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Herbert Böttcher: „Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ Zur Aktualität Walter Benjamins (Vortrag in Paris, Mai 2023)


„Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“

Zur Aktualität Walter Benjamins

1. Warum Walter Benjamin?

Vor ca. 100 Jahren schrieb Walter Benjamin sein Fragment „Kapitalismus als Religion“ (Benjamin 1991, 100-103). Dieses Jubiläum war Anlass, sich noch einmal mit Benjamin auseinander zu setzten. In eine Konstellation rückte dabei die Beziehung zwischen Benjamins Diktum „Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe“ (Benjamin 2015d, 592), und der in den sog. Vielfachkrisen sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus. Diese Konstellation erhellt die Brisanz dieser Krise und die Gefährlichkeit der mit ihr einhergehenden Katastrophen.

Bei dem Versuch, an Benjamin anzuknüpfen, kann nicht übersehen werden, dass Benjamins Kritik des Kapitalismus auf die kulturelle Ebene fokussiert ist, ohne die „verborg[e]ne Stätte der Produktion“ (Marx 1984, 189), also die Ebene politischer Ökonomie, einzubeziehen (vgl. Böttcher 2021, 35ff). Zudem bleibt Benjamins Charakterisierung des „Kapitalismus als Religion“ phänomenologisch verkürzt (vgl. Kurz 2012, 389ff), bedarf also korrigierenden Weiterdenkens im Blick auf eine an Marx orientierte Fetischismuskritik. In Verbindung mit politisch-ökonomischen und fetischismuskritischen Einsichten lassen sich aus dem Denkens Benjamins Erkenntnisse im Blick auf das gewinnen, was er als Katastrophe beschrieben hat, und was wir als finale Krise des Kapitalismus reflektieren.

2. Zur Lesbarkeit der Geschichte

Mit den drohenden Gefahren von Faschismus und Krieg konzentriert sich Benjamins Denken in den 19020er und 30er Jahren auf die Frage nach der Geschichte. Sein letzter in Form von Thesen geschriebener Text „Über den Begriff der Geschichte“ (Benjamin 2015b, 691-704) ist – angestoßen durch den Hitler-Stalin-Pakt – „im Wettlauf mit Hitlers Vernichtungsapparat“ (Werner 2011, 7) entstanden. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Verhältnis der Vergangenheit zur Gegenwart. Sie sind verbunden über den „Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt“ (Benjamin 2015c, 578). Dieser ‚Zeitkern‘ macht die Geschichte lesbar.

Damit setzt sich Benjamin von einem bürgerlichen Wahrheitsbegriff ab, der die Zeitlosigkeit der Wahrheit betont. Zugleich markiert er den Gegensatz zu Heideggers Verbindung von „Sein und Zeit“ (Heidegger 1979). In Heideggers Verständnis von Zeit kommt die reale Geschichte nicht vor. Geschichte wird zu Geschichtlichkeit, zu einem Existential der Zeit. Vor allem setzt sich Benjamin vom Historismus ab. Dieser will in der Geschichte „erkennen, ‚wie es denn eigentlich gewesen ist“ (Benjamin 2015b, 695). Dabei geht er von der Gegenwart aus und versucht, durch ‚Einfühlung‘ in die Vergangenheit zu erklären, wie die Gegenwart geworden ist. Benjamin kritisiert, dass dabei das siegreich Gewordene zum Ausgangspunkt für die Frage nach Geschichte wird und die propagierte ‚Einfühlung‘ in die Vergangenheit zur „Einfühlung in den Sieger“ (ebd., 696) werde. In den Blick kommt nur, was siegreich überlebt hat. Gescheitertes, Untergänge und Katastrophen sowie die Opfer als die in der Geschichte Besiegten verschwinden. Dagegen insistiert Benjamin auf dem ‚Zeitkern‘, der in der Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart die Geschichte in der ‚Jetztzeit‘ angesichts drohender Gefahr lesbar macht.

