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Herbert Böttcher: Eskalation des Weltordnungskrieges um die Ukraine


Eskalation des Weltordnungskrieges um die Ukraine

Herbert Böttcher

1. Strukturelle Zusammenhänge

Für die Beurteilung des Kriege gegen die Ukraine sind die strukturellen Zusammenhänge entscheidend, in die das Handeln der Akteure eingebunden ist: vor allem der Zusammenbruch der herrschenden Weltordnung1 und ihrer Imperien2 in der Krise des Kapitalismus. Sie lässt sich nicht auf ‚zerfallende Staaten‘ an der Peripherie eingrenzen. Von diesen Zerfallsprozessen sind auch die ehemals bipolaren östlichen und westlichen Imperien betroffen, die es zudem noch mit dem Konkurrenten China zu tun bekommen haben. Es scheinen sich zwei neue Blöcke heraus zu kristallisieren: China und Russland auf der einen sowie die USA mit ihren Verbündeten in Westeuropa und im pazifischen Raum3. In dieser Konstellation wird der Konkurrenzkampf um das Bestehen in der Krise des kapitalistischen Weltsystems ausgetragen, z.B. als Kampf um den Zugriff auf Rohstoffe, die Weltleitwährung oder Einflusszonen. Darin ist der Krieg um die Ukraine ein Kampf um deren Zugehörigkeit in sich neu bildenden Blöcken. Im Unterschied zum alten Ost-West-Konflikt, der wesentlich in der Phase fordistischer Prosperität ausgetragen wurde, geht es jetzt um Versuche, die mit dem zerfallenden Weltsystem verbundenen Krisen zu bewältigen.

1989 wähnte sich der kapitalistische Westen als Sieger über den zusammengebrochenen Osten. Verkannt wurde, dass nicht ein Systemkonkurrent, sondern der ‚Zwillingsbruder’ des kapitalistischen Westens sein Ende gefunden hatte: die gegenüber dem Westen nicht mehr konkurrenzfähige etatistische Variante der Warenproduktion, die nicht mehr dazu in der Lage war, die mikroelektronische Revolution zu bewältigen. Nicht wahrgenommen wurde, dass dieses Scheitern der Vorbote für die sich verschärfende Krise des Kapitalismus war, in der die innere logische Schranke der Warenproduktion auch im Westen immer deutlicher die Grenzen der Entwicklung markierte. Der Irrtum, dem der Westen erlegen ist, war nicht – wie immer wieder behauptet wird – die Illusion eines ewigen Friedens, der das imperiale Begehren Russlands unterschätzt habe, sondern die Illusion des Sieges über den vermeintlichen Systemkonkurrenten, die vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) in ihrer Vollendung in Markt und Demokratie schwadronieren und dabei eigenen Krisen- und Zerfallsprozesse ignorieren ließ.

2. Krisenerscheinungen im ‚siegreichen‘ Westen

Die Krise agiert sich aus in den bekannten Phänomenen: soziale Spaltungsprozesse, Verschuldung, Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen, Zerfall von Staaten, (Bürger-)Kriege, Migration und Flucht, ideologische und gewaltsame ‚Verarbeitungsstrategien’… Länder der westlichen Zentren konnten die Krisenprozesse zunächst einmal durch Verlagerung nach außen abfedern: die USA über Defizitkreisläufe, in denen – vermittelt über den Dollar als Weltgeld – die exorbitante Verschuldung im Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie jahrzehntelang aufrecht erhalten werden konnte. Dennoch war auch die Krise in den USA nicht zu übersehen. Deindustrialisierung und hohe Verschuldung kennzeichnen auch die Situation der USA. Daher war der Status des US-Dollar als Weltleitwährung nicht mehr Ausdruck ökonomischer Stärke. Grundlage für den Dollar als Weltleitwährung und Grund für sichere Geldanlagen in den USA war und ist bis heute deren militärische Stärke. Deutschland konnte mit dem ‚Erfolgsmodell‘ Hartz IV und der damit verbundenen Senkung der Arbeitskosten bei gleichzeitig bereits bestehenden Konkurrenzvorteilen und wachsender Produktivität zum Export(vize-)weltmeister aufsteigen, der seine Ausfuhrüberschüsse über die Verschuldung der Importländer in der europäischen und globalen Peripherie finanzierte. Dieser ‚Erfolg‘ war nicht Ausdruck gelingender Akkumulation, sondern Ergebnis eines besseren Krisenmanagements in der Verwaltung der Krise. Auf der globalen Ebene zeigte sich die Krise u.a. im Scheitern der Versuche, durch militärische Interventionen in den Zerfallsprozessen politisch-ökonomische Ordnung zu schaffen. Den USA und den mit ihnen in der NATO bzw. als Koalition von ‚Willigen‘ verbundenen Staaten war es nicht mehr möglich, ihre Rolle als Weltpolizei und damit als Garant der kapitalistischen Ordnung aufrecht zu erhalten, was spätestens seit der Syrien-Krise und dem Scheitern in Afghanistan offensichtlich ist.

Die inneren Zerfallsprozesse seit den 1970er Jahren wurden überlagert durch die scheinbar siegreiche Überlegenheit gegenüber ‚dem Osten‘. Seit 1990 wurde das NATO-Territorium um etwa 1.000 Kilometer in die Richtung der russischen Grenze ausgedehnt. Seither sind der NATO 14 Staaten beigetreten4 und zwei weitere könnten bald folgen. Damit wurden mündliche Zusagen der deutschen Regierung von 1989/90 gebrochen, die NATO nicht nach Osten hin auszuweiten. Das ‚geschlagene‘ Russland wurde zu einer im Machtkalkül zu vernachlässigenden Größe. Von Russland geforderte Sicherheitsgarantien wurden verweigert und gleichzeitig unter den Präsidenten Bush und Trump wichtige Abkommen zur Rüstungskontrolle aufgegeben und die eigene Rüstung weiter vorangetrieben.

3. Die Krise in der Ukraine und die Krise Russlands

Das Erschrecken darüber ist nun groß, dass Russland sich als Großmacht behaupten und ähnlich wie die USA und Europa seine Einflusssphären sichern will. Nicht zufällig fokussiert sich dies auf den Krieg gegen die Ukraine. Sie war mit Unterstützung Europas und den USA auf prowestlichen Kurs gebracht worden. Die prowestliche Orientierung ist nicht einfach Ausdruck freier Selbstbestimmung, sondern eingebunden in das globale Krisengeschehen. Als erodierender Staat war die Ukraine zum Bedienungsladen von Oligarchen unterschiedlicher Couleur geworden. Einen Ausweg aus dem ‚Oligarchen- und Zerfalls-Kampf’ sahen einige der Oligarchen und mit ihnen die sog. Demokratiebewegung in der Liaison mit dem Westen. Dieser Weg versprach Demokratie und Menschenrechte und unterwarf die Ukraine in gewohnter Manier einem Strukturanpassungsregime, was die verarmte Bevölkerung weiter verarmen ließ und zugleich versuchte, Arbeit suchende UkrainerInnen von den europäischen Arbeitsmärkten fernzuhalten – eine Ausnahme bilden billige Arbeitskräfte bei der Ernte, in der Pflege und in der Prostitution.

