Zuerst erschienen auf: konicz.info (23.7.2022) Spenden an den Autor über Patreon: https://www.patreon.com/user?u=57464083.
Schuldenberge in BewegungDie wunderbare Welt der Anleihemärkte – derzeit weitaus spannender, als es vielen Funktionsträgern in Staat und Finanzwirtschaft lieb sein dürfteTomasz KoniczÖde, dröge, sterbenslangweilig – das sind für gewöhnlich die Anleihemärkte der Zentren des Weltsystems. Wenn Kapital sicher geparkt werden soll, wenn Pensionsfonds eine sichere, wenn auch niedrige Rendite gewährleisten müssen, wenn Versicherungen ihre Gelder parken wollen, dann fließt Geld in US-Staatsanleihen oder in deutsche Bonds, die als das stabile Fundament des Weltfinanzsystems, als das Rückgrat der neoliberalen Finanzialisierung des Kapitalismus in der letzten Dekaden gelten. Bei der Vermessung dieses Betons, auf dem das neoliberale Finanzkartenhaus in den vergangenen Dekaden errichtet wurde, ist die Billion die adäquate Maßeinheit: Mit mehr als 22 Billionen Dollar hatte der amerikanische Markt für Staatsbonds Ende 2020 das weltweit größte Volumen, gefolgt von China (20 Billionen) und Japan (12 Billionen).1 Weltweit wurden im besagten Zeitraum Bonds im Wert von 128,3 Billionen Dollar gehandelt, wovon 68 Prozent auf Schulden der öffentlichen Hand entfielen und 32 Prozent auf Unternehmensschulden. Es ist für gewöhnlich spannender, Gras beim Wachsen zuzuschauen, als die Anleihemärkte der US-Treasuries zu beobachten. Für gewöhnlich. Dass sich die Finanzsphäre in einer – gelinde gesagt – ungewöhnlichen Krise befindet, die gerade deren Fundamente erodiert, lässt sich daran ermessen, dass die Anleihemärkte in den USA und der EU in Bewegung geraten sind und sich in einer für kleine wie große Anleger nervenaufreibenden Berg- und Talfahrt befinden. So viel Spannung und Action war selten auf den für kapitalistische Verhältnisse gemütlichen Anleihemärkten, die in der EU zuletzt vor rund zehn Jahren während der Eurokrise ähnlich stark unter Druck gerieten. Der Zinsunterschied, der sogenannte Spread zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen, ist in den vergangenen Wochen stark angestiegen. Rom muss höhere Zinsen für seine Staatspapiere zahlen als Berlin, was die enorme Schuldenlast Italiens, das mit rund 150 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in der Kreide steht, untragbar zu machen droht – und die gesamte Eurozone sprengen könnte.2 Die EZB sieht sich aufgrund galoppierender Inflation und untragbarer Schuldenlast in der südlichen Peripherie der Eurozone in einer Sackgasse, da sie eigentlich die Zinsen zwecks Inflationsbekämpfung erhöhen und zugleich absenken müsste, um die Schuldenlast in dem Währungsraum erträglich zu halten. In den USA mussten Beobachter noch weiter zurückschauen, um Parallelen zu den massiven Verschiebungen auf dem Markt für Staatsschulden zu finden. Auf dem Markt für amerikanische Staatsanleihen, für die sogenannten Treasuries, kann eine seltene, als inverse Zinskurve bezeichnete Konstellation3 beobachtet werden, die als ein sicherer Rezessionsindikator dient. Die Renditen langfristiger Bonds, wie der 10-jährigen Staatsanleihe, sind unter die Renditen kurzfristiger T-Bonds gefallen, wie der Treasuries mit zweijähriger oder sogar dreimonatiger Laufzeit.4 Für gewöhnlich werden langfristige Anleihen höher verzinst als Schuldscheine mit einer kurzen Laufzeit, um das größere Risiko zu kompensieren. Wenn nun Anleihen mit kurzer Laufzeit als genauso risikoreich gelten wie T-Bonds mit Laufzeiten von zehn Jahren, dann deutet dies auf eine kommende große Erschütterung, auf einen nahenden Krisenschub hin. In den vergangenen 50 Jahren ist diese Marktkonstellation immer einer Rezession vorausgegangen. Laut der Financial Times (FT) ist diese inverse Zinskurve auf den US-Anleihemärkten so stark ausgeprägt wie zuletzt im Jahr 2000, als