Das hat erkenntnistheoretische Implikationen. Bei Benjamins Rede vom ‚Zeitkern‘ geht es nicht – wie Adorno anmerkt – um „Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit“ (Adorno 2003b, 141). Dann kann es auch nicht Aufgabe der Philosophie sein, im hegelschen Sinn ihre Zeit in Gedanken zu fassen. Denn: Die Philosophie findet sich – so Adorno – „in einer Wirklichkeit“ wieder, „deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt“ (Adorno 2003a, 325). Daher ist es ihr verwehrt, sich in einen positiven Bezug zur Wirklichkeit zu setzen. Tut sie dies, „dient“ sie „zu nichts anderem als die Wirklichkeit zu verhüllen und ihren gegenwärtigen Zustand zu verewigen“ (ebd.).

Benjamin bezieht sich auf die Geschichte von ihrer Kehrseite her, indem er betont: Der Begriff des Fortschritts sei „in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe“ (Benjamin 2015d, 592). Die Geschichte ist nicht wie bei Hegel Selbstoffenbarung des Geistes in einem voranschreitenden Prozess, in dem die Verhältnisse zur ‚Vernunft‘ kommen. Sie sind nicht auf einen positiven Endzweck ausgerichtet. Bei Hegel wird dieser zur Rechtfertigung dafür, dass der auf dem „Schlachtfeld“ (Hegel 1971, 46) der Geschichte voranschreitende Gang des Fortschritts mit Opfern verbunden ist. Sie sind als unvermeidliche Kollateralschäden hinzunehmen bzw. als Preis des Fortschritts zu zahlen.

Dagegen macht Benjamins Insistieren darauf, dass das ‚Weiter so‘ die Katastrophe ist, deutlich: Im ‚Weiter so‘ walzt die Geschichte über Untergänge, unerfüllt gebliebene Hoffnungen nicht verwirklichte Möglichkeiten, kurz: über ihre Opfer hinweg. Sie werden dem Vergessen anheim gegeben, so dass „auch die Toten … vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sind“ (Benjamin 2015b, 695). Die Katastrophe, die jetzt geschieht, wahrzunehmen und in das Denken aufzunehmen, lässt das Verlorene und die Verlierer, nicht die Sieger, sondern die Besiegten in den Blick und in das materialistische Denken kommen. Es wird möglich, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ (ebd., 697).

3. Benjamins Kampf um Zeit und Geschichte als Kampf gegen den Mythos von der Wiederkehr des Gleichen im Kapitalismus

Die Zeit, in der Vergangenheit und Gegenwart in eine Konstellation treten, charakterisiert Benjamin als „Jetztzeit“ (Benjamin 2015b 701). Darin blitzt ein Bild der Vergangenheit auf. Es „ähnelt den Bildern der eigenen Vergangenheit, die den Menschen im Augenblick der Gefahr antreten“ (Benjamin 2015c, 1243). Vergangenheit und Gegenwart treten in eine Konstellation, die sie ‚lesbar‘ machen. „Augenblick der Gefahr“ ist für Benjamin der sich ausbreitende Faschismus und der drohende Krieg. Angesichts dieser Gefahr macht Benjamin in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ deutlich, dass der Kampf gegen die Totalität der faschistischen Herrschaftsverhältnisse verbunden ist mit dem Kampf um die unterdrückte Vergangenheit, um all die in der Geschichte namenlos Besiegten. Deshalb muss die Geschichte als Geschichte der Sieger unterbrochen, das „Kontinuum der Geschichte“ als homogen und leer dahinfließende Zeit des Fortschritts gesprengt werden.

Der Kampf gegen die in der Gegenwart aufblitzenden und lesbaren Gefahren ist ein Kampf um Zeit und Geschichte und darin gegen den Mythos. Er ist nicht durch die Zeit der Geschichte, sondern durch die dahinfließende Zeit der Wiederkehr des Gleichen bestimmt. Im Mythos geht es um den Gang der Natur, um das Einssein mit der Natur und ihrem gleichförmigen Fluss von Werden, Vergehen und Neu-Werden – eingebunden nicht in zeitlich-geschichtliche Konstellationen, sondern in die Ewigkeit des Kosmos und die Konstellationen der Gestirne. Im Mythos wird die Zeit zur leeren, gleichförmigen und homogenen Zeit.