Aufgrund der westlichen wirtschaftlichen und politischen Durchdringung ist die Ukraine zu einem billigen Produktionsort und sich verschuldenden Konsumenten für westliche Güter geworden – ähnlich wie andere ost-, aber auch südeuropäische Länder. Während der Westen mit der östlichen Erweiterung von EU und NATO die Einflusssphäre Russlands mehr und mehr eingrenzte, wurde das deindustrialisierte Russland ökonomisch mehr und mehr in die Rolle eines Energie- und Rohstofflieferanten gedrängt. Dem will Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine offensichtlich eine wenn auch illusionäre Grenze setzen und seinen Status als Großmacht in seiner historischen Einflusssphäre mit militärischer Gewalt und ideologischem Größenwahn durchsetzen.

4. Russischer Autokratismus versus westliche Demokratie?

4.1 Russischer Autokratismus

Russlands Deindustrialisierung war u.a. ein Ergebnis der von Jelzin mit westlicher Unterstürzung durchgesetzten neoliberalen Reformen mit den bekannten Auswirkungen massiver Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Die Kehrseite der Verarmung war der wachsende Reichtum sog. Oligarchen, die zugleich an politischem Einfluss gewannen. Mit Putin verbindet sich die autoritäre Reorganisation des russischen Kapitalismus. Gewisse wirtschaftliche Konsolidierungen konnten nichts daran ändern, dass Russland mehr und mehr die Rolle eines Energie- und Rohstofflieferanten übernehmen musste. Zudem kommt es in den Nachbarstaaten Weißrussland und Kasachstan zu sozialen Protesten als Folge wirtschaftlicher Erosion. In Kasachstan waren der Anstieg von Gaspreisen und Lebenshaltungskisten sowie die zunehmende Verarmung der Bevölkerung Auslöser für soziale Revolten. Russlands Träume von einem unabhängigen eurasischen Block zwischen EU und China wurden durch die sozialen und geopolitischen Zerfallsprozesse konterkariert. Über den Verkauf von Rohstoffen und Energie sowie mit militärischem Expansionismus, wie er sich an den Grenzen Russlands (Tschetschenien, Georgien, Kasachstan...), aber auch in Syrien, Libyen und im Sahel zeigte5, sollte der russische Status als Zentralmacht konsolidiert werden.

Zu beachten ist die ideologische ‚Begleitmusik‘, die ein großrussisches Reich religiös fundamentalistisch legitimiert. Die Eroberung der Krim wurde gerechtfertigt mit der sakralen und religiösen Bedeutung der Halbinsel für Russland, da auf der Krim der Kiewer Großfürst Wladimir 988 das Christentum angenommen hatte. Der reaktionäre Philosoph Iwan Iljin (1883-1954) sieht den Staat als eine organische Gemeinschaft, die von einem verständnisvollen und sorgenden Monarchen regiert und zusammengehalten wird. Auf der Höhe postmoderner Zeiten beruft sich Aleksander Dugin darauf, dass die Wahrheit eine Frage des Glaubens sei und es eine spezielle russische Wahrheit gebe. Solches Denken6 bewegt sich in der Nähe ethnischer Identitätsvorstellungen, die in den auf dem Balkan geführten Weltordnungskriegen in den 1990ern mit Völkermord einher gingen.

Im Rahmen solcher Vorstellungen wird die Auseinandersetzung mit dem Westen auf fundamentalistische Weise kulturell-religiös aufgeladen. Russland verteidigt gegen den religiösen und moralischen Niedergang des Westens die eigene religiöse und kulturelle Identität. Hier werden Konturen eines „Kriegs der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) sichtbar, für den ja auch George Bush Sympathien hegte. Jedenfalls sollen traditionelle Familienstrukturen, ‚Werte‘ und Religion als Bollwerke einer stabilen Ordnung in Stellung gebracht werden – einhergehend mit der Dämonisierung von Homosexualität und Feminismus sowie mit einer Überhöhung des Patriarchats. Dies dürften Gründe dafür sein, dass der Moskauer Patriarch Kyrill Putins Krieg als Kampf gegen westliche Beliebigkeit und als Schutz „der ukrainischen Brüder und Schwestern vor den Kräften des Bösen“7 unterstützt. Vor dem Hintergrund des Kampfs gegen zerfallende Werte und Orientierungen sind auch Sympathie und Unterstützung aus der Querdenkerszene und rechtsextremen Kreisen8 zu verstehen. Putin bekämpfe den „‘Neokommunismus Brüssels – eine ‚EUdSSR‘ mit ‚ökosozialistischer Planwirtschaft‘, politischer Korrektheit, Zerstörung der traditionellen Werte von Christentum und Familie“, so Jürgen Elsässer9. Die Ukraine, die aufgrund ihrer Identität als zu Russland gehörend angesehen wird, soll in das Reich zurück geholt werden, zu dem sie ‚ursprünglich‘ gehörte. Anlass zur Besorgnis haben Länder, die zum Dunstkreis eines großrussischen Reiches gezählt werden könnten. Das gilt auch für Polen, das in seiner Geschichte mehrfach zum Opfer (groß-)russischer und deutscher Interessen wurde.

