurdum. Kollaps des WestensGegenwärtig ist viel vom »Preis der Modernität« die Rede, der eben so oder so gezahlt werden müsse. Aber dieser Preis ist zu hoch geworden für die Mehrheit der Weltbevölkerung. Würde den Zusammenbruchsökonomien das erforderliche Geldkapital geliehen, müßten die Zinskosten die möglichen Erträge in den meisten Fällen übersteigen, wie es sich jetzt schon praktisch bewiesen hat. Aber dieses Kapital kann ihnen gar nicht weiter geliehen, geschweige denn geschenkt werden, weil dem Westen längst seine eigenen inneren (Staatsschuld) und äußeren (Handels- und Kapitalbilanzdefizite) Belastungen des abstrakten Verwertungsprinzips über den Kopf gewachsen sind. Auch der Westen droht seine Zusammenbruchsökonomien hervorzubringen. Nach Afrika, Lateinamerika und Osteuropa könnten schon bald die angelsächsische Welt und die südeuropäischen Kapitalismen in einem Ozean von Pleiten versinken. Die phantastische Überschuldung ganzer Branchen, der irrwitzige internationale Spekulationsüberbau (vor allem in Japan) und der nicht mehr bewältigbare Hunger nach frischem Geldkapital treiben auch den »Sieger« selber in die monetäre Katastrophe, vielleicht noch in den 90er Jahren. Das Lied vom »Teilen«, beliebt bei allen Notstandspolitikern des marktwirtschaftlichen Status quo, folgt einer falschen Melodie. Gäbe es zu wenig Brot oder zu wenig Produktionsmittel, es herzustellen, dann könnten die guten Christen ihr Liedchen singen. Aber die westliche Logik der Marktwirtschaft läuft darauf hinaus, daß technisch völlig intakte Ressourcen in immer mehr Ländern mangels »Rentabilität« stillgelegt werden. Die Menschen sollen hungern und vorhandene Produktionsmittel ungenutzt lassen, bloß weil dem Gesetz des Geldes nicht Genüge getan werden kann. Wie lange werden sie sich das gefallen lassen? Die westliche Expertokratie hat vor lauter Feier des Marktes noch nicht bemerkt, daß die früher bloß temporären Erscheinungen der Marktkrise zum weltgesellschaftlichen Strukturzustand geworden sind. Von Monat zu Monat aberwitziger laufen die Marktmechanismen aus dem Ruder und die staatlichen Reaktionsversuche bleiben hilflos. Polnische Rentner müssen darben, weil ihre Einkommen nicht mehr für den Kauf polnischer Landwirtschaftsprodukte reichen, deren Preise gesteigert werden mußten. Jetzt sollen diese Produkte in die Sowjetunion exportiert werden, was aber mangels Zahlungsfähigkeit wiederum nur mit Hilfe westlicher Kredite bewerkstelligt werden kann, deren Zinsbedienung womöglich ihrerseits auf die sowjetischen Einkommen negativ durchschlägt. Vielleicht werden die Lebensmittel dann am Ende ordnungsgemäß »entsorgt«; ein Zustand, der im Wahnsystem der EG-Landwirtschaft längst erreicht und zum Normalfall geworden ist. Ende der ModernitätOb staatsökonomisch (»geplanter Markt«) oder konkurrenzökonomisch (»freier Markt«): das gemeinsame Basissystem der Moderne, die betriebswirtschaftliche Vernutzung abstrakter Arbeit jenseits sinnlicher Bedürfnisse, scheint historisch am Ende. Statt hilfreich und lebenserleichternd zu wirken, stürzen die von der Konkurrenz blind hervorgetriebenen verwissenschaftlichten Produktivkräfte die Welt ins Elend, weil sie gewaltsam an die Form abstrakter Gewinnproduktion gekettet bleiben. In allen ihren Variationen ist dies eine Reproduktionsform der Gesellschaft, die systematisch ihre sozialen und ökologischen Kosten externalisiert: vom »Unternehmen« auf den Staat, vom Geld auf die Natur, von den Gewinnern auf die Verlierer. Aber wenn die ganze Welt mit abstrakten betriebswirtschaftlichen Vernutzungseinheiten auf hohem und für