In Verbindung mit politisch-ökonomischen und fetischismuskritischen Einsichten gewinnt Benjamins Kampf um Zeit und Geschichte und gegen den Mythos deutliche Konturen als Kampf gegen den Kapitalismus.

Zum einen: Im Kapitalismus wird die Geschichte durch die Konkurrenz naturalisiert. Darin werden die Starken von den Schwachen und in der sich zuspitzenden Krise mehr und mehr die Verwertbaren von den ‚Überflüssig‘-Gemachten selektiert. Wer sich in seiner Anpassungsfähigkeit als stark genug erweist, hat die besten Chancen im Überlebenskampf. Unternehmen können nur zukunftsfähig sein, wenn sie auf neue wirtschaftliche Situationen optimal reagieren. Individuen stehen vor der Herausforderung, sich als „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2013) durch permanente Selbstoptimierung für den Konkurrenzkampf um Arbeit fit zu halten – stets bereit, sich eigenverantwortlich anzupassen. Wer sich dabei als zu schwach erweist, wird aus dem Rennen geworfen. Was Darwin meinte, als Selektionsgesetz der Natur erkannt zu haben, wird als „Biologisierung der Weltgesellschaft“ (Kurz 2009, 293ff) zum Selektionsgesetz der kapitalistischen Geschichte.

Zum zweiten erscheinen – wie Marx in seiner Analyse des Fetischcharakters der Ware und ihres Geheimnisses schreibt – der gesellschaftliche Charakter der Arbeit und die Gegenständlichkeit ihrer Produkte „als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge“ (Marx 1984, 86). Der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion von Waren erscheint als Naturzusammenhang, die Warenproduktion als ‚natürlich‘. Sie dreht sich – in der Konkurrenz auf immer höherer Stufenleiter voranschreitend – um das Immer Gleiche: den Selbstzweck der Vermehrung von Kapital. Das Immer-Gleiche aber ist nicht Geschichte, sondern Mythos. Die Moderne ist weder – wie Max Weber meinte – als Rationalisierung noch als Entzauberung zu beschreiben, sondern gekennzeichnet durch (Re-)Mythisierung und magische Verzauberung. Sie finden ihren Ausdruck im Phänomen des verzaubernden Kultes der Waren. Dieser ist von den Zusammenhängen von Produktion, Distribution und Konsumtion der Waren, also von dem Mythos, den die Warenproduktion als ganzes darstellt, nicht zu trennen.

Im Mythos der Warenproduktion wird die Zeit zu einer homogen fließenden und leeren Zeit; denn die konkrete Zeit der Arbeit wird der abstrakten Zeit des Werts subsumiert (Zamora 2022, 266 ff). Sie ist eingebunden in den qualitativ, also inhaltlich leeren Fluss der Selbstverwertung von Kapital als abstraktem und leerem Selbstzweck. Das geht einher mit einer Beschleunigungsspirale, in der es keine Ruhe gibt – wie es Benjamin auf der Ebene des Phänomens der Permanenz des kapitalistischen Kultes ohne Unterbrechung durch Festtage beschrieben hatte (vgl. Benjamin 1991, 100). Dahinter steht als treibende Kraft der Ruhelosigkeit die Anspannung, unter den Zwängen der Konkurrenz das Niveau der Produktivität zu steigern. „Für den Wert, der an sich als Wert festhält, fällt ... Vermehrung mit Selbsterhaltung zusammen, und er erhält sich nur dadurch, dass er beständig über seine quantitative Schranke hinaustreibt“ (Marx 1983, 196). Dabei bewegt sich die Akkumulation von Kapital in selbstreferentiellen, leeren und unabschließbaren Kreisläufen, die vor keiner äußeren Grenze Halt machen können. Akkumulation ist aus Gründen der Selbsterhaltung als endloser Prozess unverzichtbar.