4.2 Westliche Werte und Demokratie

Gegenüber solchen großrussischen Phantasien sind die westlichen ‚Erzählungen‘ von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten keineswegs rational, sondern haben ebenfalls identitären Charakter. Sie sind untrennbar mit den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen in ihrer liberalen Form verbunden. Diese markieren die Bedingungen ihrer Geltung. Je mehr die Krise voranschreitet, desto stärker setzt auch der kapitalistische Liberalismus analog zur Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus quasi als rückwärts, nur schneller laufender Film der gleichen Geschichte auf autoritäre und repressive Strukturen und Ideologien. Das auf seine inneren logischen und äußeren ökologischen Grenzen stoßende warenproduzierende System, zu dem auch die vermeintlichen sozialistischen Alternativen gehört haben, gerät mehr und mehr außer Kontrolle wie sich im Umgang mit denen zeigt, die als überflüssiges Menschenmaterial nicht mehr zu verwerten sind und als Abfall und Müll behandelt werden, sowie am Umgang mit der Klimakatastrophe zeigt. Die politische Ebene verliert ihre Handlungs- und Gestaltungsspielräume. Staatliche Institutionen stoßen angesichts schwindender Möglichkeiten zur Finanzierung auf ihre Funktionsfähigkeit. Anomie in schwer zu durchschauenden Gemengelagen staatlicher, oligarichischer, mafiöser Zusammenhänge macht sich breit bis hin zu der auch im Krieg gegen die Ukraine sich auf beiden Seiten im Einsatz brutaler Söldnerheere und Banden zeigenden Warlordisierung10. Den Zerfallsprozessen ist letztlich auch durch autoritär-repressive Verschärfungen nicht beizukommen, denn auch sie verlieren in diesen Prozessen ihre Grundlagen.

Autoritarismus ist also nicht das Gegenteil des Liberalismus, sondern seine unverzichtbare Kehrseite.11 Ähnlich wie nach 1989 die Halluzinationen vom Sieg des Westens über den Kommunismus gehört es jetzt zu den ‚Lebenslügen‘ des Westens, die Ukraine gegen einen außer Kontrolle geratenen Diktator und den freien und demokratischen Westen gegen einen autoritären von Russland dominierten Osten zu verteidigen.

In der Beurteilung Augusto Pinochets finden Osten und Westen auf verquere Weise zusammen. Putin gilt als Bewunderer Pinochets. Die westlichen Demokratien hatten gegen dessen Putsch gegen eine gewählte Regierung ebenso wenig einzuwenden wie gegen dessen Menschenvernichtung, ging es doch um die Verteidigung der Marktwirtschaft gegen Sozialismus und Kommunismus in der Durchsetzung eines ersten neoliberalen Projekts mit Hilfe von ‚Wirtschaftsexperten‘ der Chicago-Schule um Milton Friedman. Mit dem Diktum „Sozialstaat versklavt. Polizeistaat macht frei“ hatte Franz Hinkelammert seine Kritik dieses Projekts auf den Punkt gebracht. Putin erläuterte 1993 als Zweiter Bürgermeister von St. Petersburg vor deutschen Wirtschaftsvertretern, dass er eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild für eine wünschenswerte Lösung für die aktuellen Probleme Russlands halte. Ganz in der Logik des neoliberalen Selbstverständnisses, mit der Pinochets Diktatur gerechtfertigt wurde, unterschied er zwischen „krimineller“ und „notwendiger“ Gewalt. „Kriminelle Gewalt“ ziele auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse, während „notwendige Gewalt“ private Kapitalinvestitionen schütze. Daher begrüße er mögliche Vorbereitungen Jelzins und des Militärs für eine Diktatur nach dem Vorbild Pinochets ausdrücklich. Das Protokoll verzeichnet Beifall von den anwesenden Vertretern deutscher Firmen wie auch des stellvertretenden deutschen Generalkonsuls12. Liberale und autoritäre Varianten der Warenproduktion konvergieren in ihrer Bereitschaft zu gewaltbereiter Repression, die ‚über Leichen geht‘. Die autoritär-repressive ist der liberalen Seite der Warenproduktion inhärent.

5. Dynamik der Eskalation und des Wahns

Zwar hatte Bundeskanzler Scholz – bejubelt von Koalition und CDU – die ‚Zeitenwende‘ ausgerufen und als Konsequenz ein gigantisches Rüstungsprogramm auf den Weg gebracht, das bereits Ausdruck der Militarisierung der Politik war. Gegenüber immer weiteren Waffenlieferungen, vor allem von sog. schweren Waffen, hatte er sich jedoch zurück gehalten und diese Zurückhaltung mit Warnungen vor der Eskalation hin zum Einsatz von Atomwaffen begründet. Der zunächst zurückhaltende Bundeskanzler geriet jedoch mehr und mehr unter Druck – zuerst durch eine aus Kreisen von Grünen und FDP befeuerte Debatte und schließlich durch den Druck der USA und der übrigen NATO-Staaten wie es auf dem vom US-Verteidigungsminister anberaumten Treffen in Ramstein sichtbar wurde.

5.1 Eskalationen in einer wirren und wahnsinnigen Debatte

Die Debatte um die kurzzeitige Zurückhaltung des Bundeskanzlers bei der Lieferung von Waffen zeigt, dass es anscheinend keine Zurückhaltung geben darf, sondern nur ein ‚Weiter‘ und ‚Immer mehr‘ zulässig ist, auch wenn dieses in die weitere Eskalation des Krieges führen kann. Sie erweckt den Eindruck, nur immer weitere Waffenlieferungen könnten der Ukraine helfen. Sie werden zum moralischen Maßstab für die Übernahme von Verantwortung stilisiert und zum Ausdruck der Solidarität mit der Ukraine aufgeladen. Dabei werden die Gefahren der Eskalation hin zu einem Atomkrieg ignoriert und der Einsatz von Atomwaffen verniedlicht. Strack-Zimmermann von der FDP will sich nicht „ständig von militärischen Szenarien beeinflussen lassen“. Wer nicht sofort schwere Waffen liefere, riskiere sogar einen „De-facto-dritten Weltkrieg“, war sich Anton Hofreiter von den Grünen gewiss. Michael Theurer (FDP) schwadronierte im Deutschlandfunk13 von „atomarer Auseinandersetzung“ und erweckte dabei den Eindruck, ein Atomkrieg sei führbar, weil zu kontrollieren. Das klinge nach „Spezialoperation“ merkte Katharina Körting an14.

Zum Dollpunkt bei der Debatte um Waffenlieferungen wird die Frage, wann von einer Beteiligung Deutschlands am Krieg ausgegangen werden könne. Rat weiß der liberale Bundesjustizminister Buschmann, der seinerseits das Völkerrechtshandbuch zu Rate gezogen hatte. Demnach sind Waffenlieferungen nicht als Kriegsbeteiligung zu bewerten. Die komme erst mit der Ausbildung, sie auch zu bedienen, in Betracht. „Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei beziehungsweise Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nicht-Kriegsführung verlassen“, heißt es in einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages15. Also: ‚Freie Fahrt für schwere Waffen aus Deutschland‘. Inzwischen sind wir schon einen Schritt weiter: Seit Mitte Mai werden Soldaten aus der Ukraine im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein für die Nutzung dieser Waffen ausgebildet. Aber auch damit nicht genug. Die Grüne Marie-Luise Beck plädiert sogar für eine Flugverbotszone. Es gibt offensichtlich kein Halten mehr. Zwar wird Putin zurecht des Bruches des Völkerrechts beschuldigt, andererseits so getan, als werde er sich schon an die Definitionen des Völkerrechts halten, wenn es um die Frage eines weiteren Kriegseintritts geht. Putin wird zwar für böse, unberechenbar und verrückt erklärt, während die Debatten-Hasardeure gleichzeitig, darauf vertrauen, er werde rational kalkulierend schon keine ‚atomare Auseinandersetzung‘ beginnen. Und wenn schon, dann gibt es ja Optionen auf weitere Eskalationen.