die meisten nicht mehr durchhaltbaren Niveau der Produktivität und der Kapitalintensität bepflastert ist, geht es offenbar in dieser Form absolut nicht mehr weiter. Nur bei den wenigen Gewinnern können die sozialen und ökologischen »Geschäftskosten« des Systems noch (und immer mühsamer) subventioniert werden. Jeder »Gewinn« auf dem Weltmarkt ist mit so viel Zerstörung anderswo verbunden, daß die damit finanzierte Reparatur der sozialen und natürlichen Grundlagen auf dem eigenen Territorium sinnlos wird. Wenn halb Amazonien zerstört werden muß, damit der deutsche Wald halbwegs über die Runden gebracht werden kann, und wenn hunderttausend »Arbeitsplätze« der Peripherie gelöscht werden müssen, damit zehntausend mitteleuropäische erhalten werden, dann kann die Rechnung nicht mehr aufgehen. Das ideologische Herausrechnen der globalen Zusammenhänge und die dreiste Aufforderung an die hoffnungslosen Dauerverlierer, sie sollten es doch den vermeintlichen Gewinnern gleichtun, werden allmählich zur Zumutung für das logische Denken. Auch die Marktwirtschaft ist keine Gesellschaftsform für die Ewigkeit. Da es aber kein Zurück hinter die Moderne geben kann und dies auch nicht wünschenswert ist, muß die Moderne sich bedauerlicherweise selbst aufheben. »Postmodernität« (die noch keinen eigenen Namen hat) kann aber nicht bloß eine kulturelle oder theoretische Figur bleiben, sondern wird unvermeidlich auch die ökonomische Basisform erfassen. Die betriebswirtschaftliche Verwertungsprozedur, vom Osten bloß in roher und staatsökonomischer Form nachgeäfft, muß zum Stehen gebracht und durch eine »weltgesellschaftliche Organisation der sinnlichen Bedürfnisse« ersetzt werden. Diese Umwälzung, obwohl sie tiefer greifen würde als alle modernen Revolutionen, ist längst keine Frage der »Utopie« mehr. Wenn die Menschen sich nicht mehr mit Geld helfen können, müssen sie sich eben ohne und gegen das Geld helfen. Aus der Auseinandersetzung um die sich häufenden Notstände und Katastrophen heraus werden zwangsläufig »Maßnahmen« gefordert. Schon wurden in der westlichen Presse spitze Bemerkungen laut, daß die US-Militärmaschine es geschafft hat, zehntausende von Plastiksärgen in die saudische Wüste und mangels eigenen Bedarfs wieder nach Hause zu expedieren, daß aber die »Mittel« fehlen sollen, die abgelagerten Massen von Militärverpflegung in die afrikanischen Hungergebiete zu fliegen. Dasselbe Problem erhebt sich jetzt angesichts unverkäuflicher Milchseen. Butterberge und Rindfleischhalden in EG-Kühlhäusern bezüglich der albanischen oder rumänischen Hungerleider wenige hundert Kilometer davon entfernt. Man soll sich aber nicht täuschen: In der heutigen Weltsituation wären kostenlose Umverteilungsaktionen von solchen Dimensionen kein bloß vorübergehendes humanitäres Nothilfeszenario mehr, sondern der Anfang vom Ende der abstrakten Geldwirtschaft. Das Ende der vielbeschworenen Modernität also, die ihr eigenes Formgesetz zu sprengen beginnt. Gewiß, es geht auch anders. Ein Agenturfoto zeigt ein sowjetisches Kind, das mittten im Smog an einer Kreuzung steht und Autoscheiben wischt, um sich ein paar Kopeken zu verdienen (ein aus Lateinamerika vertrautes Bild). Die Brechreiz verursachende Bildunterschrift lautet: »Der pfiffige Moskauer Knabe hat den Geist der Perestroika voll erfaßt. Furcht vor dem freien Markt und bürokratische Hemmnisse kennt der Jungunternehmer nicht«. Eine Welt, deren Geist sich in solch dürrer Gemeinheit erschöpft, kann keinen Bestand mehr haben. Wenn die »Siege« des Westens in dieser Manier weitergehen, wird er sich selbst zu Tode siegen. |