„Die Zeit des Kapitals ist vom Paradox einer auf Zukunft gerichteten Zirkularität geprägt. Aber diese Zukunft ist nichts anderes als die Zukunft künftiger Akkummulationskreise“ (Zamora 2018, 215). Daher ist die inhaltliche Leere des Akkumulationsprozesses eingebannt in die homogene Leere der Zeit, die als Wiederkehr des Gleichen dahinfließt – ohne Ziel und ohne Perspektive, aus dem Bannkreis des immer wieder Gleichen herauszukommen. Dass immer wieder Neues das Alte verdrängt, neue Produkte, Marken, Moden und Trends sich ablösen, widerspricht dem nur scheinbar. Entscheidend ist, „dass das Gesicht der Welt gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, dass das Neueste in allen Stücken immer das Nämliche ist“ (Benjamin 2015e, 676). Auch das Neue in seinem permanenten Wechsel kann die Leere nicht überspielen. Es verschafft keine Befriedigung und Beruhigung, sondern produziert jene Langeweile, die Ausdruck der Leere ist, die doch durch ständig Neues gefüllt werden soll. Für die gelangweilten Kund*innen stehen heute auf den einschlägigen Event-, Esoterik- und Spiritualitätsmärkten entlastende und vertiefende Angebote zur Verfügung. Ihre Palette reicht von der Intensivierung von Glückserfahrung über spirituelle Tiefenerfahrung bis hin zur Dauerunterhaltung durch Events (vgl. Böttcher 2023, 81ff). Gesucht und angeboten wird immer mehr vom Gleichen im mythologischen Kreislauf der ‚Wiederkehr des Gleichen‘.

4. Grenzen für die ‚Wiederkehr des Gleichen‘ und die finale Leere des Kapitalismus

Dennoch kann die ‚Wiederkehr des Gleichen‘ nicht ins Unendliche weitergehen. Sie stößt auf eine logische Schranke, die Marx als „prozessierenden Widerspruch“ (Marx 1983, 600 ff.) des Kapitals beschrieben hatte. Die im Rahmen der Konkurrenz betriebene Produktion zwingt dazu, Arbeit als Quelle von Wert und Mehr-Wert durch Technologie zu ersetzen. Damit zerstört das Kapital seine eigenen Grundlagen. Mit der mikroelektronischen Revolution kann das Schwinden der Arbeitssubstanz nicht mehr durch Ausweitung der Produktion, Kostensenkungen, Verbilligung der Waren und Ausweitung der Märkte etc. kompensiert werden. Damit stößt die logische Schranke auch historisch auf eine Grenze, die im Rahmen des Kapitalismus nicht mehr zu überwinden ist.

Nun hatte Benjamin die „verborg[e]ne Stätte der Produktion“ (Marx 1984, 189) nicht in seine Kritik des Kapitalismus einbezogen. Dennoch lassen sich aus seiner auf Phänomene fokussierten Kritik Erkenntnisse gewinnen, die im Blick auf die Auseinandersetzung mit der Krise des Kapitalismus, die wir gegenwärtig erleben, von Bedeutung sind:

1. Benjamin hatte die Grenze des Kapitalismus auf der Ebene der Verschuldung im Blick. Den kapitalistischen Kult hatte er als einen „nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus“ (Benjamin 1991, 100), also als einen Kultus ohne rettenden Ausweg charakterisiert. In die Kreisläufe der Verschuldung ist „Gott selbst … einzubegreifen“ (ebd., 101). Gott ist also – nicht einfach tot, sondern „seine Transzendenz ist gefallen“ und Gott so „ins Menschenschicksal einbezogen“ (ebd). Er steht den Verhältnissen nicht – sie transzendierend – gegenüber. Vielmehr wird er zum Ausdruck von deren immanenter Fetischisierung, der „Realmetaphysik“ (Robert Kurz) der kapitalistischen Verhältnisse. Wenn in diesem Sinn der Kapitalismus zu Religion wird, ist er „nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung …, Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand“ (ebd.). Im Wesen dieser Religion liegt das Aushalten bis ans Ende <,> bis in die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung, auf die gerade noch gehofft wird“ (ebd.). Vorstellbar scheint dann eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus (nach Frederic Jameson).