In Zeiten der Nachrüstungsdebatten wurde der Friedensbewegung ‚Gesinnungsethik‘ vorgeworfen. Nicht zu unrecht, wenn damit gemeint war, aus allgemeinen Prinzipien würden umstandslos moralische Forderungen abgeleitet. Nun ist es umgekehrt. Bellizisten leiten die moralische Forderung nach der Lieferung schwerer Waffen unmittelbar aus dem Leiden der Ukrainer ab. Da lässt sich unbegrenzt zulegen. In solcher Aufwallung der Gesinnung regiert letztlich das aufgewühlte, von Zorn und Empörung getriebene Bachgefühl. In dieser Dynamik wird die Frage nach der Lieferung schwerer Waffen zu einer Bekenntnisfrage. Die aktuelle ‚Gretchenfrage‘ heißt: Wie hälst Du‘s mit den schweren Waffen? Dabei wird sie zugleich zur Testfrage für Loyalität und Humanität.

Ein Sturm moralischer Entrüstung brach aus, als ein von einer aus Kreisen von PublizistInnen und KünstlerInnen unterzeichneter Brief an Scholz veröffentlicht wurde. Darin hatten sie vor einer Eskalation des Krieges und der mit ihm verbundenen Leiden für die Bevölkerung der Ukraine gewarnt. Die AutorInnen hatten den Loyalitätstest nicht bestanden. Sie mussten sich nun als „Intellektuelle mit einem Hang zur Bevormundung“ und als (wohl Putins?) „Heimat-Kombattanten“ beschimpfen lassen. Habermas‘ Klage über das „ungestüme moralisierende Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung“, sowie Forderungen nach einem „Kompromiss“ werden als „Offenbarungseid der Freiheit und der Humanität“ von deutschen Intellektuellen gewertet, die „im Umgang mit Russlands Angriffskrieg keine gute Figur“ abgäben16. Das vorweg genommene Urteil des Weltgerichts sprach Jan Böhmermann: „Der Offene Brief an Olaf Scholz sendet das beruhigende Signal: „Wenn Putin Deutschland mit Atomwaffen angreift, wird sich der intellektuelle Schaden jedenfalls in Grenzen halten.“17

5.2 ‚America locuta, causa finita‘?

Beendet wurden Debatte und Zögern des Bundeskanzlers wohl im Vorfeld des Treffens des Verteidigungsministers der USA mit seinen Kollegen aus den übrigen NATO-Staaten und 14 Nicht-NATO-Ländern in Ramstein. Nun sollen nicht nur schwere Waffen „aus deutscher Produktion“ geliefert werden. Beschlossen wurde auch – Definitionen des Völkerrechts hin oder her – auch ukrainische Soldaten in Deutschland zusammen mit den Niederlanden und den USA auszubilden. Im Umfeld des Treffens wurde zugleich deutlich, dass es der US-amerikanischen Strategie nicht einfach um das Recht der Ukraine auf Verteidigung geht, sondern – wie Verteidigungsminister Austin bei seinem gemeinsamen Besuch mit Außenminister Blinken in der Ukraine deutlich gemacht hat – darum, „dass Russland so weit geschwächt wird, dass es das, was es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann. Es hat bereits eine Menge militärischer Fähigkeiten und, offen gesagt, viele seiner Truppen verloren. Und wir wollen, dass sie nicht in der Lage sind, diese Fähigkeiten sehr schnell wiederherzustellen“18. In der New York Times war Ende April zu lesen, „es gehe Washington nicht mehr um einen Kampf um die Kontrolle über die Ukraine, sondern um einen Kampf, der die USA direkter gegen Russland stellt“19. Das läuft darauf hinaus, Russland dauerhaft so zu schwächen, dass es als Konkurrent im Kampf um neue geopolitische Konstellationen ausfällt.

Es geht also es nicht einfach um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, sondern um die Verteidigung der westlich-freiheitlichen Normalität durch die Schwächung Russlands bzw. um einen Kampf um neue geopolitische Konstellationen, in denen die Grenzen der Nato möglichst weit nach Osten verschoben werden. Dabei wird die Ukraine zum Schlachtfeld. Der in der Ukraine ausgetragene Krieg fordert immer mehr Tote, zerstörte Städte und Dörfer, zerstörte Lebensgrundlagen. Der westlichen Normalität werden die geopfert, die verteidigt werden sollen. Als „Heimat-Kombattanten“, die andere stellvertretend den Krieg führen lassen, erweisen sich diejenigen, die aus (noch sicherer) Ferne den Krieg befeuern und deren Akteure und Opfer als Helden verehren. Sie leisten zugleich den Offenbarungseid dessen, was westliche Freiheit und Humanität beinhalten: Menschen werden zu strategischem Material, wenn sie für den Krieg gebraucht werden. Geflüchtete sind willkommen, wenn das dem Krieg und seiner Legitimation dient – sofern sie die „richtige“ Hautfarbe20 haben. Sind sie überflüssig, weil nicht zu verwerten, können sie im Mittelmeer ertrinken, an den Grenzen im NATO-Draht verbluten, in Lager gesteckt oder in die Hände all der vielen ‚Putins‘ abgeschoben werden. In diese Logik gehört auch, dass den Verteidigern der westlichen Humanität und den Moralaposteln des Kriegs seine Auswirkungen in sich verschärfenden Hunger- und Klimakatastrophen etc. keines Gedankens wert sind. Die drohenden Hungerkatastrophen werden erst im Zusammenhang mit der russischen Blockade ukrainischer Häfen zum Thema, da ohne Bezug auf den russischen Aggressor das Leid der ‚nur‘ Hungernden zu fern bleibt, als dass es das humane Herz und die ethische Gesinnung eines ‚Heimat-Kombattanten‘ rühren, geschweige denn empören und schon gar nicht dem Hirn ‚zu denken‘ geben könnte. ‚Zu denken‘ hingegen gibt ein drohendes Gas-Embargo. Da bekommt die Bauch- und Empörungs-Moral Risse. Arbeitgeberpräsident Arndt warnt vor den wirtschaftlichen Folgen eines abrupten Gas-Importstopps aus Russland; denn: „Wir müssen nicht nur moralisch Stärke zeigen, sondern auch wirtschaftlich stärker sein als die Diktaturen dieser Welt.“21

