Zuerst erschienen 2017 in exit! Nr. 14.
Überwachen und Strafen - Zum demokratischen Staatsterror in Zeiten des NeoliberalismusThomas MeyerDas Individuum wird im Waren produzierenden Patriarchat nur insofern anerkannt, als dieses sich als produktiver Arbeitskraftbehälter bewähren kann. Seine ihm von der Staatsgewalt gewährten Rechte haben daher nur unter Vorbehalt Geltung. Es muss sich in die Formhülle bürgerlicher Subjektivität zwängen, um dann als ,,Handlungsträger der abstrakten Arbeit"1 (Robert Kurz) nach seinem ,,Glück" streben zu können; was erst mal nichts anderes heißt, als sich mit Haut und Haaren verkaufen zu müssen. Dabei werden die kapitalistischen Realkategorien wie Geld, Waren und Arbeit vom bürgerlichen Normalverstand als ontologische Bestimmungen menschlichen Daseins überhaupt angesehen. Spätestens in einer praktisch werdenden Infragestellung eben dieser würde jene vielgepriesene bürgerliche Toleranz und Pluralität an ihre absolute Grenze stoßen und die Subjekte würden die Gewalt der sichtbaren Faust des Staates deutlich zu spüren bekommen (eigentlich schon deutlich bei rein systemimmanenten sozialen Kämpfen, wie Geschichte und Gegenwart zeigen2). Wenn allerdings der Verkauf der eigenen Arbeitskraft nicht so recht gelingt, werden die daraus folgenden sozialen Katastrophen auch vom liberalsten Rechtsstaat als ,,Sicherheitsproblem" wahrgenommen3. Wie Robert Kurz im Schwarzbuch Kapitalismus anmerkte, kann die Reaktion gegen die Herausgefallenen und Armen in der dritten industriellen Revolution nur die Form eines Krieges gegen die Tatsachen, nur die Form eines Kreuzzugs annehmen (,,Der letzte Kreuzzug des Liberalismus")4 . Was den Krieg gegen soziale Tatsachen angeht, hat der französische Soziologe Loïc Wacquant5 in seinem Buch Bestrafung der Armen - Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit die Änderungen der Strafrechts- und Gefängnispolitik der letzten Jahrzehnte analysiert, und die Ursachen derselben. Diese Änderungen äußern sich vor allem in der immer größer werdenden Gefangenenpopulation6. Obgleich dieses Buch schon vor einigen Jahren erschienen ist und in jener Zeit auch rezensiert wurde, lohnt sich eine Beschäftigung mit diesem auch weiterhin, da das von Wacquant Zusammengetragene in Zeiten der inneren Schranke und des permanenten Ausnahmezustandes nicht etwa obsolet, sondern weiterhin aktuell und wirkmächtig ist. So schaut sich Wacquant zwar vorwiegend die Situation in den USA an, geht am Ende aber auch auf parallele Entwicklungen in Europa ein7. Vom Almosen- zum GefängnisstaatZu Beginn des 21. Jahrhunderts waren in den USA von 100.000 Einwohnern etwa 700 Menschen im Gefängnis, d. h. etwa knapp 2 Millionen insgesamt. 1975 waren es noch knapp 400.0008. ,,Selbst in Südafrika saßen 1993, zum Ende des Bürgerkrieges gegen die Apartheid mit 369 Häftlingen auf 100.000 Einwohner im Verhältnis halb so viele Menschen hinter Gittern wie in den prosperierenden USA unter Präsident Clinton" (136, Hervorheb. i. Org.). Hinzu kommt, dass der Strafvollzug mittlerweile der drittgrößte (!) Arbeitgeber im Land ist. Auch scheut der neoliberale Staat keine Kosten, wenn es um die entsprechende Finanzierung geht. So ,,war in Texas das Budget für den Strafvollzug sechs Mal so hoch wie das Budget für die Universitäten" (165ff.). Aber nicht nur die Gefangenenpopulation ist exorbitant hoch, auch jene Menschen, die unter ,,strafrechtlicher Überwachung" stehen, also Personen, ,,die zu Bewährungsstrafen verurteilt oder nach Verbüßung des größten Teils ihrer Haftstrafe auf Bewährung entlassen werden [...] Insgesamt nahm die Zahl der Amerikaner unter strafrechtlicher Überwachung innerhalb von 20 Jahren um mehr als viereinhalb Millionen zu: Sie stieg von 1,84 Millionen im Jahre 1980 auf [...] 