die globale Dot-Com-Blase mit Internet- und Hightech-Aktien platzte.5 Somit scheinen gerade die US-Anleihemärkte ein sicheres Rezessionssignal auszusenden. Im Schnitt haben US-Treasuries, die ähnlich wie Aktien zu einem Marktkurs gehandelt werden, seit Jahresbeginn rund neun Prozent ihres Wertes eingebüßt,6 was die größte Korrektur auf diesem für gewöhnlich betonfesten Markt seit rund 30 Jahren darstellt. Der Anleihemarkt der USA sei so gut wie tot, jammerte Mitte Juli die Financial Times,7 da inzwischen die langfristigen T-Bonds Washingtons von strategischen Investoren wie Pensionskassen „gemieden“ werden, sodass deren Zinsen höher als diejenigen 30-jähriger Anleihen seien. Auch hierbei handelt es sich um eine Inversion, die bereits Spekulanten wie Hedge Fonds auf den Markt lockt, die diese „Verzerrungen“ (FT) ausnutzen wollen – und den Markt weiter destabilisieren. Zudem führen die fallenden Kurse der US-Anleihen dazu, dass sich auch ausländische Anleger sehr genau überlegen, ob es sich bei den Treasuries Washingtons noch um eine bombensichere Anlage handelt.8 Japan ist inzwischen – noch vor China – der größte Auslandsgläubiger der Vereinigten Staaten, japanische Investoren halten US-Bonds im Wert von 1,2 Billionen US-Dollar. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg meldete, finden angesichts der fallenden Kurse seit sieben Monaten Nettoverkäufe von US-Anleihen in Japan statt, was einen neuen Rekordwert seit Beginn der Aufzeichnungen darstellt. Der größte Auslandsgläubiger der USA soll allein im Mai Treasuries im Wert von 2,4 Milliarden Dollar abgestoßen haben, im April belief sich das Volumen der Verkäufe gar auf 17 Milliarden Dollar. Sollten sich diese Abflüsse beschleunigen und weitere Auslandsgläubiger Washingtons ähnlich verfahren, dann könnte sich die Fed mit einer regelrechten Schuldenkrise konfrontiert sehen. Fallende Anleihe-Kurse gehen mit steigenden Zinsen einher, die sich in der Tendenz dem Zinsniveau der Notenbanken annähern. Mit den Zinssteigerungen der Fed, die zur Inflationsbekämpfung beitragen sollen, geht aber auch eine Verteuerung des Schuldendienstes der Staaten einher. Je höher die Zinsen, desto größer die Zinslast des Staates. Selbst in der BRD haben sich die Kosten für die Bedienung der – in Relation zum Süden der Eurozone – niedrigeren und günstigeren Schuldenberge binnen kurzer Zeit nahezu verachtfacht: von knapp vier auf knapp 30 Milliarden Euro.9 Die Ära der Negativzinsen ist endgültig vorbei, wobei es gerade, wie oben dargelegt, die Anleihemärkte sind, die aufgrund der zunehmenden Zinsunterschiede zwischen deutschem Zentrum und der südlichen Peripherie der Eurozone zur Destabilisierung des Währungsraums beitragen und diesen im Fall einer Kriseneskalation sogar sprengen könnten. In den USA haben bereits rechte Kräfte innerhalb der demokratischen Partei die Zinswende der Fed ausgenutzt, um die Infrastruktur- und Konjunkturprogramme der Biden-Administration massiv zusammenzustreichen.10 Von den blumigen Wahlversprechen eines kreditfinanzierten Green New Deals ist nichts mehr übrig. Konservative Denkfabriken argumentieren bereits,11 dass selbst die minimalen Konjunkturprogramme Bidens generell sabotiert werden sollen, da sie inflationsfördernd wirken und die Mittelklasse belasten. Die Inflation sei bereits auf 9,1 Prozent angestiegen, klagte etwa die Heritage Foundation, was auf das „Drucken“ von einer unglaublichen, sich auf rund sieben Billionen Dollar summierenden Menge Geld durch die Fed zurückzuführen sei. Neben der Ausblendung der ökologischen und pandemiebedingten Faktoren, die zur aktuellen Teuerungswelle beitragen,12 die dieser konservativen Kritik an der lockeren Geldpolitik der vergangenen Jahre eigen ist (und die auch von der Trump-Administration praktiziert wurde), wird hier der simple Umstand übergangen, dass