2. Nach Benjamin wird der im kapitalistischen Kult verheimlichte Gott auf dem Zenith der Verschuldung erkennbar (vgl. Benjamin 1991, 101). Hier zeigt sich, so wird heute deutlich, dass die Scheinakkumulation von Kapital auf den Finanzmärkten keinen Bezug mehr zur Realakkumulation herstellen kann, so dass Blasen immer wieder platzen. Der Fluss einer homogenen und leeren Zeit, den Benjamin mit dem Fortschritt in Verbindung gebracht hatte, ist in der sich zuspitzenden Krise der kapitalistischen „Realmetaphysik“ erkennbar als die Leere, die mit der Vermehrung von Kapital als abstraktem Selbstzweck verbunden ist. Sie ist in doppelter Weise inhaltsleer. Zum einen ist sie nicht auf Qualitäten, also auf Inhalte, sondern auf Quantität, also abstrakt auf Vermehrung ausgerichtet. Die Gegenstände der Welt werden nicht in ihrer eigenen Qualität, anerkannt, sondern lediglich als Material für die Kapitalverwertung. Zum zweiten: Mit der immanent nicht mehr zu überwindenden Krise der Verwertung läuft der abstrakte und irrationale Selbstzweck, Kapital/Geld um seiner selbst willen zu vermehren, selbst ins Leere. Sein Vernichtungspotential sieht Robert Kurz in der Unmöglichkeit, den „Widerspruch zwischen metaphysischer Leere und ‚Darstellungszwang‘ des Werts in der sinnlichen Welt zu lösen“ (Kurz 2021, 69). „Daraus entsteht ein doppeltes Potential der Vernichtung: ein ‚gewöhnliches‘, gewissermaßen alltägliches, wie es sich schon immer aus dem Reproduktionsprozess des Kapitals ergibt, und ein gewissermaßen finales, wenn der Entäußerungsprozess an absolute Grenzen stößt“ (ebd. 70).

3. Die Naturalisierung der Geschichte, die Benjamin in der Selektion der Starken von den Schwachen sah, nimmt, je mehr die Krise voranschreitet, vernichtende Züge an. Sie barbarisiert sich zu einem immer weniger durch politische Regulative zu zähmenden sozialdarwinistischen Kampf ums Dasein. Dies findet seinen Ausdruck in den sog. Vielfachkrisen wie dem Einbrechen von Staaten, in Kriegen und Bürgerkriegen, der Zerstörung der Lebensgrundlagen, Migration und Flucht, eskalierender Gewalt in staatlicher Repression und barbarischen Überlebenskämpfen. Gekämpft wird auf Leben und Tod. Aber es geht um quasi nichts mehr, weil der kapitalistische Kampf um sozialdarwinistische Selbstbehauptung ins Leere läuft. Die Katastrophe ist dem Prozess der Verwertung des Kapitals inhärent. In der Logik der Verwertung des Kapitals als Selbstzweck kann es keine Emanzipation, sondern nur Ruin und Ruinen geben.

5. Der gegenwärtige Augenblick der Gefahr: Weltvernichtung und Selbstvernichtung

Ein gegenwärtiger „Augenblick der Gefahr“ (Benjamin 2015c, 1243) dürfte der Krieg in der Ukraine sein. Darin blitzen die Weltordnungskriege auf, die vor allem in Regionen geführt werden, in denen Staaten einbrechen. Sie sind eine illusionäre Antwort auf das zerfallende „territoriale System der Souveränität, das sich unter den Augen und unfreiwilliger Mithilfe der demokratisch-kapitalistischen Apparate aufzulösen beginnt“ (Kurz 2021, 414). Im Krieg in der Ukraine wird deutlich, dass auch die über atomare Vernichtungswaffen verfügenden sog. Großmächte in die kapitalistischen Zerfallsprozesse einbezogen sind. Sie kämpfen um Selbstbehauptung in den Zerfallsprozessen. Auch dieser Kampf läuft ins Leere, weil es keine Aussicht auf ein neues Akkumulationsregime gibt, das Grundlage für eine neuen hegemoniale ‚Weltordnung‘ sein könnte (vgl. Konicz 2022).