6,47 Millionen im Jahre 20009 [...]" (149, Hervorheb. im Org.). Deren Situation bleibt prekär; die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder hinter Gittern landen, ist hoch. Darüber hinaus werden sie wie Parias behandelt, indem über sie ein rigoroses Maßnahmen- und Überwachungsregime verhängt wird: ,,So wurde, zusätzlich zur Einführung von ,intermediate sanctions' wie Hausarrest und ,boot camps' (Erziehungslager), ,Intensivüberwachung?, tägliche (!) polizeiliche Meldepflicht, gemeinnützige Arbeiten und telefonische und elektronische Überwachung [...] der Zugriff der amerikanischen Justiz auch dank der zunehmenden Zahl der Kriminaldatenbanken [...] erheblich ausgeweitet [...]. Das Ergebnis ist, dass die diversen Polizeiinstanzen des Landes [...] inzwischen über rund 55 Millionen ,Kriminaldateien? - gegenüber 35 Millionen vor zehn Jahren - zu rund 30 Millionen Personen verfügen, was fast einem Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung des Landes entspricht. Der Zugriff auf diese Datenbanken ist unterschiedlich geregelt. Manche dürfen nur von den Justizbehörden [...] eingesehen werden. Andere sind nicht nur staatlichen Bürokratien [...] und den Wohlfahrtsbehörden zugänglich, sondern - über das Internet - auch Privatpersonen und Privatorganisationen. Diese ,Strafregister? [...] werden z. B. routinemäßig von Arbeitgebern benutzt, um die Vorbestraften unter ihren Stellenbewerbern auszusieben. Und dabei kümmert es sie wenig, dass die dort gespeicherten Informationen oft falsch, überholt oder belanglos sind [...] Sind sie erst im Umlauf, geraten nicht nur Kriminelle und Verdächtige ins Visier der Polizei, sondern auch ihre Familien, Freunde, Nachbarn und Wohnviertel." (150ff., Hervorheb. i. Org.). Diese Maßnahmen dienen nicht mehr dazu, dass diesen Menschen geholfen wird, sich zu ,,resozialisieren" (ein selbst durchaus problematischer Begriff). Diese Menschen sind unter Kontrolle zu halten, damit möglichst viele wieder ,,eingefangen" werden können (158). Darüber hinaus wird diesen Menschen in zahlreichen Bundesstaaten nicht nur während der Gefängniszeit das Wahlrecht aberkannt, sondern während der Zeit, in der sie unter strafrechtlicher Überwachung stehen, in 13 Bundesstaaten sogar lebenslang (!), so sind ,,etwa 4,2 Millionen Amerikaner von der Ausübung des so genannten allgemeinen Wahlrechts ausgeschlossen, darunter 1,4 Millionen schwarze Männer, das sind 14% der afroamerikanischen Wähler" (196)10. Wie eingangs erwähnt, gelten die bürgerlichen Rechte nur unter Vorbehalt. Die von Wacquant für die USA und Europa skizzierte Entwicklung ist ein Paradebeispiel dafür11. Wie kam es aber historisch dazu, dass die Gefangenenpopulation immer mehr anstieg, obgleich die Rate an Gewaltverbrechen entweder konstant blieb oder sogar sank12? Der rasante Anstieg der ,,US-amerikanischen Häftlingspopulation ist nicht durch eine Zunahme der Gewaltverbrechen zu erklären; sie ist eine Folge der Ausdehnung der Haftstrafen auf eine Reihe von Straßendelikten [...] für die früher keine Haftstrafen verhängt wurden, insbesondere kleine Drogenvergehen und Verhalten, das als Ordnungswidrigkeit oder Erregung öffentlichen Ärgernisses bezeichnet wird; und sie ist eine Folge der kontinuierlichen Strafverschärfung13. Ab Mitte der 1970er Jahre [...] als die Bundesregierung ihren ,Krieg gegen die Drogen? erklärte, wurden über die ganze Bandbreite der Straftaten immer häufiger immer längere Haftstrafen verhängt, gleichgültig, ob es sich um