es gerade die historisch beispiellose Phase der expansiven Geldpolitik der Notenbanken war, mit der die Wirtschaft und die Finanzsphäre im Rahmen einer gigantischen Liquiditätsblase13 über Wasser gehalten wurden. Die Kappung von Konjunkturmaßnahmen, wie sie sich in den USA vollzieht, dürfte somit die kommende Rezession vertiefen. Diese Sackgasse der bürgerlichen Krisenpolitik,14 bei der die Notenbanken nur zwischen Rezession und Inflation, nur zwischen den konkreten Wegen in den nächsten Krisenschub wählen können, wird inzwischen offen von führenden Funktionsträgern der Finanzindustrie thematisiert. Analysten der Bank of America (BoA) erklärten anfang Juli in einer Markteinschätzung, dass es einer sehr „tiefen Rezession“ bedürfe, um die Inflation einzudämmen.15 Es sei „viel Zeit“ notwendig, um den „Arbeitsmarkt abzukühlen“ und die „durch die Lohnkosten angetriebene Inflation“ einzudämmen, hieß es in der BoA-Prognose. Im Klartext: Die Arbeitslosigkeit muss massiv ansteigen, um die Löhne drücken zu können, die in der Ära des „billigen Geldes“ anstiegen, Nachfrage generierten und die Versorgungsengpässe in der Pandemie verstärkten. Das „Marktgleichgewicht“ zwischen Nachfrage und dem Angebot, das durch Pandemie und Klimakrise zerrüttet wurde, soll somit über die Pauperisierung der Lohnabhängigen wiederhergestellt werden – damit volle Supermarktregale und Schaufenster wieder von Elendsgestalten sehnsüchtig bewundert werden können. Die große Geldflut der Notenbanken, die ihre Schleusen eigentlich schon 2008 nach dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und der EU weit öffneten und kaum mehr schlossen,16 führte somit zu einer Inflation der Wertpapierpreise in der Finanzsphäre. Und es war gerade diese Finanzblasenökonomie, die für die „gute“, auf Pump generierte Konjunkturentwicklung sorgte, die nun inflationär „überhitzt“. Eben die Inflation der Preise der Spekulationsobjekte in der Finanzsphäre ist das Kernmoment der Definition einer Blasenbildung. Und da es die Liquidität der Notenbanken war, mit der die Finanzmärkte überschwemmt worden sind, die zur Ausbildung dieser „Inflation der Wertpapierpreise“ führte, bezeichnet mensch diese nun platzende Spekulationsdynamik als eine Liquiditätsblase. In der Financial Times17 wird dieser Zusammenhang zwischen Geldflut und Finanzmarktboom inzwischen offen diskutiert: Demnach hat die in die Märkte gepumpte Liquidität seit Anfang 2020 „zweifach bis 2,5-fach“ stärkere Auswirkungen auf die Entwicklung der Aktienmärkte genommen als die schnöde Konjunktur. Die Investoren seien somit weit mehr über das Versiegen der Liquidität im Zuge der Zinswende besorgt als über die Wachstumsaussichten. Die Zinswende der Notenbanken lässt nicht nur die Schuldenberge auf den Anleihemärkten in Bewegung geraten, auch die Aktienmärkte,18 die Devisenmärkte,19 der Immobilienmarkt20 sind betroffen. Die Liquiditätsblase der Notenbanken, die seit 2008 nahezu ununterbrochen eine Nullzinspolitik betrieben und mittels Wertpapieraufkäufen Billionen in die Finanzsphäre pumpten, entwickelte sich faktisch zu einer Everything-Bubble, die in vielen Bereichen der Finanzsphäre Blasenbildung beförderte – bis zu den absurden Exzessen der Schwarmspekulation mit Meme-Aktien wie Gamestop.21 Die aktuellen Verwerfungen in der Finanzsphäre, die Turbulenzen auf vielen Märkten, die bei einem flüchtigen Blick so unübersichtlich wirken, lassen sich durchaus auf einen gemeinsamen Nenner bringen, der diese Krisendynamik verständlich macht: den Nenner der besagten Liquiditätsblase, die eigentlich schon seit der Finanzkrise von 2008 von den Notenbanken aufgepumpt wurde. Um den Absturz der Wirtschaft nach den Krisenschüben von 2008 und 2020 zu verhindern, pumpten die Notenbanken Geld in die Finanzsphäre, indem sie Schrottpapiere wie Hypothekenverbriefungen oder die