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Robert Kurz: Apokalyptische Technologien. Der ökonomisch-naturwissenschaftliche Komplex und die destruktive Objektivierung der Welt


Zuerst erschienen in: Folha de São Paulo vom 17. Juni 2001

APOKALYPTISCHE TECHNOLOGIEN

Der ökonomisch-naturwissenschaftliche Komplex und die destruktive Objektivierung der Welt

Robert Kurz

Die moderne Naturwissenschaft ist, soweit wir wissen, das erfolgreichste Projekt der Menschheitsgeschichte. Aber auch das bei weitem katastrophalste. Erfolg und Katastrophe müssen sich nicht ausschließen, sondern im Gegenteil kann gerade der größte Erfolg die größte Katastrophenpotenz in sich bergen. Zwar wurde seit dem 17. Jahrhundert mehr positives Wissen über die Natur angehäuft als in all den Jahrtausenden zuvor; aber für die überwiegende Mehrzahl der Menschen hat sich dieses Wissen bis heute großenteils nur in negativer Form gezeigt. Die Welt ist mit Hilfe der technologisch angewandten Naturwissenschaft nicht schöner, sondern häßlicher geworden. Und die Bedrohung der Menschen durch die Natur hat sich in der von den Menschen selbst technologisch umgeformten Natur nicht verkleinert, sondern vergrößert.

Wurde die „erste Natur“ des biologischen Menschen schon von jeher durch die Kultur überformt und transzendiert, sodaß eine gesellschaftliche „zweite Natur“ entstand, so hat diese „zweite Natur“ in der Moderne mit beispielloser Gewalt in die „erste Natur“ eingegriffen und diese nach ihrem Bild zurechtgestutzt. Das Ergebnis ist eine Naturgewalt zweiter Ordnung, die noch unberechenbarer geworden ist als die ursprünglich vertraute Naturgewalt erster Ordnung.

Es ist eine unheilige herrschende Allianz von Ökonomen, Naturwissenschaftlern, Technikern und Politikern, die den naturwissenschaftlich-technologischen Entwicklungsprozeß in der Form des modernen gesellschaftlichen Systems verwaltet und die darin eingeschlossene verselbständigte Dynamik nicht nur ignorant gegen jede Kritik verteidigt, sondern auch ohne Rücksicht auf Verluste weiter vorantreibt. Auf der anderen Seite bleibt die Wissenschaftskritik der Außenseiter und Dissidenten doppelt hilflos, weil sie weder die gesellschaftliche Form noch die Struktur naturwissenschaftlicher Erkenntnis in Frage stellen kann, sondern das Problem meistens auf das moralische Verhalten der Wissenschaftler, also auf die ethische Frage der „Verantwortbarkeit“ beschränkt.

Im Gegensatz zu diesem ausgeleierten Ethik-Betrieb geht die jüngste, feministische Strömung der Wissenschaftskritik viel tiefer. Diese Kritik weist nach, daß das erkenntnistheoretische Paradigma der modernen Naturwissenschaft keineswegs „neutral“ ist, sondern eine kulturelle, sexuell definierte Matrix aufweist. Das Konzept der „Objektivität“ ist, wie sich schon in den Anfängen der modernen Wissenschaftsgeschichte bei Francis Bacon (1561-1626) zeigen läßt, einseitig männlich bestimmt; und der damit verbundene Anspruch ist nicht in erster Linie auf Erkenntnis und auf eine Verbesserung des Lebens, sondern auf Unterwerfung und Herrschaft ausgerichtet.

US-amerikanische Theoretikerinnen wie die Molekularbiologin Evelyn Fox Keller und die Philosophin Sandra Harding ziehen daraus den Schluß, daß die strikte Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie der modernen Naturwissenschaft zugrunde liegt, in Frage gestellt werden muß. Es geht ihnen aber nicht um eine romantische Wissenschaftskritik, sondern um eine „andere Naturwissenschaft“, die ihren Erkenntnisprozeß vom Anspruch auf Unterwerfung befreit. Dabei ziehen sie eine Parallele zwischen der naturwissenschaftlich-technologischen und der ökonomischen Rationalität in der Moderne, die beide auf Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen hinauslaufen.

Moderne Naturwissenschaft und moderne kapitalistische Ökonomie sind nicht unmittelbar identisch, aber wesensverwandt und aufeinander bezogen. Über den feministischen Ansatz von Fox Keller und Harding hinaus läßt sich diese Verwandtschaft sowohl in historischer als auch in struktureller Hinsicht aufzeigen. Naturwissenschaft, Ökonomie und Staatsapparat in der Moderne gehen auf eine gemeinsame Wurzel zurück, nämlich auf die militärische Revolution der Feuerwaffen in der frühen Neuzeit. Daher auch die spezifisch männliche Bestimmung der Moderne. Die von der Kanone bewirkte gesellschaftliche Umwälzung sprengte mit der Bildung von stehenden Heeren, einer bis dahin unbekannten großen Rüstungsindustrie und der Ausdehnung des Bergbaus die Strukturen der agrarischen Naturalwirtschaft. Nicht nur der Kapitalismus wurde auf diese Weise hervorgebracht, sondern auch ein dazu passendes Bild der Natur.