Berufsverbrecher oder Gelegenheitsverbrecher handelte, um Verbrecher großen Stils oder Kleinkriminelle, um gewalttätige oder nicht gewalttätige Täter [...]" (142f., Hervorheb. i. Org.). Entgegen wiederholter konservativer Beteuerung werden die Gefängnisse also nicht mit Gewaltverbrechern befüllt, sondern vorwiegend mit nicht gewalttätigen Kleinkriminellen (wegen Drogendelikten etwa), die zumeist aus den unteren Schichten der Gesellschaft stammen. Wacquant betont mehrfach, dass es hierbei vor allem darum geht, ,,den Unruhe stiftenden ,Straßenpöbel?" (148) unter Kontrolle zu halten. Zudem ist die Gefangenenpopulation heute14 vorwiegend (bezogen auf ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung) afroamerikanischer Herkunft, während sie 1950 noch zu 70 % aus Weißen bestand (207). Der Grund für den rasanten Anstieg der Gefängnispopulation, von dem vorwiegend die Ärmeren15 betroffen sind, ist ebenfalls in dem Abbau des Wohlfahrtstaates oder besser: des ,,Almosenstaates" seit Mitte der 70er Jahre zu suchen (68ff.). Den daraus entstehenden sozialen Verwerfungen wurde mit einem Aufbau des Strafrechtsstaates begegnet; statt ,,welfare" waren nun ,,workfare" und ,,prisonfare" angesagt - mit den bis heute geläufigen Erklärungsmustern, die Armen wären nur arm oder arbeitslos aufgrund ihrer Abhängigkeit von sozialen Zuwendungen und ihrer ,,moralischen Verkommenheit" (70). Jedenfalls führten die zahlreichen Reformen zu einem neuen Verständnis des Staates gegenüber den Armen: ,,Nach diesem Verständnis muss das Verhalten der mittellosen und abhängigen Bürger streng überwacht und, wenn nötig, anhand rigoroser Kontroll- Abschreckungs- und Sanktionierungsprotokolle geahndet werden, nicht unähnlich denen, die in der Regel bei Straftätern Anwendung finden, die unter strafrechtlicher Überwachung stehen. D[as] Umschlag[en] ,vom Zuckerbrot zur Peitsche?, von freiwilligen Programmen, die Ressourcen vermitteln, zu Pflichtprogrammen, die mit Hilfe von Geldstrafen, Leistungskürzungen und Leistungsentzug ohne Rücksicht auf die Bedürftigkeit dafür sorgen sollen, dass diese Verhaltensregeln eingehalten werden, das heißt zu Programmen, die die Armen kulturell wie Kriminelle behandeln, die gegen das bürgerliche Gesetz der Lohnarbeit verstoßen, diese[s] Umschlag[en] also soll die unteren Fraktionen der Arbeiterklasse einerseits davon abhalten, Ansprüche auf staatliche Ressourcen geltend zu machen, und andererseits ihre Mitglieder mit Gewalt auf die konventionelle Moral verpflichten" (79, Hervorheb. i. Org.). Einen vorläufigen Höhepunkt solcher Reformen bildete die unter Clinton 1996 verabschiedete: Diese ,,Reform" bot nicht wirklich historisch etwas Neues, ,,sondern bloß eine Neuauflage von Instrumenten, die direkt aus der amerikanischen Kolonialzeit stammen, und dies, obwohl sie sich schon in der Vergangenheit als unwirksam erwiesen hatten: Nämlich die Einführung einer scharfen Trennung zwischen den ,würdigen? und ,unwürdigen? Armen, um so die Letzteren in die minderwertigen Segmente des Arbeitsmarktes abzudrängen und zur ,Besserung' ihrer vermeintlich devianten und fragwürdigen Verhaltensweisen zu bewegen, die man ohnehin als die Ursache ihrer fortbestehenden Armut ansah" (98). Auch die Kriminalisierung der Armut nahm unter Clinton neue Dimensionen an: ,,Die Verwandlung von Sozialhilfe in ein Strafprogramm erstreckt sich sogar auf ihren materiellen und atmosphärischen Kontext. Schon äußerlich besteht eine auffallende Ähnlichkeit zwischen einem Nach-Reform-Sozialamt16 und einer Strafanstalt [...]