Zugleich werden die in ihrer Vereinzelung halt- und orientierungslosen Individuen in einen Konkurrenzkampf um Selbstbehauptung getrieben. Unter dem Druck einer permanenten und unabschließbaren Selbstoptimierung geht es um eigenverantwortlich zu erbringende Selbstunterwerfung. Dabei bleibt die „Selbstbezüglichkeit der leeren metaphysischen Form“ (Kurz 2021., 69) den Subjekten nicht äußerlich. Sie sind vielmehr gezwungen, die Krisenprozesse, denen sie ausgesetzt sind, in dieser Form zu verarbeiten. Auch diese Kämpfe gehen ins Leere, je mehr Arbeit als Grundlage individueller Handlungsmacht und autonomen Selbstbewusstseins wegbricht.

Der „Weltzustand der Verzweiflung, auf die gerade noch gehofft wird“ (Benjamin 1991, 101), vermittelt sich mit dem ‚Zustand‘, in dem Individuen das Krisengeschehen zu verarbeiten haben. Dabei kann es zur Abwehr der Erfahrungen von Ohnmacht und Kränkung durch die Halluzinationen von Größe und Macht auch in der Selbstvernichtung kommen (vgl. Böttcher, Elisabeth 2022). Die Versuche, das leere Selbst abzuwehren und identitär zu verteidigen, könnte eine Brücke sein, über die die Verteidigung der westlichen Freiheit und die Bereitschaft, dafür angesichts der Ausweglosigkeit auch den Preis der Weltvernichtung in Kauf zu nehmen, Plausibilität gewinnt. Die ‚Größe‘ der westlichen Welt zeigte sich dann in der Bereitschaft, für sie das Leben hinzugeben.

Als letzte Verheißung selbstwirksamer Größe lauert die Bereitschaft zu Selbst- und Weltvernichtung. Sie bietet sich an als die Möglichkeit, in der Vernichtung Größe zu zeigen und Macht zu demonstrieren. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene rückt ein Amoklauf in Reichweite. Robert Kurz hatte ihn angedeutet, als er schrieb: „Der Begriff des demokratischen Amoklaufs ist ... durchaus buchstäblich zu nehmen auf der Ebene der militärischen Aktion. … Je unhaltbarer und gefährlicher die Weltsituation wird, desto mehr tritt der militärische Aspekt in den Vordergrund und desto weniger wird die Hemmschwelle, Hightech-Gewalt in großem Maßstab einzusetzen, ohne lange zu fragen“ (Kurz 2021, 429). Die „ungefügige Welt“ und „die Unbegreifbarkeit der Probleme“ können eine „diffuse Vernichtungswut“ (ebd.) mobilisieren.

Die sich kriegerisch bzw. in gefährlichen Konstellationen in Blöcken gegenüberstehenden Nationalstaaten sind Teile des wahnsinnigen kapitalistischen Fetischsystems, das an die Grenzen seiner Reproduktionsfähigkeit stößt und in dessen Rahmen es kein friedliches Zusammenleben geben kann. „In der Welt des vollendeten Kapitalismus ist nur der offene Wahnsinn realistisch. Unter diesen Bedingungen nimmt der sogenannte Pragmatismus zwangsläufig selber eschatologische Züge an“ (Kurz, 2001, 343).

6. Die Frage nach Rettendem

6.1 Unterbrechung und Dialektik im Stillstand

In dem „Augenblick der Gefahr“, den Benjamin im drohenden Faschismus und Krieg erkennt, wird die Frage bedrängend, was retten könnte aus dem katastrophischen Fluss leerer, homogener Zeit im Kontinuum des kapitalistischen Fortschritts. Die Möglichkeit der Rettung hängt für Benjamin daran, dass der leere und homogene Fluss der Zeit unterbrochen und das „Kontinuum der Geschichte“ (Benjamin 2015b, 701) aufgesprengt werden kann. Sie geht einher mit der Weigerung, zu vergessen und außer Acht zu lassen, worüber die leere Zeit hinweg gewalzt ist, nicht zuletzt die „Namen von Generationen Geschlagener“ (ebd., 700). Die Konstellation, die „im Augenblick der Gefahr“ erkennbar wird, bereitet nicht einem sanften Übergang, einer sanften Transformation in etwas Neues den Weg, sondern entlädt sich in einem „Chock“ (ebd., 703), der zur Unterbrechung des ‚Immer Gleichen‘ im Gang der Katastrophe wird.