6. Sozial-psychologische Überlegungen

Von der Krise des Kapitalismus sind auch die Subjekte in ihrer sozial-psychischen Konstitution betroffen22. Grundlage ihrer psychischen Konstitution ist die verinnerlichte Arbeit sowie die Familie als Ort der Sozialisation. Beide Sozialisationsinstanzen, die sich qua Abspaltungsverhältnis gegenseitig bedingen, brechen in der Krise des Kapitalismus mehr und mehr ein. Damit sind Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. Angesichts erodierender Beschäftigungsverhältnisse und sozialer Zusammenhänge sollen sie Eigenverantwortung für ihr Glück, aber auch für ihr Scheitern übernehmen. Gefordert ist Selbstverwirklichung als Selbstanpassung an Krisenerscheinungen wie prekäre Beschäftigungsverhältnissen, die drohende Gefahr aus der Mittelklasse abzusteigen oder gar überflüssig zu werden und allein dazu stehen. Eigenverantwortliche Selbstverwirklichung wird zu Anpassung an die Zwänge, sich als „unternehmerisches Selbst“23 dem Dauerstress einer unabschließbaren Selbstoptimierung zu unterwerfen, um in der Konkurrenz bestehen und im Fall des Scheiterns auch dafür ‚Eigenverantwortung‘ zu übernehmen und mit der Optimierung von neuem zu beginnen. Neues ‚Los‘, neues Glück. Der Triebdynamik, die im Zusammenhang der verinnerlichten Arbeit darauf ausgerichtet war, nach dem Triebaufschub durch Arbeits- und Leistungsbereitschaft, sich dafür ‚zu belohnen‘ oder belohnt zu werden, kommt an ihre Grenzen. Mit dem Zusammenhang von Arbeit und Belohnung brechen auf der sozial-psychischen Ebene die Möglichkeiten zur Sublimierung ein.

Mehr und mehr auf sich selbst zurück geworfene Menschen drohen den Bezug zur Objektwelt zu verlieren. Mit der Selbstoptimierung ist die Botschaft verbunden: ‚Du kannst, wenn Du willst!‘ Unabhängig von den objektiven Verhältnissen werden Menschen auf ihre Größe angesprochen. Wenn sie scheitern, erfahren sie sich als klein und unbedeutend, sollen sich aber in Prozessen der Selbstoptimierung zu neuer Größe aufraffen. „Sich selbst groß zu machen, wenn man eigentlich klein ist“ und „sich selbst anzuklagen und zu richten“ – also die depressive Variante des Rückzugs auf sich selbst – gehen miteinander einher. Beiden Varianten „fällt der Bezug auf die Objektwelt schwer, sie kreisen um sich, finden den Weg zu den Objekten nicht“24. Der Größenwahn bietet eine Möglichkeit, die narzisstische Kränkung abzuwehren, die im ‚Klein-Sein‘ erfahren wird. Dabei kann die Selbstvernichtung als letzter Ausdruck der Selbstverwirklichung erfahren werden, in der die eigene Größe in Szene gesetzt wird.

Wie gehen auf sich selbst zurück geworfene Menschen angesichts des Krieges mit seinen Schrecken und seinen drohenden Eskalationen um? Russlands Krieg gegen die Ukraine und seiner drohenden Eskalation zu einem atomaren Weltkrieg fällt zudem zusammen mit den anderen Krisen, die kaum noch eine Verschnaufpause lassen. Die Corona-Krise ist noch nicht ausgestanden und schon gar nicht sind es ihre ökonomischen Folgen. Der Klimakollaps rückt näher und ist u.a. in immer neuen katastrophenträchtigen Wetterphänomenen präsent. Krieg, Corona, Klima verschärfen die sozialen Krisenlagen über Knappheit, Unterbrechungen in den Warenketten, Verteuerung. In all dem vermengen sich Einschränkungs-, Abstiegs- und Todesängste. Im Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine fällt auf, dass viele das Thema eher meiden25. Ist das eine Art depressiver Lähmung, gespeist aus der Ohnmacht, einer nicht beherrschbaren und undurchschaubaren Dynamik ausgeliefert zu sein? Corona war zwar auch unberechenbar, aber es gab wenigstens Masken und Impfungen als Schutz. Die Klimakrise rückt zwar näher, ist aber anscheinend so weit weg, dass sie vielen noch nicht unter die Haut geht.

In den öffentlichen Debatten fällt eine ‚bauchbasierte‘ extreme Moralisierung auf. In ihr verbinden sich sich Fremd- und Selbstanklage, die Anklage Putins mit der Selbstanklage, ihn unterschätzt und sich den Illusionen eines friedlichen Zusammenlebens hingegeben zu haben. Eine Entlastung von der Schuld scheint der wirtschaftliche Boykott bis hin zum Boykott russischer Energielieferungen sowie die Lieferung ‚schwerer Waffen‘ zu sein. Solche Entsühnung erinnert, vor allem was die Lieferung ‚schwerer Waffen‘ angeht, an den Ablasshandel und die mit ihm eröffnete Möglichkeit, sich von der Schuld frei zu kaufen. Vor allem aber: Dem Kreislauf von ‚Schuld und Verschuldung‘ ist damit nicht zu entkommen. Waffenlieferungen implizieren, dass mit diesen Waffen getötet und zerstört wird. Wirtschaftlicher Boykott bedroht zum einen den Standard eigener Lebensqualität und ist damit verbunden, dass vor allem Ärmere die Kosten solcher ‚Entsühnung‘ zu tragen haben. Und die moralisch gebotene Befreiung aus der Schuld, Putin durch den Kauf von Energie unterstützt zu haben, führt bei der Suche nach verantwortbarer Energieversorgung in die Abhängigkeit von anderen moralisch und politisch fragwürdigen Gestalten und Potentaten.