Staatsanleihen ihrer Staaten aufkauften, was die Finanzsphäre in einen langen, von kurzen Erschütterungen begleiteten Spekulationsboom führte. Diese Everything-Bubble platzt nach Ausbruch der Pandemie und des Krieges um die Ukraine, da die in der aufgeblähten Finanzsphäre gehaltene Liquidität zunehmend in die „reale“ Wirtschaft strömt und dort den Preisauftrieb beschleunigt, der in den USA zweistellige Steigerungsraten erreichen könnte. Die globale geldpolitische Wende der Notenbanken vollzieht sich – dies ist für den Kapitalismus charakteristisch – aber nicht einhellig in einem koordinierten Vorgehen der Notenbanken, sondern in Konkurrenz zueinander, die Ausdruck der üblichen spätkapitalistischen Krisenkonkurrenz zwischen „Wirtschaftsstandorten“ ist. Laut der Financial Times mehrten sich die Zeichen für einen „umgekehrten Währungskrieg“ zwischen den Notenbanken, bei dem sich die Geldpolitik der jeweiligen Staaten bemüht, den „Import von Inflation“ einzudämmen.22 Die Anhebung der Zinsen durch die Fed habe viele Notenbanken „unter Druck“ gesetzt, es ihr gleichzutun, da hierdurch der US-Dollar gegenüber den Währungen anderer Währungsräume, wie der Eurozone, aufgewertet wird. Durch eine Abwertung der Währung werden aber die Importe, etwa von Energieträgern, teurer, was die Inflation anheizt. Deswegen entschied sich jüngst die EZB, trotz der Friktionen innerhalb der ökonomisch gespaltenen Eurozone,23 den Leitzins mit 0,5 Prozent deutlich anzuheben, um im Aufwertungswettlauf mit den USA nicht zurückzufallen.24 Die Notenbanken konkurrierender Staaten müssen somit bei diesem Aufwertungswettlauf nachziehen, wollen sie nicht die Inflation buchstäblich importieren. Dieser Währungskrieg ist faktisch die Umkehrung der Abwertungswettläufe, die in der Spätphase der neoliberalen Globalisierung, nach dem Platzen der Immobilienblasen 2008, üblich waren.25 Damals bemühten sich die Staaten, durch währungspolitische Abwertungen Exportüberschüsse zu erzielen, um die systemische Überproduktionskrise des Kapitals nach deutschem Vorbild buchstäblich zu exportieren. Diese Abwertungswettläufe, bei denen China und die BRD so erfolgreich waren, gingen mit dem Amtsantritt der Trump-Administration in offenen Protektionismus über. Wie weit können nun diese mit der Inflationsperiode einsetzenden Aufwertungswettläufe der Notenbanken getrieben werden? Die sich in einer Sackgasse befindlichen Funktionseliten,26 die diesen Aufwertungswettlauf initiieren, sind sich darüber im Klaren, dass er große soziale und wirtschaftliche Friktionen mit sich bringen wird. Eigentlich hat die Geldpolitik keine andere Wahl, als zumindest zu versuchen, den Entwertungsprozess kontrolliert in der einen oder anderen Form ablaufen zu lassen, sollen Inflation oder Deflation nicht gänzlich außer Kontrolle geraten. In jedem Fall: Die „Wirtschaft“ und vor allem die Lohnabhängigen werden leiden. Die Turbulenzen und Verwerfungen in der Finanzsphäre sind ebenfalls bei weitem nicht ausgestanden, die Krise ist noch längst nicht „eingepreist“. Vieles, selbst drohende Staatspleiten in der Peripherie,27 kann sicherlich gemanagt und ausgesessen werden, ohne dass das kapitalistische Weltsystem als Ganzes kollabiert. Der soziale Fallout der Krise kann bis zu einem gewissen Grad militärisch in Schach gehalten werden. Doch die scheinbar so langweiligen Anleihemärkte in den Zentren des Weltsystems – in der EU, in Japan und den USA – können nicht einfach kollabieren, ohne dass der gegenwärtige Krisenschub einen kollapsartigen Verlauf annimmt. Das ist die objektive Grenze aller Aufwertungswettläufe und aller Inflationsbekämpfung. Die in Bewegung geratenen Schuldenberge müssen davon abgehalten werden, bei einem unkontrollierbaren Lawinenabgang die krisengeplagten Zentren unter sich zu begraben.
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