In einem „dialektischen Bild“ tritt „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammen“ (Benjamin 2015d, 587). Darin trägt die Vergangenheit „im höchsten Grade den Stempel des kritischen gefährlichen Elements“ (ebd.). Das „Gewesene kann zum dialektischen Umschlag, zum Einfall erwachten Bewusstseins werden“ (ebd., 491). Das Erwachen ist ein Erwachen aus Schlaf und mythischer Träumerei, aus dem Kapitalismus, der als eine „Naturerscheinung“ über Europa gekommen war „und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte“ (ebd. 494) bewirkte.

Das „dialektische Bild“ lässt aus dem Traum erwachen und fördert „Noch-nicht-bewusstes-Wissen vom Gewesenen“ zu Tage. Das Erwachen ist verbunden mit dem Eingedenken dessen, was in der Geschichte untergegangen ist, vor allem der Opfer, über deren Leichen der Fortschritt hinweg gewalzt ist. Es zielt auf „Rettung der Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Anfang an hat“ (Benjamin 2015a, 343).

6.2 Die Frage nach Rettendem in der Krise des Kapitalismus als dem gegenwärtigen ‚Augenblick der Gefahr‘

Im gegenwärtigen „Augenblick der Gefahr“ wird die Tendenz zur Welt- und Selbstvernichtung lesbar. Das Potential für die „Reform des (kapitalistischen, H.B.) Seins“ (Benjamin 1991, 1010) ist erschöpft. Diese Ausweglosigkeit läuft auf „Zertrümmerung“ (ebd.) hinaus, auf die Zertrümmerung des Zusammenlebens der Menschen und der Natur als Grundlage allen Lebens.

In der gegenwärtigen Konstellation wäre das aufblitzende ‚dialektische Bild‘ zu entziffern als Unterbrechung des ‚Weiter so‘ im Rahmen der kapitalistischen Fetischverhältnisse und deren „Realmetaphysik“. Der im kapitalistischen Gang verborgene Gott bzw. Fetisch wird auf dem Zenith der Krise erkennbar. Damit, d.h. mit den Kategorien, die den Kapitalismus konstituieren, müsste gebrochen werden: mit Wert- und Abspaltung auf der abstraktesten Ebene ebenso wie mit deren Vermittlung im Geld als abstraktestem Ausdruck der Leere des kapitalistischen Prozesses der Verwertung von Kapital, mit deren Einbettung in die Polaritäten von Markt und Staat, Ökonomie und Politik, mit Subjekt und Aufklärung... Die Herausforderung besteht in einer konsequenten Kritik der kapitalistischen Fetischverhältnisse, die zugleich eine Entmythologisierung des kapitalistischen Mythos beinhaltet. Sie muss sich den Versuchungen widersetzen, doch wieder auf (vulgär-)materialistische Unmittelbarkeiten zurückzugreifen – sei es in Gestalt eines Rückgriffs auf Klasse, Interesse, identifizierbare Handlungsträger oder eine Praxis, die in falscher Unmittelbarkeit auf Transformation und Alternativen zielt (vgl. Kurz 2021, 365ff). Letztere erweisen sich bei genauerer Betrachtung oft als Scheinalternativen, die keinen Bruch mit dem kapitalistischen Kategorien beinhalten, sondern in den fetischisierten Formen seiner Konstitution verharren (vgl. Meyer 2022).