. Auch die Pflichtaktivitäten, mit denen den Wohlfahrtsempfängern Arbeitsethos eingebläut werden soll, und die Reihe der Anreize [...] und vor allem Strafen (eskalierende Leistungskürzungen bis hin zur permanenten Aberkennung der Anspruchsberechtigung) sehen den intensiven Überwachungsprogrammen für zu Bewährungsstrafen Verurteilte oder auf Bewährung Entlassene oder den sonstigen ,intermediate sanctions' - Erziehungslager, gemeinnützige Arbeiten usw. - verdächtig ähnlich. Und Seminare wie die ,work readiness workshops? [...] oder die ,life skill trainings? [...] erinnern stark an die inhaltsleeren Resozialisationskurse für Gefängnisinsassen. [...] Darüber hinaus unterscheiden sich, sieht man vom Eingesperrtsein ab, die Beschäftigungsbedingungen von Häftlingen bei näherer Betrachtung gar nicht so sehr von den schlechten Arbeitsbedingungen, die die ungelernten Lohnempfänger nach der ,Wohlfahrtsreform' draußen vorfinden" (120, 194). Wenn Arme wie Kriminelle behandelt werden, ist es ein Anzeichen dafür, dass Ersteren der bürgerliche Subjektstatus aberkannt wird und sie auf ihr ,,nacktes Leben" (Agamben) reduziert werden. Über sie wird der Ausnahmezustand verhängt. Als Herausgefallene sind sie Kontrollobjekt der mit Knüppeln, Kanonen und Schreibtischtätern bewaffneten sichtbaren Faust des Staates. Sie werden damit praktisch zum ,Zigeuner' gemacht; denn ihre Behandlung ist der Behandlung der Sinti und Roma - die Jahrhunderte lang das Gegenbild darstellten zum gesitteten und fleißig arbeitenden bürgerlichen Spießer - im antiziganistischen Rassismus sehr ähnlich17. Was allerdings noch geklärt werden muss: warum es zu einer Änderung der Strafpolitik seit Mitte der 70er Jahre kam. Wacquant betont an verschiedenen Stellen, dass es damals zu einer ,,Fragmentierung der Lohnarbeit" (291) kam, es ist ein ,,Abbau des Arbeitsmarktes" (80), ein ,,Vordringen der entsozialisierten Lohnarbeit als Vektor der sozialen Unsicherheit" (285, Hervorheb. i. Org.) festzustellen. Phänomenologisch nimmt Wacquant das Prekärwerden der Arbeit zur Kenntnis, allerdings ohne jede werttheoretische Begründung. Die Folge der ökonomischen Umbrüche seit den 70er Jahren war, dass insbesondere Schwarze, die in den fordistischen Industrien Arbeit gefunden hatten, ökonomisch überflüssig wurden. Für viele wurde dann das Dealen mit Drogen zur wichtigsten Einkommensquelle18, daher auch der proklamierte Krieg gegen die Drogen, da man auf diese Weise die Armut unsichtbar machen konnte, indem die ökonomisch Überflüssigen hinter Gittern verschwanden. Das Gefängnis ist, wie Wacquant zutreffend schreibt, ,,[ein] Aufbewahrungsort für unerwünschte schwarze Körper" (68). Für Wacquant ist die Ökonomie aber nicht der einzige Grund für das Anwachsen der Gefangenenpopulation, da mit diesem noch nicht der offensichtliche Rassismus erklärt werden kann; sind doch überproportional Schwarze betroffen19. Aufgrund der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die auch Unterstützung von Teilen der weißen Mittelschicht erfuhr, wurden die schwarzen Ghettos in den Städten aufgebrochen und sozialer Aufstieg schien möglich. Als Martin Luther King aber dazu überging, nicht nur die bürgerliche Rechtsungleichheit anzugreifen, sondern auch die soziale Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen, ging die Unterstützung der Weißen zurück. Nach Wacquant ist der Abbau des Sozialstaates (den viele Schwarze in Anspruch nahmen) als ein Versuch zu verstehen, einen Ausgrenzungsrassismus nach dem Erfolg der Bürgerrechtsbewegung neu zu etablieren (205ff.). Durch die damit einhergehende Wegsperrpolitik wurde das Gefängnis zum ,,juristische[n] Ghetto" (214). Die Perversen an den Pranger!Schwarze und Arme sind aber nicht die