„Was man auch tut oder unterlässt, man macht sich unweigerlich schuldig“, konstatiert Stephan Grünewald26. Wenn das nicht einfach als beruhigende postmoderne Konstatierung eines unauflösbaren Dilemmas, einer der vielen Spannungen und Paradoxien, mit der wir leben und handeln müssen, verstanden wird, ließe sich die Feststellung mit Einsichten aus Walter Benjamins Fragment zum „Kapitalismus als Religion“27 erhellen. Demnach ist der Kapitalismus „vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. … Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen… und vor allem Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen.“28 Mit der Einbeziehung Gottes in den kapitalistischen Systemzusammenhang des nicht zu entsühnenden Kreislaufs von Schuld und Verschuldung ist „Gottes Transzendenz“ zwar „gefallen“, aber „nicht tot“, sondern „ins Menschenschicksal einbezogen“ und zu einem „Weltzustand der Verzweiflung“ geworden, „auf die gerade noch gehofft wird“29. Die entsorgte Transzendenz verschwindet also nicht, sondern wird zum Fetisch kapitalistischer Immanenz30. Aus diesem Fetischzusammenhang gibt es immanent keinen Ausweg und deshalb gibt es eine permanente Verschuldung, aber keine Entsühnung. Alles Handeln kann dem Kreislauf von Schuld und Verschuldung nicht entkommen31.

Die dennoch zum Handeln verdammten Subjekte sind zwischen Ohnmacht und Größe hin und her getrieben. Ohnmächtig sind sie auf sich selbst zurück geworfen und machen sich auf verschiedenen Ebenen immer wieder schuldig, ökonomisch, wenn sie sich selbst falsch oder schlecht gemanagt haben, politisch, wenn sie die falschen Optionen getroffen haben. Größe gewinnen sie in den Illusionen, als Subjekte autonom und handlungsfähig zu sein. Politische Größe erscheint in den Illusionen, die mit der angstfreien und entschiedenen Verteidigung der westlichen Freiheit verbunden und sich in der Stärke zeigen, sich von der ‚Inkarnation‘ des Bösen in Putin nicht erpressen zu lassen. Damit lässt sich die „autoritär-anomische Erosion“ des ‚Ostens‘ „auf ein neues Reich des Bösen“32 simplifizieren.

Ein Grund für das Schwanken zwischen Ohnmacht und Größenwahn bzw. der Abwehr der Ohnmacht im Größenwahn ist der Verlust des Objekts und damit der Bezug zur Realität. Sie verschwindet in der ‚bauchbasierten‘ Gesinnungsmoral. Aus der rechten Gesinnung, die sich Ausdruck verschafft in allgemeinen Prinzipien, Lebensweisheiten und ‚gesundem Menschenverstand‘, werden ohne Reflexion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als Objekt der Reflexion gefährliche verpflichtende Handlungsmaximen abgeleitet. Das mag den moralisch geplagten Bauch und die als demütigend erfahrene Ohnmacht vielleicht vorübergehend zu entlasten. Damit ist aber der realen Ohnmacht ebensowenig zu entkommen wie dem Verschuldungszusammenhang wie er den fetischisierten Verhältnissen inhärent ist.

Das begriffliche Instrumentarium, das helfen könnte, zu begreifen, was da ‚seinen Gang‘ geht, war ja bereits im Namen eines „‘illusionslosen Pragmatismus‘“ in postmoderner Aversion gegen Großbegriffe und -theorien, die dazu in der Lage sind, auf das Ganze der Verhältnisse auszugreifen, und sich ausbreitender Theoriefeindlichkeit abgerüstet worden. Damit ist der Bezug des Denkens auf die gesellschaftliche Realität gekappt. „Der reale gesellschaftliche Widerspruch, der in der bisherigen Weise nicht mehr bewältigbar ist, soll einfach aus dem Denken verbannt werden.“33 Ein Ergebnis solcher Prozesse ist: Wer sich in der gegenwärtigen Debatte reflektierend der Bauchmoral verweigert, muss damit rechnen, als intellektueller Bevormunder und „Heimat-Kombattant“ an Putins Seite beschimpft zu werden.

7. Das Gefährliche der gegenwärtigen Situation

Die bisherigen Weltordnungskriege sind eine illusionäre Antwort auf das zerfallende „territoriale System der Souveränität, das sich unter den Augen und unfreiwilliger Mithilfe der demokratisch-kapitalistischen Apparate aufzulösen beginnt“34. Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine wird die Auseinandersetzung um die zerfallende Weltordnung zwischen ‚Blöcken‘ ausgetragen, die über Atomwaffen verfügen, deren Souveränität zugleich von den Zerfallsprozessen der Warenproduktion ausgehöhlt wird. In den USA nähern sich die sozio-ökonomischen Zerfallsprozesse denen Russlands an. Russland scheint nun auch militärisch mit dem Rücken zur Wand zur Wand zu stehen. Die erhofften schnellen Erfolge der ‚militärischen Spezialoperation sind jedenfalls ausgeblieben. Die NATO, die sich von der Schwächung Russlands geopolitische Vorteile erhofft, treibt Russland und sich selbst in eine Situation, aus der es vermutlich keinen Ausweg gibt, ohne das Gesicht zu verlieren. Territoriale Zugeständnisse der NATO, die Putin als Sieg darstellen könnte, stehen in diametralem Gegensatz zu den von der NATO als unverhandelbar verfolgten und propagierten Zielen. Die Rückkehr zu der Situation vor dem Krieg würde Putin völlig delegitimieren.

Die Aporien, die sich in der Kriegssituation auftun, sind noch einmal zurückgebunden an die Krise des Kapitalismus, in dessen Zerfallsprozessen auch die staatliche Souveränität einschließlich der Russlands und der USA einbezogen ist. Im Kern sind die Zerfallsprozesse davon gekennzeichnet, dass der abstrakte und irrationale Selbstzweck der Warenproduktion, Kapital um seiner zu vermehren mehr und mehr auf seine Grenzen stößt und ins Leere läuft und sich immer weniger durch auf den Finanzmärkten simulierte Akkumulation kompensieren lässt. Die Finanzblasen platzen und verursachen Wirtschaftskrisen. Wirtschaft und Finanzmärkte werden mit neuer Geldzufuhr ‚stabilisiert‘, bis es zu einem neuen Platzen von Blasen kommt, das am Ende nichts mehr kompensiert werden kann.