Das „dialektische Bild“, das inmitten der sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus vorbeihuscht (Benjamin 1991, 101), lässt aufblitzen, worüber der Kapitalismus hinweg walzt und hinweg gewalzt ist, was in seiner Geschichte untergegangen ist und in der Gegenwart dem Untergang geweiht ist. Es impliziert den Einspruch gegen den sozialdarwinistischen Charakter der Geschichte des Kapitalismus, die im Kampf ums Dasein Sieger von Besiegten selektiert, und da, wo es in der sich zuspitzenden Krise ‚um Nichts‘ mehr geht, auf Vernichtung hinausläuft. Es zielt auf eine „Zäsur in der Denkbewegung“ (Benjamin 2015b, 695), auf „Dialektik im Stillstand“. Sie ermöglicht es, „Dialektikern der Geschichte“, die Gefahrenkonstellation zu „betrachten“, „denkend ihrer Entwicklung zu folgen und „jederzeit auf dem Sprunge“ sie „abzuwenden“ (Benjamin 2015d, 595). Ohne Eingedenken der Untergänge und ohne Bruch mit den kapitalistischen Fetischverhältnissen samt der Versuchung, in bruchlosem ‚Weiter so‘ nach immanenten Auswegen im Rahmen der kapitalistischen Kategorien zu suchen, bleibt dies unmöglich.


Literatur

Adorno, Theodor W.: Die Aktualität der Philosophie, in: Philosophische Frühschriften, Gesammelte Werke, Band 1, Frankfurt am Main 2003a, 325 – 344.

Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Hegel und die phänomenologischen Antinomien, in: Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt 2003b.

Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion, in: ders., Fragmente. Autobiographische Schriften. Gesammelte Schriften Band VI, Frankfurt am Main 1991, 100 – 103.

Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I 1, Frankfurt am Main 72015a, 343.

Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I 2, Frankfurt am Main 72015b, 691 – 704.

Benjamin, Walter: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Band I 3, Frankfurt am Main 72015c.

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V 1, Frankfurt am Main 72015d.

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V 2, Frankfurt am Main 72015e.

Böttcher, Elisabeth: Selbstvernichtung und Weltvernichtung. Männlichkeit und Gewaltbereitschaft. Unveröffentlichtes Manuskript, erscheint in exit! 2024.

Böttcher, Herbert: Kapitalismus – Religion – Kirche – Theologie, in: Füssel, Kuno / Ramminger, Michael (Hg.), Kapitalismus: Kult einer tödlichen Verschuldung. Walter Benjamins prophetisches Erbe, Münster 2021, 31 – 81.

Böttcher, Herbert: Auf dem Weg zur unternehmerischen Kirche, Würzburg 2022,

Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 52013.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Sämtliche Werke, Stuttgart-Bad Cannstatt 51971.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1979.

Konicz, Tomasz: China: Mehrfachkrise statt Hegemonie. Wieso die staatskapitalistische Volksrepublik nicht in der Lage sein wird, die USA als Hegemonialmacht zu beerben, in: Netz-Telegramm Oktober 2022, 1-7.

Kurz, Robert: Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert, herausgegeben und kommentiert von Robert Kurz, Frankfurt am Main 2001.

Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt am Main 2011.

Kurz, Robert: Geld ohne Wert, Berlin 2012.

Kurz, Robert: Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperiums im Zeitalter der Globalisierung, Springe 2021.

Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Band 42, Berlin 1983

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Berlin 1984.

Meyer, Thomas: Kategoriale Kritik und die notwendige Frage nach Alternativen zum Kapitalismus, in: Netz-Telegramm – Informationen des Ökumenischen Netzes Rhein Mosel Saar, Februar/2022., 1- 10.

Werner, Nadine: Zeit und Person, in: Lindner, Burkhardt (Hrsg), Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, 3 – 8.

Zamora, José Antonio: Gedanken zur Gottes- und Zeitfrage, in: Philipp Geitzhaus und Michael Ramminger (Hg.), Gott in Zeit. Zur Kritik der postpolitischen Theologie, Münster 2018.

Zamora, José Antonio: Schuld – Schicksal – Mythos, in: Kuno Füssel / Michael Ramminger (Hg.), Kapitalismus: Kult einer tödlichen Verschuldung, Münster 2022, 255 – 275.




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