Die spezifisch moderne strikte Trennung von Subjekt und Objekt ist das Produkt dieser Geschichte: Wie das männliche Subjekt der militärischen Revolution die Welt buchstäblich als „Kanonenfutter“ definierte, als reines Objekt der Vernichtung, so definierten der staatliche Apparat und die ökonomische Rationalität die Individuen als Objekte der Verwaltung und als Objekte der Betriebswirtschaft. Die Entstehung der Naturwissenschaft war von Anfang an in diese Entwicklung integriert. Nicht umsonst standen die frühmodernen technologischen Erfindungen auf vielfältige Weise im Zusammenhang mit der militärischen Innovation der Feuerwaffen; man denke nur an die Projekte von Leonardo da Vinci, der wie viele seiner gelehrten Zeitgenossen Kanonen konstruierte, ja bekanntlich sogar die Entwicklung von U-Booten und Kampfhubschraubern vorwegnahm.

Aber es war keine bloß äußere Zweckbestimmung, die den Aufstieg der Naturwissenschaft mit der militärischen Revolution und dem daraus entspringenden Kapitalismus verband, sondern die erkenntnistheoretische Grundlage dieser Wissenschaft selbst. Die naturwissenschaftliche Rationalität definierte ihren Gegenstand ebenso als ein zu unterwerfendes Objekt; bis in die verräterische Metaphorik der „objektiven“ naturwissenschaftlichen Sprache hinein, wie Evelyn Fox Keller zeigt. Die Ablösung von den Dogmen der Theologie war keine wirkliche Emanzipation der Erkenntnis, sondern stand im Zeichen des heraufdämmernden militärisch-industriellen Komplexes und seiner säkularisierten ökonomischen Theologie. Die Natur mußte in diesem Zusammenhang als ein fremder und feindlicher Gegenstand erscheinen. Objektivität schlug so in Objektivierung um, Erkenntnis in Vergewaltigung.

Das gemeinsame, den verschiedenen Formen der Objektivierung zugrunde liegende Weltbild ist zwangsläufig ein mechanistisches. Denn völlig objektivieren und manipulieren lassen sich nur mechanische Gegenstände. Wie der moderne Staat das lebendige Individuum auf eine geisterhaft-abstrakte juristische Person reduziert, und wie die Logik der Ökonomie verlangt, daß die Gesellschaft auf die tote Materie des Geldes reduziert wird, so reduziert analog dazu die Naturwissenschaft die Naturprozesse auf einen mechanischen Zusammenhang. Dieser Reduktionismus folgt keineswegs zwangsläufig aus der Erkenntnis der Natur an sich, sondern er ist ein Produkt der historischen Tendenz zur unterwerfenden Objektivierung.

In der gesellschaftlichen Praxis haben sich der ökonomische, der politische und der naturwissenschaftliche Reduktionismus zu einer totalitären Struktur verschränkt, in der Mensch und Welt als feindliche Objekte der Manipulation definiert sind. Die Betriebswirtschaft konnte die Naturwissenschaft nur derart rigoros in ihren Dienst nehmen, weil die naturwissenschaftliche Rationalität aus derselben Wurzel stammt und schon von Haus aus einem ähnlichen mechanistischen Imperativ folgt. Bis heute haben wir es mit einem militärisch-ökonomisch-naturwissenschaftlichen Gesamtkomplex zu tun. Das manipulierende Subjekt, das sich als Naturwissenschaftler, Politiker und Ökonom absolut von seinen Gegenständen getrennt hat, mußte sich dabei selber objektivieren und manipulieren: es ist zum bloßen Diener und Exekutor der verselbständigten militärisch-industriellen und ökonomisch-technologischen Komplexe herabgesunken.