einzigen, die unter die Knute des neuen Strafrechtsregimes geraten. An einer weiteren Hauptzielgruppe dieses Regimes zeigen sich deutlich die Hysterie und die Rachsucht, in welche die bürgerliche Harmoniesucht (protestantischer Prägung) umschlägt: Es sind die (vermeintlichen!20 ) Sexualstraftäter. Wacquant schreibt dazu: ,,Personen, die eines Sexualdelikts verdächtigt oder verurteilt wurden, sind natürlich schon lange ein Objekt heftiger Ängste und harter Sanktionen, denn in einer puritanischer Kultur21, die sich im Würgegriff von Tabus befindet, welche noch bis vor kurzem Empfängnisverhütung, Ehebruch, Sexspiele (wie oralen und analen Verkehr) selbst zwischen Eheleuten wie auch so banale autoerotische Praktiken wie das Anschauen von Pornoheften [...] zum Verbrechen erklärten, von gemischtrassigen Ehen gar nicht erst zu reden, trifft sie ein besonders bösartiges Stigma." Dabei ist die Hysterie um Sexualstraftäter nichts Neues. Die heutige hat diverse historische Vorgänger: So hat man in den Jahren 1890-1914 ,,sexuell ,Perverse? zum ersten Mal identifiziert und für eugenische Maßnahmen22 ausgesondert (!) [...], und in den Jahren 1936-57, als man glaubte, dass Horden von ,Sexualpsychopathen? auf der Suche nach unschuldigen Opfern durch das Land streiften [und] bereit [waren] hinter jeder Ecke zuzuschlagen", wurde die heutige kulturindustriell befeuerte Hysterie vorweggenommen (219). Auch hier haben die ,,Gesetzgebungsaktivitäten" des Strafregimes nichts zu tun mit der tatsächlichen ,,statistischen Entwicklung dieser Delikte". So wurde in den 90er Jahren eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet, die zur Vereinfachung mit ,,Megan's Law"23 zusammengefasst werden. Diese beinhalten Maßnahmen, die man nicht anders als totalitär nennen kann. In Louisiana ist beispielsweise ein Ex-Sexualstraftäter ,,unter Androhung einer einjährigen Haftstrafe [...] selber für die schriftliche Mitteilung seines Status an seinen Vermieter, seine Nachbarn und die Leiterinnen und Leiter der benachbarten Schulen und öffentlichen Parks verantwortlich [...] Darüber hinaus erlaubt das Gesetz ,alle Formen der öffentlichen Bekanntmachung? darunter Pressemitteilungen, Schilder, Flugblätter und Sticker auf der Stoßstange des Autos des Sexualstraftäters. Die Gerichte können sogar verlangen, dass ein wegen eines Sexualdelikts verurteilter (Ex)Straftäter eine bestimmte Kleidung (!) trägt, die seinen rechtlichen Status anzeigt, so ähnlich wie der Stern oder die gelbe Leinenkappe (!!), die die Juden in den mittelalterlichen Fürstenstädten tragen mussten" (226). Selbstverständlich werden Ex-Sexualstraftäter in Datenbanken erfasst, die öffentlich zugänglich gemacht werden (und auf CD-ROM erhältlich sind). Dass diese Datenbanken immer größer werden, versteht sich von selbst, so war beispielsweise 1998 in Kalifornien jeder 150te männliche Erwachsene registriert. Jedoch diese ,,Daten, die zu überprüfen sich kein Mensch die Mühe macht, stellen sich in vielen Fällen als falsch heraus [...] Mehr noch, Megan's CD-ROM gibt weder die Daten der Delikte an - die bis 1944 zurückreichen können - noch die Tatsache, dass viele dieser Delikte schon lange nicht mehr strafbar sind [...]" (229). Darüber hinaus haben zahlreiche Bundesstaaten ein ,,Two-Strikes"-Gesetz verabschiedet, nach dem rückfällige Sexualstraftäter automatisch lebenslänglich ins Gefängnis kommen und dort dazu gezwungen werden können, sich chemisch kastrieren (!) zu lassen (225). Für Sexualstraftäter wurden auch die durchaus wirksamen psychotherapeutischen Therapiemethoden massiv zurückgefahren (240). Ist eine Haftstrafe vollständig