Diese Leere des Verwertungsprozesses zeigt sich auf der individuellen Ebene in der Leere der Subjekte, die mit der Arbeit ihre soziale und psycho-soziale Grundlage verlieren und ins ‚Nichts‘ abzustürzen drohen. „Nachdem das bürgerliche, aufgeklärte Subjekt seine Hüllen abgestreift hat, wird deutlich, dass der Kern dieses Subjekts ein Vakuum ist; dass es sich um eine Form handelt, die ‚an sich‘ keinen Inhalt hat.“35 Die Selbstvernichtung einhergehend mit der Vernichtung anderer, wie sie sich in Amokläufen zeigt, wird zum letzten Ausweg des selbstbewussten und freien Subjekts aus der Erfahrung seiner ‚selbstverschuldeten‘ Ohnmacht und Erniedrigung, seiner perspektivlosen Leere. Sie bietet sich an als die Möglichkeit, in der Vernichtung Größe zu zeigen und Macht zu demonstrieren. Dieser Vernichtungswille agiert sich auf der individuellen Ebene als doppelte Vernichtung aus: „Einerseits zielt er auf die Vernichtung des ‚anderen‘ zwecks scheinbarer Selbsterhaltung um jeden Preis, andererseits ist es auch ein Wille zur Selbstvernichtung, der die Sinnlosigkeit der eigenen marktwirtschaftlichen Existenz exekutiert.“36

Ähnlich wie auf der Ebene der Subjekte zeigt sich auf der Ebene des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs ein doppeltes Vernichtungspotential: eines, das der kapitalistischen Normalität und ihrer Durchsetzung geschuldet ist und ein finales, wenn diese Normalität auf ihre finalen Grenzen stößt. „Der Begriff des demokratischen Amoklaufs ist nun durchaus buchstäblich zu nehmen auf der Ebene der militärischen Aktion. … Je unhaltbarer und gefährlicher die Weltsituation wird, desto mehr tritt der militärische Aspekt in den Vordergrund und desto weniger wird die Hemmschwelle, Hightech-Gewalt in großem Maßstab einzusetzen, ohne lange zu fragen.“37

Die „ungefügige Welt“ und „die Unbegreifbarkeit der Probleme“ mobilisieren eine diffuse Vernichtungswut. „Es wiederholt sich auf der Ebene der administrativen Weltmarkt-Psyche das, was in der Psyche der individuellen Amokläufer vor sich geht.“38 Im Rahmen dieser Psychodynamik wird auch die atomare Vernichtung denk- und machbar. In der sich zuspitzenden Krise kapitalistischer Warenproduktion stehen sich keineswegs Gut und Böse, Rationalität und Irrationalität gegenüber, sondern Handlungsträger und Subjekte, die eingebannt sind in Strukturen fetischisierter irrationaler Verhältnisse und deren normativen und symbolischen Aufladungen. Die sich kriegerisch bzw. in gefährlichen Konstellationen in Blöcken gegenüber stehenden Nationalstaaten sind Teile des warenproduzierenden und wahnsinnigen Fetischsystems, das auf die Grenzen seiner Reproduktionsfähigkeit stößt und in dessen Rahmen es kein friedliches Zusammenleben von Menschen geben kann. In der Abwehr der erfahrenen Leere und Ohnmacht könnte ein letzter Ausweg darin gesucht werden, die eigene Größe in atomarer Vernichtung als letztem Ausdruck machtvoller Selbstsetzung zu suchen, um damit die kränkende Ohnmacht abzuwehren. „In der Welt des vollendeten Kapitalismus ist nur der offene Wahnsinn realistisch. Unter diesen Bedingungen nimmt der sogenannte Pragmatismus zwangsläufig selber eschatologische Züge an.“39

Wie sich solche perverse Eschatologie theologisch darstellen kann, hat Gustav Gundlach, ein Vertreter katholischer Soziallehre, noch zu Zeiten des ‚kalten Krieges‘ deutlich gemacht. Recht und Pflicht zur Verteidigung gelten bedingungslos auch angesichts der Selbst- und Weltvernichtung; denn: „Sogar für den möglichen Fall, wo nur noch eine Manifestation der Majestät Gottes und seiner Ordnung, die wir ihm als Menschen schulden, als Erfolg bliebe, ist Pflicht und Verteidigung allerhöchster Güter denkbar. Ja, wenn die Welt untergehen sollte dabei, dann wäre auch das kein Argument gegen unsere Argumentation.“40 Inzwischen ist ja, wenn wir Walter Benjamin folgen, Gottes Transzendenz in die Immanenz der kapitalistischen Vergesellschaftung als deren Fetischisierung eingewandert. Als „‘säkularisierter‘ und verdinglichter Gott“ steht Gott nun für die „im Geld sich ausdrückende Form des Werts“, für „die objektivierte metaphysische Realabstraktion des modernen Daseins“41. Nicht einem transzendenten Fetisch als Ausdruck einer ontologischen Ordnung, sondern der Majestät der immanent fetischisierten Verhältnisse soll der „Untergang der Welt“42 als Opfer dargebracht werden. Solche „Religion“ ist „nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung“43. Ihre Begleitmusik spielen Esoteriker in ihren Sehnsüchten nach dem Verlöschen in der Verschmelzung mit dem Kosmos – Träume, die nicht erst in der Postmoderne ‚modern‘ geworden sind, sondern bereits zu Beginn der Aufklärung geträumt wurden und offensichtlich zu Krisenzeiten wie auch vor Beginn des Ersten Weltkriegs Konjunktur haben.

8. Was bleibt (zu tun)?

Diese Frage lässt uns ratlos zurück. Aus den zum Verstehen notwendigen theoretischen Überlegungen lassen sich keine Handlungsanweisungen ableiten – schon gar keine eindeutigen. Zudem ist die Aporie, auf die die Frage nach dem Handeln stößt, dem ‚Fortschreiten‘ der Krisenverhältnisse geschuldet, in denen der Globus an den Rand des Abgrunds getrieben wird. Immanent gibt es keinen Ausweg und dennoch geht es nicht ohne dass gehandelt wird. Aus meiner Sicht legt sich der Verzicht auf immer weitere Lieferungen von Waffen nahe. Mit immer mehr Waffen drohen Leid und Tod von Menschen und die Zerstörung der Räume zum Leben nur weiter zu gehen und immer neue Opfer zu fordern. Verteidigt würde eine leere Staatsform.

Mit dem Verzicht auf Waffenlieferungen könnte also versucht werden, die Dynamik der Eskalation zu unterbrechen. Dies könnte ein Fenster für etwas öffnen, was Walter Benjamin mit dem Begriff der Unterbrechung im Sinn hatte. Er wendet sich gegen die Kontinuität des Flusses der Zeit und macht Unterbrechung stark, um die Gegenwart zu erkennen. Unterbrechen will er den besinnungslosen Fortschritts der Moderne, der in die Katastrophe führt. Unterbrechung statt ‚Weiter so!‘ könnte ein Zeitfenster für kritisches Nachdenken öffnen und Wege unterbrechen, die in eine globale Katastrophe führen können, die noch einmal weit über das hinausgeht, was wir in den ‚normalen‘ Katastrophen im Krisenkapitalismus erleben.