Die zerstörerische Kraft dieser ineinander verschränkten Komplexe und ihrer losgelassenen Dynamik hat längst die rote Linie überschritten, hinter der die ökonomisch-naturwissenschaftlich erzeugten „Naturkatastrophen“ beginnen. Indem der naturwissenschaftliche Kapitalismus und die kapitalistische Naturwissenschaft an bestimmte natürliche Grenzen stoßen und diese gewaltsam zu durchbrechen versuchen, droht ihre reduktionistische und mechanistische Logik über die schleichende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen hinaus in die Kreation von direkt apokalyptischen Technologien der Selbstvernichtung umzuschlagen.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich der ökonomisch-naturwissenschaftliche Komplex darauf beschränkt, die von Natur aus vorhandenen Stoffe seiner Logik der Objektivierung zu unterwerfen und sie als Objekte zu verbrauchen. Das Moment der Zerstörung trat dabei nur als indirekte Nebenwirkung auf. In den letzten 50 Jahren dagegen ist das System dazu übergegangen, nicht nur in die Natur einzugreifen, sondern eine physikalisch und biologisch von Grund auf „andere Natur“ zu produzieren, weil sich die bloß äußerliche Manipulation der irdischen Natur erschöpft hat. Insofern der ökonomisch-naturwissenschaftliche Komplex keine andere Logik neben seiner eigenen und daher auch keine natürlichen Grenzen anerkennt, ist er wahnsinnig genug, sich von der Natur überhaupt emanzipieren zu wollen.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde absehbar, daß die in Millionen Jahren auf der Erde gespeicherte fossile Energie aufgrund des modernen Raubbaus versiegen wird, zumindest in einer ökonomisch verwertbaren Form. Damit drohte die kapitalistische Verbrennungskultur eine natürliche Grenze zu erreichen. Die Antwort darauf war die Atomtechnologie, also der Versuch, eine in der irdischen Natur nicht vorkommende und von ihr unabhängige Form der Energie zu entfesseln. Selbstzerstörerisch ist dabei nicht allein die Potenz von Großkatastrophen wie in Tschernobyl oder Harrisburg. Auch schon der unfallfreie Betrieb dieser Technologie häuft Berge von radioaktiven Abfällen an, deren absolut lebensfeindliche Wirkung nicht mehr durch Naturprozesse selbst verarbeitet und abgebaut werden kann, sondern zehntausende von Jahren anhält - ein kulturell unvorstellbarer Zeitraum. Diese apokalyptische Dimension der Atomtechnologie ist aber nicht dem Bedürfnis nach Erkenntnis der Natur an sich geschuldet, sondern dem zwanghaften Anspruch der modernen Naturwissenschaft, die Natur zu objektivieren und alles der Vernichtung preiszugeben, was sich dieser Objektivierung sperrt.

Dieselbe Logik wie hinsichtlich der energetischen Basis zeigt sich auf der Ebene der Umformung von Naturstoffen. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts konzentrierte sich die technologische Anwendung der Naturwissenschaft im ökonomischen Raum des Kapitals auf die physikalischen und chemischen Transformationen der industriellen Produktion. Die Landwirtschaft wurde als Agro-Business zwar zunehmend nach dem Muster industriekapitalistischer Fließfertigung organisiert, aber die direkten Eingriffe in das biologische „Material“ beschränkten sich weitgehend auf traditionelle Methoden der Züchtung von Tieren und Pflanzen.

Es ist kein Zufall, daß am Ende des 20. Jahrhunderts auch diese Grenze überschritten wird. Denn in der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik ist deutlich geworden, daß sich die industrielle Vernutzung anorganischer Stoffe als Träger des ökonomischen Wachstums erschöpft hat; auch die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft kann diese Erschöpfung nicht ausgleichen. Die Antwort des Systems ist wiederum maßlos und irrational: Die organische Natur, das Leben selbst, soll in seine elementaren Bausteine zerlegt und transformiert werden, um eine „andere Biologie“ zu schaffen, die von der natürlichen irdischen Evolution unabhängig ist. Der ökonomisch-naturwissenschaftliche Komplex will mit Hilfe der Gentechnologie Pflanzen, Tiere und letzten Endes auch Menschen nach seinem Bilde produzieren, die sogar auf der elementaren biologischen Ebene „zweite Natur“ und also buchstäblich mit Haut und Haar Geschöpfe des Kapitals sind.

Aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Genoms allein würde nicht automatisch die Gentechnologie folgen. Denn die großenteils unerforschten Zusammenhänge sind viel zu komplex, als daß die möglichen Folgen von technologischen Eingriffen auf dieser Ebene beherrschbar wären. Es handelt sich nicht mehr um eine begrenzte naturwissenschaftliche Prozedur an einzelnen exemplarischen Materialien, sondern der gesamte irdische Lebenszusammenhang verwandelt sich als solcher in ein Laborobjekt. Fehler, Mißgeschicke oder unbekannte Mechanismen können jederzeit in unkontrollierbare biologische Kettenreaktionen umschlagen, in genetische Deformationen und unheilbare neue Seuchen. Die Menschheit selbst wird zum kollektiven Versuchstier für biotechnologische Risiko-Experimente. Und wieder muß die Naturwissenschaft nicht äußerlich dem ökonomischen Imperativ untergeordnet werden, sondern die Gentechnologie ist auch ein Produkt ihrer eigenen Logik der Objektivierung und Unterwerfung von Natur.

Die Schrecksekunde der ökologischen Besinnung ist längst vorbei. Mit dem energetischen Programm von Präsident Bush kehrt die kapitalistische Weltmacht USA zum rücksichtslosen Ausbau der Atomtechnologie zurück; der Rest der Welt wird diesem Programm folgen. Und überall sinken die Hemmschwellen für den rigorosen Einsatz der Gentechnologie, überall lockern die Regierungen die Standards der Sicherheit, überall erlahmt der „ethische Diskurs“ angesichts der ökonomisch-technologischen „Sachzwänge“. Um die apokalyptischen Technologien zu stoppen, bedarf es nicht nur einer anderen sozialen Form der Gesellschaft, sondern auch einer anderen Naturwissenschaft im Sinne von Evelyn Fox Keller und Sandra Harding. Wenn sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht von der Logik einer lebensfeindlichen Objektivierung der Natur emanzipieren kann, wird es dem ökonomisch-naturwissenschaftlichen Komplex gelingen, die Erde in eine physikalische Wüste zu verwandeln.




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