verbüßt, so kann es dennoch zu einer dauerhaften (!) zwangsweisen Einweisung in die Psychiatrie kommen, die sich durch nichts von einem Hochsicherheitstrakt unterscheidet (Einzelhaft usw.). Es genügt hierzu, dass auf Grund einer ,,psychischen Abnormität" eine entsprechende Gefährlichkeit angenommen (!) wird (244). Hinzu kommt, dass bei Sexualstraftätern die Medien durch ihre Effekthascherei einzelne Ereignisse derart aufbauschen, dass der bürgerliche Mittelschichtstrottel den Eindruck bekommt, es gäbe eine entsprechende ,Epidemie'. Auf diese Art wird vom Sexualstraftäter ein bestimmtes Bild transportiert: Der Sexualstraftäter bleibt deviant und gefährlich, von einer möglichen Resozialisierung redet niemand und die verhängten Strafen seien ohnehin zu lasch (220ff.). Ein entsprechender Lynchmob ist da nicht weit. Wird dann aber bekannt, dass ein Sexualstraftäter zugezogen ist, kann es passieren, dass er wegen des bürgerlich-protestantischen Lynchmobs umgesiedelt werden muss, weswegen ,,die kalifornische Strafvollzugsbehörde erwägt, in einer der kalifornischen Wüsten eine Art ,juristisches Reservat? (!) zu schaffen, wo sie die zur Bewährung entlassenen Sexualstraftäter ansiedeln könnte, die von der Bevölkerung abgewiesen werden" (232)24 . Zu betonen ist, dass jeder, der eine entsprechende Tat begangen hat oder haben soll, in die Kategorie ,,sex offender" eingeordnet wird, mit allen hier angedeuteten Konsequenzen25. Die Behandlung der Herausgefallenen in den USA ist ein Paradebeispiel für den Krieg des Neoliberalismus gegen die sozialen Tatsachen. Potentiell über allen schwebt der Ausnahmezustand. Dieser wird zunehmend zur Normalität und prinzipiell auf immer mehr Menschen ausgedehnt. Entsprechend wird der demokratische Staatsknüppel aufgerüstet. Der Staatsterror wird zum Programm, das Recht und Ordnung verspricht. Das Knüppeln und Wegsperren war seit jeher des Staates ultima ratio - das gilt gerade auch für die westlichen Demokratien -, doch mag der Unterschied zu früheren Zeiten der sein, dass das Strafrechtsregime von Heute mit seinen Überwachungsmaßnahmen sich keine Grenzen mehr setzt (und wohl auch nicht mehr setzen kann). So schreibt Wacquant: ,,Im Februar 1999 debattierte das Parlament von Virginia bereits über eine Gesetzesvorlage, mit der die vollständige Liste aller wegen eines kriminellen Vergehens Vorbestrafte[n], Erwachsener wie Minderjähriger, und selbst bei geringfügigen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung und Verstößen gegen die Zulassungs- und Meldegesetze, frei im Internet zugänglich gemacht werden sollte. Der Strafpanoptismus in den USA geht herrlichen Zeiten entgegen." (245, Hervorheb. i. Org.). Wenn der krisengeschüttelte bürgerliche Staat mit seinem Kampf gegen die Realität, mit seiner Bestrafungs- und Überwachungspraxis keine Erfolge einfährt und ein bürgerliches Tugendparadies sich nicht einstellen will, so reagiert er nur mit einer weiteren Verschärfung seiner Terrorpraxis, die sich immer weiter in paranoiden Wahn steigert. So bleibt die chaotisch werdende Welt vom bürgerlichen Strafordnungsfanatiker unverstanden, und in seiner Unzurechnungsfähigkeit verfügt er Maßnahmen und Verordnungen, die, obgleich sie als Ziel die Rettung von ,,Sicherheit" und ,,Freiheit" versprechen, doch mehr und mehr die ganze Gesellschaft in ein Gefängnis verwandeln und damit jede Freiheit und Sicherheit zur Farce werden lassen. Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen - Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen/Berlin/Toronto, Verlag Barbara Budrich, 2. Auflage, 2013.
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