Erkenntnis der Gegenwart impliziert für uns „radikale Gesellschaftskritik“ als „Kritik der irdischen Realmetaphysik“, als „Kritik der fetischistischen Konstitution von Gesellschaft“44. Ohne sie ist nicht zu begreifen, was in der sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus als Barbarisierung und Vernichtung ‚vor sich geht‘. „Radikale Gesellschaftskritik“ unterbricht in ihrer Reflexion das Kontinuum der Fetischverhältnisse. Dabei ist aus auf den „vollständige(n) Bruch mit der kapitalistischen Realmetaphysik, mit dem ökonomischen Realitätsprinzip und mit dem Nomos der Moderne“45. Wenn es realistische Perspektiven geben soll, dann nur über den Weg einer das Kontinuum der Normalität unterbrechenden ungeschminkten und selbstkritischen Reflexion des gesellschaftlichen Wahnsystems der Warenproduktion und seiner sich zuspitzenden Krisen, in denen das System selbst mehr und mehr Amok läuft.


  1. https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=23&posnr=765.^

  2. https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=2&posnr=805.^

  3. Vgl. Tomasz Konicz, Auf zum letzten Gefecht, in: Konkret 4/22.^

  4. Jan Varwick, Raus aus der Eskalationsspirale mit Russland, Telepolis 14.1.2022.^

  5. Vgl. Sandro Mezzardo, Aus dem Krieg desertieren. Drei Gründe sich dem russischen Angriffskrieg zu widersetzen. Für einen neuen Internationalismus, in: medico international, rundschreiben 01/22, 12-15., 12f.^

  6. Vgl. auch Andreas Umland, Das eurasische Reich Dugins und Putins. Ähnlichkeiten und Unterschiede, 2014, https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Umland_Dugin_Putin.pdf.^

  7. Throalf Cleven, Des Kremls heiliger Krieg, in ‚Kölner Stadt-Anzeiger‘ vom 4.5. 2022.^

  8. Vgl. Benjamin Bidder, Russlands rechte Freunde, 2016, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-wladimir-putins-rechtsextreme-freunde-in-europa-a-1075461.html; vgl. auch Patrick Gensing, Silvia Stöber, Moskautreue Rechte, 2016, https://www.tagesschau.de/inland/neurechte-russland-101.html.^

  9. Zitiert nach: https://taz.de/Querdenker-unterstuetzen-Putin/!5838247/^

  10. Vgl. hierzu auch Gerd Bedszent, Zusammenbruch der Peripherie. Gescheiterte Staaten als Tummelplatz von Drigenbaronen, Warlords und Weltordnungskriegern, Berlin, 2014.^

  11. Vgl. dazu ausführlich Robert Kurz, Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef, 2004; Roswitha Scholz, ‚Die Demokratie frisst immer noch ihre Kinder‘ - heute erst recht! In: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Springe 2019, Heft 16, 30 – 60.^

  12. Vgl. Pinochet als Vorbild, Neues Deutschland vom 31.12.1993, https://www.nd-aktuell.de/artikel/461493.pinochet-als-vorbild.html.^

  13. Zitate aus: Katharina Körting, Debatte über Krieg und Aufrüstung: Fortschreitende Verharmlosung, in: der Freitag vom 24.4.2022^

  14. Ebd.^

  15. Kölner Stadt-Anzeiger vom 2.5.2022.^

  16. Markus Decker im ‚Kölner Stadt-Anzeiger‘ vom 30.4./1.5.2022.^

  17. Kölner Stadt-Anzeiger vom 3.5.2022.^

  18. Zitiert nach: Florian Rötzer, Beim Ukraine Krieg geht es nicht um die Ukraine, Telepolis 29.4.2022.^

  19. Ebd.^

  20. Vgl. Bernhard Torsch, Refugees welcome, Ausländer raus!, in: Konkret 4/2022; vgl. auch Ramona Lenz, Die Grenzen der Solidarität, https://www.medico.de/blog/die-grenzen-der-solidaritaet-18565.^

  21. Kölner Stadt-Anzeiger vom 7.5.2022.^

  22. Vgl. Leni Wissen, Die sozialpsychische Matrix des bürgerlichen Subjekts in der Krise, in: exit! 14 Krise und Kritik der Warengesellschaft, Angermünde 2017, 29 – 49.^

  23. Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 5/2013.^

  24. Herbert Böttcher, Leni Wissen, Zwischen Selbstbezüglichkeit und Solidarität? Corona in der Leere des Kapitalismus, Netztelegramm 1/2021. Sonderausgabe von exit! und Ökumenischem Netz Rhein-Mosel-Saar, 7.^

  25. Vgl. Stephan Grünewald, „Das Thema Krieg wird gemieden“, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 4.5. 2022.^

  26. Ebd.^

  27. Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion“, in: ders., Fragmente Autobiographische Schriften. Gesammelte Werke Band VI, Frankfurt am Main 1991, 100 – 103.^

  28. Ebd., 100f.^

  29. Ebd., 101.^

  30. Vgl. Herbert Böttcher, Kapitalismus – Religion – Kirche – Theologie, in: Kuno Füssel/Michael Ramminger (Hg.), Walter Benjamins prophetisches Erbe, Münster 2021, 31 – 48.^

  31. Vgl. Robert Kurz, Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin, 2012, 389ff.^

  32. Vgl. Tomasz Konicz, Krieg als Krisenbeschleuniger^

  33. Robert Kurz, Das Ende der Theorie. Auf dem Weg zur reflexionslosen Gesellschaft, in: Robert Kurz, Weltkrise und Ignoranz. Imperialismus im Niedergang, Berlin 2013, 60 – 67, 66.^

  34. Robert Kurz, Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Springe 2022. Erweiterte Neuauflage der Originalausgabe Bad Honnef 2003, 414.^

  35. Ebd., 68.^

  36. Ebd., 71.^

  37. Ebd., 429.^

  38. Ebd.^

  39. Robert Kurz, Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert. Herausgegeben und kommentiert von Robert Kurz, Frankfurt am Main 2001, 395.^

  40. Gustav Gundlach, in: Stimmen der Zeit 164 (1959) 13, zitiert nach: Rupert Feneberg, Gerechtigkeit schafft Frieden. Katholische Friedensethik im Atomzeitalter, München 1985, 126.^

  41. Kurz (Anm. 27), 69.^

  42. Gundlach (Anm. 33)^

  43. Benjamin, (Anm. 21), 101.^

  44. Kurz (Anm. 27), 434f.^

  45. Ebd., 436.^




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